eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/15

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2005
815 Dronsch Strecker Vogel

Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus

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2005
Robert Jewett
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Robert Jewett Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus 1 Gegenwärtig erregt die starke Zunahme messianischer Strömungen besondere Besorgnis seien sie christlicher, islamischer, buddhistischer oder hinduistischer Prägung. Sie bieten politische Himmelsstraßen an, die mit den Leichen ihrer Gegner gepflastert sind. Präsident Bush sagt immer wieder: »Unsere Verantwortlichkeit in der Geschichte ist bereits klar ... das Böse aus der Welt auszumerzen.« Dass das Böse aus der ganzen Welt zu kriegen wäre, ist ein chiliastischer Gedanke, und er wurde oft mit apokalyptischer Polarität verbunden. Bush sagt: »Jede Nation hat sich jetzt zu entscheiden. Entweder ist sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen. Freiheit und Furcht, Gerechtigkeit und Grausamkeit sind immer gegeneinander im Krieg gewesen, und wir wissen, dass Gott nicht neutral zwischen ihnen steht.« Woher kommt diese apokalyptische Ideologie? Welche biblischen Texten stehen dahinter und wie kann man erklären, dass diese Gedanken in der modernen Welt immer noch ihre Popularität behalten haben? Nachdem die Erklärung skizziert ist, möchte ich auf eine gesundere Seite des amerikanischen Messianismus hinweisen. 1. Der messianische Eifer um die Welt-Erlösung Die Versprechungen »das Böals Nachfolger von christlichen Kriegern und Märtyrern, deren Geschichten von der Zeit der ersten Christen an bis ins England des 16. Jh.s gesammelt und erzählt wurden. Zwischen 1629 und 1640, als ihr Kampf in England fehlschlug, emigrierten 20.000 Puritaner nach Amerika, um sich so als Anhänger Christi vor den Antichristen zu retten. Sie waren davon überzeugt, dass die Ursache des Bösen darin lag, dass England unter Korruption litt. Sie hofften, das tausendjährige Königreich würde eintreten, das in der Offb versprochen war, wenn ein solcher Krieg erfolgreich geführt würde. Die Vorstellung eines Tausendjährigen Reiches übernahmen die Puritaner aus Offb 20,1-7. Ernest Lee Tuveson dokumentierte die Anwendung dieses chiliastischen Ansatzes und bestätigte Jonathan Edwards Idee, dass mit der Erweckungsbewegung, »göttliche Providenz den Weg für die glorreiche Zeit der Kirche vorbereitet, wo das Reich Satans überall in der ganzen Welt niedergeschlagen werden soll.«' In der Mitte des 18. Jh.s, entstand dann, was Nathan Hatch den »Zivilchiliasmus« nannte, in dem die Kolonien die Rolle der Heiligen im Tausendjährigen Reich Gottes einnehmen sollten. 3 In der Zeit kurz vor dem Unabhängigkeitskrieg wurde diese chiliastische Idee des nationalen Schicksals weitgehend akzeptiert.4 Timothy Dwights Gedicht »America« (1771) beschreibt die hoffnungslose Situation der se in der Welt auszumerzen« haben eine lange Geschichte. Ein messianisches Bewusstsein, die ganze Welt zu retten, begann mit den ersten Sied- » Die Versprechungen. >das Böse in der Welt auszumerzen< haben eine lange Geschichte.« Welt vor der Entdeckung des neuen verheißenen Landes, das bald den chiliastischen Frieden einleiten soll: lern in Neu-England. Die Kreuzzugsmentalität wurde in den Kolonien sehr beliebt. Die erste Generation der Emigranten in Neu-England trug den missionarischen Gedanken in sich, die gesamte Welt zu befreien. Die Puritaner übernahmen ihre dualistische Weltsicht und ihren Glauben, dass Gewalt Gottes Reich verbreiten könne, aus dem Buch der Offenbarung des Johannes und Teilen des Alten Testaments. Sie handelten selbst 60 »Hail Land of light and joy! Thy power shall grow Far as the seas, which round thy regions flow; Through earth's wide realms thy glory shall extend, And savage nations at thy scepter bend .... Then, then an heavenly kingdom shall descend, And Light and Glory through the world extend. And every region smile in endless peace; Till the last trump the slumbering dead inspire, Shake the wide heavens, and set the world on fire.