eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/15

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2005
815 Dronsch Strecker Vogel

Die Sendung der Jünger Jesu »zu allen Völkern« (Mt 28,19)

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2005
Hubert Frankemölle
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Hubert Frankemölle Die Sendung der Jünger Jesu »zu allen Völkern« (Mt 28, 19) Exklusive oder inklusive Deutung, das ist seit jeher die Frage. Sind Juden eingeschlossen oder nicht? Richtet sich die Sendung der 11 Jünger Jesu (28,16) durch den auferweckten matthäischenJesus nur an die Heiden (hebr. gojim) oder an alle Völker, inklusive die Juden? Seit Jahren 1 vertrete ich die inklusive Deutung, die allerdings bis heute umstritten ist. 2 Dabei postuliere ich nicht einen »objektiven« Textsinn, sondern habe (wie Kollegen z.T. etwas süffisant feststellen) durchaus in wichtigen Fragen des MtEv (etwa zum Verhältnis Israel - Jüngergemeinde / Erklärung »Allen Völkern Sein Heil. Die Mission der Weltkirche« vom 23.9.2004, der zufolge der Auftrag an die Jünger in Mt 28,19 »alle ethnischen und räumlichen Grenzen« überschreitet (37). Hingegen versteht die jüdisch-christliche Erklärung »Reflexion über Bund und Mission« aus den USA vom 12.8.2002 panta ta ethne im Sinne von »alle Nationen außerhalb Israels«. Ob exklusives oder inklusives Verständnis: »Mission« (in Mt 28,19 fehlt dieses Wort; es stammt aus dem 16. Jh. und hat einen entsprechenden negativen Klang als Kampf gegen Irrglauben), Kirche) in drei Jahrzehnten meine Rezeptionswahrnehmungen verändert. Grundsätzlich gehe ich von der Mehrdimensionalität der C TROV ' »Mission« der Juden, lehnen alle christlichen Kirchen heute dezidiert ab; sie sprechen von Zeugnis und Dia- Texte, von einem mehr oder weniger offenen Textsinn aus, ebenso setze ich ein offenes Methodenensemble sowie die Multiperspektivität der Leseweisen voraus. Warum blieb meine Deutung von Mt 28,19 konstant? 1. Voraussetzung meiner Auslegung des MtEv ist, dass ich Texte als historische Glaubenszeugnisse lese, das MtEv demnach aus dem Ende des 1. Jh. n.Chr., geschrieben von einem judenchristlichen Theologen. Kirchliche Erklärungen heute, in der Erfahrung des Holocaust und im Respekt vor dem Anderen als freiheitliches Subjekt vor Gott dürfen die Leseweise von Mt log, von der Rechenschaft des eigenen Glaubens vor der Welt (inklusive Juden), von der Botschaft der Befreiung, von der Religionsfreiheit aller Menschen usw., was einschließt: es » können auch Mitglieder anderer Religionen, die ... Gott aus ehrlichem Herzen suchen, dem Anruf ihres Gewissens folgen und Heil erlangen« (so selbst die Deutsche Bischofskonferenz vom 23.9.2004, 49). Die Heilsfrage oder das jüdisch-christliche Verhältnis ist nicht von der inklusiven oder exklusiven Auslegung tangiert; man sollte sie von dieser dogmatischen Hypothek freihalten. Außerdem: 28,19 bei der Frage nach der intentio operis nicht präjudizieren. Die Erklärungen der Kirchen sind in der Regel verfasst von Christen für (Heiden-)Christen, nicht wie das MtEv von einem christlichen Juden für »christliche Juden« (Ph. Sigal). Dabei lehnen die »Die Heilsfrage oder das gegenwärtige Rezeption oder Aneignung von Mt 28, 19 besagt nichts über die intentio operis. jüdisch-christliche Verhältnis ist nicht von der znklusiven oder exklusiven Auslegung tangiert; man sollte sie von dieser dogmatischen Hypothek freihalten.