eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/16

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2005
816 Dronsch Strecker Vogel

Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive

121
2005
Michael Schneider
Leroy A. Huizenga
znt8160020
Zum Thema Michael Schneider / Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Die Bezüge neutestamentlicher Texte zu anderen Texten waren schon immer Gegenstand exegetischer Forschung. Insbesondere zum Matthäus evangelium mit seiner groß en Zahl an Reflexionszitaten gib~ es verschiedene Arbeiten, die den Hintergrund und Kontexc dieser alttestamentlichen Ei mpielungen unte: : -suchen. Seieiniger Zeit wird nun auch im Rahmen i: heologischer Exegese mit dem literaturwissenschaftlichen Konzept »Intertextualität« gea: : -beitet, wovon mittlerweile eine ganze Reihe von Publikationen zeugt.' Grundlegende Annahme dabei ist, dass die Erforschung intertextueller Bezüge eines (biblischen) Textes immer die Textproduktion und -reze ption gleichermaßen im Blick haben soJ te. Welche Möglichkeiten ergeben sich aber speziell durch eine intertextuelle Lektüre des Matthäusevangeliums? Um diese Frage zu beantworten soll im Folgenden zunächst m it der grund legenden Katego risi erung intertextueller Perspektiven durch Stefan Alkier ein Modell vorgestellt werden, auf des s en Basis ganz unterschiedliche Fragen zu biblis chen Texten bearbeitet und verschiedene Intertextualität.skonzepte in ein Metakonzept integrie rt werd.en können. In einem weiteren S: : hritt werden einige Abschn itte aus dem Matthäusevangeliurn diskutiert, an denen sich die Tragweite dieses Intertextualitätskonzeptes demonstrieren lässt. Ziel der Darstellungen ist Die wesentliche Neuerung, die sich durch Aufnahme intertextueller Modelle für die Auslegung biblischer Schriften ergibt, zeigt sich in der Erweiterung der möglichen Textbeziehungen, die für eine Untersuchung in den Blick kommen. In vielen Predigten un d auch in einer ganzen Reihe von Unterrichtsentw ürfen zu biblischen Themen werden Texte zueinander in Beziehung gesetzt, ohne dass es für diesen Bezug eine erkennbare Intention eines Autors gibt. Mehr noch: Diese Frage scheint in diesen Zusammenhängen oftmals nicht in erster Linie von Belang. Gefragt wird dabei vielmehr nach in der Gegenwart oder Vergangenheit möglichen p lausiblen Zusammenordnungen von Texten und den sich daraus ergebenden Sinneffekten bzw. Interpretationen. Oftmals wird die Frage nach historisch realisierten Lektüren sogar vernachlässigt, wen n z.B. in einer Predigt ein Bibeltext mit der Lyrik des 20. Jahrhunderts ins Gespräch gebracht wird. Genau an dieser Stelle setzt das Intertextua litätskonzept an, das Stefan Als.ier in die exegetische Forschung eingebracht und weiter ent wickelt hat: Intertextuelle Lektüren lassen sich nicht nur aus produktionsästhetischen Gesichts p unkten untersuchen, es ist darüber hinaus unabdingbar, auch Möglichkeiten rezeptionsorientierter und experimenteller Intertextualität exegetisch zu reflektieren. Eingebettet ist sein Konzept in ein es, zu zeigen, dass mit derbtertextualitätsfor schung als Erweiterung des herkö m mlichen Methodenreperto ~res eine Lek nirepr axis in d en Blick wissenschaftlich-exegetischer Betrach tung kommt, die immer schon die Au slegung biblischer Texte in Gemeinde und Schule prägt. »Die we sentliche Neuerung, die sich durch Aufnahme inten; extueller Mo delle für die Auslegung biblischer Schriften e-rgibt, zeigt sich in der Erweiterung der möglichen Textbeziehungen, die für eine Untersuchung in den Blick kommen.« semiotisches Lektüremodell, das die Vernetztheit aller (sprachlicher) Zeichen untereinander ir. den Blick nimmt: »Ohne Paulus aus seinem jüdischen Kontext herauslösen zu wollen, macht es z.B. dennoch Sinn, seine Briefe auch im Zusammenhang mit latei nischer Literatur zu lesen, wie es Dieter Georgi provokativ 1. 20 Zeichen im Unive1rsum der Zeichen lntertextualitä1t a l: s sem iotische Theorie der Textbeziehun,1en vorgeführt hat. Ein anderes Beispiel: Die produktionsorientierte Fragestellung , wie arbeitet das Matthiusevangelium mit dem Buch Jesaja, wird von deo Paradigma Inter- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Mi c h ae l Sc hne ider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäu s evang e lium in intertextueller Perspektive Michael Schneider Michael Schneider, Jahrgang 1977, studierte Evangelische Theologie, Mathematik und Philosophie in Frankfurt am Main und Gießen. Nach der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien zunächst Wissenschaftliche Hilfskraft, dann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament in Frankfurt. Arbeit an einer Dissertation zur Intertextualität im lKor. Weitere Informationen: http : / / www.evtheol. uni-frankfurt.de/ nt/ personen/ schneid er Leroy A. Huizenga Leroy Andrew Huizenga, Jahrgang 1974, studierte Theologie und Geschichte am Jamestown College (USA); 2001 M.Div. am Princeton Theological Seminary (New Jersey, USA). Seit 2001 Arbeit an einer Doktorarbeit (Duke Uni versity, Durham, NC) zum Thema Isaakrezeptionen im Matthäusevangelium. Arbeitschwerpunkte: Exegetische Methoden, Evangelienforschung, Auslegungs- und Interpretationsgeschichte. textualität ebenso abgedeckt, wie die rezeptionsorientierte Fragestellung, wie ein angenommener römischer Leser der Res Gestae des Augustus das Matthäusevangelium hätte lesen können. Es lässt ZNT 16 (8. Jg. 2005) sich aber auch rein textorientiert fragen, welche Sinneff ekte intertextuell erzielt werden können, wenn ein biblischer Text mit einem Text einer späteren Epoche oder auch mit einem Text unserer Gegenwart zusammengelesen wird. Entscheidend ist, dass die Einengung auf die Frage nach Genealogien und Analogien durch das Intertextualitätskonzept aufgesprengt wird, ohne diese Forschungshinsichten zu diffamieren.