eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/16

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2005
816 Dronsch Strecker Vogel

›Wir haben doch den amerikanischen Jesus‹. Das amerikanische Jesus-Seminar: Eine Standortbestimmung

121
2005
Willi Braun
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Willi Braun Zum Thema i >Wir haben doch den amerikanischen Jesus<. Das amerikanische Jesus-Seminar: Eine Standortbestimmung 1 Es gibt nichts Uranfängliches alles ist Geschichte. (J .Z. Smith) i don't need to be a global citizen because i'm blessed by nationality i'm mem· : >er of a growing p opulace we enfo r,: e our p opularity there are things that seem to pull us under and there are things that drag us dow n but there's a power and a vital presence that's lur_..; ; ing all around we've go t the americanJesu: . (B ad Religion).' 1. Jesus, Geschichte, Rhetorik Es ist angezeigt, jedem Ko rr n1en: ar zum amerikanischen J erns-Seminar einige Bemerkungen zur Geschichte. Geschichtsschreibung und der neuerlichen Rhetoris ierung des Begriffes der »Geschichte« voranzuschicken. Historische J esusforschung, we nn sie denn ·wtrklich historisch sein soll in derr_ Sinn, wie die moderne Wissenschaft den Begriff verwendet, sollte der allgemeinen Geschichtsforschung gleichen: Sie ist dann ein Unterfangen, das rückblickend versucht, die gegenwärtige W2hrnehmung vergangener Dinge - Ereignisse, Handlungen, Kulturphänomene, Personen zu beschreiben. 3 Historiker, auch solche, die Jesusforscl-_ung betreiben, s: .nd h eute keine Techniker mehr, die sich dem p ositivistisc h en Handwerk des Faktensammelns wid men lediglich damit beschäftigt, die Vergangen~ 1.eit abzustauben, um sie dann so zu präsentieren, wie sie »wirklich« war. Unter dem Eindruck neuer historiographischer Theorien müssen sich auch J esus: forscher der Eins icht stellen, daß "die Vergangenheit« nicht einfach dasitzt und sich dem suchenden Historiker selbst erklärt. Dagegen ist »die Vergangenheit« sehr biegsam, der Fo rmung du rch den Historiker unterworfen, wie nicht zuletzt Albert Schweitzer schon vor einhundert Jahren eindrücklich gezeigt hat. So rekomtruiert man auch 30 den historischen Jesus aus ausgesprochen trüben, mehrdeutigen Anhaltspunkten, die man den Archiven der Geschichte entnimmt. Indem man sodann bestimmte Werturteile und Plausibilitäts maßstäbe auf diese Anhaltspunkte anwendet, wertet man sie zu Tatsachenmaterial auf. Die Anhaltspunkte, inzwischen zu Fakten mutiert, werden schließlich durch ein Erklärungsmodell zueinander in Beziehung gesetzt: Kohärenz und Bedeutung sind dabei freilich Ergebnis der kreativen, intellektuellen Tätigkeit des Historikers. Et vo ila: Stolzen Schrittes enteilt der historische Jesus dem Nebel der Vergangenheit. Allerdings ist jede dieser konstruktiven Maß nahmen zur Darstellung der Vergangenheit - Selektion, Bestimmung von Plausibilität, Erklärung tief in die sozialen, institutionellen, intellektuellen und fachwissenschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart eingebettet; Verhältnisse, die den Hi storiker nicht nur mit Motivationen und Zielen versehen, sondern auch mit dem konzeptionellen und analytischen Handwerkszeug, das es ihm erlaubt, überhaupt Geschichtsforschung zu betreiben. Zugespitzt: Der historische Jesus würde wohl kaum Gegenstand kontinuierlichen Interesses, Objekt langwieriger und arbeitsintensiver Untersuchungen sein, wären die sozialpolitischen und intellektuellen Garantien für seine Existenz nicht tief im modernen Diskurs verankert. Es ist genau diese Einsicht, die sich in J.Z. Smith's eingangs zitiertem Diktum spiegelt: »Es gibt nichts U r anfängliches alles ist Geschichte.« 4 Das bede utet: Insofern die Figur aus der Vergangenheit (der historische Jesus) als Werkzeug dient, um religiöse, ideologische und sogar nationalistische Parteinahme in der Gegenwart auszuhandeln, ist sie zugleich ein Werkzeug der Rhetorik. Vergleichbar der Antike wird Geschichte zur Rhetorik, zu einem Beweiselement in Diskursen, die Zustimmung zu den konservativen oder revolu tionären Positionen des Redners erwirken wollen. Geschichtsdarstellungen, ganz besonders Entwürfe zum historischen Jesus, entwickeln sich also nicht einfach natürlich. Sie werden fabriziert. ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Willi Braun Willi Braun ist Associate Professor im Department of History and Classics an der U niversity of Alberta in Edmonton, Kanada und Direktor des dortigen Interdisciplinary Program of Religious Studies. Seine Veröffentlichungen umfassen u.a. Feasting and Social Rhetoric in Luke 14 (Cambridge 1995) und Rhetoric and Reality in Early Christianities (Waterloo, Ontario 2005). Momentan bereitet er eine Monographie unter dem Titel It's Just Another Story: The Politics of Remembering the Earliest Christians (geplant für 2006) vor und widmet Forschungsarbeit einem anderen Buch zu Feasting, Fasting and Food: A Social History of Early Christianity. Er war kurzzeitig Mitglied des Jesus Seminars in dessen früher Arbeitsphase. Wie haben wir uns solche Fabrikation vorzustellen? An dieser Stelle ist ein Blick auf Eric Hobsbawm's einflußreiches Werk Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? hilfreich: »Geschichte«, sagt er, »ist der Rohstoff für nationalistische oder völkische oder fundamentalistische Ideologien, so wie Mohnpflanzen den Rohstoff für die Heroinsucht enthalten. Die Vergangenheit ist ein wesentliches Element, wenn nicht das wesentliche Element überhaupt in diesen Ideologien.Wenn es keine passende Vergangenheit gibt, läßt sie sich stets erfinden. ,/ Insofern dies der Fall