eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 8/16

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2005
816 Dronsch Strecker Vogel

Ingolf U. Dallerth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 578 S., 39,00 Euro, ISBN 148100-3

121
2005
Hans Hübner
znt8160054
Hermeneutik und 1 1 V~rmittlung , Almut Sh. Bruckstein »Und was wänen dann die Bilder? « Talmudische und philosophische Notizen zur Bildc! rfrage Und was wiren dann die Bilder? Das einmal, das immer wiede..einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre somi1 der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum ge: : ührt werden wollen. Wege dorthin ... Nach (Paul Celan, Der Meridian') Dem Unwiederholbaren, nach ihm, Blubbernde Wege dorthin ... Etwas, das gehen kann, grusslos, wie Herzgewordenen s, kommt. (PauJ Celan') Tropen und Met a phern, Sprachbilder, verweisen auf Stummes un d Vor-Sp r achliches, der Sprache Übersch ü ssiges: auf »etwas, das gehen kann, wie Herzgewordenes«: »Wie ein Purpurfaden deine Lippen«' - »Wie ein Born lebendigen Wassers meine Braut« 4 - »Wie der Apfelbaum unter den Bäumen des Wald es •mein Ge li ebter«,' »Seine Augen wie Tauben, seine \i? angen wie würziges Beet«. 6 Tro? en und Meta phe rn. Die rabbinische Tradition wie jed e poetische Tradition ist voller Sprach bilder, Tropen und Metaphern. Diese wollen am Ort der Bilder, am Ort des Gc: dichtes, ad absurdum geführt werden, sagt Paul Ce lan. Dieser Beitra g ist jenem Vo: -sprung der 3 ildlichmidraschischer Hermeneutik, die möglicherweise in einer beiden zugrunde liegenden sprachlich nicht festlegbaren Fläche liegt, Text-Fläche hier, Bild-Fläche dort, die für unendliche Blickrichtungen offen ist und daher auf a-lineare Weise, sprunghaft, freischwebend, Zukunft verbürgt. Moses am Sinai - Eine Theorie der Malerei In diesem Zusammenhang sei an den vielzitierten rabb in ischen Midrasch erinnert, nach dem Moses in einer himmlischen Talmudakademie mit dem Kadosch Baruch H u, dem Heiligen, Gesegnet sei er, Tora lernen darf. Als Moses in den Himmel kam, um mit dem Heiligen Tora zu lernen, fand er ihn damit beschäftigt, mit Tinte lauter Ornamente, Schnörkel und Krönchen an die Buchstaben der Tora anzubringen .... »Was machst du da? « fragte ihn Moses. »Was bedeuten all die Schnörkel und Tüttelchen, die Du an den Buchstaben anbringst? « Der Malende/ Schreibende erklärte ihm, dass in mehr als tausend Jahren ein Mann namens Akiva, Sohn von Joseph, kommen werde, der an jedes einzelne dieser Schnörkel und Kronen eine Unmenge von Lehren aufhängen wird (wie Mäntel an einen Haken). Die Tora wächst an ihren Kronen zu einem unendlichen Text, der keine bestimmbare Grundlage kennt, und selbst für Moses als Autor zum Buch mit sieben Siegeln wird. Denn auf Moses Frage hin: »Dieser Beitrag ist jenem Vorsprung der Bildlichkeit auf der Spur, die Roland Barthes einmal unter dem Stichwort der keit auf d er Spur , die Ro land Barthes einmal unter dem St ichwort der »Malerei als Utopie des Textes«, der Malerei als Utopie einer nicht-prädikativen S: ,rache verhand e lt hat. 7 Der Sinn und Nicht- >Malerei als Utopie des Textes( [. ..] verhandeh hat.« »Zeig mir diesen Akiva, Sohn von Joseph«, kam die Antwort: »Gehe ... sieh in Dir an«. Und Moses fand sich, um tausend Jahre in die Zukunft versetzt, im Klassenzimmer von Rabbi Akiva, der seinen Schülern die Tora des Moses lehrte. Moses hörte zu, konnte der schwierigen Diskussion aber nicht folgen, ver- Sinn der Bedeutungsflächen von Bildlichkeit inmitten der jüdischen Tradition, Sprachbil der und Trau mb ilder, die ein Vorsprachliches berü hr en ohne festgelegte Signifikate zu kennen, steht hier in Frc.ge . Mich inte r essiert die Möglichkeit der Kongenialität der Mc.lerei mit den narratinn Besonderhe it en ra bbinischer und 54 stand also kein Wort von dem, was dort verhandelt wurde. Was ihn aufs Außerste betrübte. Dann aber hörte er einen der Schüler fragen: »Akiva, woher weißt Du, dass es stimmt, was Du da lehrst? « Woraufhin Rabbi Akiva erklärte: »Halakha leMoshe miSinai - So hat es Gott den Mose am Sinai gelehrt.