</ Für die Arbeit mit neutestamentlichen Texten in universitärer, kirchlicher und schulischer Praxis ergeben sich wesentliche Folgerungen aus dem Alkierschen Konzept: Texte stehen in mannigfaltigen Beziehungen zu anderen Texten, die durch ihre Produktion, ihre Rezeption oder auch aus rein »experimentellem« Interesse hergestellt werden können; diese Kategorien sollten für die konkrete exegetische Arbeit unterschieden werden. Auf der anderen Seite gilt es, alle drei Ebenen als für die Exegese relevant anzuerkennen. Verbunden mit diesem Konzept von Intertextualität ist eine Erweiterung der exegetischen Möglichkeiten und des Gegenstandsbereichs neutestamentlicher Forschung. Wenn die produktionsorientierte Perspektive eine, aber eben nicht die einzige Möglichkeit ist, sich wissenschaftlich mit Text-Text-Beziehungen auseinanderzusetzen, dann wird es zur Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft, die Rezeptionsbedingungen und -möglichkeiten neutestamentlicher Texte kritisch zu begleiten. Ein weiterer notw endiger Schritt ist gerade auch im Gespräch mit anderen theologischen Disziplinen die Entwicklung von Kriterien, die eine angemessene Interpretation von einer weniger angemessenen bzw. Textinterpretation insgesamt von Textgebrauch unterscheiden. Mit Blick auf das Thema Intertextualität heißt das: Die vermeintlich rekonstruierte Intention des Autors und dessen intendierte Aufnahme von Praetexten kann nicht mehr als Garant für die richtige Interpretation eines Bibeltexts gelten. An diese Stelle tritt prinzipiell die Vorstellung von mehreren möglichen Interpretationen, wobei die Frage nach vertretbaren und angemessenen Deutungen auch und vor allem zu einer ethischen Entscheidung wird. 3 Die grundsätzliche Möglichkeit, ja Notwendigkeit verschiedener intertextueller Bezüge und daraus resultierender Textinterpretationen ist durch die für Alkier grundlegende Semiotik Charles Sanders Peirces, und zwar in der 21 Zum Thema Unterscheidung zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt bzw. zw ischen unmittelbarem, dynamischem u nd fi nalem Interpretanten an gelegt: »Während der unmittelbare und der d ynamische Interpretant in jed er Semiose gegeb en ist, ist d er f inale I n terp re tan t die re gula tive I dee ein er im umfas sendsten Sinn de s Wo rt es -wa hrrn Interpretation . Seine Wahrheit: be steht darin, dass er das dyn am: sche Objekt in jeder Hinsicht darstellt . Peirce zeigt sich hier als Vertreter ei: ier Variante der Korrespondenzthe ori e der Wahrheit. Peirc es semiotis che P ointe diese r Th eorie liegt darin, dass sie die Vielfalt der Interp retationen als notwendige Stationen auf dem W eg zur Wahrheit hin begreifen lernt, ohne eine ab solute B el iebigk eit zu favorisier en. I n the sh ort run aber kann k eine Interpretatio n beanspru chen, di e absolu te Interpretati o n z u sein. Si e kann nic ht: selbst zeigen, da ss sie dem dynamischen Objekt adäquat is t. Die Annäherung an den fin alen Interpr etanten kann nur eine Interpretations ge meinschaft in the lang run erreichen. Die rei; ulative Id ee des fi nalen Interpretanten schütz t vor jeglichen Aosolutheitsansprü o: : hen. « 4 Ohne an dies er Stelle weiter auf di e Methodendisku ssion zum Thema »Intertextualität« einzugehen, lässt sic h schon anh and dieser w enigen einführenden Bemerkungen ab lesen, dass mit diesem Schlagw ort nicht lediglich eine neue exe getisch e Me tl: . ode bezeichne t werden kann: »Intertextu alitä: ist keine Method e, sondern eine T heo rie bzw. eir: e Gruppe vo n Theorien, die sich mit der Produktion von Bed eutun g beschäftigen .«' Wir möcht en im Folgenden schlaglichtartig an einigen Stellen zeigen, welche intert ex tuellen Persp ektiven sich aus der Lektü re d es Matthäus evangeliums ergeben könne n. 2. lntertextuelle Lektüren zum Matt häusevangelium 2.1 Der R ahm en: Anf an g 1m d Sch luss des Matthäu se vangeliums Stefan Alkier hat sein eige nes ln tertextualitätskonzept am Beispiel des Matthäusprolo gs ausgeführt . Ausg ehend von de r G rund entsch eidung, M t 1 als -> intertextuelle Disp osition « des Te xt es zu lesen, ergeben sich na ch einer intratextu ellen 22 Lektüre, die versucht, »enzyklopädisches Wissen methodisch zu narkotisieren«,• eine Reihe offener Fragen: »1. Wie muss die Genealogie gelesen werden, damit die Aussage der dreimal vierzehn Generationen überhaupt zutrifft? 2. Warum wir d das Schema >a zeugte b, b zeu gte c< an einigen Stellen verlassen und was bedeuten dies e Zusatzinformationen? 3. Warum sind gerade Abraham, David und die babylonische Gefangenschaft so wichtig, dass si e zu Eckpunkten geo rdneter Geschichte werden? 