« 2. Verstehen heißt lesen, was da steht; doch der Sinn selbst steht nicht da. Er wird durch den Leser konstruiert im optimalen Fall gemäß den Leserlenkungen durch den katholische wie die evangelischen Kirchen dezidiert »aus theologischen und historischen Gründen ... eine auf Bekehrung« der Juden zielende Judenmission ab (Rat der EKD am 8.9.1998). Ebenso die Deutsche Bischofskonferenz in der Text. Dies gilt für die ersten wie für heutige Leser. Um die Entstehung des Textes geht es also bei dieser Leseperspektive nicht, wohl kann der Text Hilfen aus der Traditions-/ Glaubensgeschichte zum angemessenen Verständnis liefern: im MtEv ZNT 15 (8. Jg. 2005) 45 vor allem durch die zahlreichen Erfüllungs-Zitate und durch die Rezeption wichtiger Motive aus den heiligen Schriften Israels in griechischer Überlieferung. Sie waren und sind für mich die deutlichsten Leserlenkungen. Ohne diese Vorgabe ist das semantische Universum, das generell bei Texten nach allen Seiten offen ist, auch im MtEv meiner Meinung nach nicht textlich angemessen zu erschließen. Inwiefern kann ich eine strukturelle Ähnlichkeit des MtEv mit den heiligen Schriften Israels in Griechisch (eine Bibel oder gar einen jüdischen Kanon gab es zu dieser Zeit noch nicht) bei panta ta ethne wahrnehmen? Welche Leserlenkungen bietet das MtEv zu diesem Syntagma? Im Gespräch mit Lesarten Anderer sei die eigene kurz begründet. 3. Während für U. Luz noch 1993 die Botschaft von Mt 28,19 klar war (»Die Zeit der Israelmission ist für das Matthäusevangelium nun definitiv vorbei«; die matthäische Gemeinde »wendet sich an der Stelle Israels den Heiden zu«'), diskutiert er 2002 ausführlich die Möglichkeiten des Verständnisses mit einem seiner Meinung nach salomonischen Urteil zum Textbefund. Spricht er zu 28,15 noch unmissverständlich vom »Auftrag des Herrn an seine Gemeinde, nun allen Völkern seine Gebote zu verkünden«, möchte er bei der Auslegung von 28,19 »zwischen der grundsätzlichen Bedeutung des Missionsbefehls und seiner Anwendung durch die matthäische Gemeinde unterscheiden«, da der Befehl »grundsätzlich universalistisch gemeint (ist) und allen Völkern (gilt)«, die Jünger aber faktisch im heidnischen Syrien »die Verkündigung der Gebote Christi an die Heiden« als »ihre eigene Aufgabe« ansehen. Matthäus ein tiefgründiger dialektischer Denker? Das sieht doch sehr nach protestantischer Hermeneutik aus. Konnten und können Leser die Textstrategien im Sinne von Luz instrumentieren? Weniger sophistisch begründet F. Wilk in »Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker« seine These, der zufolge panta ta ethne »wie in 24,9.14; 25,32« in 28,19 »die nichtjüdische Völkerwelt« bezeichnet (129). Bereits Th. Zahn hielt dieses Verständnis vor 100 Jahren für gewalttätig, wenn er zu 24,14 (»Dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker es hören«) und zu 24,9 (»Ihr werdet von allen Völkern um meines Namens 46 willen gehasst werden«) lakonisch notiert: "panta ta ethne bezeichnet hier [24,14] wie V.9 und überall im NT ... ebenso wenig die Heiden mit Ausschluß Israels, als hole he oikumene die Welt mit Ausschluß Palästinas, sondern die gesamte in Völker geteilte Menschheit mit Einschluss Israels«4 - (vgl. auch 5,13f.; 25,32; 26,13). Eine reine Wortsemantik, die eine invariable Bedeutung voraussetzt, führt nicht weiter. Auch nicht der Hinweis auf vorgegebene Traditionen in den heiligen Schriften Israels in Hebräisch und Griechisch. Dort wie im MtEv ist der Kontext der eigentliche Bedeutungsträger: Wo ethne der asymmetrische Gegenbegriff zu »Israel« ist (4,15; 6,32; 10,5; 20,19; Analoges gilt für das Adjektiv ethnikos [ =heidnisch] in 5,47; 6,7; 18,17) oder als Gegenbegriff zu den Jüngern Jesu (5,47; 6,7; 18,17) wahrgenommen werden kann, ist über die Bedeutung nicht zu streiten. Wo dieses kontrastive Element aber bei ethne und vor allem bei panta ta ethne(so im MtEv häufig: 24,9.14; 25,32; 28,19) nicht vorliegt und wo im unmittelbaren Kontext (s.o. zu 24,9.14 u.a.) der ethnische