« 8 ZNT 16 (8. Jg. 2005) Almut Sh. Bruckstein Professorin Almut Sh. Bruckstein studierte Philosophie, Religionswissenschaften, Judaistik und Musik in Hamburg, Philadelphia und Jerusalem. 1992 promovierte sie mit einer Arbeit über Hermann Cohens Maimonides-Interpretation an der Temple University in Philadelphia. Frau Bruckstein lebt und arbeitet seit 1983 in Jerusalem und seit 2001 in Berlin. Seit dem WS 2004/ 2005 ist Frau Bruckstein Inhaberin der Martin-Buber-Stiftungsprofessur am Fachbereich Evangelische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen über die jüdische Philosophie des Mittelalters und der Modeme, u.a. Die Maske des Moses. Studien in jüdischer Hermeneutik, Berlin: Philo, 2001; Hermann Cohen an Maimonides' Ethics, Wisconsin University Press, 2004. Gegenwärtig arbeitet Bruckstein an der Bilderfrage in jüdischer und islamischer Tradition im Kontext zeitgenössischer Bildtheorien, sowie an einem Projekt zur jüdischen und islamischen Hermeneutik als Kulturkritik im Rahmen der Martin-Buber- Professur an der Goethe Universität Frankfurt. Weitere Informationen: http: / / www.evtheol.uni-frankfurt.de/ buber/ personen/ bruckstein Dieses Erzählstück gibt uns einen Geschmack von dem, was Midrasch ist eine vom biblischen Text weitgehend freie, narrative bildhafte Überlieferung zu einem biblischen Topos, hier zur Szene am Fuss des Berges Sinai: U-Moshe ala el haElohim - »Da stieg Moses hinauf zu Gott«.9 Das Erzählstück verdeutlicht auf besonders eindrückliche Weise eine hermeneutische Besonderheit rabbinischer Überlieferung, deren Kongenialität mit dem französischen Poststrukturalismus von Literaturtheoretikern des Midrasch seit etwa dreissig Jahren aufgegriffen wird. ' 0 Wie Moses im Midrasch stellen Roland Barthes, Edmund J abes, ZNT 16 (8. Jg. 2005) Almut Sh . Bruck s tein »Und was wären dann die Bilder? « Jacques Derrida, Jacques Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray und andere die Frage nach der Bedeutung des ursprünglichen Akts des Schreibens, des Malens, des Lesens, des Blicks. Sie tun dies weit über den literarischen Begriff des Textes hinaus, sodass wie im Midrasch eine nicht-determinierte Praxis der Zeichen-Setzung in den Blick tritt, die den Bewegungen des Körpers folgt, dem Zeichnen und Malen, dem Blick, dem Traum, dem physischen Begehren. Wie ein »durchgängiges Kryptogramm, das mit Hilfe einer Einschreibung oder einer poetischen Entzifferung erst konstitutiert werden muß« und darin nach einer unbegrenzbaren Offenlegung des Sinns verlangt. Letzteres aus Jacques Derrida, »Edmund Jabes und die Frage nach dem Buch«." Die Einschreibungen der mündlichen Lehre in die Tora folgen auf stringente Weise den Gesetzen rabbinischer Interpretation und sind dennoch in ihrer formellen und inhaltlichen Ausrichtung unendlich variabel. Gershom Scholems Aufsatz zu »Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum« ist noch immer substantieller Ausgangspunkt für die hermeneutische Faszination rabbinischer Überlieferung . 