ist, ist Historiographie freilich nicht unabhängig von Politik, ist die Geschichtsdarstellung nicht eine vorurteilsfreie Repräsentation der Vergangenheit und kann sich der Historiker nicht aus der Rolle des politischen Schaustellers lösen, ob im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft oder irgendeiner anderen Gruppe. »Geschichte « ist daher nicht nur die Summe vergangener Daten und Fakten, sondern ist immer auch beeinflußt von den sozialen, poli- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Willi Braun >Wir hab e n doch den am e rikanischen Jesus< tischen oder religiösen Interessen derer, die Geschichte fabrizieren seien es professionelle Historiker oder gewöhnliche Leute, die weniger gezielte Exkurse in die Vergangenheit unternehmen. Geschichte ist Retrospektive und »das Gedächtnis ist genausoviel oder sogar mehr kreative Rekonstruktion wie akkurate Erinnerung unglücklicherweise ist es unmöglich, genau zu definieren, wo das eine endet und das andere beginnt.« 6 Es geschieht ja in unserem gegenwärtigen Moment in der Zeit, daß wir Mohnkörner zu Heroin verarbeiten. Wir kochen rohe Geschichte, indem wir sie mit dem Mythologumenon des unbefleckten Uranfangs spicken, alle Trübheiten der Zufälligkeit menschlicher Geschichte ausfiltern, sie mit Ordnung und Ontologie würzen, Zielgerichtetheit einrühren sowie all die Dinge, die Geschichte schmackhaft (nützlich) für uns machen, damit wir sie als Alibi für unsere Interessen verwenden können: Interessen wie das Erfinden und Aufrechterhalten von Gruppenidentität oder Moralsystemen sowie das Bestreben, uns in ein virtuelles Kontinuum einzuordnen, das aus der Urzeit in die Endzeit führt. Daher fungiert Geschichte immer auch und vielleicht in ihrem letzten Sinne als ein diskursives Mittel zu sozialer Formation oder deren Bekämpfung. Philip Esler hat diese Funktion der Geschichte treffend zusammengefaßt: »Versuche, die Vergangenheit zu kontrollieren, nehmen die Gestalt eines Handgemenges um den Besitz und die Interpretation des kollektiven Gedächtnisses an. Worum es bei solchen Auseinandersetzungen geht, ist meist die Identität und der Status von Gruppen und Gemeinschaften. Daraus folgt, daß wir das Ausmaß bedenken müssen, in dem eine bestimmte Darstellung der Vergangenheit [funktionalisiert wird, um] eine Beschreibung im Hinblick auf eine spezifische pragmatische und rhetorische Absicht [zu liefern]. « 7 Wir werden das Jesus-Seminar an diesem Maßstab zu messen haben. Begriffe wie ,Erfindung" ,Fabrikation< oder die Metapher des Kochens implizieren natürlich, daß Geschichtsdarstellung, auch jegliche Darstellung des »historischen Jesus«, ein Produkt von Menschenhand ist, doch will ich sofort ergänzen, daß ich keine Werturteile der Beliebigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unwahrheit mit der Künstlichkeit von Geschichtsdarstellung verbinde. Künstlichkeit ist nichts, was man im historischen Prozeß vermeiden könnte; im Gegenteil: Ge- 31 Zum Thema schichte im eigentlichen Sinn ist künstliches Gebilde. Dabei sollte man daran erinnern, daß die Kontexten vorgenommen, in denen an Status, Macht und Einfluß gekoppelte Mechanismen von Marginalisierung und Ver- Idee der >Erfindung< von Geschichte, auch wenn sie in den Ohren einer modernis tischp osi ti vis tisch-empirische n Historiographie häretis(h klingen mag, ganz auf der Li- »Künstlichkeit ist nichts, was man im historischen Prozess schweigen bestimmen, wer und was würdig ist, der Nachwelt überliefert zu werden. Dies ist hinlängli: : h bekannt, ohne vermeiden könnte ... « nie einer beachtlichen Tradition antiker Historiographie steht, die die Präsentation der Vergangenheit als rhetorische Kunst ansah. Diese Auffassung hielt sich durchaus bs zur Französischen Revolution und sie hat nun in neuer en theoretischen Arb eiten zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung, fiktionaler Literatu r und Rhetorik wiederum Prominenz erlangt. 8 Künstlichkeit nimmt an verschiedenen Stellen Einfluß auf den Prozeß historischer Produktion und sie nimmt verschiedene Formen an. Um nur eine Form zu benennen: Amnesie, gewolltes oder ungewolltes Vergessen, oder aber absichtliche U nterdrückung menschlicher Taten in der geschichtlichen Dokumentation. Jede historische Produktion ist ein Bündel ,: .ess en, was ausgesprochen wird, und dessen, w ... s unausgesprochen bleibt; jede Geschichtsdarstellung, ob religiösen Charakters oder nicht, ob ad Ereignisse, Personen oder Kulturen bezogen, ist eine Kombination vo n Gewinnen und Verlusten. M.-R. Trouillot unterscheidet in seinem Beitrag Silencing the Past: Power and the Production of History9 im histori schen Prozeß vier Stadien (die er >Momente< nennt) des Verlustes von Geschichte. Diese Verluste ergänzen und überlapp en sich, sie geschehen auch zeitgleich nur zu analytischen Zwecken önnen sie differenziert werden: (1) Herstei'lung der Fakten (Qu ellen). Dies ist der Moment : nenschlicher Aktivität, der Moment gelebter Geschichte in Raum und Zeit. Es ist der Moment, in dem G efühle entstehen und Interessen, der Moment, in d em Gefühle zu Motivationen für Handlungen werde n, Motivationen geordnet werden zu absichtsvollen individuellen und sozialen Handlunge n, durch welche Menschen ihre Welt und die ideologische Überhöhung derselben konstruieren. In diesem Stadium machen alle Menschen Geschichte, alle stelle Fakten und Quellen her. Abe: nicht jedermanns Handlungen (Fakten, Que llen) werden festgehalten. Schri: : tliche N iederlegu n g wird in sozialen 32 daß man dazu Marx, Nietzsche oder Foucault gelesen haben müßte. (2) Sa mmlung der Fakten. Dieses Stadium