mit einem geographischen Begriff wie »die ganze Welt« verbunden wird, instrumentiere ich panta ta ethne gemäß den geographischen Leserlenkungen weiter mit »alle Völker« (inklusive Israel). In 28, 19 liegt diese universale Bedeutung nicht zuletzt auch wegen der Menschensohn-Christologie in 28, 18 nahe, der zufolge dem Auferweckten »alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist«. Palästina und Juden ausgenommen? Als starke Leserlenkung werte ich in 28,16-20, dass viermal qualitativ, temporal und topographisch umfassend formuliert wird: »alle Vollmacht« (186), »alle Völker« (19a), »lehret sie alles halten« (20a) und »alle Tage« (206 ). Eine Ausnahme von dieser Perspektive in Vers 19 kann ich nicht sehen. Auch die matthäische Christologie in 28,20 belegt diese universale Deutung (s.u. zu a.). Zustimmend lese ich die Deutung Wilks, wonach die Jünger nach Ostern in Ergänzung zur Sendung nur an Israel (10,5f.) »zwei verschiedene Aufträge (haben). Sie sollen einerseits Israel um Jesus als den messianischen Hirten sammeln, andererseits die Völker in ihre eigene Gemeinschaft als die der Jünger des Menschensohnes einbinden.«' Seiner These, in Kap. 1-27 gehe es um die Sammlung Israels, gebunden am Christus-Titel, in Kap. 28 dann um die Sammlung der Nichtjuden, ZNT 15 (8. Jg. 2005) Hubert Frankemölle Die Sendung der Jünger Jesu »zu allen Völl<ern« (Mt 28, 19) Hubert Frankemölle Prof. Dr. Hubert Frankemölle, Jahrgang 1939, studierte Katholische Theologie und Altphilologie in Münster, München und Tübingen. 1968 Erstes Staatsexamen; Dr. theol. 1972 in Münster. Bis WS 78/ 79 Akademischer Oberrat für Neues Testament und Bibelgriechisch an der Kath. Theol. Fakultät in Münster, von SS 1979 bis zur Emeritierung im WS 2003/ 04 Professor für Neues Testament an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: methodisch-hermeneutische Fragen, Matthäusevangelium, Jakobusbrief, jüdisch-christlicher Dialog. Zu den Veröffentlichungen vgl. R. Kampling (Hg.), »Dies ist das Buch ... « Das Matthäusevangelium. FS H. Frankemölle, Paderborn 2004, 357- 373 und Homepage der Universität Paderborn, Institut Kath. Theologie. gebunden am Menschensohn-Titel (vgl. ebd. 89.128f.137), steht die eigene Wahrnehmung der Leserlenkungen durch das MtEv aber entgegen. 4. Ich lese das MtEv synchron, zudem leser- und handlungsorientiert als zwar spannungsreiches (wegen der Rezeption unterschiedlicher Traditionen), aber semantisch stimmiges textum, in dem jedes mit jedem zusammenhängt. Geprägt ist die übersummative syntaktisch-semantischpragmatische Einheit der Partitur von Reden und Erzählungen u.a. durch einen Spannungsbogen, bei dem Prolog (1,2-4,17) und Epilog (28,16-20) die wichtigsten Leserlenkungen bieten. 6 Dies ist seit langem grundsätzlich anerkannt, aber hermeneutisch nicht konsequent genug umgesetzt. Der Prolog enthält von der Gattung her rhetorisch die prothesis, die propositio des ganzen MtEv. a) Gewahrt wird die semantische und syntaktische Einheit vor allem durch das vorausgesetzte Subjekt der gesamten Handlung im MtEv: JHWH, der Gott Israels (vgl. etwa die beiden ZNT 15 (8. Jg. 2005) Genealogien in 1,2-25 und die Erfüllungszitate). Auf der irdischen Erzählebene ist ab 4,17 Jesus der Haupthandlungsträger' und zwar in ungebrochener Identität, wie sie in 1,21 und 1,23 an semantisch exponierter Stelle als deutliche Leserlenkung angeboten wird: Immer redet und handelt im mattthäische »I esous / Jesus« (1,21) Je/ Ja als » JHWH erweist sich als Rettung/ Erlösung/ Heil« und als »Immanuel/ EI als Gott ist mit uns« (1,23 ). In hebräisch-hellenistischen Kategorien lässt sich eine höhere theozentrische Christologie nicht denken. Von ihr ist das ganze Evangelium bis in die