« 3 ZNT 15 (8. Jg. 2005) Robert Jewett Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus Robert f ewett Robert Jewett, Jahrgang 1933, seit 2000 Guest Professor of New Testament an der Universität Heidelberg, wo er ein Archivprojekt leitet. Er ist der Harry R. Kendall Professor Emeritus des Garrett-Evangelical Theological Seminary und der Northwestern University in Evanston, IL, USA. Unter seinen 18 Bücher sind in Deutschland »Paul's Anthropological Terms« (1971) und » Paulus Chronologie« (1982) bekannt, während seine kritischen Studien zur amerikanischen Zivilreligion bisher in Europa vor allem in Vorträgen publik gemacht wurden. Der hier abgedruckte Aufsatz wurde adaptiert von einer mit John Shelton Lawrence gemeinsam verfassten Studie »Captain America and the Crusade against Evil: The Dilemma of Zealous Nationalism« (2003). Die Vorstellung eines himmlischen Reiches, das nach dem Armageddon-Kampf auf die Erde hinunterschreitet, stammt offensichtlich aus der Offenbarung von Johannes. In späteren Strophen seines Gedichtes beschreibt Dwight im Stil der antiken biblischen Kriegserzählungen die amerikanischen Krieger, wie sie neben den himmlischen Heerscharen kämpfen. Hugh Henry Brackenridge gründete seine »Six Political Discourses Founded on the Scripture« (1778) auf dasselbe biblische Fundament. Er behauptete, dass der britische König von Satan inspiriert wurde, und dass die Providenz auf der Seite der Kolonisten stünde: »Der Himmel wurde aktiv und kämpfte für uns .... der Himmel weiß nichts von Neutralität .... Es gibt keinen einzigen Tory innerhalb der Reihen der Seraphim.«' Das Thema des erwählten Volkes, das angegriffen wird und nur mit Gewalt gerettet werden kann, taucht in den frühesten Formen amerikanischer Literatur auf, und zwar in der Erzählung »Gefangene durch Indianer«. Mary Rowlandsons ZNT 15 (8. Jg. 2005) Buch »Eine Erzählung von Gefangenschaft und Rettung« blieb für 150 Jahre beliebte Literatur, gemeinsam mit ähnlichen Geschichten, die im kolonialen Amerika Bestseller wurden. 7 Rowlandson lebte »in Wohlstand, gesegnet mit allem Komfort der Welt«, als ein Angriff von Indianern ihre Familie tötete und sie verschleppt wurde. Sie widerstand den Versuchungen des Indianer- Lebens und wurde gerettet. Sie erzählte später die Geschichte von »Israel in Babylon«, um mit Richard Slotkins Ausdruck zu sprechen. Das Gefühl, das erwählte Volk in einer Umgebung von Unterdrückung zu sein, angegriffen von den gewaltsamen Kräften eines dämonischen Babylons, wurde eines der zentralen Themen in der nachfolgenden populären Literatur. Diese Erzählform führte später zu den Cowboy Western und schließlich zu den modernen Geschichten der Superhelden. 8 Man sieht den Einfluss dieser Erzählung in der amerikanischen Reaktion zum 11. September 2001. 2. Die post-chiliastische Republik Eine Hauptströmung der amerikanischen Mentalität zeichnet sich durch ihren Glauben aus, schon ins millenarische Zeitalter eingetreten zu sein. Dieser Glaube hat ihr nationales Unschuldsbewusstsein, ihren Optimismus und ihr Überlegenheitsgefühl geprägt. Viele Protestanten kamen zu der Überzeugung, das Tausendjährige Reich sei mit der ersten Erweckungsbewegung Mitte des 18. Jh.s angebrochen.9 Andere sahen dessen Beginn erst in dem erfolgreichen Ausgang der amerikanischen Revolution oder dem Eintritt ins 19. Jh. In der Folgezeit vermehrte sich die Zahl der Post-Chiliasten deutlich. Man glaubte, das Tausendjährige Reich Gottes und die Herrschaft der Heiligen habe schon begonnen und zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Brief des ehemaligen Präsidenten John Adams an Thomas Jefferson (13. Nov. 1813) zeigt, wie weit diese chiliastischen Ideen akzeptiert wurden: »Viele Jahrhunderte müssen vergehen, ehe wir moralisch unterwandert werden können. Unsere reine, tugendhafte, gemeinsinnige, bundesartige Republik soll immer andauern, den Erdball regieren, und die Vollendung der Menschheit einleiten.«10 In säkulareren Kreisen zeigte sich die post- 61 millenarische Perspektive im Glauben an Fortschritt und in der nach dem Mexikanischen Krieg (1846-48) und dem Erwerb Oregons populären imperialistischen Vorstellung von der »offenbaren Bestimmung« Nordamerikas, sich über den ganzen Kontinent auszubreiten. der aus dem Blickwinkel der Offb gesehen wurde. Die widersprüchlichen Erlösungsbilder des friedvollen, leidenden Dieners und des marschierenden Herrn der Schlacht sind in der letzten Strophe verbunden. Die erlösende Aufgabe der nördlichen Soldaten, die Gegner auszulöschen, ist zu einer altruistischen Befreiung In den Sozialbewegungen des 19. Jh.s wie der Sklavenbefreiung, den Prohibitionsgesetzen und Frauenrechtsbewegungen offenbarten sich verschiedene Formen des Post-Chiliasmus. 11 Sie wur- »Die selbstlose Mission des leidenden, sterbenden Dieners Gottes floss ein in das Bild des Kriegers.