4. Was erfährt man über die anderen Namen in der Genealogie? « Diese Fragen lassen sich zunächst bis zu einem ge wissen Grad intratextuell, d.h. im Rahmen der vo m Matthäusevangelium entworfenen Welt beantworten. Alkier zeigt dann, dass man in einer weiterführenden intertextuellen Lektüre, die sich in diesem Fall methodisch beabsichtigt zu n ächst einmal nur auf Bezüge zwischen Matthäusevangelium und Septuaginta beschränkt, wenigstens drei Funktionen der Matthäus -Genealogie erheben kann. Erstens zeigt sich in der Genealo g ie die über die Generationen nicht abreißende T re ue Gottes: Ein Leser, der die in Mt 1 aufgeführten Namen mit entsprechenden Erzählungen aus den Schriften Israels verbindet, erkennt eine dire kte Linie zwischen dem Geschlecht Abrahams über den König David bis hin zu Jesus, der »Immanuel« - »Gott mit uns« genannt wird. Weiterhin stellt sich die Genealogie als Sündenspiegel heraus: D ie von den Sünden befreiende Kraft Jesu C hristi wird nicht nur in Mt 1,21 explizit genannt, sondern durch sprachlich feine Anspielungen auf die E rzählungen von Juda und seinen Brüdern, di e Joseph verstoßen (Mt 1,2), auf den Ehebruch Davids (Mt 1,6: »mit der Frau des Uria«) oder auf die Tarnar-Erzählung (Mt 1,5) bereits zuvor angedeutet. Die Treue Gottes, die sich in der Genealogi e zeigt, wird von den genannten Personen immer wieder mit Übertretungen beantwortet. U nter der Frage »\Y./ er gehört dazu? « diskutiert Alkier sodann am Beispiel der weiteren in der Genealogie genannten Frauen Rahab und Rut sowie d er Abrahamsfigur die Zugehörigkeit zu Gottes Bund: »Nicht aufgrund menschlicher Abstammu ng und auch nicht auf der Basis irgendeines charakterlichen Vorzugs schließt Gott einen Bund mit dem Aramäer und lässt ihn zum Stammvater ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A . Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Israels werden, sondern allein aus Gottes Initiative kommt Abraham diese Gnade zu. Es ist Gott, der in die Erwählung ruft.« Die Ausführungen Alkiers verwenden letztlich in deutlich erweiteter Weise das von Richard B. Hays für das Vorliegen eines intertextuellen Echos genannte Kriterium availability, 1 fragen aber in erster Linie nicht danach, ob dem Autor oder den Erstlesern die angespielten Texte zur Verfügung standen, sondern welche Sinneffekte und Leseeindrücke sich daraus ergeben. Führt man die Überlegungen Alkiers zur Treue Gottes weiter, so entdeckt man, dass damit ein möglicher Rahmen für das gesamte Evangelium vorliegt: Mit dem »Gott mit uns« - »Immanuel« in Mt 1 korrespondiert das »Ich bin bei euch alle Tage« am Ende des Evangeliums (Mt 28,20b). Wie mit einem Modell rezeptionsorientierter Intertextualität innerhalb der kanonischen Grenzen neue, interessante Ergebnisse für die Exegese erschlossen werden können, zeigt wiederum Thomas Hieke am Beispiel desselben Kapitels (Mt 28): Im kanonischen Zusammenhang lässt sich Mt 28,20a »Und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe« als Aufforderung zum erneuten Lesen des Matthäusevangeliums, aber auch als Ausblick auf das folgende Markusevangelium lesen. 8 Damit wird keinesfalls der Anspruch erhoben, die ursprüngliche Pragmatik des Textes in der Kommunikation zwischen Autor und Erstleserschaft erhoben zu haben. Vielmehr werden bestimmte Lektüren gerade erst nach eben dieser ursprünglichen Kommunikationssituation möglich. Mit den Kategorien Alkiers lassen sich gerade diese unterschiedlichen Man kann eine Enzyklopädie einer bestimmten Textrezeption auswählen, und nach den von realen Lesern in der Rezeptionsgeschichte hergestellten intertextuellen Beziehungen fragen. Man kann aber auch experimentelle intertextuelle Lektüren erarbeiten und so z.B. das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums mit Texten wie modernen Filmen oder Romanen erschließen; kanonische Lektüren fallen dabei unter die beiden letztgenannten Kategorien. Diese Kategorien sind hilfreich, denn sie bieten uns geeignete Termini zur Analyse der intertextuellen Disposition des Matthäusevangeliums sowie möglicher und realisierter intertextueller Beziehungen. Wie sehr Auslegungen des Matthäusevangeliums von unterschiedlichen intertextuellen Verknüpfungen und damit Enzyklopädien unterschiedlicher Zeiten abhängig sind, zeigen die beiden folgenden Beobachtungen. Beide haben gleichermaßen ihre Berechtigung, obwohl bzw. gerade weil sie auf der Basis ganz unterschiedlicher intertextueller Bezüge zu verschiedenen Ergebnissen kommen. 2.2 Der »leidende Gottesknecht« im Matthäusevangelium Die Interpretationsgeschichte des Matthäusevangeliums stellt sich oftmals als Geschichte methodisch nicht klar getrennter intertextueller Bezugsebenen dar. Auf der Basis experimenteller oder rezeptionsorientierter intertextueller Lektüren wurde immer wieder versucht, Aussagen auf der Ebene der Textproduktion zu treffen. Exegetische Studien arbeiten beispielswei- Ebenen möglicher Textbezüge klassifizieren. Alkier betont mit Rückgriff auf die Schriften C.S. Peirces, dass jeder Text - und damit auch das Matthäusevangelium eine eigene Welt, ein Diskursuniversum ent- » Die Interpretationsgeschichte des Matthäusevangeliums stellt sich oftmals als Geschichte methodisch nicht klar se häufig mit der impliziten Annahme des (modernen) biblischen Kanons für die Antike. Mehr noch: Sie setzen außerdem voraus, dass die kanonischen Texte in der Antike in der gleichen Weise wie in getrennter intertextueller Bezugsebenen dar.