eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/16

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2005
816 Dronsch Strecker Vogel

Die ›Verstockung Israels‹ und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage

121
2005
Volker A. Lehnert
znt8160013
Zum Thema Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage Die Auslegung der biblischen Verstockungsaussagen, vor allem der Funktion von Jes 6,9f. in Mk 4,10-12; Joh 12,39f. und Apg 28 ,26f., ist seit langem umstritten und provoziert immer wieder neue exegetische Versuche.' Interessanterweise differieren die erzielten Ergebnisse bisweilen erheblich. Ende der Erwählung Israels? Traditionell wird der Indikativ Futur in Apg 28,27 »ich werde heilen « abhängig von der Konjunktion »damit nicht« als Ersatz für einen Konjunktiv aufgefasst. Zu übersetzen wäre dann »damit sie nicht etwa sehen ..., umkehren und ich sie heilen würde« . Theologisch würde dies bedeuten, dass die Verstockung Israels für Lukas prädestiniert wäre, Israel nach Apg 28 keine Heilszukunft zukäme und der lukanische Paulus mit eschatologischen Perspektiven auf der Linie von Röm 9-11 reichlich wenig im Sinn gehabt haben kann. So behauptete jüngst JACOB JERVELL nochmals in seinem Acta-Kommentar, in Apg 28 ginge es »um die endgültige Verstockung. [...] Jetzt ist das Urteil über das gesamte unbußfertige Judentum endgültig. Alle Juden überall in der Welt haben das Evangelium gehört. Jetzt gilt es Rom und dem Westen, und damit ist das Schicksal des ganzen Weltjudentums besiegelt. [. .. ] Eine zukünftige Bekehrung Israels, so wie Röm 11, ist ausgeschlossen« .2 Im Folgenden werden drei neuere Ansätze zur Lösung dieses Problems vorgestellt mit drei unterschiedlichen Ergebnissen. Die Betrachtung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie der faktischen Präjudizierungen theologischer Ergebnisse durch methodische Vorentscheidungen entpuppt sich als bibelwissenschaftliches Kabinettstückchen, nicht nur für exegetische Proseminare, denn zwei Vorschläge kommen mit verwandter Methodik zu gegensätzlichen Ergebnissen und zwei kommen mit unterschiedlichen methodischen Zugängen zu einem ähnlichen theologischen Ertrag. ZNT 16 (8 . Jg. 2005) 1. Was Lukas nicht sagt, meint er auch nicht 1998 erschien GÜNTER WASSERBERGS Studie »Aus Israels Mitte - Heil für die Welt«. 3 Hier erfährt das lukanische Werk eine theologische Aufwertung durch eine narrative Betrachtungsweise (narrative criticismJ: Lukas rückt in eine größere Nähe zu Paulus als es der traditionellen deutschsprachigen Exegese bisher lieb gewesen zu sein scheint und die immer wieder bemüht war, eine deutliche Distanz zwischen Lukas bzw. dem lukanischen Paulus und dem Paulus der Briefe herauszustellen. Zwei Aspekte seien herausgegriffen: a) Wasserberg legt Apg 28,16ff. >textimmanent< aus: »Was Lukas sagen will, hat er gesagt. Alles darüber Hinausgehende bleibt Spekulation« (114). Es gibt daher keinen Grund, Apg über »das literarische Ende hinaus « zu deuten, denn »was bislang noch nicht gesagt worden ist, wird auch nicht mehr gesagt« (71) . Zu interpretieren ist ausschließlich das explizit Gesagte bzw. Geschriebene. Da der Text abbricht, ist es für Wasserberg müßig, über irgendwelche fiktiven Fortsetzungen oder verborgene Intentionen des Lukas zu spekulieren. b) Wasserberg bezieht das Verstockungswort Jes 6, 9f. auf die ,jesusungläubigen Juden, die aufgrund göttlicher Verstockung nicht glauben< (115). Die lukanische Erzählung diene der theologischen Erklärung der faktischen jüdischen Ablehnung des Evangeliums in der Erzählgegenwart. Die Frage der weiteren politischen oder eschatologischen Zukunft Israels interessiere Lukas nicht (365) . Wasserbergs Ansatz geht im Grundsatz davon aus, dass Lukas das, was er meint, auch in irgendeiner Form sagt. Sprechakttheoretisch heißt das: Die dem Text zu Grunde liegende Illokution ist aus dem Oberflächentext in irgendeiner Weise auch direkt abzulesen. 