kann man sich als Erstellung des historischen »Archivs« durch rückblickende Selektion vorstellen, eine Auswahl, die einige Fakten berücksichtigt, andere als uninteressant ausscheidet und wieder andere ganz vergißt. Auf diese Weise erleidet Geschichte neue Verluste im Stadium der Archivierung. (3) Abrufen der Fakten. »Archive« bilden die Quellen für jede Geschichtsdarstellung, die das archivierte Sammelsurium von Fakten in eine kontinuierliche Erzählung gieß t. Auch in diesem Stadium sind Verluste zu beklagen, denn jede Darstellung mißt unterschiedlichen Fakten unterschiedliche Bedeutung bei, sie favorisiert bestimmte Fakten und trivialisiert andere. Zur Illustration dieses Sachverhaltes bedenke man nur, wie sehr die Leben-Jesu-Forschung eine Geschichte der Diskussion gerade jener Frage ist, welche Fakten aus dem antiken »Jesus Archiv« denn legitim zur Rekonstruktion des Lebens Jesu herangezogen werden dürfen. Die berühmten Auswahlkriterien wie das D: .fferenzkriterium oder das Prinzip der Mehrfacl-_bezeugung einer Tradition in voneinander unabhängigen Quellen, wie wir sie von Rudolf Buhmann, Ernst Käsemann, Norman Perrin und zahllosen Einführungen in das Neue Testament kennen, sind die besten Beispiele für lnterventiommaßnahmen des Historikers, der sich aus dem »Archiv« bedient, um den historischen Jesus zu kreieren. ( 4) Den Fakten Bedeutung zuweisen. In diesem letzten Stadium nun entsteht Geschichte im eigentlichen Sinn, indem die Darstellung gewoben wird. Ein großer Schritt ist getan, wenn im Laufe der Zeit eine bestimmte Darstellung weite Verbreitung erlangt, so daß ihr k: monischer Status beigemessen wird - und dies bedeutet ja zugleich immer, daß viele Quellen und andere Darstellungen marginalisiert werden. Nun wird die kanonische Darstellung zu einer Art Scheinbild, einer Hy per-Realität, die allerdings ni,: hts als sich selbst ZNT 16 (8.Jg. 2005) bezeichnet. 10 Mythos und Geschichte werden zu einer ununterscheidbaren, verworrenen Einheit. Wenn Darstellung und reale Geschichte identisch sind, wird es schwierig, die Fakten in anderer Weise zu ordnen und jeder, der es versucht, setzt sich Widerständen oder gar der Zensur aus. Wenn, noch weitergehend, die Darstellung sich mit der Bezeichnung »Geschichte « legitimiert, dann wird Geschichte selbst zum Objekt des Streits . Genau aus diesem Grunde ist >Geschichte< ein Schibboleth in der Leben-Jesu-Forschung: >Geschichte< ist als Terminus hochgeschätzt, zum einen mit Blick auf die Inkarnationstheologie, zum anderen als rhetorischer Joker zur Beförderung eines bestimmten Jesus in Konkurrenz zu seinen zahllosen Rivalen. Genau besehen ist >Geschichte < ein interessanterer und sicher machtvollerer Begriff in der historischen Leben-J esu- 2. Willi Braun ,Wir haben doch den amerikanischen Jesus< Der amerikanische Jesus Ein zweiter diskursiver Kontext, ohne den das Je sus-Seminar unvorstellbar wäre , ist die jahrhun dertealte Faszination, die die Jesusfigur in Amerika auslöst. Amerika ist eine regelrechte »Jesus Nation «, deren Wurzeln tief in die Zeit Thomas Jeffersons zurückreichen und also in die Gründungszeit selbst. 12 Unter dem Einfluß der Werke des britischen Unitariers Joseph Priestl yl) unterschied Jefferson (1743-1826) scharf zwischen der »Philosophie Jesu von Nazareth « den er den »ersten menschlichen Weisen « nannte, lange be vor Robert Funk und andere das Bild des »Weisen Jesus « vertraten - und den »Entstellungen« und »Verstümmelungen« von Jesu wahrer Lehre durch die Evangelisten und Paulus mit ihrer platonischen Metaphysik und My stik. 14 Mit der Rasierklinge in der Hand be- Forschung als >Jesus <, und es steht zu hoffen, daß der Gebrauch der Apposition >historisch<mit Bezug auf Jesus ei nes Tages selbst das Objekt historischer Analyse wird . Solche Analyse würde sicherlich zeigen, daß der Begriff »Genau besehen ist >Geschicharbeitete Jefferson die King James Version des Neuen Testaments und sonderte aus, was er für authentische Worte des galiläischen Weisen hielt (ungefähr jeder zehnte Vers in te< ein interessanterer und sicher machtvollerer Begriff in der historischen Leben-]esu- Forschung als >] esus< ... « der >Geschichte <nicht etw as >rein Tatsächliches< bezeichnet, sondern eine rhetorische Kategorie ist, eben ein Mittel, einen bestimmten Jesus gegenüber anderen Jesusen der Leben-Jesu-Forschung zu promulgieren. Der Jesus des amerikanischen Jesus-Seminars unterscheidet sich davon nicht im Geringsten, publikumswirksamer Behauptungen, daß man unerhörte und bislang unbekannte Informationen über ihn mittels rigoroser und zuverlässiger historischer Methoden enthüllt habe, Methoden, die »nicht von theologischen Vorgaben geleitet« seien. 11 Für das Jesus -Seminar mußte Jesus von vorneherein ein anderer sein als der Christus der Bekenntnisse und kirchlichen Doktrinen. Wie bei aller historischer Jesus- Forschung ist Geschichte wichtig, ebenso die Methoden, mittels derer Geschichte rekonstruiert wird, doch letzten Endes sollte dabei schon besser die >richtige < Geschichte herauskommen. Man mag behaupten, >uninteressierte<, d.h. nicht von Interessen geleitete, Methoden historischer Untersuchung einzusetzen doch schließlich ist kein J esusforscher uninteressiert an den Ergebnissen seiner Untersuchung! ZNT 16 (8. Jg . 2005 ) den Evangelien); eine Aufgabe, die ihm so »offensichtlich und einfach« erschien wie die Identifizierung von »Diamanten in einem Misthaufen«. 