12 Neu wäre, mit dem Kabbala -Forscher Elliot Wolfson, der mit seinem »Through a Speculum that Shines« eine magistrale Arbeit über die Bedeutung der visuellen Anschauungskraft für rabbinische und kabbalistische Texte vorgelegt hat, dem Bilder-Denken der Rabbinen eine inspirative Rolle für ein zukünftiges Gespräch zwischen Bildtheoretikern und Religionswissenschaftlern beizumessen.13Denn rabbinische Texte, wie wir anhand einiger ausgewählter Beispiele gleich sehen werden, kultivieren in den Bild-Spalten ihrer midraschischen Poesie ein »Aussetzen« prädikativer Sprachwege, die im zeitgenössischen Gespräch zwischen Philosophen, Künstlern, Bildwissenschaftlern, Physikern und politisch Handelnden wegweisend werden könnten. Dabei wäre es ganz falsch zu meinen, man wolle nun anfangen, »die Linguistik auf das Bild anzuwenden, oder gar der Kunstgeschichte eine Prise Semiologie zu verabreichen.« 14 Es geht vielmehr darum, die Logik des Territorialen, »die Distanz (die Zensur) aufzuheben, die institutionell das Bild und den Text trennt. Etwas ist im Entstehen begriffen, das sowohl die ,Literatur< als auch die ,Malerei< (und deren metasprachlichen Korrelate, die Kritik und die Ästhetik) hinfällig werden lässt«.15Eine nicht- 55 Hermeneutik und Vermittlung territo riale Logik kündi gt sich an, die der Berührung mit dem, was sich als Vor-Sprachliches in die Sprache einschreibt, Rechnung trägt. »Es ist ein Balancieren v on zwei Welten, das nie zum Ausgleich komm en kann. Dies ist ein zweckloser revolutionärer Zus tand die Schrift wird durch einen Fremdkörper erschü ttert, der in ke: nen Zusammenhang mit ihr gebracht werden kann.« 16 Spurenlese nach Zeichen: nEs glüht der Pinsel, der geschwind den Blitzstrahl verfolgt .. . « 11 Die talmudische Geschichte aus Menacho t, »Moses am Sinai «, handelt vom Umgang mit Zeichen. Inmitten der Ar be it mit Perga □ ent un Tin t e, Farbe und Leinwand mit Holz und Lehm, oder an ihm das Manifeste des Fleisches bewirkt, nur gemäß des Oszillierens eines doppelten Durchgangs zugänglich wäre: von der Oberfläche in die Tiefe und umgekehrt.« 19 Die unlesbare Schrift - Die Malerei als Utopie des Textes »Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (und nicht in ihrer Instrumentalität) muss sie uni'esbar sein«, sagt Roland Barthes in seinem Essay über Andre Masson. 20 Damit die Schrift heilig genannt werden kann, muss sie selbst unentzifferbar sein, nicht-signifikant, wie das Weiße zwischen den Buchstaben, oder das Leere des Pergaments, wie die Kronen der Buchstaben, sagt Gershom Schalem über das Schriftver- Plastik steht nicht die Frage nach dem Sinn und Zweck des Seins nicht griechisch: was ist, womit, oder für welchen Zw eck sondern m.ch einer Spurenlese dessen, was eingemeißelt, eingeschrieb en, eingepinselt, eingraviert, eingekerbt er scheint, in H o lz oder Fleisch, Pergament, Meta! oder Wias, Zeichen des Un- »Die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes, ob Text oder Bild oder Hau t, offenbart sich keinem ideellen. und von ständnis der rabbinischen Überlieferung, über die sogenannte mündliche Lehre, über den Midrasch und den Umgang der Kabbalisten mit dem Körper der Tora: »Selber bedeutungslos, ist sie das Deutbare schlechthin«. 21 Die ganze Tora, das ganze Gesetz, Gebietsmarkierungen markierten Zugriff, sondern verlangt eine Kunst der Berührung { .. }. « lesbaren, die dennoch so etwas wie eine Lektüre einfordert, die einem Schrei gleichkommen mag: Lesen hebräisch likro von laut ausrufen, verlautbaren, bekannt machen, verkünden, schreien. Es kündigt sich eine U-to p ie des Textes an, jenseits dess en, was im landläufigen Sinne Kommunikation oder Lesbarkeit bedeutet, an der Oberflächenstruktur einer Materie entlang, die zugleich stumm ist und beredt, Textur oder Textilie, die man, wie ein en Körper oder eine Landschaft berührt, »nach d em Sinn jene r Geste, die sich in Entsprechung zu m Körper bewegt«, 18 eine Geste, die auf diese Weise einen Raum, einen Ort, ein Gebiet für neue Wege d es Wissens schafft. Die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes, ob Text oder Bild oder Haut, offenbart sich keinem