2. Was Lukas meint, sagt er nicht Ich selbst habe 1999 meine Studie »Die Provokation Israels « 5 vorgelegt, in der ich die Rede von 13 Z um Th ema der Verstockung textpragmatisch ucd lese : orientiert vom hermeneutischen Ansatz WOLFGANG lSERS 6 he r interpretiere. Dabei komme icl: ebenfalls zu d em Ergebnis, da : ,s Luhs theologisch aufzuwerten und in größerer N ähe zu Paulus zu verort en ist: Zu den beiden ang espro chenen Aspekten im einzelnen: a) Zur Frage d es offenen Schlusses und der In terpret ati on von Apg 28,1 6ff. lautet meine These: »Der Ab bruch der Apg in der Spannung eines offenen Schlusses [...] ste lli: le serorientiert einen Rezeptions spielraum im Si nn einer Leerst elle zur Verfügung, die das , was sie will, gerade nie t sagt, sondern als Schlussfolgernng dem Leser nfgibt« (272) . Da der Text so abrupt abbr i cht und mehr Fragen offen lässt als beantwortet, mus s es sich um einen sogenannte n >offenen Schluss< und bei der Apg entsp rechend um ein >offenes Kunstwerk/ handeln, das nicht-artikuli erte Dimensionen rezeptionsästhetisch zu einer gleichsam ko ns truktivistischen Vervollständig ng durch die Leser zur Verfügung stellt, die aber g,erade keine Spekulation, sondern vieimehr eine sub : i l geplante Komplettierung des Textes darstellt. tische Behandlungsform der Symptomverschreibu n g, die u.a. von PAUL WATZLAWICK kommunikationstheoretisch reflektiert wurde. So berichtet er v on einer Pat ientin, die nicht ,Nei n-Sagen< konnte. Der Therapeut forderte daher alle Teilnehmer einer Gruppe auf etwas zu verneinen. Da sie das nicht vermochte, lehnte sie die Verneinung kategorisch ab, ohne zu merken, dass sie gerade darin eine Verneinung vollzog. Sie hatte durch Verneinung des ,Nei n-Sagens< das ,Ne in-Sagen< gel ernt. Nicht dem Begriff, aber der Sache nach war diese Tech nik bereits in der Antike bekannt. So kennt etwa QUINTILIAN die sogenannte >Antiphrasis< als Technik: »das Gegenteil von dem zu sagen, was man verstanden wissen will« (Inst IX 2,50) . Emotionaler Wide rspruch zur Behauptung des angeblichen Verstocktseins stellt also bereits einen ersten Schritt zu dessen Überwindung dar. Dazu passt, dass in Bezug auf das Rezeptionsumfeld des lukanischen Werkes in neuerer Zeit der jüdische und judenchristliche Anteil wieder größer eingeb) Da s Vers tockungswort J es 6, 9f. beziehe ich wie Wasserberg auf die ni cht an Jesus glaubenden Juden , allerdings mit dem Zi el eines ra dikalen » Zu interpretieren ist daher nicht nur das Gesagte, sondern auch d,as "Jtlicht-Gesagte, aber sehr wo hl indirekt Gemeinte.