15 So entstand ein Büchlein, ein unbekannter Vorgänger der berühmten J efferson Bible, das Jefferson einen »kostbaren Happen Ethik « nannte. Unbeeinträchtigt von allen wunderhaften Begleiterscheinungen, von Jungfrauengeburt, Kreuzigung oder Auferstehung, war Jeffersons Jesus bestens dazu geeignet, einer entstehenden Nation das moralische Fundament zu geben, ohne dabei Jeffersons zweiter großer Leistung, nämlich der Trennung von Kirche und Staat im First Amendment, im Wege zu stehen. Es wäre sicher falsch, J efferson alleine für die nachfolgende Ikonisierung J esu in den Vereinigten Staaten verantwortlich zu machen. Doch hat der dritte Präsident des Landes mittels Konstitution und Gesetz kulturelle Möglichkeiten geschaffen, die es Jesus gestatten, das allgegenwärtige Eponym für alles zu werden, was in Amerika als gerecht und moralisch angesehen wird. Jesus ist zur regelrecht trans-religiösen Figur geworden, die weder mit dem real existierenden Christentum noch mit irgendeiner seiner konkreten Ausfor- 33 Zum Th ema mungen in den USA identifizierb ar ist; er ist anpassungsfähi g, »vielgesta: tig wie Proteus«, interessant sogar für nichtchristliche Einwanderer, die ihn als Amerikas zentral es Symbol adoptieren, damit Amerika selbst in ihre Arme schließen und dennoch Juden, Mu slime, Buddhisten oder was auch immer bleiben. 16 Ungleich der Situation in jeder anderen Nation auf dem Erdball ist Jesus wohlgelitten in jedem Sektor amerikanischer Ku: tu r: er ist gegenwärtig in Debatt en über nahezu jeden Sachverhalt von nationaler Bedeutung; man findet ihn als Priester des amerikanischen Nationalismus, als Champion säkularer humanistischer Moral, als symbolischen Garanten globaler amerikanischer Macht, als Friedensfürst, der Ameri kas Kriegsspiel verurteilt, als ganz persönlich er_ Erlöser der zahllosen Millionen von Wiedergeborenen, als Befreier der Armen, Unterdrückten u: : : id Marginalisierten gestern und heu te. Man w·ähle ein Thema, eine moralisch e Präfer enz, eine soziale Vision auf der politischen Rechten oder Linken oder einer extremen Sekte: was es auch s e: i, , Jesus wird unfehlbar als Freund und Verbündeter zur Seite stehen. Er ist »a vital pres ence that's lurking all around, we've go c the american Jes u s«, singt die Punkrockband Bad Religion. »I was educated in a small town/ taught to fear Jesus in a small town«, schmettert Rocksänger John Mellencamp. »No, they ain't makin' J ews like Jesus anymore« singt Kinky Friedman mit seiner Band The Texas Jewboys ein wenig sarkastisch. Mick Jagger und Bono haben beide nach Buddha gesucht und stattdessen Jesus gefunden, er ist ja auch so viel einfacher zu lokalisieren. Jesus war ein ->Fr eak« und ein »Hippie« der 1960er und 70er Aussteigergeneration; er war und ist immer noch »Jesus Christ, Superstar« und der Star anderer sehr populärer Rockopern; er ist nach wie vor ein Hollywoodstar und die Attraktion im Jesus Park The Holy Land Experience unweit Disney World in Florida. Charles Sheldons Roman In His Steps: What Would]esus Do? (1897) von einer amerikanischen Stadt, die ein Jahr lang versucht wie Jesus zu leben, war für 60 Jahre ein Kassenschlager mit nicht weniger als acht Millionen verkaufter Exemplare. Dan Bro wns Roman The Da Vinci Code (dt.: Sakrileg) hat bisher mehr als dopp elt soviele Exemplare ver kauft und noch ist kein Ende abzusehen. Unter den kulturellen Modew ellen wäre der WWJD 34 (What would Jesus do? ) Spleen zu nennen, durch den sich die amerikanischen Evangelikalen in den 1980ern und 90ern auszeichneten. Und weil Jesus eine solch gefeierte amerikanische Persönlichkeit ist, ist er natürlich oft Objekt von Reportagen, regelmäß ig vertreten in Time Magazine, in Newsweek, The Economist, Atlantic Monthly, in Zeitungen wie der New York Times, dem Wall Street Journal, der Washington Post und der Los Angeles Times, sogar in Modemagazinen und selbstverständlich in den elektronischen Medien. 17 In der Jesus Nation nicht wirklich überraschend konnten auch Neutestamentler und Historiker des frühen Christentuos der Versuchung nicht widerstehen, die Bühne des kulturellen Diskurses mit ihren eigenen Ansprüchen zu betreten. Allen zwingenden Argumenten zum Trotz, daß die Leben-Jesu-Forschung nur in eine Sackgasse führt, Ar gumenten, die mindestens seit Albert Schweitzers Moratorium zur Leben-Je su-Forschung (1906) bekannt sind und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Rudolf Buhmann einflußreich bestätigt wurden, haben sich Gelehrte in den 1980ern nicht davon abschrecken lassen, in massiver Weise eine »Renaissance der Jesus- Forschung« auszurufen und diese Renaissance dauert bis heute unvermindert an. 18 Das durch und durch amerikanische Jesus Seminar ist ein Hauptakteur in dieser Renaissance. 3. Das Jesus Seminar Das Jesus Seminar (JS) wurde 1985 von dem Neutestamentler und früheren Präsidenten der Society of Biblical Literature Robert Funk ins Leben gerufen. Es ist nun an das Westar Institute angebunden, dessen Direktor Funk ist. Auf der Gründungsversammlung an der Pacific School of Religion in Berkeley, Kalifornien formulierte Funk die Aufgabe des Seminars auf emphatische Weise: " Wir lassen uns hier auf ein Unternehmen von großer Tragweite ein. Wir werden in einfacher Weise, aber rigoros nach der Stimme Jesu suchen, nach dem, was er wirklich ges: ; .gt hat. [... ]Unser Vorgehen ist einfach. Wir werden jedes Fragment, das uns die Tradition unter dem Namen Jesu überliefert hat, untersuchen, t: .m zu bestimmen, was er wirklich gesagt hat vielleicht werden wir nicht zu genau seinen Worten vordringen, ZNT 16 (8.Jg. 2005) aber doch zur Substanz dessen, was er meinte und zum Stil seiner Äußerungen. Wir sind auf der Suche nach seiner Stimme, insofern sie unterschieden werden kann von anderen Stimmen in der Tradition.