Schlussverse hinein geprägt (zur Mitsein-Christologie vgl. 17,17; 18,20; 26,29.38.40 und vor allem den Schlussvers 28,20). Für mich bedeuten diese beiden Vertrauensnamen immer noch die stärkste Leserlenkung, so dass sich für mich die Trennung eines Christus für Israel und des Menschensohnes für alle Völker im Verlauf der matthäischen J esusgeschichte nicht nahe legt. Diese theozentrische Christologie impliziert im Kontext des Gottesbildes in den heiligen Schriften Israels (s.u. zu c.) zudem eine universale Sendung dieses »Jesus« zu Israel und den Völkern. b) Ich setze voraus, dass in der matthäischen Gemeinde in Antiochien in Syrien um 80 n.Chr. der traditionelle, pharisäische, von der Sinai- Theologie geprägte Glaube der Bundesformel » JHWH der Gott Israels, Israel JHWHs Volk« nicht nur bekannt war, sondern nach der Tempelzerstörung die jüdische Identität in exklusiver Weise prägte. Zugleich hatten sich die christlichen Juden (vgl. die Paulusbriefe und die Apostelgeschichte), durch den Geist Gottes verleitet, zur Verkündigung des Evangeliums an Nichtjuden und zur Aufnahme von Nichtjuden in die Jesusbewegung entschlossen. Diese in der Forschung unbestrittene Entwicklung und die damit verbundenen theologischen und menschlichen Konflikte werden im MtEv reflektiert. Aus der judenchristlichen Perspektive musste es dabei primär um die Nichtjuden im Heilsplan Gottes, wie er in den heiligen Schriften vorgegeben war, gehen. Diese bestätigende Funktion haben nicht nur die vielen im MtEv eingespielten Zitate (ich zähle ca. 110 wörtliche und ca. 370 Motivrezeptionen), sondern vor allem die 19 Erfüllungszitate aus den Schriften. Diese Leseperspektive kann der Leser auch im universalen Stammbaum in 1,2-17 erschließen. Natürlich ist der matthäische Jesus 47 »Sohn Davids« (1,1), ebenso Josef (1,20), aber David gäbe es nicht ohne die nichtjüdische Rut; Perez als Verheißungsträger nicht ohne Tarnar, Salomo nicht ohne Batseba, die Frau des Urija. Ohne die Heidin Rahab gäbe es keine Landnahmegeschichte,8 keinen zweiten Exodus aus Babylon ohne den Perserkönig Kyros (was im matthäischen Text im Prolog nicht erwähnt wird, aber in 28,16-20 in der Rezeption von 2Chr 36,22f. wohl geschieht). 9 Ich mag nicht ausschließen, dass auch bei der Einspielung der Mose-Geschichte in 2,13- 2310 die Leser wussten, dass Mose ohne die Tochter des Pharao nicht überlebt hätte. Zu erinnern ist auch an die Welt- und Menschheitsgeschichte (vgl. die Nichtjuden Adam und Eva, Kain und Abel, Henoch, Lamech, Seth usw., Melchisedek, Noach und Söhne sowie Abraham) in Gen lff. sowie an die Verheißungen an »Abraham«, d.h. »Vater der Menge/ Völkervater« ( Gen 17,5 ), durch den »alle Geschlechter der Erde Segen erlangen sollen« (Gen 12,36). In dieser Kernbotschaft der Vorgeschichte Israels, in der ein eigenes Land und ein großes Volk erst verheißen werden (Gen 12,lf.), sehe ich weiterhin die intentio operis, wenn der matthäische Jesus in 1,1 in der Überschrift zum MtEv auch »Sohn Abrahams« genannt wird. 11 c) Diese Deutung steht gegen eine breite Auslegungstradition der Exegeten, aber auch gegen eine lange innerjüdische Interpretationsgeschichte zur Figur Abrahams. Jedoch: Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sind keine Kommentatoren der heiligen Schriften Israels, sondern lesen wie die anderen jüdischen Theologen 12 die Texte aktualisierend und bezweideutig bestätigen unterschiedliche Wahrnehmungen bzw. Aktualisierungen. Aber auch Mt 3,9; 8,11 und 22,32 belegen unterschiedliche Überzeugungen hinsichtlich der Bedeutung Abrahams, des Nichtjuden, der als »heimatloser Aramäer« (Dtn 26,5-9) als erster Proselyt für die jüdische Glaubensidentität grundlegend war, aber nach Mt 8,llf. auch für Nichtjuden (»Ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und Westen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tische liegen. Die Söhne des Reiches aber werden hinausgeworfen werden ... «; vgl. das Präludium der heidnischen Magier im Prolog in 2,1-12). Dass heidnische Völker »als Volk des Gottes Abrahams« (Ps 47,10) geglaubt wurden, ist kein neues matthäisches Konzept, sondern gegen alle Israel-Zentrierung der Sinai-Theologie in den heiligen Schriften Israels breit belegt: JHWH ist der Gott Israels, er ist aber auch JHWH der Völker (vgl. etwa Jes 19,18-25; 66,18-23 u.a.). 14 Das lange Verheißungszitat vonJes 8,23-9,1 in Mt 4, 14-16 vom Gottesknecht als »Licht der Heiden« (vgl. auch Jes 2,2-5; 11, 1.1 O; 42,6; 49,6; 51,4; 60,3) geht im Handeln des matthäischen Jesus schon jetzt in Erfüllung, wie auch die Zusage an die Jünger präsentisch formuliert ist: » Ihr seid das Licht der Welt .... Ihr seid das Salz der Erde« (5,13f.). Die Hinwendung des matthäischen Jesus zu Nichtjuden im sprachlichen und nichtsprachlichen Handeln (4,19.23-25; 8,5-13; 15,21-28; 22,1-10) werte ich daher keineswegs als »Ausnahmen«, wie in der Regel formuliert wird. Das spannungsvolle Nebeneinander von Universalismus und Partikularismus war dem Verfasser des MtEv in den Schriften zogen auf die Situation ihrer Gemeinden und auf die eigene Theologie hin; diese war leitend bei der selektiven Rezeption. Es gab vor 100 weder einen Kanon, noch einen kanonisch für immer : fixierten Text (vgl. ZNT 2003, Heft 12). Selbst die Tora wird » Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sind keine Kommentatoren der heiligen Schriften Israels, sondern lesen wie die anderen jüdischen Theologen die Texte aktualisierend ... « Israels vorgegeben. In der Situation der Verkündigung »dieses Evangeliums« (24,14; 26,13), d.h. des MtEv »auf der ganzen Welt, damit es alle Völker hören«, im Kontext der Heidenmission durch die christlichen Verkündiger, ständig schon in der Bibel aktualisiert, auch gegen den tradierten Text. »Die Halacha hat im Frühjudentum schon beträchtlichen Abstand vom Wortlaut der Tora gewonnen.«ll Auch im Hinblick auf den Stammvater Abraham gab es wie Paulus und Jakobus im NT un- 48 wird durch den Verfasser die traditionelle jüdische Identität aufgebrochen und die Spannung von Partikularismus und Universalismus neu aufgeladen (durch die in Mk und in Q nicht vorgegebene, demnach vermutlich redaktionelle Betonung der Sendung Jesu und der Jünger nur zu Israel in 10,5f.; 15,24). Damit richtet sich ZNT 15 (8. Jg. 2005) Hubert Franl<emölle Die Sendung der Jünger Jesu »zu allen Völkern« (Mt 28, 19) der matthäische Jesus als »Jesus« (1,21) und »Immanuel« (1,23) gegen das Glaubensverständnis der Pharisäer, Sadduzäer, Herodianer, Tempelpriester u.a., die es auf ethnische, tempelliturgische, streng toratheologische Aspekte fokussierten, so als könne jüdische Identität nur durch Beschneidung, Sabbat und Speisegebote als »boundary and identity markers« (J.D.G. Dunn) bestimmt werden. Ähnlich, wenn auch anders als Paulus, vertritt der Verfasser des MtEv eine »dezidiert jüdische Perspektive«," aber in seiner theologischen Gesamtkonzeption der Spannung von Universalismus (von Kap. lff. an) und Partikularismus (bes. in den Anweisungen für die Jünger als Basileia- Boten in 10,5-15; zu Jesus vgl. 15,24), die durch den matthäischen Jesus wohl gegen das Selbstbewusstsein der Mitglieder der matthäischen Gemeinde gerichtet ist und gegen deren Ursprungsvergessenheit gesprochen gedeutet werden kann. 16 Wie JHWH Gott der ganzen Welt und aller Völker ist, aber auch JHWH Israels, so ist »Iesous« und »Immanuel« analog zu Israel und zu allen Völkern gesandt. In 28,19 wird für den Leser nicht