« schätzt wi rd. 9 Das gesamte Repertoire des Lukas (bes. Lk 1-2) einschließlich semer LXX- Kenctnisse weist auf seine tiefe Verwurzelung im Judentum hin. Seine Leser er- Umkehrruf es im Sinne einer >parad oxen Interventio n-: (252ff.). Die Verstockung in der Erzählgegenwart soll nicht in erster Linie er~-därt, sondern durch rh etorische Pro vokati on überwunden werden. Zu paraphrasieren i st mit ironi sch em Unterton: »Macht nur weiter so, dass ihr n ur nicht umkehrt und i: h euch heilte ... «. Hier rückt Apg 28,26f. in die Nähe von Röm 11 ,7-14 wo ja in V.8 auch auf J es 6,9f. ange spielt wird. Der Paulus des Römer br iefe s "errät iier geradezu explizit, wa s der lukanis che Paulus insgeheim be zweck t. Die Fesdegung auf d: e Verstockung e ntpuppt sich im Sinne einer ,Symptomverschreibung< als eine rhetorische provoccitio zur Umkeh r, denn sie provoziert den Widerspruch der Leser zum G elesenen.. Paradoxe lnter-,ention s ucht das zu Überwindende bewmst hervorzubringen, um es genau dadurch zu überwinden. Der moderne Begriff der >Paradc-xen lr: tervention<8 stammt au s der Suggestivtherapie. VI KTOR FRANKL entwickelte daraus die spezielle therapeu- 14 warten und verstehen bibliseh e Argumentation, müssen also mit der LXX vertraut sein. In den Reden der Apg wird nur ein einziges Mal ein Römer angesprochen (Apg 24), ansonsten sind immer Juden die Adressaten. Die Verteidigung des Christentums erfolgt also nicht Rom, sondern dem Judentum gegenüber. Analog zu r alttestamentlichen Unheilsprophetie wären damit die harschen Verstockungsaussagen nicht als heidenchristlicher Antijudaismus, sondern als Fo rm innerjüdischer Polemik und prophetischer Se lbstkritik Israels zu verstehen. Zu interpretieren ist daher nicht nur das Gesagte, sondern auch das Nicht-Gesagte, aber sehr wohl indirekt Gemeinte . Sprechakttheoretisch heißt das: Die dem Text zu Grunde liegende Illokution ist aus dem Oberflächentext indirekt zu erschließen. ' 0 Obwohl die beiden Arbeiten hermeneutisch unterschiedlich ansetzen, haben sie große Gemeinsamkeiten bei teilweise gegensätzlichen Er gebnissen: ZNT 16 (8.Jg. 2005) Volker A. Lehnert Dr. Volker A. Lehnert, Jahrgang 1960. Studium der Ev. Theologie in Wuppertal und Bonn, Pro motion 1999 in Wuppertal mit einer Studie zur neutestamentlichen Textpragmatik am Beispiel von Jes 6,9f. bei Markus und Lukas. Von 1988 bis 2001 Pfarrer in Neuss. Vortragstätigkeit in der theologischen Erwachsenenbildung. Diverse Veröffentlichungen (www.lehnertneuss.de). Seit 2001 Aus - und Fortbildungsdezernent der EKiR. Beide Arbeiten erschienen fast zeitgleich. Beide Arbeiten erweitern das gängige methodische Repertoire. Beide Arbeiten werten Lukas theologisch auf und rücken ihn wieder in die Nähe des Paulus. Beide Arbeiten sind israeltheologisch wichtig. Beide Arbeiten stehen im Gespräch mit internationalen Entwürfen, z.B. von TANNEHILL, MARGUERAT und BRAWLEY, die alle zum Schluss der Apg gearbeitet haben, ebenfalls mit unterschiedlichen Ergebnissen. 11 Während aber die narrative Methodik interpretieren will, was da steht, sucht die textpragmatische Methodik nach dem, was drin steht. 12 3. Lukas meint, was er sagt Im Jahre 2000 veröffentlichte MARTIN KARRER in der Festschrift für Jürgen Roloff einen Beitrag zu Jes 6,9f. in Apg 28,26f. 13 Karrer findet nun das, was Lukas nach Wasserberg angeblich überhaupt nicht, nach Lehnert dagegen indirekt sagt, im Text direkt, indem er nämlich den Indikativ Futur »ich werde heilen« (Apg 28,27) als echten Indikativ versteht und nicht im Anschluss an »damit nicht« als Ersatz für den Konjunktiv (257ff.). »Apg 28,27 (nach J es 6, 10 LXX) teilt die reale Erwartung im ZNT 16 (8. Jg. 2005) Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik Indikativ Futur« (258). Dann wäre zu übersetzen: »und ich werde sie heilen« oder paraphrasiert »ich aber werde sie trotz allem heilen«. Damit führt der lukanische Paulus die paulinische Israeltheologie nach Paulus weiter. Lukas vertritt zwar eine »Theologie der Skepsis