ideellen und von Gebietsmarkierungen markierten Zugriff, sondern verlangt eine Kunst der Berü hrung, die etwas von dem »OszilliereL << , dem »Ineinander« von Oberfläche und Tiefe versteht : Als ob das Manifest e eines Textes , wie in der Berührung einer Haut, »die Evidenz d es I : ü carnats, das was 56 die ganze menschliche Ordnung an disparaten Bildzeichen aufgehängt, die nic h ts sind als Schnörkel und Tüttelchen. Die Utopie eines Textes, in den sich ohne Anhalt an eine schon signifikative Bedeutung von Schriftzeichen, Buchstaben oder Wörtern ein neuer oder alter Sinn einschreiben wird, kann nur »aus einer in-signifikanten Praxis« hervorgehen in Klammern: »der Malerei«, so heißt es bei Roland Barthes in »Ist Malerei eine Sprache.« 22 Daniel Boyarin, in seinem »Materialist Midrash« sagt Folgendes: »Der Midrasch konzentriert sich oft auf die materiellen, phonetischen oder visuellen Details der Buchstaben, ja Fragmente von Buchstaben, oder auch nur ihre dekorativen Schnörkel. Midrash bezieht seine Bedeutung aus scheinbar gar nichts, und findet gerade darin eine Art persönlichen Sinn in allem und jedem. In diesem Sinne demonstriert der Midrasch eine psychotische Beziehung zur Sprache, er gleicht der Sprache des Psychoten.« 23 Mit der Behauptung einer Kongenialität von Malerei und Midrasch lassen wir die landläufige Diskussion von »Athen und Jerusalem«, die alte Rede ZNT 16 (8.Jg. 2005) von der sogenannten Bilderfeindlichkeit der jüdischen und islamischen Traditionen im Kontrast zum bilderfreundlichen Hellas, beiseite und konzentrieren uns auf ein Gespräch, ein zukünftiges, welches noch nicht stattgefunden hat, zwischen der zeitgenössischen Midrasch-Forschung und den Vertretern einer zeitgenössischen Bildtheorie, die sich nach Lacan als eine Hermeneutik des Blicks erweist. Der Blick, »Ungeschriebenes, zu Sprache verhärtet«,24 bewahrt die Berührung eines heterogenen Moments unwiederholbarer sinnlicher Vorsprachlichkeit, welches in seiner Heterogenität die Ordnungen des Einen aus den Angeln zu heben scheint, und Monolithisches, Monotheistischen, vielleicht auch Monogames, im produktivsten Sinne zu stören und zu erschüttern weiß. Die Berührung des Einmaligen und Unwiederholbaren, aller parmenidischen Gleichung von Denken und Sein zuwiderlaufend, ein unumkehrbares Moment der Unschärfe zeitigend, das sich dennoch über die visuelle Wahrnehmung in das Gedächtnis einzuschreiben vermag und so in den sprachlichen Umkreis der Wiederholbarkeit tritt, sei als das Faszinosum der Frage nach der Bildlichkeit bestimmt. Es zeigt sich in ihm eine ge- Almut S h . Bruc k st e in »Und wa s wären dann die Bilde r? « warech - »wenn jemand einen Ort sieht, an dem Israel Wunder geschehen sind, soll er segnen«; baruch she assa nissim la'awotenu bamakom haze - »Gesegnet sei, der unseren Vätern an diesem Ort Wunder getan hat.« - Und was, wenn jemand an einen Ort kommt, an dem nur ihm persönlich ein Wunder geschehen ist? Ein solcher soll segnen: baruch she assa li nes bamakom haze - »Gesegnet sei, der mir an diesem Ort ein Wunder getan hat.« 25 Um zu demonstrieren, was gemeint ist, bieten die Rabbinen das Bild eines spazieren gehenden Gelehrten, Mar, der Sohn von Rabina, an, der im Markt von einem verrückt gewordenen Kamel attackiert und durch einen plötzlich berstenden Mauervorsprung gerettet wurde. Was hier unter dem Schleier profanster Alltäglichkeit verhandelt wird, berührt in Wahrheit die Frage nach der Vergegenwärtigung und Erinnerung einzigartiger Ereignisse. Einzigartige Ereignisse, so scheint der talmudische Text zu sagen, sind Begebenheiten, denen jemand sein Leben verdankt, wobei gerade das unberechenbare So-Geartetsein von etwas ganz Winzigem eine Kleinigkeit, eine Unwägbarkeit, wie etwa die