« umgewandelt worden. Die selbstlose Mission des leidenden, sterbenden Dieners Gottes floss ein in das Bild des Kriegers. Der Soldat den von der Vorstellung getragen, dass die amerikanischen Protestanten als die Heiligen des Tausendjährigen Reiches zur Sozialreform gerufen worden seien, und von der Hoffnung gestützt, dass Armut und Kriege ausmerzbare Konsequenzen des Bösen seien. Und als Amerika 1898 an den großen Kreuzzügen gegen Spanien und 1918 gegen Deutschland teilnahm, um der Welt die Demokratie zu bescheren, handelte es ebenso aus dem post-chiliastischen Geist heraus. Die kraftvollste Übernahme dieser zelotischen Ideologie war die »Schlacht-Hymne der Republik«, die 1862 geschrieben wurde. Ihre Terminologie und Bildersprache wurde ausschließlich von den apokalyptischen Stellen der Bibel hergeleitet.12 In den Märschen der Vereinten Soldaten klang »die Herrlichkeit der Ankunft des Herrn«. Wenn Gott auf der Seite der Armeen des Nordens marschierte, galt der Sieg als gesichert. Es würde zwar anstrengend und blutrünstig werden und viele würden in der Gewissheit sterben, dass sie Gottes »Gnade« für ihren Glauben an die Schlacht gewinnen. Aber sie würden bis zum letzten Mann kämpfen, wenn sie wüssten, dass sie dem siegreichen Zeichen folgten: »He has sounded forth the trumpet that shall never call retreat; He is sifting out the hearts of men before His judgment-seat: 0, be swift, my soul, to answer Hirn! Be jubilant, my feet! Our God is marching on.« Wer ist dieser kriegerische Gott, der die Truppen des Nordens in die Schlacht führt? Wer ist der »Herr«, der die Trauben seines zornreichen Weines von den Füßen seiner Truppen zertreten lässt? Es ist niemand anderer als der liebende Christus, 62 stirbt, nicht um andere zu töten, sondern um für andere Leiden auf sich zu nehmen. Hiermit begann eine Epoche altruistischen, kriegerischen Eifers in Amerika, die die nächsten 140 Jahre bestimmte: »In the beauty of the lilies Christ was born across the sea, With a glory in His bosom that transfigures you and me: As he died to make men holy, ! et us die to make men free, While God is marching on.« Diese Ideologie stählte den Norden in seinem langen, blutigen und frustrierenden Krieg. Ein solcher Krieg, um »Menschen zu befreien«, sollte kein Ende finden, bis nicht die ganze Welt daran beteiligt war. Wie das folgende Zitat von Reverend George S. Phillips zeigt, stärkten solche Aussichten auch in den entmutigendsten Phasen des Krieges: »Unsere Mission ... sollte erst dann als erfüllt gelten, wenn der letzte Despot entthront wurde, die letzte Kette der Unterdrückten aufgebrochen ist, die Würde und Gleichheit der befreiten Menschheit überall als anerkannt gilt, die republikanische Regierung überall etabliert ist und die amerikanische Fahne ... über jedem Land weht und die Welt mit ihrem majestätischen Flattern überspannt. Dann - und nicht vorher würde die Nation das Vorhaben erfüllt haben, für das sie vom Gott aller Himmel berufen wurde.« 13 Diese Vision der nationalen Berufung wurde eindeutig aus Offb 20 entnommen, wo die Heiligen die Erde regieren, nachdem das Monster zerstört ist. Widerhalle dieses nationalen Messianismus sind in den Worten von Präsident Wilsons ausgedrückt, nach denen ein Krieg die Welt für die Demokratie sicher machen könnte, und in der ZNT 15 (8. Jg. 2005) Robert Jewett Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus Hoffnung von Bush und seinen Beratern, dass der Krieg im Irak den Weg zur Demokratisierung des ganzen Mittleren Ostens ebnen würde. 3. Der Aufstieg des prä-chiliastischen Messianismus Um die Wiederbelebung des Prächiliasrnus in den letzten Jahrzehnten zu verstehen, müssen wir uns in diejenigen hineinversetzen, die den optimistischen Post-Chiliasmus ablehnten. Vor allem Farmer und Industriearbeiter im 19. Jh. hatten durch die häufigen Wirtschaftsdepressionen in Amerika schwer gelitten. In ihrer Lebenswirklichkeit hatte der post-chiliastische Optimismus keinen Realitätsbezug mehr. So wurde der Weg für prächiliastischen Sekten frei. Um 1830 gründete Joseph Srnith die Bewegung der Mormonen. Sie sollten als »Heilige der Letzten Tage« die ersten Früchte des unmittelbar bevorstehenden Tausendjährigen Reiches werden. William Miller (1742-1849) war ein früherer Deist, der in der zweiten Erweckungsbewegung zum orthodoxen Christentum konvertiert war und der ein intensives Bibelstudium begann, das ihn 1818 zu der Erkenntnis brachte, dass in Dan 8, 14 die Wiederkehr Christi gemeint war. Im Gegensatz zu anderen Chiliasten, die glaubten, dass Christus erst am Ende des Tausendjährigen Reiches wiederkommen würde, entschied Miller, dass die große Endschlacht und die Wiederkehr Christi 1843 stattfinden würden. 14 Er hielt öffentliche Vorträge und gewann sehr sprachgewandte Kollegen und auch ein Genie der Öffentlichkeitsarbeit, nämlich Joshua V. Hirnes. Diese neue Doktrin zog im ganzen Land Tausende von Nachfolgern an. Ein Faktor seines Erfolges war, dass ihre apokalyptische Botschaft all denen gefiel, die Zweifel an dem post-chiliastischen Optimismus hegten, dass Amerika »die neue Ordnung des Zeitalters« sei. 1' Eine Reihe von Konferenzen der Adventisten wurde abgehalten, die Millers Idee verbreiteten und den Zweifel an »Amerikas Fortschritt« und an jeglichen sozialen Reformen belebten. 16 Nur eine große Schlacht gegen die Gewalt des Teufels und für die Wiederkehr Christi wäre in der Lage, das Tausendjährige Reich einzuleiten. Tausende von Gläubigen wurden im Frühjahr 1843 enttäuscht, als Christus nicht wiederkehrte. ZNT 15 (8. Jg. 2005) Miller und seine Kollegen berechneten das Datum neu und entschieden, dass die biblischen Zeichen auf den 22. Oktober 1844 deuteten. Als dieses Datum wieder verstrich, teilte sich das Lager in mehrere Fraktionen, aus denen die »Seventh-Day Adventists« und andere Gruppen hervor gingen. 