« wirft. Dass eine intertextuelle Lektüre die Welt des Textes in vielerlei Richtungen erschließt, hängt wiederum an der jeweils ausgewählten Enzyklopädie. Man kann eine bestimmte Enzyklopädie auf der Ebene der Textproduktion auswählen und so etwa nach der Wirkung fragen, die eine Lektüre des Matthäusevangeliums angesichts antiker jüdischer Schriften und Legenden hat. ZNT 16 (8.Jg. 2005) der Moderne gelesen wurden. In der Folge werden dann wirkungsgeschichtlich motivierte Lektüren als historische ausgegeben. Dieses Phänomen lässt sich auch in verschiedenen Arbeiten zur Figur des so genannten »leidenden Gottesknechtes« finden,9 die im Rahmen historisch-kritischer Exegese immer wieder zur Beschreibung des Christusbildes im Matthäusevangelium herangezogen wurde. Gestützt wurde 23 Z um T he m a dieser Anspruch auf die zwei Zitate aus den »Gottesknechtsliedern« des Jesajabuches Ges 53,4 in Mt 8,17 bzw. Jes 42,1-4 i. n Mt 12,17- 21 ). Durch das Zitieren diese: - Passag,~n habe Matthäus so die Schlussfolgerung -- J erns als »den leic.enden Gottesknecht« dargestellt. Grun annahme ist, dass die kurzen Z itate vom Leser als Ansrielung auf die Figur des leidenden Gottesknechtes aJer vier Lieder Qes 42, 1-4; Jes 49,1-6; Jes 50,4-10 und Jes 52,13-53,12) verstanden wird. Das setzt wiederum voraus, da~s der »lei dende Gottesknecht« sowohl dem Aut or Matth äus ; ; _ls auch seinen ersten Hörern und Lesern zur Verfügung stand. Bezüge zu Jesaja findet man im in den Schriften des frühen Christentums reichlich (vgl. z.B. lPetr 2,21-25, aber auch außerkanonisch z_B. Junin dem Märtyrer). Da der »l eidende Gottesknecht« zum Grundbegriff der mo dernen neutestamentlichen Forschung avanciene, überrascht es auch nicht, dass Exegeten dieser Figur eine en: sch eidende Rolle für die m,itthciische Christologie zuschrieben. Dass diese Position nicht unum, tritten ist, soll an einigen Punkten diskutiert werden. Erstens beruh t das moderne Verständnis der Knechtsfigur ein e messianische Figur, die st=11vertretend und erlösend leidet und stirbt auf einer heb r äischen Version J esajas, dem Masoretischen Text (MT). D ie alttestamentlichen Zitate im Matthäusevangelium un terscheiden sich Yon Grund auf vom MT, und zwar von allen uns bekannten alttestamentlichen Textformen. Das wiegt umso schwerer, wenn man bedenkt, dass andere antike Versionen Jesajas inhaltlich masüve Differenzen zum MT aufweisen. In der Septuaginta-Version von J es 53 will Gott nicht das Leiden des Knechts: • Jes 53,46 (LXX) lässt: die Phrase »vo: : 1 Gott geschlagen« weg, die der MT enthält_ • Jes 53,l0a (MT) schreib t: »So wollte ihn : : ier Herr zerschlagen mit Krankheit«, die LXX aber stellt diesen Satz auf den Kopf. Nach dieser griechischen Version will der Herr »ihn von seinem Unglück reinigen«. • Zudem scheint es, da ss der Knecht des MT stirbt: »Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, al s er gestorben wa« (j es 53, 9a[MT]. Wiederum ste ll t: die LXX das wf den Kopf: »Und ich werde ihm die Bösen anstatt seines Grabes und d : e Reichen anstatt seines To: : ies geben« Ges 53,9a [LXX] ). 24 • Vergleichbar ist die Darstellung im Jesaja- Targum: Alle Hinweise auf das Leiden der Knechtsfigur werden entfernt und auf die Gemeinde Israels oder deren Feinde übertragen (vgl. TgJes 53,4-5). Darüber hinaus ist eine klar definierte Knechtsfigur auch nicht in der außerkanonischen jüdischen Literatur zu finden, obwohl sich leichte Anspielungen auf die von uns so genannten Knechtslieder finden lassen. Zum Zweiten scheinen die beiden Jesaja-Zitate im Rahmen der Matthäus-Erzählung nicht in erster Linie die Identifikation »Jesus« - »leidender Gottesknecht« zu betonen. Mit der Aufnahme von Jes 42,1 -4 in Mt 12,17-21 wird vielmehr die Aufnahme der Heiden in das V: : ilk Gottes in den Mittelpunkt des Interesses gerückt: Jesus wird von Pharisäern bedroht (Mt 12, 1 4) die Drohung wird ihm bekannt (Mt 12,15) er entweicht (anechoresen, Mt 12,15). : : --Jun folgt ein Zitat aus Jesaja, das die Aufnahme der Heiden betont: »Und die Heiden werden auf seinen Namen hoffen« (Mt 12,21, vgl. Jes 42,4). Genau dasselbe Muster findet man in Mt 4: Jesus wird bedroht (Mt 4,1-1 1) es wird ihm bekannt, dass sein Wegbereiter Johannes der Täufer verhaftet wurde u: : 1d dass er daher selbst bedroht ist (Mt 4,12) er entweicht (anecho resen, Mt 4,12). Wiederum folgt ein Zitat aus Jesaja, das die Aufnahme der Heiden zum Thema hat: »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, is t ein Licht aufgegangen« (Mt 4,15-16, vgl. Jes 8,23-9,1). Durch die Aufnahme vonJes 42,1-4 in Mt 12,17- 21 soll Jesus in erster Linie also nicht als »leidender Gottesknecht« dargestellt werden, sondern als derjenige, der treu dient und dessen Mission die Heiden eines Tages einschließen wird (vgl. Mt 21,43; Mt 28,19). Wiederum ähnlich ist die Situation in Bezug auf die Einspielung von Jes 53,4a in Mt 8,17_ Angesichts der Tat sache, dass es wohl keine klare Vorstellung von einer Knechtsfigur bei den Adressaten des Matthäus gab, scheint es unwahrscheinlich, dass ein solch kurzes Zitat an diesem Punkt in der Erzählung die Figur des »leidenden Gottesknechts« in Erinnerung rufen konnte. Außerdem wird hier mehr die direkte Heilung und nicht eine stellvertretende geschildert. Die ZNT 16 (8 .J g. 2005) Micha e l Schneider/ Leroy A. Hui z enga Das M a tthäu sevange lium in intertextueller Perspektive Lutherübersetzung greift hier deutlich in den griechischen Text ein und übersetzt: »Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen« (Einheitsübersetzung: »Leiden« statt »Schwachheit«). Die Phrase »auf sich genommen« steht so nicht im Matthäusevangelium, sondern nur das griechische Wort »elaben«. Wörtlich heißt diese Stelle daher: »Er hat unsere Schwachheiten genommen.« Erwähnenswert ist außerdem, dass in J es 53 (MT) der »leidende Knecht« stellvertretend leidet und Krankheiten auf sich nimmt. Im Matthäusevangelium dagegen heilt Jesus die Kranken, indem er ihre Krankheiten wegnimmt. Und schließlich beschreibt das Matthäusevangelium im Gegenüber zum MT eine physische Krankheit. Ulrich Luz schreibt: »Das Erfüllungszitat wurde oft überinterpretiert. Vom Kontext her, wo von der Souveränität des heilenden Jesus die Rede ist, kann elaben und ebastasen nur >wegnehmen< und >forttragen< bedeuten. [... ] Vom Leiden des Gottesknechtes ist also im matthäischen Kontext nicht die Rede. Dem entspricht der Zitatausschnitt. [ ... ] Unser Zitat ist ein Beispiel dafür, daß frühchristliche wie damalige jüdische Exegese einzelne Schriftworte manchmal(! ) völlig unabhängig von ihrem Kontext zitiert.