gegenüber Israel, aber eines noch größeren Zutrauens zum Gott Israels für Israel« (271). Blendet Lukas nach Wasserberg die Zukunftsfrage für Israel aus, so kommen Karrer und ich kurioserweise trotz unterschiedlicher methodischer Vorgehensweise zu einer ähnlichen theologischen Aufwertung des Lukas, der entweder Umkehr provoziert (Lehnert) oder sogar explizit Zukunft verheißt (Karrer), in jedem Falle also das Heil Israels im Blick hat. 4. Lukas meint mehr, als er sagt Mit dieser Erkenntnis hat die Lukasexegese eine Interpretationsfährte wiederentdeckt, die bereits in der jüdischen Rezeptionsgeschichte von J es 6,9f. angelegt ist, wie MARTIN VAHRENHORST im Jahre 2001 zeigen konnte. 14 In neutestamentlicher Zeit wird nämlich J es 6, 9f. nirgends negativ als ein »auf Vernichtung zielendes Verstockungsgericht« zielender Text gelesen (150). Rabbinische Auslegung vernimmt aus Jes 6,9f. sowohl einen Umkehrruf als auch ein heilende Sündenvergebung verheißendes Heilswort (157; Belege dort). Jüdische Auslegung hört aus den Texten immer ein positives Mehr heraus. Es gibt gar keinen Grund anzunehmen, dies sei bei Lukas nicht der Fall, zumal die gleichen Argumente, die für eine jüdisch geprägte Leserschaft anzuführen sind auch für eine jüdische, zumindest aber stark jüdisch geprägte Identität des Lukas sprechen. 15 5. Lukas deutet an, was er nicht sagt, aber dennoch meint Auch wenn WASSERBERG der Meinung ist, Lukas gewähre seinen Lesern keinen »verheißungsvollen Ausblick auf jüdische Annahme christlichen Glaubens« (355) - und im Sinne direkter Explikation hat er zweifelsohne recht so lassen sich doch deutliche Indizien dafür benennen, dass Lukas sehr wohl eine eschatologische Zukunft 15 Zum Thema Israels kennt und diese sogar in Andeutunger_ zu erkennen gibt. Dies hat sehr eindrücklich MICHA - EL HOFFMANN in ~einer bisher leider viel zu wenig beachteten Arbeit »Das eschatologische Heil Israels nach den luka: 1ischen Schriften« 16 gezeigt- So ist die Zeit des Gerichte: ; nach Lk 13,34f. ausdrücklich begrenzt, ebenso wie in Lk 19, 11-27, das nicht isoliert vo n der Verkündigung im Tempel (Lk 21,24b) gelesen werden darf. Lk 24 ,21; Apg 1,6f. u: 1d 24,21 belegen explizit die Reichs hoffnung für Israel und die WiederbringuEg >al ler Dinge< (Apg 3,19 -21 ) wird Israel kaum ausschließen, im Gegenteil, das in diesen Versen verwer_dete Vokabular schließt assoziativ an Jer 16,15; 24,6 und 27,10.19 (LXX) und damit an den Kontext der Rückführung Israels aus dem Exil an. In Apg Lehnert) differieren theologisch, die theologisch konvergierenden Untersuchungen (Lehnert, Karrer) differieren methodisch. Eindrücklicher als an diesem exegetischen Kabinettstückchen kann man den unauflösbaren Zusammenhang von wissenschaftlicher Methodik und theologischer Erkenntnis kaum demonstrieren. 7. Einige Konsequenzen Für das theologische Geschäft ergeben sich daraus meines Erachtens unter anderem folgende Schlussfolgerungen: 1. An dem vorgeführten Beispiel zeigt sich besond ers deutlich, in welch hohem Maße die hermeneutische und methodi- 15,15 -18 sc ~1.l ießlich wird die endzeitliche »Wiederaufrichtung J erusalems « (177) ausdrücklich ve rheiß en. D iese Lesehinweise suggerie ren mehr oder weniger subti~die positive Verhe ißung, die sich hinter der vermeintlichen Negativaus,age von Apg 28 verbirgt, g; ; ,nz im Sinne von » An dem 1.: orgeführten Beispiel zeigt sich besonders deutlich, in welch hohem Maße die hernu: netttische und methodische Vorentscheidung das Ergebnis der Exegese pri: ijudizieren kann.