17 In einer ähnlichen Entwicklung nach 1880 begründeten C.T. Russell (1852-1916) und J.F. Rutherford (1869-1942) die Sekte der Zeugen Jehovahs, für die die unsichtbare geistige Gegenwart Christi nach 40 Jahren zum Beginn des Tausendjährigen Reiches führen würde. Auch diese Bewegung glaubte nicht, dass das Millennium in Amerika schon angebrochen sei. Für sie stand die große Katastrophe erst noch aus, und sie betrachteten es als ihre Aufgabe, in der Nation das vorrnillennarische Bewusstsein zu wecken. Tirnothy P. Webber hat in seiner Untersuchung »Living in the Shadow of the Second Corning« gezeigt, dass der amerikanische Fundamentalismus von diesem chiliastischen Pessimismus aus der Zeit des sich neigenden 19. Jh.s geprägt wurde. 18 Er herrschte auch in den Niagara-Bibelkonferenzen und den Erweckungsversarnrnlungen vor, die von Organisationen wie dem Moody Bible Institute, von unzähligen Bibelschulen und Billy Sunday Tabernacles ins Leben gerufen worden waren. Obwohl der Prä-Chiliasmus damals nur von einer Minderheit vertreten wurde, ist er Ausgangspunkt der gegenwärtigen Explosion christlich-apokalyptischer Theologie. Wie es zu dieser Explosion kommen konnte, hängt mit einer neuen Vorstellung der »Entrückung« zusammen. 4. Zeitkalender für die Entrückung Die düsteren Prognosen einiger Fernsehprediger illustrieren den Chiliasmus der vergangenen Jahrzehnte am deutlichsten. In ihnen werden die Gläubigen kurz vor Ausbruch der unmittelbar bevorstehenden Trübsal ins Paradies entrückt. Auf dieser selektiven Vernichtung folgt dann eine Zeit der Bedrängnis und danach die Schöpfung eines neuen, friedlichen Weltreichs, in dem die Heiligen tausend Jahre lang herrschen. In der Zeit der Bedrängnis nach der Entrückung bleibt den Geretteten jedes Leid erspart. Im Laufe der letzten 25 Jahre wurde diese apokalyptische Theologie in der amerikanischen Gesellschaft von einem fun- 63 damentalistischen Randphänomen zum Mainstream. Inzwischen taucht sie außer in den Botschaften der Fernsehprediger auch in Bestsellern, Lehrdass innerbiblische Widersprüche nur die göttlichen Gesetze früherer Vorsehungen widerspiegeln. Dieser Prämisse sind auch die Professoren aus dem einflussreichen theo- und Spielfilmen und unzähligen Internetseiten auf. Um die außerordentliche Gefahr dieser chiliastischen Ideen gerade in den Zeiten des globalen Djihad einschätzen zu können, müssen wir deren geistigen Hintergrund verstehen lernen. Wahrscheinlich »Im Laufe der letzten 25 Jahre wurde diese apokalyptische Theologie in der amerikanischen Gesellschaft von einem f undamentalistischen Randphänomen zum Mainstream.« logischen Seminar in Dallas, Texas, verfallen. Das Dallas Theological Seminary hat daher eine ganz andere Prägung als die Perkins School of Theology, auch in Dallas, ein Mainstream Seminar, in dem klassische Theologie nach deutsteht das gegenwärtige unkluge und militante politische Verhalten der USA in direktem Zusammenhang mit der wachsenden Vorherrschaft dieser Weltanschauung und ihrem populären Gegenstück in den U nterhaltungsmedien, dem Traum vom Superhelden. Sowohl der Chiliasmus, als auch der Traum vom Superhelden gehen von einer unerbittlichen Erlöserfigur aus, durch deren übermenschliche Eigenschaften die Unschuldigen gerade noch rechtzeitig vor ihren dämonischen Widersachern gerettet werden. Der Begriff der »Entrückung« stammt aus der Übersetzung von 1Thess 4, 17 ins Lateinische. Paulus erklärt in diesem Vers, dass die verstorbenen Christen bei Christi Wiederkehr auferstehen und zusammen mit den noch Lebenden in die Luft entrückt werden (simul rapiemur cum illis in nubibus obviam Domino in aera). Diese dunkle Passage spielte in der Theologie bis 1830 nur eine unbedeutende Rolle, bis sie von John Nelson Darby und seinen Plymouth Brüdern interpretiert wurde. 19 Nach einer Vision Margaret MacDonalds, einer Prophetin aus dem Kreis um Darby, findet diese Entrückung vor der Zeit der 7 Jahre dauernden Bedrängnis statt und daher vor dem endzeitlichen Krieg, der das Millennium einläuten würde. Diese neue Doktrin einer »Entrückung vor der Zeit der Bedrängnis« fiel in der Folgezeit zwischen 1880 und 1925 auf fruchtbaren Boden unter englischen, amerikanischen und kanadischen Fundamentalisten. Sie floss in die Vorstellung von einer göttlichen Vorsehung der Heilsgeschichte in die »Scofield Reference Bible« ein. Seit ihrer Erstveröffentlichung 1909 blieb sie weitgehend unverändert und von dem wissenschaftlichen Ethos der großen Universitäten weit entfernt. Sie geht davon aus, dass wir uns in der letzten Phase der Weltgeschichte befinden und 64 schem Vorbild gelehrt