« 10 Man muss zum Ergebnis kommen, dass es keine klar definierte und allgemein bekannte Knechtsfigur in der kulturellen Enzyklopädie des frühen Judentums gab. Außerdem haben die oben diskutierten jesajanischen Zitate selbst eher andere Funktionen als die Darstellung J esu als Gottesknecht. Wenn wir das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums auf der Basis dieser antiken Enzyklopädie erschließen, müssen wir festhalten, dass Jesus die Rolle der Knechtsfigur nicht einnimmt. Die intertextuelle Disposition des Matthäusevangeliums innerhalb des kanonischen Zusammenhangs der Bibel regt jedoch eine kanonisch-experimentelle Lektüre an, die Jesus als den Knecht versteht. Wenn wir den Hinweisen des Matthäusevangeliums, also den zwei Jesaja-Zitaten aus den Knechtsliedern folgen, so könnten wir weiterlesen. Auch wenn keine Knechtsfigur in der antiken jüdischen Enzyklopädie zu finden ist, und auch wenn die intentio operis des Matthäusevangeliums wohl nicht die Darstellung Jesu als Gottesknecht ist innerhalb des kanonischen Rahmens können die Zitate uns dazu führen, intertextuelle Beziehungen zu finden, die Matthäus ZNT 16 (8. Jg. 2005) selbst und seine ursprüngliche Gemeinde wahrscheinlich nie gesehen haben. Wir können das Matthäusevangelium in Verbindung mit Jesaja (MT) setzen und daher auf einer kanonisch-experimentellen Ebene Jesus mit dem leidenden Gottesknecht identifizieren. Dazu müssen wir aber das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums mit unserer modernen christlichen Enzyklopädie erschließen, einer Enzyklopädie, die die Knechtsfigur und das Alte Testament in seiner hebräischen Form enthält. Das ist letztlich genau das, was viele moderne Exegeten im Rahmen historischer Forschung gemacht haben: Sie verwechseln Kanon und Enzyklopädie und verstehen so den Jesus des Matthäusevangeliums als »leidenden Gottesknecht« auf einer historischen Ebene. Eine intertextuelle Untersuchung des Matthäusevangeliums gibt an dieser Stelle eine Terminologie an die Hand, die die verschiedenen Interpretationsansätze klar unterscheiden kann, ohne sie gegeneinander auszuspielen. 2.3 Jesus als neuer lssak im Matthäusevangelium Die mangelnde Unterscheidung der verschiedenen Enzyklopädien hat in der Erforschung des Matthäusevangeliums noch zu einem weiteren Problem geführt: Weitgehend wurden die Beziehungen zwischen dem Jesus des Matthäusevangeliums und dem Isaak der antiken jüdischen Enzyklopädie vernachlässigt. In Gen 22, der so genannten »Bindung Isaaks«, wird dieser als eine weitgehend passive Figur dargestellt. In antiken außerkanonischen jüdischen Interpretationen von Gen 22 dagegen, die zeitlich vor dem Neuen Testament anzusiedeln sind, spielt Isaak eine viel stärker aktive Rolle. Seine Bereitschaft zur eigenen Opferung zeichnet das Wesen dieser Erzählungen aus. 11 Zudem wird in vielen Interpretationen die Bindung Isaaks auf das Passahfest datiert,12 seine Opferungsbereitschaft gilt als Erlösungstat13und die Erzählung ist mit Theophanien und apokalyptischen Motiven ausgestaltet. 14 Diese weder im masoretischen Text, noch in der LXX- Version von Gen 22 zu findenden - Elemente stellen ein Bild Isaaks dar, das auf vielfältige Weise dem matthäischen Jesus ähnelt. Wie Isaak in der antiken jüdischen Überlieferung geht Jesus mit relativer Gelassenheit seinem Opfertod entgegen 25 Z um The m a (Mt 26,36-56), der zur Zeit des Passahfestes stattfindet (Mt 26,17-35). We iterhin ist es auffällig, dass Jesus als »mein geliebter Sohn« gena 1 in den zwei Szenen bezeichnet ·wird, die in apo kalyptischer Darstellun g eine Theophanie schildern, nämlich die Taufe und die Verklärung (Mt 3,13 -17 und Mt 17,1-13 ). In diesen beiden Erzählungen wird Jesus ->Gottes geliebt er Sohn (agapetos)« genannt, ger_auso wie Is a. ak in Gen 22 ,2.12.16 (LXX) »Abrahams gelieb ter Sohn« genannt wird. Die meisten Ausleger dagegen sehen hier keine Anspielungen auf Isaak. So schreibt Ulrich Luz in Bezug auf die Verklärung: »Damit ist eine zweite biblische Geschichte genannt, an die unsere Szene anklingen könnte. Insbesond ere der ,geliebte Sohn, der Himmelstimme erinnert an die Opferung Isaaks un d nicht an Mose auf dem Sinai. Aber diese Ges chichte ist im ganzen von der Verwandlung Je su sehr verschieden; alle ander en Züge der Morij aerzählung passen nicht dazu.« 1 ; Das Proble m ist, dass Luz nach wö rtlichen Parallelen zum Text von Gen 22 selbs t sucht. Wenn man dagegen die verschiedenen Int erpretationen von Gen 22 inn erhalb der antiken jüdischen ku: tr,; rellen Enzyklopädie betrachtet, findet man viel mehr Übereins timmungen zwischen dem Jesus des Matthäu sevangeliums und Isaak bzw. viel mehr A nspielungen auf und Echos von Isaak im 1".: atthäusevangelium. 16 Wie im Falle des leidenden Gottesknechts haben Exegeten die antike jüdische mit einer modernen christlichen Enzyklopidie (mit der kanonisch en Fassung der Gesamtbibel) verwechselt. Deshalb wurden mögliche Hinweise auf Isaak, die sich auf einer historischen Ebene d urchaus finde n lassen könnten, übersehen. 