« sche Vorentscheidung das Ergebnis der Exegese präjudizieren kann. Die Wahrheitsfrage kann also unterschwellig von der Methodenfrage dominiert werden. Allein schon diese Einsicht müsste eigentlich automatisch zu ei- N edarim 1la: »Aus dem Nein hörst Di: . das Ja. « 6. Methodik nd Theologie Diese Beispiele mögen genügen. Las die klccssi~che Auslegung Apg 28,26f. theologisch als Ende der Erwählung Israels, indert sie die Verstockungsaussage n 1direkt u nd wönlich auffasste (Gnilka, Jervell), so vermag eine textpragmatische Betrachtung, die mi t indirekten und paradoxen Si nn- und Wirkpotenzialen rechnet, Negativprognosen einen positiven rh etorisch,: n Sinn abzugewinnen. Wasserberg und Karrer gehen von dem Text aus, wie er dasteht, sind allerdings untersch: edlicher Meinung über das, was denn dastehe, u: 1d kommen daher zu gegensätz lichen Deutung~n. Ich gehe im Unterschied zu Karrer von einem nicht direkt dastehenden Sinnpotenzial aus, komme aber kurioserweise zu einem vergleichbaren theologischen Ergebcis wie er. Die sich method: sch näherstehenden Untersuc hu ngen (Wasserberg, 16 ner hermeneutischen Selbstrelativierung im Sinne von lKor 13,9 führen: »Unser Erkennen ist Stückwerk«. 2. Die Unterscheidung zwischen Gesagtem und Gemeintem sensibilisiert für das Erspüren von indirekten, rhetorischen und poetischen Sp rachformen. Dies mag man zwar einerseits als ein modernes Remake der alten Lehre vom mehrfac hen Schriftsinn bedauern, kritisieren oder gar ablehnen, anderseits aber befördert es dynamische und postmodern 17 andockfähige Auslegungsarbeit. Auch schafft es in gewisser Weise Fundamentalismusimmunität, ganz im Sinne von 2Kor 3,6: »Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig«. Wissen wir doch schon spätestens seit der Satanshermeneutik aus der Versuchungserzählung (Mt 4,1-11 ), dass ein starres >es steht geschrieben< als undynamische Ausprägung eines vordergründigen und oberflächlichen >sola scriptura< noch lange keinen Weg ins Leben eröffnet. Satan zitiert hier die Schrift scheinbar wie Jesus, aber in Wahrheit doch ganz anders. Er klebt am Wortlaut, der ZNT 16 (8.Jg. 2005) sich immer auch einem Ungeist dienstbar machen lässt. Jesus bringt demgegenüber den Geist der Schrift zur Geltung und stellt auf diese Weise ihren Wortlaut in ein konstruktives theologisches Licht. Modem ausgedrückt: Jesus wusste, dass locutio und illocutio eines Textes noch lange nicht identisch sein müssen. 3. ULRICH KöRTNER hat sogar versucht, in solchen textpragmatischen und lesetheoretischen Phänomenen eine berechtigte Dimension der alten Inspirationslehre wiederzufinden, nun allerdings weniger auf der Autorals auf der Leserseite. Wenn sich Textbedeutung rezeptionsästhetisch je neu ereignet, entfalten sich textinhärente Sinnpotenziale nicht endgültig und zeitlos, sondern jeweils aktual. Die Inspiration läge dann nicht im vordergründigen Wortlaut des biblischen Textes, sondern in der durch diesen ausgelösten und konstituierten Wirkung, denn biblische Texte »bringen ihre Leser und Hörer wie Resonanzböden zum Schwingen und Klingen«. 18 Hier hätte auch der Geist seinen pragmatischen Ort. Im Falle des offenen Schlusses von Apg 28 wird die Israelfrage eben nicht abschließend beantwortet, sondern in paradoxer Weise geradezu aufgerufen. Durch das plötzliche Verschwinden Israels auf der narrativen Bildfläche wird nämlich die Frage nach dessen weiteren Ergehen für die Leser gleichsam doppelt virulent. 