wird. Hal Lindseys Bücher haben mit unerhörten Verkaufszahlen dem Weltuntergangsmodell aus dem Dallas Theological Seminary Popularität verschafft und ihrem Autor, der das Ende der Welt schon vor einigen Jahrzehnten erwartet hatte, den Titel eines Millenniumsmillionärs eingebracht. In den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg bildete sich ein neues Datierungsschema heraus für die Ereignisfolge im »letzten Menschenalter«, wie Lindsey es bezeichnete. Er ging davon aus, dass die Wiederherstellung des israelischen Staates 1948 den Anfang des Endes der Weltgeschichte markiere. Unter der Annahme, dass eine Generation im biblischen Sinn nicht mehr als vierzig J ahre betragen könne, errechnete er das Jahr 1988 als das letzt mögliche Datum der Endschlacht. In seiner Datierungsversion war die Entrückung sieben Jahre vor der Zeit der Bedrängnis anzusetzen, also spätestens sieben Jahre vor 1988. Lindsey und seine Anhänger überließen es dem Leser, das genaue Datum zu bestimmen. Sie wiederholten allerdings ausdrücklich, dass die Generation der 1948er zweifellos das letzte Menschenalter darstelle. Die Datierung der Entrückung auf die Jahre 1980 und 1981 hängt mit bedeutenden politischen Entwicklungen zusammen. 1978, also kurz vor dem Entrückungstermin, entstand eine der wichtigsten politischen Bewegungen der amerikanischen Geschichte: das Moral Majority Movement, der Zusammenschluss einer vermeintlichen Mehrheit, die für strengere öffentliche Moral eintrat. Unter der Führung Jerry Falwells und anderer Verfechter der Entrückungstheologie gewann die Bewegung erfolgreich mehrere Zehntausende Pastoren für ihre Politik, deren Gemeinden bisher weitgehend apolitisch waren. Diese neue Bewegung unterstützte Kandidaten und Manifeste, die ZNT 15 (8.Jg. 2005) Robert Jewett Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus für Armageddon geeignet schienen. Sie plädierten zum Beispiel für die Aufrüstung des amerikanischen Atomwaffenarsenals und für ein größeres Verteidigungsbudget, identifizierten sich mit den Interessen Israels und wiesen den palästinensischen Ruf nach Autonomie zurück. Die UNO und das internationale Völkerrecht sowie Kompromisse mit der Sowjetunion lehnten sie ab. Darüber hinaus positionierten sie sich durch unverrückbare Moralpositionen, z.B. zur Abtreibungsfrage. Die verschärfte Sittenstrenge sollte dabei auf den gerechten Sieg bei der Endschlacht vorbereiten, deren Beginn sie für die kommenden Jahre erwarteten. Das Moral Majority Movement wirkte sich stark auf die amerikanische Politik aus, viel mehr als es ihre relative Kurzlebigkeit vermuten lässt. 1980 trug es wesentlich zur Wahl des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei und hievte die derzeitige Führungsgeneration innerhalb der republikanischen Partei ins Amt, einschließlich Newt Gingrich, Dick Armey, Tom Delay und vielen anderen. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte es die republikanische Partei, die sich bis dahin dem Föderalismus, Kapitalismus und internationaler Rechtsstaatlichkeit verpflichtet hatte, in eine chiliastische Partei, die politische Kompromissbereitschaft ablehnte und internationalen Gesetzen sowie Friedenserhaltungsversuchen äußerst misstrauisch gegenüberstand. Inzwischen hat diese fundamentalistische Bewegung, der heute circa 30 Millionen Wähler angehören, Verbindungen mit dem konservativen israelischen Likud-Block geknüpft und erschwert durch ihren Einfluss jeden Versuch eines israelisch-palästinensischen Dialogs. Die Entrückungstheologie brachte auch einen bislang unbekannten bis 2007 zur Neige ginge, die Zeit der Bedrängnis aber 7 Jahre früher, auf das runde Jahr 2000 fiele. Der Fernsehprediger Pat Robertson nahm das neue Datierungsschema zur rechten Zeit auf, womit sein Aufstieg der letzten 20 Jahre zusammenhängt. Nachdem der letzte Entrückungstermin inzwischen auch schon ungeschehen verstrichen ist, steigt die Flut der entrückungstheologischen Bücher beständig. Obwohl man mit der Nennung eines konkreten Datums wesentlich vorsichtiger geworden ist, scheint das Prophezeiungsgeschäft sich zur Zeit in der nebelhaften Schwebe zu befinden. Es weist teilweise Parallelen zu der biblischen Parusieverzögerung, als auch zu den falschen Voraussagen am Ende von Dan und der Offb auf. Trotz dieser Fehldatierungen bleibt ihr Machteinfluss auf die amerikanische Politik ungebrochen. 5. Gefahren der chiliastischen Zivilreligion Manche der chiliastischen Ideologien zielen auf eine theokratische Zivilreligion ab. Pat Robertson argumentiert beispielsweise in seinem Buch »America's Dates With Destiny«, dass Amerika als Christennation gegründet worden sei, und ruft die Amerikaner dazu auf, sich wieder auf ihr geistiges Erbe zu besinnen. Der israelische Versuch einer klassischen Theokratie sei »das Vorbild für Amerika gewesen.,/ 0 Die Gefahren des theokratischen Chiliasmus sollten uns bewusst sein. Wer die Lehre verbreitet, dass einem allein durch Mitgliedschaft in der richtigen Religionsgemeinschaft die Zeit der Bedrängnis also Atomkrieg oder kriegstreiberischen Ton in die amerikanische Politik. Die Entrückungstheologie hat nichts von ihrer Wirkungskraft eingebüßt, ob- » Die Gefahren des theokratischen Chiliasmus Terrorismus erspart bleiben, der verbreitet in der Zivilreligion eine eskapistische Haltung. Diese Vision der Schosollten uns bewusst sein.