2.4 ln tertextualität als Praxis kreativer Textprodu kt ion Mit dem Konzep t der ln tertextualität ist es aber nicht nur oöglich, unter verschiedenen F: -agestellungen An alyse methoden für biblische Texte zu entwickeln . lntertextuell e Bezüge finden sich per definitionem auch zw ischen biblischen und außerbiblischen Texten. Als Beispiel einer »experimentellen Intertext ualität« in der Term inologie Alkiers ließe sich z.B. d ie U ntersuchung Tina Pippins 1 ' nennen, die mit i hrem Interesse an Jezebel 2Kön 9, Offb 2 und den Roman »Vom Winde 26 verweht« zusammen liest. Neben diesen experi mentellen Lektüren, die ausschliefüich nach möglichen Sinneffekten fragen, gibt es auch Beispiele für Zus ammenstellungen venchiedener (biblischer und außerbiblischer) Schriften, die lntertextualität ganz gezielt zur Leser- und Hörerlenkung einsetzen. Mit Blick auf das Matthäusevangelium soll an dieser Stelle ein Beispiel aus der Vertonung biblischer Stoffe im Weihnacht,oratorium Johann Sebastian Bachs vorgestellt werden. lntertextualität fragt in diesem Fall also nach unterschiedlic hen Erscheinungsformen eines biblischen Textes und den Bedeutungsverschiebungen, die sich durch die neue Zusammenste[ung (ursprünglich ge trennter Texte) ergibt. Wenn im Folgenden einige Aspekte aus Bachs Oratorium unter intertextuellen Fragestellungen betrachtet werden, müssen da bei notwendigerweise Fragen zur Musik und damit auch weiterführende Überlegungen zur lntermedialität unbeachtet bleiben. 18 Der Text des Bachsehen O: -atoriums 19 besteht im Wesentlichen aus den beiden kanonischen Geburtserzählungen (Lk 2 und Mt 2) sowie einer Reihe Chorälen, Arien und Chören so genannter »freier«, i.d.R. außerbiblischer Dichtung. Während die ersten vier der sechs Kantaten dem Duktus der lukanischen Überlieferung folgen, setzt mit den Rezitativen in Kantate V der Matthäustext (mit Mt 2,1) ein. Interessanterweise wird der Wechsel zur Weihnachtserzählung des Matthäus bereits in der vorhergehenden Kantate IV (Nr. 38) vorbereitet: Immanuel, o süßes Wort! / Mein Jesus heißt mein Hort,/ Mein Jesus heißt mein Leben./ Mein Jesus hat sich mir ergeben,/ Mein Jesus soll mir immerfort/ Vor meinen Augen schweben./ Mein Jesus heißet meine Lust,/ Mein Jesus labet Herz und Brust. Die Anrede »Immanuel«, die man so nur bei Matthäus (Mt 1,23) findet, folgt direkt dem Abschluss des Lukas-Berichtes (Nr. 37). Abgesehen von dieser vorangestellten Anspielung wird die Geburtsgeschichte des Matthäus in Bachs Oratorium gerahmt durch den Chor »Ehre sei dir Gott gesungen« zu Beginn der Kantate V und dem Schlusschor »Nun seid ihr wohl gerochen« am Ende der Kantate VI. Ohne genauer auf die anderen Stücke freier Dichtung näher einzugehen, läss t sich bereits an der Rahmung des biblischen Textes zeigen, dass Bach in diesem bestimmte Bedeutungspotentiale besonders stark ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive macht. Vor der Anbetungsgeschichte durch die Weisen steht der doxologische Eingangschor » Ehre sei dir Gott gesungen/ Dir sei Lob und Dank bereit ,/ Dich erhebet alle Welt/ Weil dir unser Lob gefällt/ Weil anheut / Unser aller Wunsch gelungen/ Weil uns dein Segen so herrlich erfreut.« Die folgende Anbetung durch die Weisen wird hier also schon vorweggenommen durch den Chor. Damit erfährt die biblische Erzählung eine Erweiterung bzw. Ergänzung um einen Text, der die Reaktion der Rezipienten ergänzt: Der Chor nimmt die Funktion der gottesdienstlichen Gemeinde wahr und reagiert auf das erzählte Weihnachtsgeschehen, indem er in Form eines Lobgesangs die Anbetung durch die Weisen imitierend vorwegnimmt. Während also dieser Chor ein Motiv aus dem Bibeltext aufgreift, verstärkt und die Anbetung der Weisen durch eine weitere Anbetung »verdoppelt«, erweitert der Schlusschoral die Erzählung durch eine ganz neue Perspektive: Die zuvor gesungene und erzählte Geburtserzählung auf der Basis der zwei Evangelien nach Lukas und Matthäus wird abgeschlossen mit folgendem Text: »Nun seid ihr wohl gerochen/ An eurer Feinde Schar/ Denn Christus hat zerbrochen/ Was euch zuwider war/ Tod, Teufel, Sünd und Hölle/ Sind ganz und gar geschwächt/ Bei Gott hat seine Stelle/ Das menschliche Geschlecht.« Diese Strophe steht nicht unverbunden nach der Weihnachtserzählung, sondern wird mit dem einleitenden »nun« in direkten Bezug zu dieser gestellt. Mit dem altertümlichen Wort »gerochen« (für »gerächt«) wird am Ende des Oratoriums noch einmal ein Thema stark gemacht, das immer wieder (so z.B. im Eingangschor dieser Kantate »Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben«) im gesamten Oratorium anklingt: Bereits im Geburtsgeschehen zeigt sich Gottes Überlegenheit an »der Feinde Schar«, ja sogar die endgültige Zerstörung der Mächte »Tod«, »Teufel«, »Sünde« und »Hölle« ist angekündigt und hat bereits begonnen. Eine seiner stärksten theologischen Aussagen hält das Weihnachtsoratorium damit an seinem Schluss bereit: Bereits aus dem Weihnachtsgeschehen ergibt sich für alle Angesprochenen das »wohl gerochen«-Sein. Diese Rache an »der Feinde Schar«, die durch das Christusgeschehen und besonders auch durch die zuvor dargestellte wunderbare Geburt Jesu Christi Gestalt ZNT 16 (8. Jg. 2005) annimmt, führt schließlich zu einer Gerechtigkeit, die bei Gott selbst liegt. Die »rechte Stelle«, die Bestimmung des Menschen ist bei Gott zu finden. Bach schließt sein Oratorium aber nicht mit dem Blick auf den Einzelnen, sondern mit einer kollektiven Aussage: »Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.« Wie oben in der Matthäus-Genealogie geht es auch hier um die Treue Gottes an einzelnen Personen, Generationen und schließlich dem menschlichen Geschlecht insgesamt. 