4. Für die Bibeldidaktik wäre somit der potenzielle Ereignischarakter der Textlektüre herauszustellen. Texte sind Sprachhandlungen, biblische Texte ganz besonders. Das >Wort< teilt nicht nur etwas mit (Information), sondern es teilt auch etwas aus bzw. bringt etwas hervor (Performati- Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israe ls< und biblische Hermeneutik falls nicht immer, das was zu sagen ist, sondern spannender Unterricht arrangiert eine Art rezeptionsästhetische Rallye, in deren Verlauf bzw. an deren Ende die Lernenden sich das, was zu sagen gewesen wäre, selber gesagt haben werden, weil sie es gelenkt durch geschickte didaktische Settings selber haben entdecken können. Insofern verhält sich Apg 28 zur Röm 11 wie ein Unterrichtsentwurf zum Lehrerhandbuch, ein Arbeitsauftrag zum referierenden Vortrag oder ein narratives Rätsel zur seiner Auflösung. Das Gleiche gilt übrigens für den sekundären Markusschluss im Verhältnis zum Markusevangelium oder für die Heilsworte am Schluss der Unheilspropheten. In all diesen Fällen wird das Nicht-Gesagte der Vortexte sekundär expliziert, ihr Geheimnis gleichsam gelüftet. b) Homiletik: Die antike Gerichtsrede kannte solche rhetorischen Raffinessen gut. So warnt etwa CICERO davor, immer sofort die Intention einer Rede zu erkennen zu geben: »Wenn die ... sich ergebenden Folgen offensichtlich sind, haben wir es nicht nötig, immerzu Schlussfolgerungen zu ziehen« (Part XIII, 47). Nach dem Autor ad HERENNIUM kann eine Rede ihre Hörer auf eine Spur setzen und sie etwas vermuten lassen, »ohne dass der Redner es ausspricht«(Ad Her IV 54, 67). Entsprechend könnte die Wirkungslosigkeit so mancher Predigt auf den Effekt des >erklärten Witzes< zurückzuführen sein. Ein Witz entfaltet seine Wirkung >Lachen, nur dann, wenn seine Pointe im Kopf der Zuhörer on). Biblische Pragmatik entspricht demnach exakt dem Ereignischarakter des hebräischen Wortverständnisses. Bekanntlich >tut, ja das Wort (hehr.: dabar), was es >sagt, (vgl. Jes 55,lOf.). Im Falle von »Für die Bibeldidaktik wäre von alleine >zündet,. Tut sie dies nicht, würde eine Erklärung des Witzes zwar zu dessen Verständnis, wohl aber kaum mehr zum Lachen somit der potenzielle Ereignischarakter der Textlektüre herauszustellen.« Apg 28 tut es darüber hinaus sogar, was es nicht sagt! Dies zeitigt didaktische Konsequenzen für zwei Bereiche: a) Unterricht: Modeme Pädagogik hat dieses Prinzip längst erkannt. Lehren heißt nicht nur etwas mitteilen, lehren heißt Lernprozesse zu arrangieren, Spuren zu legen, Entdeckungen zu ermöglichen. Unterricht expliziert nicht, jeden- ZNT 16 (8. Jg. 2005) führen. Werden theologische Richtigkeiten einfach nur diskursiv vorgetragen und damit den Hörenden ihre sinnkonstituierenden Rezeptionsleistungen erlassen, um nicht zu sagen vorenthalten, werden Richtigkeiten schnell langweilig. Sie mögen möglicherweise sogar verstanden werden, nicht unbedingt aber führen sie zum Glauben in einen überkognitiven Sinn. Das zu häufig und immer wieder >erklärte< Gleichnis 17 Zum Thema entfaltet seine Wirkung a~s Sprac~ereignis eben genauso wenig w ie der zum fünften Mal >erklärte< Witz. Erklärungen können narrative Texte entleeren oder durch Verschieb-i.: .ng auf d ie distanzierte Metaebene entsc härfen . L ernen wir von Apg 28 wieder die Rhetorik der Provoka tion, d er mit >Salz gewürzten ede, (Kol 4,6) sowie die Kunst des offenen, ab er glei chwohl nicht beliebigen Schlusses, die C l: -_anc en au: f Erhöhung des durch unsere P r edigten generierten F unk enfluges (vgl. das >F euer< in L k 12,49) könnten durch~rus steigen. Das führt u m zu einem letzten Aspekt. 