« 19 Zur Gründungsversammlung kamen 35 Wissenschaftler, jedoch schwankten die Mitglieder- und Teilnehmerzahlen in den folgenden Jahren: Zwischenzeitlich waren mehr als einhundert Wissenschaftler involviert, viele davon pro minente amerikanische Neutestamentler wie John Dominic Crossan, Marcus Borg, Harold Attridge, Karen King, John Kloppenborg, Marvin Meyer, Vernon Robbins, James M. Robinson. Die Gruppe traf sich halbjährlich, um jeweils eine Anzahl von Worten, die Jesus in der Tradition zugeschrieben werden, zu untersuchen. Vorbereitet wurden die Sitzungen durch Positionspapiere einzelner Mitglieder, die im Vorfeld unter den Teilnehmern zirkulierten. Man bemühte sich, zur denkbar gründlichsten, am besten durchdachten Beurteilung der Authentizität oder Nichtauthentizität jedes einzelnen Wortes zu kommen. Nach eingehender Diskussion war jeder Wissenschaftler aufgefordert, seine Meinung zur Frage der Authentizität in einer Art Wahlgang kundzutun. Mitunter (und dann mit großem Publicity Effekt) wurden für diesen Zweck bunte Perlen, die die Mitglieder in eine Wahlurne warfen, benutzt. Die Wissen schaftler hatten vier mögliche Optionen (vgl. The Five Gospels): a.) (Rot) »Ich würde dieses Wort eindeutig in den Katalog der Worte aufnehmen, die spiegeln, wer Jesus wirklich war. Oder: Jesus hat dies oder etwas sehr Ähnliches unzweifelhaft gesagt.« b.) (Rosa) »Ich würde dieses Wort nur mit Bedenken in den Katalog aufnehmen. Oder: Jesus hat wahrscheinlich etwas Ähnliches gesagt.« c.) (Grau) »Ich würde dieses Wort nicht in den Katalog aufnehmen, würde mich aber am Sinn des Diktums orientieren, um zu bestimmen, wer Jesus war. Oder: Jesus hat dies nicht gesagt, doch hat das Wort Ähnlichkeiten mit dem, was er gesagt hat.« d.) (Schwarz) »Ich würde dieses Wort nicht in den Katalog aufnehmen. Oder: Jesus hat das nicht gesagt.« Jeder Option oder Farbe wurde ein Wert zugeordnet (rot= 3, rosa= 2, grau= 1, schwarz= 0), und die Resultate wurden tabellarisch festgehal ten, um ein gewichtetes Mittel auf einer 1.00 Skala ZNT 16 (8. Jg . 2005) Willi Braun >Wir haben doch den amerikanischen Jesus< zu erhalten (0.7501 und mehr = rot; 0.5001 bis 0.7500 = rosa; 0.2501 bis 0.5000 = grau; bis 0.2500 = schwarz). Auf diese Art sollte sichergestellt werden, daß jede abgegebene Stimme bei dem Versuch den Durchschnittswert zu errechnen, zählte, mit dem Ziel, so präzis wie möglich das Maß gelehrter Meinungen zu reflektieren ohne Uneinigkeit zu demonstrieren. Nach sechs arbeitsreichen Jahren publizierte das Jesus Seminar abschließend seine Ergebnisse in seiner farbkodierten Ausgabe der Evangelien (inclusive des Thomasevangeliums) unter dem Titel The Five Gospels: The Seareh for the Authentie Words of Jesus (1993). In einer zweiten Phase unterzogen die Mitglieder des JS in gleicher Weise die Taten Jesu ihrer Bewertung, die dann als The Acts of Jesus: The Seareh for the Authentie Deeds of Jesus (1998) veröffentlicht wurde . Obwohl die so publizierten Resultate immense öffentliche Aufmerksamkeit erregten (durchaus geschürt von den Mitgliedern des Jesus Seminars, etwa durch respektlose Bezeichnungen Jesu als »Bastard Messias« [d.i. nicht von einer Jungfrau geboren] oder als »erster jüdischer Bühnenkomiker« [d.i. ein Meister gewitzter Worte]), war die Art und Weise, wie die Resultate zustande kamen, doch alles andere als neuartig. Ganz wie in der Leben-J esu-Forschung vergangener Jahrzehnte wurde die Jesustradition mit Hilfe der Standardmethoden Literar-, Form und Redaktionskritik durchkämmt, kombiniert mit dem Differenzkriterium oder dem Prinzip der Mehrfachbezeugung. Auch dürfte wohl kein Neutestamentler von der niedrigen Überlebensquote von J esusworten auf dem Seziertisch des Jesus Seminars überrascht ge wesen sein: Nur 18% der Jesus zugeschriebenen Worte wurden von den Mitgliedern des Seminars mit rot oder rosa bewertet, 16% der Jesus zuge schriebenen Taten erhielten die gleiche Bewertung. Eine Zusammenschau derjenigen Worte und Taten, die die Mitglieder des Seminars für authentisch erklärten, ergibt einJesusbild, das historisch gewieften Amerikanern bekannt vorkommen dürfte: Der Jesus, den Robert Funk und seine Kollegen exhumierten, hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit J effersons galiläischem Weisen.Jesus entstieg dem JS als ein galiläischer Landbewohner mit einer bewunderungswürdigen Begabung zu gerissener Schlagfertigkeit und geistreicher Er- 35 Zum Thema zählkunst, vergleichbar den Kynikern (obwohl dies ein häufig zu hörender Vorwurf ist, l at kein Mitglied des JS jemals behauptet, Jesus sei ein Kyniker gewesen). Ziel von Jesu En lassungen, mit den rhetorische n Mitteln von Witz, Paradoxie, Doppeldeutigkeit und Übertreibung gewürzt, war, seine Zuhörer aufzuschrecken und zu schockieren und sie so ber eit zu machen, eine subversive Position in H insicht auf ihre sozialen Realitäten einzunehmen un d, geleitet von der Metapher vom » eich Gott es«, die Umkehrung der Verhältnisse zu erwart en . Ein lakonischer Weiser und Poet w ar er, nicht ein apokalyptischer Visionär, ein Mann, der ~ich selbst keine göttlichen Titel beimaß oder d.as Ende der Welt zu seinen Lebzeiten erwartet e, e: n religiöser und sozialer Störenfried, ein Bilders: ürmer, ein subversiver Landprediger, nicht mehr Sohn Gottes als Du und ich es sind, nicht von einer· Jungfrau geboren, kein Wundertäter (obwohl ein p aar Heilungswunder das kriti sche Ur teil des TS mit wenigste ns rosa oder grauer Kodierung passierten), natürlich ohne Auferstehung oder Himme lfahrt und, o bwohl man am Kreuzestod fes thielt, keine Passion wie in den Evangelien geschilden: . Ebenso wie Je: ffersons Moralphilosoph hat Funks J es us ernsthaft Federn lassen müssen im Vergleich zu dem Stams, der ihm in den Evangelien zukommt, in den frühchristlichen Bekenntnissen und übrigens au ch in den Herzen von Millionen amerikanischer bibeltreuer, evangelikaler Christen. 