überraschenderweise ein Konzept »aufgehoben«, »ausgeweitet« oder »ergänzt«, vielmehr liegt dieses gemäß den Leserlenkungen des MtEv von 1,1 an vor. Nicht die Ergänzung der Israel-Sendung durch eine Sendung zu allen Völkern war das in der matthäischen J esusgeschichte narrativ zu lösende Problem (traditionsgeschichtlich gesprochen war dies in den Vorlagen des MtEv, im MkEv und in der Logienquelle, bereits gelöst), das narrativ zu lösende Problem war umgekehrt, dass in diesem universalen Ansatz gemäß 10,5f. und 15,24 Jesus und die Jünger auch zu Israel gesandt sind. Dieses komplementäre Konzept ist gut jüdisch. Man muss nur einmal die formativ sich verstehende Lesart der heiligen Schriften Israels durch das rabbinische Judentum (als eine mögliche Leseweise) relativieren und das vielfältige Angebot theologischer, sehr divergierender Konzepte in den heiligen Schriften Israels in hebräischer und griechischer Sprache, vor allem auch in der Pescher- und Midrasch-Aktualisierung des hellenistischen, aber auch aramäischen Frühjudentums wahrnehmen. Dann lösen sich manche hermeneutischen Probleme bei Matthäus und Paulus, dessen Konzept ebenfalls »gemäß den Schriften« ist. 17 ZNT 15 (8.Jg. 2005) Setzt man diese theologische Vielfalt voraus, ergibt sich, dass man theologische Konzepte neutestamentlicher Theologen als noch jüdisch mögliche Konzepte im Kontext der vielfältigen und auch widersprüchlichen Konzepte jüdischer Theologen in den heiligen Schriften Israels, selbst im Pentateuch, verstehen kann. An der unterschiedlichen Rezeption bestimmter Stellen der Tora durch Paulus je nach Gemeindesituation etwa im Gal und Röm lässt sich dieses Phänomen gut studieren. 18 Francis Watson, der die unterschiedlichen Rezeptionen von Motiven aus der Tora in den verschiedenen Briefen des Paulus differenziert untersucht, wendet sich in der Zusammenfassung gegen die bekannten Thesen, wonach Paulus als »a deeply confused« oder als »a profoundly dialectical thinker« interpretiert wird. Auch nach Watson sind Paulus die Probleme vorgegeben: » The solution to this problem is simply that Paul believes that he hears a plurality of voices within the Torah itself«. 19 Die unterschiedlichen und vom Leser bei Paulus unterscheidbaren Glaubensüberzeugungen (zu seinem Blick auf seine früheren Überzeugungen vgl. Gal 1,13f.22f.; Phil 3,7f.) sind hermeneutisch für variable Rezeptionen theologischer Modelle (vor allem in den Bundestheologien des Abraham- und Sinai-Bundes) aus den heiligen Schriften Israels verantwortlich (nachvollziehbar vor allem an Abraham in Röm4). Diesen Wechsel des Paulus in der Wahrnehmung, Rezeption und Aneignung verschiedener theologischer Konzeptionen der heiligen Schriften Israels selbst in der Tora festzustellen, ist nicht erst auf der hermeneutischen Basis der historischkritischen Bibelauslegung möglich und hat auch nichts mit einem eventuellen Wissen des Paulus um Quellen im Pentateuch zu tun. Beim Verfasser des MtEv lässt sich ein solcher biographisch bedingter Wechsel nicht nachweisen, wohl aber das theologische Ergebnis, dass meines Erachtens durchaus mit dem paulinischen Konzept im Röm im Ansatz vergleichbar ist (vgl. Röm 1,16: »vor allem/ zuerst [gr. proton] den Juden, aber ebenso den Griechen«). Wie die Streichung des markinischen proton (Mk 7,27) in 15,26 belegt, radikalisiert Matthäus das Problem der Sendung Jesu, da es für ihn nicht um ein Früher und Später, um ein Mehr oder Weniger geht, sondern elliptisch nur um ein Sowohl als Auch. Bei 49 der Sendung der Jünger in 10,6 heißt es dagegen redaktionell apellativ und antithetisch: »Geht nicht auf den Weg der Heiden und betretet keine Stadt der Samaritaner, sondern geht lieber/ mehr/ vielmehr (gr. mallon) zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«, wobei weder die Luthernoch die Einheitsübersetzung mallon beachten. 