5. Ger ichtspredigt: Dass für manchen biblizistischen Hard liner Mt 25,31 -46 den hermeneutischen Hauptbezu gsr ahmen darstellt, ist theologisch und ho mi letis ch genauso so unvertretbar wie die prinzipi elle Ausblendun g des gesamten Gerichtskontextes in stark liberal geprägten Kontexten. Dass ein primär rhetorisches Verständnis der unbedingten Gerichtsprophetie deren theologischen Ernst ke: nesfalls elimin ie: t , habe ich am Beispiel de, J on abuches 2.n dernort s gezeigt. 19 I nsofern wär ': ! es vielleicht gu t und, im Sinne einer ganz eiger_en >Hermeneutik der Fremdheit" 20 nützlich, für Predigten auch w ie der unbedingte, provokante und zum Widerspruch reizende rhetorische Red e formen zu entdecken, die nicht sofort von der Fachwelt auf der Metaebene per rationalisie: -endem Diskurs eliminiert werden, nur um sich ihrer existenzi ellen Herausforderung nicht stellen zu müssen . Der Gottesfrage durch die Gerichtsmet a phorik e: nen le tzten Ernst bzw. eine ultimative Dimension zu verleihen, kann theologisch kau m ein Fehler sein, das Gegenteil dagegen sehr woh l. Und dass biLige Gnade nichts anderes ist als Ve: -r amschung biblischen Glaub ens bzw. Entschärfung der N; ; .chfolge, sollte uns spätestens seit Bonhoeffer klar sein. Nochmals: r hetorische Pro v okation verhindert das Begräbnis ein er dringlichen th eologischen Frage im Sarg ihr es Erledigtseins u nd regt dazu an, Möglic hk eiten il: rer Bea ntwort u ng auszuloten. K egatin ussagen steigern geradezu die Brisanz de„ Neg ie rten . D ie Negation nämlich ist eine subtile Art der Au f hebung des Verschwiegenseins des Verschwiegenen, denn die Leser sollen das »in der Negation Verschwiegene entdecken«.21 Am Beispiel von Apg 28: Das Thema Israel is t am Ende der Lektüre der Apostelgeschichte gerade nicht erle2igt, nein, recht verstau- 18 den ist seine Brisanz erheblich gesteigert gewor den. Insofern stellen provocatio und negatio eine Art >rhetorischen Wachmacher< dar und der Acta- Schluss ist alles andere als eine Schlussakte, die einen Prozess beendet, der ja im Übrigen noch gar nicht erzählt wurde. Ganz im Gegenteil, dieser Schluss provoziert einen neuer_ Anfang und setzt den bislang in Apg nicht erzäilten Prozess nun rezeptionsästhetisch als geistlichen Erkenntnisprozess in Gang, indem er in seinen Lesern eine neue Sensibilität (oder mehr ... ) weckt für die th eologische Frage schlechthin: die Zukunft der Verheißung Gottes für sein VoLd Anmerkungen 1 Grundlege nd: J. Gnilka, Die Verstockung Israels. Isaiahs 6,9-10 in der Theologie der Synoptiker (STANT 3), München 1961 und C.A. Evans, To See and Not Perceive. Isaiah 6,9-10 in Early Jewish and Christian Interpretation QSOT-Suppl. 64), Sheffield 1989. Vgl. auch G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchunge n zur frühjüdischen paulinischen und johanneischen Theologie (TANZ 14), Tübingen/ Basel 1994. 2 J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 628. 3 G. Wassserberg, Aus Israels Mitte - Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas (BZNW 92), Berlin/ New York 1998 . 4 Wasserberg, Israels Mitte, 32ff. 5 V.A. Lehnen, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein t extpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie (NTDH 25), Neukirchen-Vluyn 1999. 6 W. Ise r, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. 