3. Zusammenfassung und Ausblick 3.1. Das Matthäusevangelium - Ein Text im Universum der Texte Bereits diese wenigen Bemerkungen zu intertextuellen Bezügen des Matthäusevangeliums verweisen auf die vielfältigen Fragestellungen, die mit dem Stichwort »Intertextualität« verknüpft sind. Sie zeigen, dass im Rahmen intertextueller Lektüre im Gegenüber zur klassischen Einflussforschung einerseits mehr Textbezüge in den Fokus der Untersuchung kommen und andererseits verschiedene Termini zur Verfügung stehen, die die unterschiedlichen Zugänge und Frageweisen systematisieren bzw. voneinander unterscheiden. Als Folge einer solchen Systematisierung kann die Ausarbeitung einzelner Methodenschritte zur Textanalyse stehen das sollte jedoch nicht das emz1ge Zentrum der Intertextualitätsdebatte • 20 sem. 3.2. lntertextualität als »umbrellla-term« So hat sich konsequenterweise der Begriff »lntertextualität« innerhalb der Exegese zum übergreifenden Terminus für vielfältige Textbeziehungen entwickelt; Steve Moyise bezeichnet ihn daher als »umbrella term«. So wie einerseits notwendigerweise mit dem Begriff eine Erweiterung der Fragerichtungen einhergeht, scheint uns andererseits in der Folge eine Klassifizierung bzw. Einbettung in einen texttheoretischen Gesamtzusammenhang unbedingt notwendig. Das bedeutet nicht nur, dass wie im oben skizzierten Konzept angelegt - Textproduktion und Textrezeption gleichermaßen bedacht werden können und müssen. 27 Zum Thema Gerade weii der Terminus ,.ls üb ergreifender Be griff venvendet wird, ist die jeweilige theoretische Verortung nicht nu r zu nennen, sondern jeweilige Untersuchu: : ig eines bibl is ·hen Texte s auch auf ihre Stimmigkeit innerhalb dieser Theorie zu hinterfragen. 3.3. Bezug ra hmen intertexrueller Verweise Das Ko nze: Jt de r Intertextualität ist zunächst auch wenn es in der Exegese i. d .R. so re zipie rt wurde und wird nicht auf einer Interpretationsgemeinschaft hin zu einer Au se inandersetzung über eine angemessene Deutung der Wirklichkeit ist in der Peirceschen Unterscheidung zwischen unmittelbarem, dynamisch em und finalem Imerpretanten angelegt und liegt somit jedem Zeichenprozess zugrunde. Eine intertextuelle Lektüre, die sicl: auf diese semiotis chen Kategorien einlässt, m-.1ss sich selbst als prinzipiell nicht abschließbar verstehen. »Keine Monographie wird aus semiotischen Gründen jemals zu Recht den Titel tragec Die intertextuelinnerbiblische Bezüge beschränkt. So können Referenzschriften in den Blic k kommen, die sic h innerhalb (s o z.B. bei der o . g. Untersuchung der Matthäus-Gem: alogie oder c.en Ausführungen » Eine intertextuelle Lektüre, die sich auf diese semiotischen Kategorien einlässt, muss sich len Beziehungen des Matthäusevangeliums«. 21 Besonders dann, wenn man den Begriff Intertextualität in seiner Weite als umbrella term verwendet, wird ein (biblischer) Text gerade deswegen seine selbst als prinzipiell nicht abschließbar verstehen.« zur Gotteünechts -Gestalt) oder außerhalb d es biblischen Kanons (so etwa bei der Komb inatio n biblischer mit außerbiblischen Texten in Bachs Weihnachts: xatorium) finden. Beide Perspektiven sind nicht nur möglich, sondern vom Intertextualitäts-Paradigma gefordert. 3. 4. Me thu disch e Untersd1<: : idung zwischen Te xtdeskription und rheologischer Deutung Diese Be merkungen führ, en direkt zum nächsten Punkt: Indem die Fülle der möglichen Textbezüge eines (biblischen) Textes untersucht werden, stellt das Intertextualitätsparad..igma die Aufgabe zur Unterscheidung zwischen möglichst genauer Beschreibu ng bestimmter Verweise und den sich daraus ergebenden Si nneffekten auf der einen und der theologischen Wertung auf der anderen Se it e. Textanalyti, ch werden die Bezü ge eines Bibeltextes zu kanonischen Texte n u nd au ßerbi blisch en Texten gleich behandelt . Das bedeutet jedoch nicht, da ss : i.ll e Bezüge für eine Interpretationsgemeinsch aft die gleiche Bedeutung oder den gleichen Rang an zutreffe nder Beschreibung der Wirklichkeit haben. 3 .5. Das Matthäus e1; a ngelium in intertextueller Perspektive Der Dreischritt von unmittelbarer Wahrnehmung eines Textbezug es über die Bewertung innerhalb 28 bleibende Faszination behalten, weil er immer wieder in neuen Textbezügen gel es en werden kann, darf und muss. Anm erkungen 1 Vgl. S. Alkier, Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextudle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS 55 ), Ne ukirchen Vluyn 2003, 1-26; ders., Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Markus 4, in: ders. / R.B. Hays (Hg g. ), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte in tertextueller Bibellektüre (NE T 10), Tübingen 2005, 1-22; M. Pfister, Kon zepte d er Intertextualität, in: U. Broich/ M. Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), Tübingen 1985, 1-30; S. Holthuis, Intertextualität. As pekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (Stauffenburg-Colloquium 28), Tübingen 1993, 12 -28; S. Moyise, Intertextuality and B: blical Studies: A Review, Verbum et Ecclesia 23 (2002 ), 418 -431; T.R. Hatina, Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies, Biblical Interpre : a tion 7 (1 999), 28 -43; T. A. Schmitz, Moderne Literatu rtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 91-99; M. Schneider, Texte - Intertexte - Sc: irift. Perspektiven intertextueller Bibellektüre, in: Chr. Str ecker (Hg.), Kontexte der Schrift II. Kultur, Politik, Religion, Sprache, Stuttgart 2005 (im Druck); ders., -Wie handelt Gott? Intertextuelle Lektüren zu lKor 10, in: S. Alkier/ R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 35- 56. 