« wohl ihr 1948er-Datierungsschema fehlschlug. Ihre Überarbeitung ist zumeist stillschweigend verlaufen. Die erste Revisionsphase begann wahrscheinlich 1980 mit einem Vortrag Hal Lindseys in Toronto. Lindsey stellte dort zur Diskussion, ob die jüdische Einnahme Jerusalems 1967 den Beginn des letzten Menschenalters darstelle. Dies bedeute, dass das letzte Menschenalter spätestens ZNT 15 (8. Jg. 2005) nung der Gläubigen hat innerhalb christlicher Eschatologie keine Parallelen. Vor 1830 lehrten christliche Apokalyptiker noch, dass die Gläubigen für ihren Glauben leiden müssten, ein Realismus, der mit den Lehren J esu, Pauli, dem Hebräerbrief und den Propheten übereinstimmt. Die eskapistischen Versprechungen der modernen Apokalyptiker stehen im Gegensatz zu solchem Realismus. In einer zukunftspes- 65 simistischen Zeit fällt ein solcher Eskapismus auf fruchtbaren Boden. Seine politischen Erfolge unter der Wählerschaft häufen sich auf beunruhigende Weise und die Unterhaltungsmedien fördern ihn durch das wiederkehrende Schema einer unschuldigen, von Verkörperungen des Bösen bedrohten Gemeinschaft, die von einem Superhelden im letzten Augenblick gerettet wird. Übertragen auf die Politik entspricht dies dem Glauben an einen »Superpräsidenten«, der in einer bedrohten Welt mit überlegener Militärgewalt Sicherheit herstellt. Dabei überleben die Unschuldigen eine von Feindstaaten oder Terroristen verursachten Vernichtung und triumphieren am Ende. Selbst nach völliger Zerstörung allen Lebens wird die neue Welt aus ihrer Asche durch göttliche Kraft neugeboren werden. Die chiliastische Zivil- Religion tendiert dazu, aktuelle Ereignisse auf die zukünftige Erfüllung der Heilsgeschichte zu beziehen. Mit dem Warten auf Armageddon aber werden langfristige Überlegungen und lebenserhaltende Maßnahmen überflüssig. Jeder Versuch zwischenstaatliche Konflikte durch internationale Richtersprüche zu lösen, wird als Versuchung des Antichristen abgewiesen. Die moderne Entrückungstheologie unterteilt die Welt in wahre Gläubige, die der Zeit der Bedrängnis entgehen werden, und die restlichen Erdenbewohner, die wegen ihrer Sünden leiden müssen. Im politischen Kontext glaubt man, dass unsere Gegner gefährlich sind und zerstört werden müssen. Jeder politische Kompromiss wird hierbei prinzipiell abgelehnt. In der Außenpolitik neigt eine entrückungs-geprägte Wählerschaft zur militärischen Auseinandersetzung und zur Ablehnung internationaler Institutionen. Es ist für sie unvorstellbar, dass Amerika sich als gleichwertiger Partner neben anderen Nationen einreihen muss, unter denselben Gesetzen steht und ebenfalls nur eine Stimme hat. Für amerikanische Fundamentalisten ist jeder Kompromiss mit Andersdenkenden ein Betrug am Vertrauen auf Gott und jeder Versuch, Rüstungs- und Atomwaffenabbau zu betreiben, ein Ausverkauf an den Teufel. In Blick auf die gegenwärtige Politik sollte es jetzt deutlich sein, weshalb die amerikanischen Fundamentalisten den sogenannten Präventivkrieg und eine Eskalation des Konfliktes im Nahen Osten begrüßen. Denn mit Armageddon wird nach ihrem Verständnis das Tausendjährige 66 Reich Gottes eingeläutet. Bis dahin werden selbstverständlich alle Erdenbewohner, die nicht an diese Theologie glauben, schon tot sein. Dennoch bietet dieses Szenario ein kleines Fünkchen Hoffnung, denn die gute Nachricht ist, dass der Herr der Geschichte sich bisher geweigert hat, die Pläne seiner populären Untergangsapostel zu erfüllen. Dahinter verbirgt sich vielleicht der Beginn eines möglichen Gesprächs mit unseren fundamentalistischen Kollegen. Die Religionsgeschichte jedenfalls legt den Schluss nahe, dass menschenfreundlichere Formen der Politik oft erst nach dem Zusammenbruch überspannter Endzeiterwartungen möglich werden. 6. Die Anwendbarkeit eines realistischen biblischen Gesichtspunktes Während der eifrige Nationalismus und einige Formen des pessimistischen Realismus von der Vergangenheit dominiert werden, verdeutlicht sich der prophetische Realismus durch die Anziehungskraft der Zukunft. Die Ursprünge für diesen Realismus sind auch biblisch. In Abraham Lincolns politischer Ethik findet sich die Vision einer stufenweisen Annäherung an die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung nach der »alle Menschen gleich erschaffen wurden«. In den Debatten mit Douglas im Jahr 1858 bestand Lincoln darauf, dass die Urväter sich vollkommen bewusst waren, dass die Gleichheit noch keine Realität war und nicht schnell erreicht werden könnte. »Sie wollten einen Standard setzen für eine freie Gesellschaft, die allen vertraut sein sollte und von allen geachtet würde; die ständig gesehen, für die ständig gearbeitet würde und obwohl niemals auf perfekte Weise erreicht ständig angestrebt und dadurch sich ständig ausbreitend und überall in ihrem Einfluss auf das Glück und Leben aller Menschen in allen Rassen vertiefend sei.