15,24 und 10,6f. können als hyperstrukturähnlich sind, 20 ohne dass selbstverständlich die Kondeszendenz JHWHs in Jesus von Nazareth vorgegeben sein konnte (dies gründete in neuen Glaubenserfahrungen). Durch hellenistisch-christliche Juden wurden sie auf der Basis der in Griechisch verfassten heiligen Schriften der Juden gedeutet. Stärker als Paulus (vgl. Röm 12bolische Weisungen verstanden werden, die gegen jegliche Israel-Vergessenheit gerichtet sind. 5. Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, das MtEv kontextuell und intertextuell » Wer so jüdisch denkt wie gemäß den Leserlenkungen der Verfasser des MtEv, wird kaum Juden ausschließen können.« 15) rezipierte der Verfasser des MtEv auch die in der Tora vorgegebene Sozial- Ethik in vollem Umfang und ohne Abstriche (vgl. 5,17-20), selbstverständlich wie bei Juden üblich in eigener Deuals in frühjüdischen Glaubenskonzeptionen verortet zu lesen. In den heiligen Schriften Israels in Griechisch und Hebräisch war das spannungsvolle Wechselspiel von Universalismus (als umfassende Perspektive: Gen 1-18) und Partikularismus (in der Fokussierung auf das von Gott besonders erwählte Volk: vgl. Ex 20-23; Lev 17-26; Dtn 5,6- 21; 12-26), wie ich es gemäß den Leserlenkungen von Mt 1-28 auch hier meine erschließen zu können, dem Verfasser des MtEv vorgegeben. In diesen Schriften waren auch vielfach Vorstellungen belegt, die mit der matthäischen Christologie Anmerkungen 1 H. Frankemölle, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des »Evangeliums« nach Matthäus (NTA 10), Münster 1974, 2 1984, 108-143; ders., Laos Volk, Volksmenge, Gottesvolk, EWNT 2 (1981), 837-848; ders., Zur Theologie der Mission im Matthäusevangelium, in: K. Kertelge (Hg.), Mission im Neuen Testament (QD 93 ), Freiburg 1982, 93-129; ders., Matthäus-Kommentar 1-2, Düsseldorf 1994 ('1999) / 1997; ders., Biblische Grundlagen einer Ökumene der Weltreligionen? , Diak 25 (1994), 79-91; ders., Mission, NBL 2 (1995), 821-823; ders., Mission: II. Christentum, 1.NT, RGG 5 (42002), 1273-1275; Missionsbefehl, ebd. 1302f. 2 Vgl. etwa U. Luz, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem, EvTh 53 (1993), 310-327; F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker (BZNW 109), Berlin 2002, 83-153; P. Wiek, Matthäus und die Mission, ZMiss 1-2 (2003 ), 77-90. 3 Luz, Antijudaismus, 316; zu den folgenden Zitaten vgl. ders., Das Evangelium nach Matthäus. 4. Teilband Mt 26-28 (EKK I/ 4), Düsseldorf u.a. 2002, 425.451. ' Th. Zahn, Das Evangelium nach Matthäus, Leipzig 2 1905, 657 Anm.7. 5 Wilk, Jesus, 129; eine ähnliche Aufteilung vertritt Wiek, Matthäus, 83-86; nach ihm geht es in Kap. 10 um eine 50 tung und Aktualisierung (5,21-7,27). Sprecher der »Lehre auf dem Berg« (vgl. den Rahmen in 5,1 und 8,1) istJHWH/ El in »Je-sous« (1,21) und »Immanu-El« (1,23). Kein Wunder, wenn im Epilog die Beistandszusage von 1,23 in 28,20b (»und siehe: Ich, ich bin mit euch alle Tage ... «) erinnernd eingeprägt wird, aber auch zuvor »alle Völker« auf die Tora dieses »Gott-mit-uns« umfassend verpflichtet werden (28,20a: »lehret sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe«). Wer so jüdisch denkt wie gemäß den Leserlenkungen der Verfasser des MtEv, wird kaum Juden ausschließen können. »charismatische Sendung zum Haus Israel«, in Kap. 28 in »scharfen Kontrast« um eine »ordentliche Sendung zu den Völkern«. Das mag verstehen, wer will. Bietet der Text für diese Dialektik Lesestrategien? 6 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 77-127. Zur Vertiefung darf ich ab jetzt auf meinen Matthäus-Kommentar 1-2 verweisen. 