Unebenheit der Mauer im Markt von Mechoza, in dem Mar, der Sohn von genüber jeder Vereinnahmung durch die Ordnung des Einen widerständige Alterität also nicht die Alterität einer wie auch immer gearteten ideellen Transzendenz, sondern, ganz im Gegenteil, die Alterität des Körpers: Bildkörper, Schriftkörper, Perga- »Die Pointe der talmudischen Suggya ist die: die Einschreibung des Einzigartigen in das Sprach-Gedächtnis geschieht Rabina, spazieren ging, zum Garanten einer Zukünftigkeit wird: Eine plötzlich in Stücke berstende Mauer bietet dem durch den Markt schlendernden und zu Tode erschrockenen Gelehrten gerade in dem Moment Schutz, in dem ein durch das visuelle Erinnern einer Wahrnehmung[ ..].« ment oder Haut, unlesbare Daten, die doch erinnert werden wollen. Unlesbare Daten, Unschärfe-Relationen. Notizen zum Talmud: »Wenn jemand einen Ort sieht, an dem Israel Wunder geschehen sind, soll er segnen« Der Talmud spricht von diesem Faszinosum in überraschend täglich-alltäglicher Weise. Ich lade Sie ein, sich abschließend für einen Moment auf die ganz eigenen Wege talmudischer Argumentation einzulassen. Im talmudischen Traktat in Berakoth heisst es: haroe makom she naasu bo nissim lelsrael, me- ZNT 16 (8. Jg. 2005) verrückt gewordenes Kamel Amok läuft und ihn zu zertrampeln drohtunafal ale gamla peritsa, itpareka le ashita al legawa - »da ihn ein verrückt gewordenes Kamel zu zertrampeln drohte, borst eine Mauer, so dass Mar in dem sich auftuenden Mauerloch Zuflucht suchen konnte.,/ • Die allen berechenbaren Zeitläufen zuwiderlaufenden Momente gleichzeitig stattfindener sinnlicher Gegebenheiten werden Mar zum Garanten seiner eigenen Zukünftigkeit. Wir finden die Kontinuität eines biographischen Zeitmaßes eingefaltet in die Materie einer vor Schwäche berstenden Steinwand. Chaos stiftet Ordnung, die Heterogenität der Materie verbürgt die Integrität des Subjekts, eine Integrität, die sich auf visuelle Weise seiner selbst vergewissert: jedesmal, wenn ploni (jemand), in diesem Fall Mar, 57 He r meneutik und Ver mittl1 ung der Sohn von Rabina, den Ort seiner Errettung sieht, soll er segnen. Das Unwiederholbare, Einzigartige das Wunder welches sich natu rge mäß der Versprachlichung w iderset zt, soll doch versprachlicht und erinnert werd en. Wie? Derri c.a sagt: »(Paul Celan) zuschauen, w ie er sich der Einschreibung unsichtbarer, ja , ,ielleicht sogar unlesbarer Daten annimt: Jah rest age, ringförm ig Wiederkehrendes, Konstellationen und Wiederholungen einzigartiger, einmaliger, wie er es necnt ,unwiederholb arer< Ereignisse «. 27 Die Pointe der talmudischen Suggya is t die : die Einschreibung des Einzigartigen in das Sprach- Gedächtnis geschieht durch das visuelle Erinnern einer W'ahrneimung, denn nur di es e vermag, auf etwas einst Ge5chehenes als A bwesendes zu verweisen, ein Fingerzeigen, ein deiktisches Ver weisen auf eben dieses Unsichtbare, welches damals als Rettung e: : schien: ein gamla peritsa ein verrüc kt geworde ; 1,es Ka mel oder was auch immer e.; ist, das die 5pur sei ner Abwesenh eit in jemand es Gedächtnis schreibt, wann immer er den Ort seiner R ettung wieder si eh t. Michel Serres in »Die fün: : Sinne - Eine Philosophie der G emenge und Gerr.ische« meint es ernst: »Schla 5en Sie sich seitwärts Irren Sie uml: e: wie ein Gedanke, lasse n Sie ihre n Blick in alle Richtungen schweifen, improvisieren Sie. D ie Improvisation setzt den Gesichtssinn in Erstaun en. Verlassen sie den Gleich 5 ewich ts zustand, de brouillez-vous der Ausdruck unterstellt einen verwirrten Strang, cine gewisse Unc-rdnung und jenes vitale Vertrauen in das Un erwartete, das für Naive, Einzelgänger, Verj ebt e oder Ästheten typisch ist, bei rnller Gesundheit. . .. « Anme kungen 1 P. Celan, Gesammelte Werke III, Frankfurt 1392, 199. 