« 21 Das biblische Konzept der Perfektion als eines sichtbaren, aber schließlich unerreichbaren Ziels liegt hinter Lincolns Argument. Es war die Erkenntnis, dass diese Vision niemals vollkommen erreicht werden könnte, die Lincoln davor bewahrte, ein Fanatiker zu werden. Zugleich war es diese Vision, die ihn davor verschonte, ein politischer Opportunist zu sein. Lincolns prophetischer Realismus erreichte ZNT 15 (8. Jg. 2005) Robert Jewett Die biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus seinen Höhepunkt in seiner »Zweiten Antrittsrede«. Diese Rede spielte auf die Erwartungen der Nord- und der Südstaaten an, indem er nicht nur die Ironie bemerkte, dass »beide dieselbe Bibel lesen und zum selben Gott beten«, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven, dass aber keiner wirklich gerechtfertigt sei in seiner Überzeugung von der Heiligkeit seiner Sache. Wenn der Süden »es nicht wagen dürfte, einen gerechten Gott um seine Hilfe zu bitten, sein Brot vom Schweiß auf anderer Menschen Gesichtern zu erlangen«, müsste der Norden die Warnung beherzigen, »nicht zu richten, um nicht gerichtet zu werden«. Der Sinn für moralische Überheblichkeit, die den eifrigen Krieg unterstützt, ist ein Rückzug, um zu bekennen, »dass der Allmächtige seine eigenen Gründe hat.,/ ' Göttliches Urteil war auf »beide gefallen, Norden und Süden« und auf mysteriöse und tragische Weise hatte die Fortsetzung des Leidens beider ihre Bedeutung für den ungeteilten Willen Gottes. Lincoln fuhr fort: »If we shall suppose that American Slavery is one of those offences which, in the providence of God, must needs come, but which having continued through His appointed time, He now wills to remove, and that He gives to both North and South, this terrible war, as the woe due to those by whom the offence came, shall we discern therein any departure from those divine attributes which the believers in a Living God always ascribe to Hirn? Fondly do we hope fervently do we pray that this mighty scourge of war may speedily pass away. Yet, if God wills that it continue, until all the wealth piled by the bond-man's two hundred and fifty years of unrequited toil shall be sunk, and until every drop of blood drawn with the lash, shall be paid by another drawn with the sword, as was said three thousand years ago, so still it must be said, ,the judgments of the Lord, are true and righteous altogether«<. Dieses Zitat aus Ps 19,9 ist der Kern von Lincolns Argument, denn es erschüttert die einfache Identifikation der einen Seite mit Gottes Gerechtigkeit. Wie Lincoln in einem Brief an Thurlow Weed feststellte, sei eine solche Botschaft nicht »sofort populär. Menschen seien nicht begeistert, wenn man ihnen zeigt, dass zwischen ihnen und Gottes Willen eine Kluft herrsche.« 23 Bis sie diesen Unterschied erkennen, könne man sie weder menschlich noch realistisch nennen. Die Tatsache geteilter Menschlichkeit erhält ZNT 15 (8. Jg. 2005) am Ende von Lincolns zweiter Antrittsrede Kontur. Eine Form der Gerechtigkeit, die die empfindliche Kompliziertheit jeder Seite erkennt, widersetzt sich zelotischen Ideologien. Der eifrige Zelot ist so gefangen in seinem moralischen Kreuzzugsdenken, dass Menschen nicht mehr zählen. Er wird unerbittlich, brutal und todessüchtig. Gnade ist in einer solchen Ideologie ein Zeichen von Schwäche, ein Betrug am heiligen Vorhaben, ein Schritt hin zu einem Kompromiss mit dem Teufel. Liebendes Mitgefühl ist eine Antithese zum Zelotentum. Es stimmt überein mit dem Beschluss, ein gerechtes Ziel weiter zu verfolgen, auch wenn keine unumschränkten Beweise vorliegen. Lincoln spricht von einer »Standfestigkeit im Recht« im Verhältnis zu »Gott lässt uns das Rechte sehen« (eine Annäherung an Joh 11,9), das heißt in mysteriöser und stückweiser Form (eine Annäherung an lKor 13,9-12). Wenn die Version des »Rechten« von jeder Gruppe unter der Prämisse des prophetischen Realismus eingegrenzt wäre, würden sie niemals aus Fanatismus handeln und damit den Wert des Lebens achten. Trotzdem behielt Lincolns Art von Standfestigkeit die Kraft, das demokratische Experiment während des Bürgerkrieges zu festigen. Dieser komplexe Gedanke wurde in einem einzigen Satz am Ende der Antrittsrede ausgedrückt, mit Anspielungen auf den lPetr 2,1; Röm 13,8 und Ps 147,3: »With malice toward none; with charity for all; with firmness in the right, as God gives us to see the right, Jet us strive on to finish the work we are in; to bind up the nation's wounds; to care for him who shall have borne the battle, and for his widow, and his orphan to do all which may achieve and cherish a just, and a lasting peace, among ourselves, and with all nations.