4. Vom Jesus der Geschichte zum ,Jesus des historischen Diskurses Wie soll man das Werk des Je su s Seminars beurteilen? Seine prinzipielle Leistung, nämlich d er Einsatz historischer Meü10den zur Rekonstruktion einer Persönlichkeit der Vergangenheit, ist nicht sonderlich bemerken sde nz gelten soll. Im besten Fall hat das Seminar Evidenz und Schlußfolgerungen wiederaufgefunden und erneut besprochen, die sich bereits im dicken Dossier der Leben-Jesu-Forschung fan den, wenn auch die Argumentation des Seminars zu gegeben oft schärfer, zwingender ist. In dieser Hinsicht ist also kaum kognitiver Gewinn zu verzeichnen. Nun soll dies allerdings nicht heißen, daß das Seminar nicht erfolgreich gearbeitet hätte. Doch sind die Erfolge eher unerwartet und, ja, eigentlich versehentlich. Der Erfolg liegt nicht in einer umwerfend neuen Rekonstruktion des historischen Jesus, sondern darin, Aufmerksamkeit auf Sachverhalte gelenkt zu haben, die bedeutend zu un serem Wissen über die Welt der frühen Christentümer beigetragen haben. Man betrachte z.B. die Flut von Arbeiten zur Spruchquelle Q und zum Thomasevangelium, die z.T. durch die Frage nach dem historischen Jesus ins Rollen gebracht worden ist. Wir wissen dank dieser und anderer Untersuchungen nun viel mehr über die soziale, politische und wirtschaftliche Realität Galiläas und seiner Nachbarregionen im ersten J ahrhundert. So hat etwa J.D. Crossans meisterhaftes Leben J esu ein überzeugendes Modell historischen Arbeitens entworfen, das Historiker des frühen Christentums sorgfältig lesen sollten, einmal abgesehen von Crossans Schlußfolgerungen über Jesus. Sein Werk repräsentiert eine brilliante Verschmelzung theoretischer und ethnographischer Studien aus der Kultur- und Sozialanthropologie, Studien vorindustrieller agrarischer Gesellschaften, des antike Patronatswesens und darüber hinaus alle intellektuellen und methodischen Bausteine für plausibel-phantasievolle historische Rekonstruktion.'0 Die neutestamentliche Forschung ist durch das Jesus Seminar und die vielgestaltigen Untersuchungen, die es inspirierte, bedeutend bereichert worden. Und darüber hinaus? Das wert - und das ist ja auc h nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß die Art der Evidenz, mit der es die Jesusforschung zu tun hat, a pr io: : -i vorgenommene Festlegungen (in religiösen oder ideologischen Präferenzen begrür.. c.e-) »D ie neutestamentliche Forschung ist durch das Jesus Seminar und die vielgestaltigen Untersuchungen, die es inspirierte, bedeutend bereichert worden.« Jesus Seminar ist ein ausgesprochen interessantes Beispiel für den kulturellen Wettstreit in Amerika, in dem Jesus als unausweichliches » Vorher« alles religiöse, ideologische und moralische darüber erfordert, was denn überhaupt als Evi- 36 »Nachher« autorisiert. Es ist deutlich, daß Funk, ganz wie zuvor Jefferson - ZNT 16 (8 . Jg. 2005) dem Funk übrigens The Five Gospels widmet! -, selbstgerecht den historischen Jesus als Kriegsaxt gegen die Fesseln traditioneller christlicher Be kenntnisse und Institutionen schwingt, die seiner Meinung nach ihren unseligen Höhepunkt in genau dem christlichen Fundamentalismus finden, in dem Funk selbst aufwuchs. Diese Tatsache nimmt dem Porträt Jesu als subversiver Weiser, das das JS erstellte, zwar nichts von seiner Plausibilität, doch enthüllt sie diesen historischen Jesus als einen erneuten Versuch, den Mythos des Uranfangs wiederzubeleben, wobei die »Geschichte« (historischer Jesus) hier die Funktion übernimmt, diejenigen Jesusporträts zu unterminieren, die Funk gerne von der amerikanischen kulturellen Bühne abtreten sähe. Prinzipiell aber ist es unnötig, Jesus als Freund dieses oder Feind jenes kulturellen Wertes anzurufen. Schließlich liegt diese Welt in unserer Verantwortung. Wenn Geschichte, inklusive aller Geschichten von ihrem übernatürlichen Ursprung und ihrem gottgeleiteten Verlauf, von Anfang bis Ende menschliche Produktion ist, dann können wir der Pflicht zur Verantwortungsübernahme nicht entkommen. Solche Willi Braun ,Wir haben doch den amerikanischen Jesus< Theater unseres Lebens je nach Bedarf auf- und wieder abbauen könnte. Solche Sicht wäre ein Phantasieprodukt, das die Komplexität kultureller und materieller Kräfte übersieht. Im Gegenteil, mein Anliegen mit dieser kurzen Auswertung des Jesus Seminars im Rahmen der Leben-Jesu- Forschung ist vielmehr, das Bewußtsein für ein historiographisches Axiom zu schärfen: Weder der historische Jesus, noch der Christus der Bekenntnisse, noch biblische oder nachbiblische Erzählungen vom Ursprung des Christentums sind zutreffende historische Darstellung der Vergangenheit, sondern sie sind Mythographien des Ursprungs, die nichts als unsere sehr identifizierbaren Interessen, in unserer Zeit und an unserem Ort, widerspiegeln. Wenn dies richtig ist, dann hat es Konsequenzen für jedes zukünftige Studium der christlichen Anfänge und Geschichte: Solches Studium muß fest inmitten der oft unappetitlichen menschlichen Realität verankert sein, nicht jenseits davon. Die erste Aufgabe, sicherlich im Rahmen akademischer Auseinandersetzung mit dem Thema, bestünde dann darin, solche Behauptungen zu evaluieren, die die Geschichte des Christentums als etwas ande- Verantwortlichkeit schließt beides ein: unser Tun jetzt und die Art, wie wir die Vergangenheit benutzen, um unsere