7 Vgl. hierzu U. Eco, Das offene Kunstwerk, 5. Aufl., Frankfurt 1990. • Vgl. P. Watzlawick, Die Möglicl: keit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation, 4. Aufl., Bern/ Stuttgart/ Toronto 1991, 79ff. und M.S. Palazzoli u.a., Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell fü r die Familie mit schizophrener Störung, 8. Aufl., Stuttgart 1993. ' Zur Literatur vgl. Lehnen, Provokation, 45. 278-285. 10 Die Textpragmatik findet inzwischen immer größere Akzeptanz. Zur Methodik Lehnen, Provokation, 49- 101 und M. Mayordomo-Marfn, Den Anfang hören. Leserorientierte EYangelienexegese am Beispiel von M atthäus 1-2, Göttingen 1998, 11-195. 11 Vgl. Lehnen, Provokation, 45-48. 12 Vgl. K. Barth, Der Römerbrief, 12. unv. Abdr. der Bearb. von 1922, Zürich 1978, XII. 13 M . Karrer, »Un d ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f in Apg 28,26f, in: Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271. ZNT 16 (8.Jg. 2005) Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik 14 M. Vahrenhorst, Gift oder Arznei? Perspektiven für das neutestamentliche Verständnis von Jes 6 im Rahmen der jüdischen Rezeptionsgeschichte, ZNW 92 (2001), 145- 167. 19 Lehnen, Provokation, 92-101.156ff.; ders., Wenn der liebe Gott ,böse< wird - Überlegungen zum Zorn Gottes im Neuen Testament, ZNT 9 (2002), 19f. 15 Lehnen, Provokation, 278-285. 16 M. Hoffmann, Das eschatologische Heil Israels nach den lukanischen Schriften, Diss. Masch, Heidelberg 1988. 20 Vgl. K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1999, 76ff. 17 Vgl. A. Grözinger, Die Kirche ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, 3. Aufl., Gütersloh 2000, bes. 23ff. sowie I. Reuter, Predigt verstehen. Grundlagen einer homiletischen Hermeneutik (APTh 17), Leipzig 2000. 21 Iser, Der Akt des Lesens, 328. Vgl. G. Stickel, Einige syntaktische und pragmatische Aspekte der Negation, in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, Poetik und Hermeneutik, Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe VI, München 1975, 17-38. Ein schönes Beispiel zur Pragmatik der expliziten Negation im Munde Jesu findet sich in Mk 11,27-33; dazu Lehnen, Provokation, 89. 18 U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 86. Martin Stiewe / Franc; ois Vouga Das Evangelium im alltäglichen Leben Beiträge zum ethischen Gespräch Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 11, 2005, VIII, 413 Seiten, € 49,-/ SFr 84,- ISBN 3-7720-8134-7 Die meisten ethischen Diskussionen konzentrieren sich auf Grenzgebiete, die schwierige Entscheidungen betreffen und neue Reflexionen verlangen. Der Grundgedanke dieses Buches ist es dagegen, die Normalität des alltäglichen Lebens zum Gegenstand der theologischen Reflexion zu machen. Dabei kommen die Erfahrung der religiösen Pluralität, der Sinn der Arbeit und die Arbeitslosigkeit, der Umgang mit dem Geld und die Globalisierung der Wirtschaft ebenso zur Sprache wie das private Leben zu Hause, in der Familie und mit Freunden, Krankheit, Geburt und Tod, die Freizeit und die Spiritualität. Zu jedem Thema werden zentrale Texte des Neuen Testaments und klassische Texte der Theologiegeschichte, unter anderem der Reformatoren, aber auch von Augustin, Blaise Pascal, Friedrich Schleiermacher, Johann Christoph Blumhardz, Karl Barth oder des Zweiten Vatikanischen Konzils aktuell ausgelegt. Das Buch versteht sich so als konstruktiver Beitrag zu der Vielfalt der in der Gesellschaft stattfindenden Gespräche. Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · D- 72070 Tübingen ZNT 16 (8. Jg. 2005) 19