2 Vgl. S. Alkier, Intertextualität, in: K. Erlemann / K.L. N oethlichs / K. Scherberich / J. Zangenberg (Hgg.), Ne ues Testament und Antike Kultur I, Neukirchen- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Vluyn 2004, 60-65. Auf das Gesamtkonzept Alkiers bzw. seine zeichentheoretische Fundierung kann hier nicht eingegangen werden, vgl. aber S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tü bingen 2001, besonders 55-90. 3 Perspektiven einer Ethik der Interpretation entwickelt Stefan Alkier in: Fremdes verstehen wollen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort an L.L. Welborn, ZNT 11 (2003), 48-59 und ders., Ethik der Interpretation, in: M. Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41. • S. Alkier / J. Zangenberg, Zeichen aus Text und Stein. Ein semiotisches Konzept zur Verhältnisbestimmung von Archäologie und Exegese, in: S. Alkier / J. Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen 2003, 21 -62, hier: 40 (Hervorhebungen: MS und LH). Durch den in diesem Artikel zu den Grundlagen einer semiotisch fundierten Exegese gegebenen Rahmen wird betont, dass auch das Ergebnis einer intertextuellen Lektüre nie absolute Geltung beanspruchen kann. Eine angemessene Darstellung eines Objektes in seiner Gesamtheit ist nur über den Weg vielfältiger Interpretationen denkbar und möglich. 5 S. Moyise, Intertextualität und historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament, in: S. Alkier / R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 23- 34. 6 S. Alkier, Zeichen der Erinnerung - Die Genealogie in Mt 1 als intertextuelle Disposition, in: K-M. Bull/ E. Reinmuth (Hgg.), Bekenntnis und Erinnerung; FS Hans-Friedrich Weiß (Rostocker Theologische Studien 16), Münster 2004, 108-128, hier: 109. 7 R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 29-32. Hays nennt außerdem als Kriterien für das Vorliegen intertextueller Echos: Volume (Grad expliziter Wiederholung von Wörtern oder Satzteilen), Recurrence (Häufigkeit der Bezüge zum gleichen alttestamentlichen Text in der Gesamtheit der Schriften eines Autors), Thematic Coherence, Historical Plausibility, History of Interpretation (Auslegungs - und Wirkungsgeschichte), Satisfaction (passt die vorgestellte intertextuelle Lektüre sinnvoll in einen Gesamtzusammenhang? ). 8 Vgl. T. Hieke, Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, ZNT 12 (2003), 65-76. 9 Für eine ausführlichere Darstellung dieser Frage vgl. L.A. Huizenga, The Incarnation of the Servant: The »Suffering Servant« and Matthean Christology, Horizons in Biblical Theology 2005 (im Druck). Interessant ist an dieser Stelle auch ein Blick in verschiedene Kinder- und Jugendbibeln, in denen die verschiedenen ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Ebenen intertextueller Lektüren oftmals bereits angelegt sind. So findet man in der Jugendbibel »Die Nacht leuchtet wie der Tag« (Frankfurt 1992, 170-292) eine Reihe von Überschriften zu den Evangelienberichten, die auf das Konzept der »Knechtsfigur« und auf Phil 2 Bezug nehmen und so alttestamentliche Texte mit Evangelien und paulinischen Briefen ins Gespräch bringen: »Er nahm Knechtsgestalt an« (zur lukanischen Geburtserzählung), »Er erniedrigte sich selbst« (zur lukanischen Passionsgeschichte), »Gehorsam bis zum Tod am Kreuz« (zur matthäischen Passionsgeschichte). 10 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4 Bände, EKK, Neukirchen-Vluy n u.a., 1985-2002, II, 19 (Umschrift nicht im Original). 11 Vgl. Josephus Am I,232, 4Makk 13,12, 4Makk 16,20; Ps.-Philo 18,5, 32,1-4, 40,1-4; 4Q225. 12 Vgl. Jub 18 und 48-49; L.A. Huizenga, The Battle for Isaac: Exploring the Composition and Function of the Aqedah in the Book of Jubilees, JSP 13.1 (2002), 33 -59. 13 Ps. -Philo 18,5, 32,1 -4, 40,1 - 4; vgl. 4Makk 6,27-29, 17,196-22. 14 4Q225; TestLevi 18,6-7; TestAbr 4,1 - 7. 15 Luz, Matthäus II, 509. 1 • Vgl. Mt 1,20-21 und Gen 17,19 (LXX); Mt 3,17, 12,18, 17,5 und Gen 22,2.12.16 (LXX); Mt 26,36-56 und Gen 22 (LXX). Vgl. L.A. Huizenga, Der Jesus des Matthäusevangeliums und der Isaak der antiken jüdischen Enzyklopädie. Eine Studie zu Anspielungen auf Überlieferungen der Akedah im Matthäusevangelium, in: S. Alkier / R.B. Ha y s (Hgg. ), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 71 -92. 17 T. Pippin, Jezebel Re-Vamped, in: G. Aichele / G.A. Phillips (Hgg.), Intertextuality and th e Bible, Semeia 69/ 70 (1995), 221-233. 18 Für eine solche Untersuchung ließen sich ebenso wie für die Beziehungen paulinscher Texte zu alttestamentlichen Prätexten analog zu Ha y s (vgl. Anm. 9) Analysekriterien formulieren. Mittelpunkt der Untersuchung wäre dann weniger das Umfeld der historischen Textproduktion als die Frage nach strukturellen, typologischen oder referentiellen Bezugnahmen und den daraus resultierenden Sinneffekten. 19 Über den Textdichter des Weihnachts-Oratoriums ist wenig bekannt. Es gilt als relativ gesichert, dass Bach durchaus größeren Einfluss auf dessen Endgestalt h atte. Aufgrund des Stils und wegen der verschiedenen Parodien weltlicher Stücke wird oftmals Christian Friedrich Henrici (sog. »Picander«) als möglicher Dichter genannt. 20 Es ist daher nur folgerichtig, dass alle in Anm. 1 genannten Arbeiten erst gegen Ende zur »konkreten« Arbeit am (biblischen) Text kommen und zunächst Möglichkeiten und Grenzen des Intertextualitätsparadigmas insgesamt ausloten. 21 Alkier, Genealogie, 124. 29