Taten, Ansichten, Sozialstrukturen etc. zu legitimieren. Es gibt keine Blankovollmachten wacklige Abstrak- »]esu ipsissima vox ist so sehr überlagert von der Kakophonie, die die zahllosen Bauchredner produzieren, die sich ihm im Laufe der Zeit angedient haben ... « res als nur ein weiteres Beispiel für ganz normale menschliche Geschichtsfabri kation vertreiben. Sicher, Jesus hat gelebt, aber er hat das Christentum nicht gemacht. Der historische Jesus ist tionen wie »Natur«, »Vorsehung«, »Gott«, der »historische Jesus« oder Ähnliches, was die menschliche Vorstellungskraft mit scheinbarer Realität versieht und in unanfechtbare Bekenntnisse und Kanones gießt die es uns erlauben würden, unser Wahlrecht zu vernachlässigen oder unsere Position so ehrlich und transparent wie möglich einzunehmen. Die Frage: >Wie sollen wir leben? < und: >Was konstituiert eine humane Gesellschaft? < wird von einem toten Galiläer nicht gelöst werden. Wir sollten ihm und uns nicht die Schande bereiten, ihm unsere persönlichen, sozialen und nationalen Sorgen oder Pflichten aufzuerlegen. Nun muß ich einigen Mißverständnissen vorbeugen. Ich plädiere nicht für eine prometheische Sicht menschlicher Potenz, die heldenhaft das ZNT 16 (8. Jg. 2005) tot, sein Körper ist zu Staub zerfallen. Seine ipsissima verba sind verweht, so wie alle Worte verklingen, sobald sie gesprochen sind. J esu ipsissima vox ist so sehr überlagert von der Kakophonie, die die zahllosen Bauchredner produzieren, die sich ihm im Laufe der Zeit ange dient haben, beginnend mit den Evangelisten und endend (vielleicht) bei Robert Funk und dem Jesus Seminar, daß man jedem, der beansprucht, im Besitz zuverlässiger Stimmidentifizierungstechnologie zu sein, sehr skeptisch begegnen sollte. Die Ironie liegt freilich darin, daß man den historischen Jesus gar nicht braucht, weder aus theologischen Gründen (und das hat Paulus bereits demonstriert), noch für das profanhistorische Unternehmen, die Formierung der ersten christlichen Gemeinschaften zu verstehen. Denn prinzipiell ist jeder historiographische Ansatz schlicht 37 Z um Th e m a naiv, der annimt, daß eine sch on an ihrem Beginn so vielfältige soz io -religiöse Bewegung wie das frühe Christentum auf ein einziges Individuum zurückführbar is t. Daher sche in t der Ra t angemessen, mit dem der kanadische Neutestamentler William Arnal sein Buct . The Symbolic Jesus schließt: "Vielleich t sollt e man die Frage nach dem historischen J esus ein weiteres Mal ad acta legen. Nicht, weil Wissenschaftler sich nicht auf eine Rekonstrukt i on einigen könnten. [... ] Nicht, weil die Untersuchung vore i ngenomme n wäre; Voreingenommenheit ist mwermeidbar, hier und anderswo. Noch n icht einmal, weil angemessene Schlußfolgerungen angesichts der Defizit e unseres Quellenmate rials unmöglich wär en, obwohl letzteres der Fall sein mag. Sonde rn weil letztlich der historische J esus irrelevant ist, sowohl für unser Verständnis der Vergangenheit als auch der Gegenwart. Die historisch : .-elevanten und interessanten G r ünde für die Entwick l ung der christlichen Bewegung sin d nich t in der Person .J esu zu finden, sondern in den koLei.tiven Machenschaften, der Agenda und den Wechse~haftigkei.ten der Bewegung selbst. U nd: Der J esus, der uns heute wichtig ist, ist w irklich nicht der Jesus der Geschichte, sondern der sym b olische Jesus unseres zeitgenös sischen Diskurses. «" 1 Anmerkungen Ich danke Dr . Gabriele Faßbeck für ihre Offert,e, das Jesus-Seminar für ZNT zu besprechen und für Ihre Übersetzung meines Artikels ins Deutsch e. Mein D ank geht ebenso an meinen Assistent en C had Kile für seine Recherchearbeit. Bad Religion, American Jesus, in: Recipe for Hate, Epitaph Records, 1993. 3 Vgl. L.H. Martin, History, Historiography and Christian Origins, Studies in ReligioIL 1 Scie: ices Religieuses 29 (2000), 69-89; T. Holmen, A T heologically Disinterested Quest? On the Origim of eh e »Third Q uest« for the HistoricalJesu s, Studia Theologica 55 (2001), 175- 197; C. Marsh, Quests of t: he Historical Jesus in the New Hi storicist Perspective, Biblical Interpretation 5 (1997), 403-437. ' J.Z. Smith, Imagining Religio n: Fro m Babylon 1: 0 Jonestown, Chicago 1982, xiii. 5 E. Hobsbawm, Wieviel G es chic ht e braucht die Zukunft? , München 1998, 1S. • J.D. Crossan, Th e Birt: h ot Chris tianity: Discovering What Happened in the Yea rs Immediately After the Execution of Jesus, San Francisco 1998, 59. 38 P. F. Esler, Conflict and Identity in Ro mans: The Social Setting of Paul's Letter, Miimeapolis 2003, 24; vgl. D. Georgi, The Interest in Life of Jesus Theology as a Paradigm for the Social History of Biblical Criticism, Harvard Theological Review 85 (1992), 51-83, bes. 79; H. Koester, The Historical Jesus and the Historical Situation of the Quest: An Epilogue, in: B. Chilton and C.A. Evans (Hgg.), Studying the Historical Jesus: Evaluations of the State of Current Research, Leiden 1998, 535 -545 . ' R . F. Berkhofer, Beyond the Great Story: History as Text and Discourse, Cambridge, Mass . 1995; A. Easthope, Romancing the Stone: History-Writing and Rhetoric, Social History 18 (1993), 235-249; D. LaCapra, Rhetoric and History, in: ders., History and Criticism, Ithaca, New York 1985, 15-44; L. Stone, The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History, Past and Present 85 (1979), 3-24; H. White, The Fictions of Factual Representation, in: A. Fletcher (Hg.), The Literature of Fact: Selected Papers from the English Institute, New York 1976, 21-44; ders., Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978; ders., The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987. 