2 P. Celan, Gesammelte Werke I, F: ankfurt 1992, 251. ' Hld 4,3 . ' Vgl. Hl d 4, 1 5. s Hld 2,3 . • Vgl. Hl d 5, 12-13. 7 Vgl. R. Barthes, Der entgegenkommende und de r stumpft Sinn, Frankfurt 1990, 162, auch: 157- 159. 8 Nach TB Menachot 296, vgl auc h Al mut SI: . Bruckstein, Die Maske des Moses. Studien in jüdischer Her meneutik, Berlin 2001 , 51-52. • Ex 19,3 . 10 Das Th ema »Midrasch« wird in der neueren F: : irschung seit mel: .r als zwanzig Jahr<! n im Verhältnis zur neueren Literan: rth eorie sowie zur zeitgenössischen, poststruk- 58 turalistischen und psychoanalytischen französischen Diskussion um die »Dekonstruktion« kanonischer Kulturzeugnisse diskutiert. Die Inhalte dieser Diskussion sind im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt, und folgende (unvollständige) Literaturhinweise können nur andeuten, welche Lektüre im deutschen Sprachbereich nachgeholt werden müsste, um sich in die gegenwärtig stattfindende theoretische und philosophische Auseinandersetzung mit den Besonderheiten jüdischer Hermeneutik hineinzudenken. Vgl. S.A. Handelman, The Slayers of Moses, Albany 1982; J. Faur, Golden Doves with Silver Dots: Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington 1986; M. Fishbane, The Garments of Torah - Essays in Biblical Her meneutics, Bloomington 1989; vgl. ebenso ders., The Exegetical Imagination - On J ewish Thought and Theology, Cambridge 1998; D. Boyarin, Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington 1990; vgl. ebenso ders., Unheroic Conduct - The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley 1997; S.D. Fraade, From Tradition to Commentary - Torah and its Interpretation in the Midrash Sife to Deuteronomy, Albany 1991; G.L. Bruns, Hermeneutics Ancient and Modern, New Ha ven 1992; D. Stern, Midrash and Theory - Ancient J ewish Exegesis and Contemporary Literary Studies, Evanston 1996; vgl. ebenso ders., Parables und Midrash - Narrative and Exegesis in Rabbinic Literature, C ambridge 1991. Für eine Auswahl grundle gender Texte zur Bedeutung d es Midrasch für die zeitgenössische hermeneutische Diskussion, vgl. G.H . Hartman/ S. Budick (Hgg.), Midrash and Literature, New Haven 1986. Für eine erste deutsche Übersetzung aus dem Umkreis dieses Diskurses, vgl. Daniel Boyarin, Den Logos zersplittern. Zur Genealogie der Nichtbestimmbarkeit des Textsinns im Midrasch (Schriftenreihe ~1. a'atelier Bd. 3), Berlin 2002. 11 J. Derrida, Die Schrift und die D ifferenz, übers. v. Rudolph Gasehe, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1996, 118. 12 G. Scholem, Judaica 4, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfu rt a. M. 1984, 189-228. 13 E. Wolfson, Through a Sp eculum That Shines. Vision m d Imagination in Medieval Jewish Mysticism, Princeton 1994. 14 R. Barthes, Sinn, 159. 15 R. Barthes, Sinn, 159. 16 W. Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente, Bern 1973, 25. 17 P. Picasso, Ecrits, zitiert nach Picasso: Die Umarmung, . Berlin 2000, 42. 18 Nach Barthes, Sinn, 162. 19 G. Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei, übers. v. Michael Wetzei, München 2002, 28. 20 Barthes, Sinn, 162; Hervorhebung von R. Barthes. 21 G. Schalem, Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: ders., Judaica 4, insbes. 214. 22 Barthes, Sinn, 162. 23 Diese Passage verdanke ich Daniel Boyarin, der mir großzügigerweise das unveröffentlichte Manuskript seines Vortrags »Materialist Midrash« zur Lektüre überlassen hat, gehalten im Sommer 2003 in der Berliner Volksbühne. 24 P. Celan, Gesammelte Werke I, 251. 25 TB Berakhot 54a. 26 TB Berakhot 54a. 27 J. Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 2002, 11. Hervorhebung von Derrida. ZNT 16 (8. Jg. 2005)