« Nächstenliebe und Realismus folgen konsequenterweise Lincolns Orientierung. Seine Sicht des unparteiischen göttlichen Rechts verhinderte Fanatismus und ließ ihn nicht nur auf die Bedürftigkeiten anderer reagieren, sondern innerhalb eines Verwirrspiels von historischen Verantwortlichkeiten realistisch handeln. Sein Realismus, der die Faktoren für einen »gerechten und dauerhaften Frieden« im Blick hat, zielt nicht auf das Auslöschen des Bösen, sondern darauf, sich um die Opfer zu sorgen. 67 Schluss Die »Zweite Antrittsrede« von Amerikas größtem Präsidenten machte den lebendigen Quell von Nächstenliebe und Realismus innerhalb Gottes mysteriösen Plänen offenbar, und zwar für diejenigen, die Lincoln das »fast erwählte Volk« nannte. Indem er den übereifrigen Griff auf die fanatische Interpretation zurückgewiesen hat, öffnete Lincoln der Nation ihre natürliche Quelle der Barmherzigkeit und des gesunden Menschenverstandes. Er respektierte damit ihre Überzeugung von nationalem Berufensein und verhinderte somit, dass sie sich in einer amoralischen Wüste verliert. In einer Zeit, in der chiliastische Arroganz droht, die Welt an den Rand der Katastrophe zu bringen, könnte diese Seite von biblischem Messianismus auch heute eine wichtige Orientierung geben. Anmerkungen 1 Heike Goebel, seine Frau, wirkte an der Übersetzung mit. 2 J. Edwards, History of the Work of Redemption, zitiert in: Tuveson, Redeemer Nation: The Idea of America's Millennial Role, Chicago 1968, 100; vgl. F.J. Baumgartner, Longing for the End: A History of Millennialism in Western Civilization, New York 1999, 127-130. 3 N.O. Hatch, The Sacred Cause of Liberty, New Haven 1977, Kap. 1. 4 S.E. Ahlstrom, A Religious History of the American People, New Haven 1972, Kap. 52. 5 Zitiert in Tuveson, Redeemer Nation, 105-06. ' Zitiert in P. Miller, »From the Covenant to the Revival«, Nature's Nation, Cambridge 1967, 95. 7 R. Slotkin, Regeneration Through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600-1860, Middletown 1973, 104. 8 Siehe J. Shelton Lawrence / R. J ewett, The Myth of the American Superhero, Grand Rapids 2002, 19-48. 9 Vgl. P. Boyer, When Time Shall Be No More: Prophecy Belief in Modem American Culture, Cambridge 1992, 71-72. 10 Zitiert nach H. Kohn, American Nationalism: An Interpretive Essay, New York 1957, 13. 11 Vgl. P.S. Boyer, Art. Chiliasmus. IV, Nordamerika, RGG, 4. Aufl., Tübingen 1999, Bd. 2, 139. 12 Tuveson, Redeemer Nation, 197ff. 13 Zitiert nach W.S. Hudson, Nationalism and Religion in America: Concepts of American Identity and Mission, San Francisco 1970, 74. 14 Vgl. G.R. Knight, Millennial Fever and the End of the World: A Study of Millerite Adventism, Boise 1993, 17. 15 Vgl. D. Morgan, Adventism and the American Republic: The Public Involvement of a Major Apocalyptic Movement, Knoxville 2001, 11-29. 16 Knight, Millennial Fever, 142. 68 17 Siehe St.D. O'Leary, Arguing the Apocalypse: A Theory of Millennial Rhetoric, New York/ Oxford 1994, 93- 133. 18 T.P. Webber, Living in the Shadow of the Second Coming, 2. Aufl., Grand Rapids 1984. 19 Bezüglich der neueren Diskussion, siehe J. Callahan, Primitivistic Piety: The Ecclesiology of the Early Plymouth Brethren, Lanham 1996. Eine detaillierte Behandlung der Thematik bietet: R. Chandler, Doomsday: The End of the World - A View through Time, Ann Arbour 1993, 108-109. Siehe auch P.S. Boyer, The Growth of Fundamentalist Apocalyptic in the United States, in: The Encyclopedia of Apocalypticism, Bd. 3: Apocalypticism in the Modern Period and the Contemporary Age, New York 1998, 149-151. 20 P. Robertson, America's Dates With Destiny, Nashville 1986, 90. 21 Lincoln, »Rede in Springfield, Illinois, 1857«, zitiert nach H.V. Jaffa, Crisis of the House Divided: An Interpretation of the Issues in the Lincoln-Douglas Debates, Garden City 1959, 16. 22 D.E. Fehrenbacher (Hg.), Abraham Lincoln: A Documentary Portrait Through His Speeches and Writings, New York 1964,278. 23 Fehrenbacher, Abraham Lincoln, 279. Vorschau auf Heft 16 ZNT aktuell: Friederike Wendt/ Annette Weißenrieder, Ikonographie und das Neue Testament Zum Thema: Willi Braun, Das Jesus-Seminar Leroy Huizenga/ Michael Schneider, Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Volker Lehnert, Die Verstockung Israels und biblische Hermeneutik Kontroverse: Herodes - Kindermörder oder weiser Staatsmann? Manuel Vogel vs. SarahJapp Hermeneutik und Vermittlung: Almut Bruckstein, Das Bild im Talmud Buchreport: Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003 (Hans Hübner) ZNT 15 (8. Jg. 2005)