9 M. -R. Trouillot, Silencing the Past: Power and the Production of History, Boston 1995. ' 0 J. Baudrillard, Simulacre et simulation, Paris 1981. " R .W. Funk and the Jesus Seminar (Hg.), The Acts of Jesus: The Search for the Authentie Deeds of Jesus, San Francisco 1998, 1. 12 Vgl. S. Prothero, American Jesus: How the Son of God Became a National Icon, New York 2003, 41ff. B.L. Mack, The Historical Jesus Hoopla, in: ders., The Christian Myth: Origins, Logic, and Legacy, New York 2001, 25-40 (28-34). 13 An History of the Corruptions of Christianity (1782), An History of Early Christian Opinions Concerning Jesus Christ (1786), A General History of the Christian Church from the Fall of the Western Empire to the Present Time (1802, gewidmet Thomas Jefferson) und Socrates and Jesus Compared (1803). 14 Ich folge hier Prothero, American Jesus, 19-32; D.W. Adams (Hg.), Jefferson's Extracts from the Gospels, Princeton 1983; J.Z. Smith, On the Origin of Origins, in: ders., Drudgery Divine: On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, Chicago 1990, 1-35. ,s Adams, Jefferson's Extracts, 352; Prothero, American J esus, 24. 16 P rothero, AmericanJesus, 301-302. 17 D ie Belege sind viel zu zahlreich, um sie hier aufzuführen. Mein Assistent Chad Kile hat eine 36 Seiten umfassende Bibliographie zu Jesus und d~m Jesus Seminar in den populären Medien Amerikas zusammengestellt. Eine Auswahl von Presseartikeln zu J esus ist zugänglich unter http: / / virtualreligion .net/ forum/ reaction .html. Die populäre Fernsehserie From Jesus to Christ des Public Broadcasting Service (PES) hat eine begleitende Website http: / / www.pbs.org/ wgbh/ pages/ frontline/ shows/ religion/ . C. Allen, The Human Christ: The Search for the H istorical Jesus, New York 1998 ist der Bestseller eines J ournalisten, der die amerikanische Jesusforschung unt er besonderer Berücksichtigung des Jesus Seminars darstellt. " M. Borg, A Renaissance in Jesus Studies, Theology Today 45 (1988), 280-292; ders., Jesus in Contemporary ZNT 16 (8. Jg. 2005) Willi Braun >Wir haben doch den amerikanischen Jesus• Scholarship, Valley Forge, Pennsylvania 1994, 3-17; von den zahllosen Überblicksdarstellungen zum neuerlichen Interesse am Leben J esu seien hier genannt J.H. Charlesworth, From Barren Mazes to Gentle Rappings: The Emergence of Jesus Research, Princeton Seminary Bulletin 7 (1986), 221-230; W.G. Kümmel, Jesus Forschung seit 1981, Theologische Rundschau 53 (1988), 229 -49; 54 (1989), 55 (1990), 21 -45; 56 (1991 ), 27-53, 391 -420 (eine Besprechung von ca. 120 Büchern und Artikeln aus den beginnenden 1980ern); C.A. Evans, Life of Je sus Research: An Annotated Bibliography, Leiden 1989; W.B. Tatum, In Quest of Jesus: A Guidebook, Atlanta 1982; W.M. Thompson, The Jesus Debate: A Survey and Synthesis, New York; W.R. Telford, Major Trendsand Interpretive Issues in the Study of Jesus, in: B. Chilton and C.A. Evans (Hgg .), Studying the Historical Jesus : Evaluations of the Stare of Current Research, Leiden 1998, 33 -74; S.E. Porter, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research: Previous Discussions and New Proposals, Sheffield 2001. Seit 2003 auf dem Markt ist das Journal for the Study of the Historical Jesus (verlegt bei Sage Publications in California und London). " R.W. Funk, The Issue of Jesus, Foundations and Facets Forum 1 (1985), 7. (Foundations and Facets Forum ist eine Fachzeitschrift, in der die Mitglieder des JS Artikel publizieren, die auf ihren Vorträgen im Seminar basieren.) 20 J.D. Crossan, Der historische Jesus, 2. Aufl., München 1995. 21 W.E . Arnal, The Symbolic Jesus: Historical Scholarship, Judaism and the Construction of Contemporary Identity, London 2005, 77. Hartmut Heuermann Relioion ~--: -~ 0 ~~-. und ldeolorrie '-- Die Verführung des Glaubens durch Macht Hartmut Heuermann Religion und Ideologie Die Verführung des Glaubens durch Macht 2005, 343 Seiten, € 29,90/ SFr 52,20 ISBN 3-7720-8106-1 Der Mensch ist ein machthungriges Wesen. Um sich die Welt gefügig zu machen, strebt er danach, die objektive Wirklichkeit seinem subjektiven Willen zu unterwerfen und Dominanz über Natur und Gesellschaft zu erlangen. Darin folgt er einem Trieb, der rationalisiert und systematisiert zur Bildung von Ideologien führt, ein Trieb, von dem grundsätzlich auch der homo religiosus nicht ausgenommen ist. Vom Pantheon der antiken Götter bis zum Machtzentrum der römischen Kurie haben ideologisierte Religionen eine Blutspur in die Geschichte gezeichnet, die das hehre Anliegen von Glaubensvertretern nur allzu oft als inhumanes Programm entlarvt und ihre noblen Bekenntnisse Lügen straft. Dieses Buch untersucht ,Brennpunkte' der Religions - und Gesellschaftsgeschichte, an denen die unselige Verquickung von Gläubigkeit und Machtversessenheit sichtbar wird. Ob es um den blutrünstigen Jahwe der Israeliten, den unduldsamen Allah der Muslime oder den „allmächtigen" Gott der Christen geht; ob wir das Debakel der so genannten Kreuzzüge, die Untaten der „Heiligen Inquisition" oder die Raubzüge der Konquistadoren in der Neuen Welt betrachten; ob es sich um die Motive fundamentalistischer Gewalttäger oder die messianische Politik eines George W . Bush handeltstets stoßen wir auf diesen Komplex aus Glaubensinbrunst und Machtgier, der die überirdischen Ziele religiöser Verkündiger auf höchst irdische Weise kompromittiert. Die kritischen Analysen münden in die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es ideologiefreie Religion geben kann. Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · D- 72070 Tübingen ZNT 16 (8. Jg . 2005) 39