7 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 85-88. 8 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 140-142 mit Belegstellen. 9 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 537-558. 10 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 169-177. 11 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 128-136. 12 Vgl. Frankemölle, Mt 1, 62-76. Ausführlicher: ders., Das Neue Testament als Kommentar? , in: ders., Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien (SBAB 37), Stuttgart 2005, 28-90. 13 K. Müller, Beobachtungen zum Verhältnis von Tara und Halacha in frühjüdischen Quellen, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992, 105-134, ebd. 114. Von ihm stammen weitere lesenswerte Aufsätze zu dieser Thematik. 14 Zur neueren Literatur vgl. H. Frankemölle, Die Tora Gottes für Israel, die Jünger und die Völker nach dem Matthäusevangelium, in: ders., Jüdische Wurzelnchristlicher Theologie (BBB 116), Bodenheim 1998, 261-293, ebd. 282-290. 15 Wilk, Jesus, 131. 16 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 75-79.205-209. ZNT 15 (8.Jg. 2005) Hubert Frankemölle Die Sendung der Jünger Jesu »zu allen VöllcernH (Mt 28, 19) 2005 (im Druck). 17 Vgl. H. Frankemölle, »Wie geschrieben steht.« Ist die paulinische Christologie schriftgemäß? , in: Ders., Studien, 255-291. 19 F. Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith, London 2004, 520. 18 Zu dieser These vgl. Anm. 17 und H. Frankemöllc, Völker-Verheißung (Gen 12-18) und Sinai-Tora im Römerbrief. Das »Dazwischen« (Röm 5,20) als hermeneutischer Parameter für eine lutherische oder nichtlutherische Paulus-Auslegung, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT), Berlin 20 Zu Differenzen und Übereinstimmungen in der Christologie durch Juden und Christen heute vgl. E. Dirscherl / W. Trutwin (Hgg.), Jüdisch-christliches Gespräch über Gott, Messias und Dekalog (Forum Christen und Juden 4), Münster 2004, bes. 81-90 (M.A. Signer) und 91-112 (J. Wohlmuth). ·Joachim Kunstmann UTB Theologie Joachim I(unstmann Religionspädagogil~ Eine Einführung UTB 2500 M, 2004, 375 Seiten, div. Abb.,€ 22,90/ SFr 40, 10 UTE-ISBN 3-8252-2500-3 Kunstmanns Einführung bietet einen umfassenden Überblick über sämtliche Arbeitsfelder einer zeitgemäßen Religionspädagogik. Der Band behandelt die Grundfragen und traditionellen Themen des Faches, trägt aber auch neuesten Entwicklungen Rechnung, so der zunehmenden Hinwendung der Religionspädagogik zu Gegenwartsthemen wie der Individualisierung und Kulturbezogenheit von Religion. Eine als strukturierend für alle klassischen Orte christlich-religiöser Erziehung, Sozialisation und Bildung ausgewiesene Religionsdidaktik ist ebenso in das Konzept integriert wie die Gemeindepädagogik. Das Buch ist somit ein unentbehrlicher Begleiter für Studium, Lehre und Gemeindearbeit. Aus dem Inhalt: Grundlagen. Was ist Religionspädagogik? - Kann und soll man Religion lernen? - Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik - Religion im Lebenslauf Orte der RP in Familie, Staat und Gemeinde. Kind und Familie - Christliche Primärsozialisalion - Religionsunterricht - Schulfach zwischen Staat und Kirche - Religiöses Lernen an der Hochschule - Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde - Kirchliche Arbeiten mit Erwachsenen Religionsdidaktik. Grundfragen der Religionsdidaktik - Formen christlicher Religionsdidaktik Didaktik des Religionsunterrichts - Was ist religiöses Lernen? Herausforderungen. Religion in der modernen Welt - Individualisierung der Religion - Jugend und Religion Perspektiven. Religion und Kultur - Religiosität - Religiöse Bildung -Ästhetische Zugänge zur christlichen Religion A. Francke ZNT 15 (8. Jg. 2005) 51