eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 9/17

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2006
917 Dronsch Strecker Vogel

»Gott hat ihn als Sühneort hingestellt«: René Girard, das Problem der Stellvertretung, traditionelle Vorstellungen des Todes Jesu, und Paulus

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2006
François Vouga
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Fran9ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt«: Rene Girard, das Problem der Stellvertretung, traditionelle Vorstellungen des Todes Jesu, und Paulus Christus ist stellvertretend für uns als Opfer wegen unserer Sünden gestorben. So lässt sich eine Deutung des Todes Jesu zusammenfassen, die sichtbare Spuren in der Liturgie und in der Frömmigkeit hinterlässt. Elemente der stellvertretenden Opfertheologie gehören zum metaphorischen Repertoire der Paulus briefe. Welche Bedeutung nehmen sie im paulinischen Denken an? Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Bekenntnisformel in lKor 15,36-5 und auf die Aufnahme des terminus technicus des Großen Versöhnungstages in Röm 3,25. In der Mitte ist ein Umweg über die kulturtheoretische und über die theologischen Thesen von Rene Girard, der den Gedanken der Stellvertretung problematisiert hat, nicht zu vermeiden. 1. Für unsere Sünden gestorben (1Kor 15,3-5) lKor 15,36-5 zitiert eine frühchristliche Tradition (»ich habe euch zunächst überliefert, was ich auch empfangen habe, dass ... «, Die beiden Hauptaussagen des Bekenntnisses sind, dass Christus gestorben und von Gott auferweckt worden ist. Beide Aussagen werden parallel jeweils durch drei Kommentare ergänzt: • Der erste Kommentar erklärt die soteriologische Bedeutung des Todes Christi, der für unsere Sünden gestorben ist, und erinnert an die Osterbotschaft, dass er von Gott auferweckt worden ist am dritten Tag. • Der zweite Kommentar bekennt die Konformität des Todes und der Auferstehung mit der Schrift (V. 3 / / V. 4 ). • Der dritte Kommentar bestätigt die Verkündigung des Todes und der Auferstehung durch eine zweite Aussage, die ihren Wahrheitsanspruch betont: Wenn er begraben worden ist, war er auch tatsächlich gestorben, und das Osterbekenntnis beruht darauf, dass der Auferstandene Zeugen erschienen ist, die benennbar sind (Petrus, Jakobus) und die man noch zum Teil fragen kann (die 500). Die Interpretation des Todes Jesu als »Sterben für die Sünden« ist untypisch für Paulus. Sie findet sich bei ihm nur noch bei lKor 15,3a), die den Tod und die Auferstehung als das gründende Ereignis des christlichen Glaubens bekennt. Die Voraussetzungen dieses Bekenntnisses sind, »Die Interpretation des Todes Jesu als >Sterben für die Sünden< ist untypisch für Paulus.« einer anderen vorpaulinischen Formel (Gal 1,4). Paulus spricht nicht von den Sünden als Übertretungen (Plural), sondern von der personifidass Jesus der Erlöser ist, weil er uns von der Last unserer Sünden (Plural: unserer Übertretungen) befreit hat, und dass sein Tod, und nicht sein Leben, seine Worte und Taten erlösenden Charakter haben. 14 (3 b) Christus ist gestorben Für unsere Sünden nach den Schriften (4) und er ist begraben worden und er ist auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften (5) und er hat sich sehen lassen ... zierten Macht der Sünde (Singular), die uns gefangen hält, und von der Kraft der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes, die uns von der Sünde befreit (Röm 6). Entsprechend schreibt er nicht, dass Christus für die Sünden gestorben ist, sondern »für uns« (hyper hemon): Röm 5,8; 8,32; 2Kor 5,14.15.21; Gal 2,20; 3,13; 1Thess 5,10. Anders als Paulus selbst sieht das Bekenntnis die notwendige Erlösung des Menschen als die Befreiung von den Konsequenzen der Übertretungen. Vorausgesetzt ist, dass der Mensch fähig ist, den Willen Gottes zu tun, dass das Verhältnis zwischen Gott und ihm von den vergangenen Sünden durch die Vergebung befreit werden ZNT 17 (9. Jg. 2006) Franrois Vouga Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c, Franc,; ois Vouga, geboren 1948 in Neuchatel; 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avuliy und Chancy (Genf); 1982-1985 Maltrt! assistant in Montpellier; 1985 These de doct.orat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in N euchatel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986 an der Kirchlichen Hochschule Bethel; Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facolta Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchatel; 1999 und 2001 Gastprofessur an der Facu! te de theologie et de scien<ces religieuse~ de Universite Lava! , Quebec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentfü: hen Theologie, Paulus und die paulinische '.fheologie, die Petrusbriefe, Theologie und Asthetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlrei.che Veröffentlichungen zu diesen Gebieten, einzusehen unter: www.kihobethel.de/ lehrende/ vouga.html muss, und dass der TodJesu das Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch eine Versöhnung wiederherstellt. Erklärt wird Franfois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« ung herstellen kann, findet man an einer Schlüsselstelle des Römerbriefes, in der Paulus eine bereits existierende Formel vielleicht auch wieder aufnimmt, wie es Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann vermutet haben. Christus hat uns dadurch erlöst, dass die Verkündigung der Auferstehung und des Todes des Gottessohnes die Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes offenbart. (21)Jetzt aber ist ohne das Gesetz die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, die von dem Gesetz und von den Propheten bezeugt wird, - (22) die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben von und an Jesus Christus für alle, die glauben. Denn es ist kein Unterschied. (23) Denn alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre Gottes, (24) umsonst gerechtfertigt aus seiner Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus, (25) den Gott als Sühneort hingestellt hat in seinem Blut durch den Glauben zur Erweisung seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der vorhergeschehenen Sünden (26) in der Zeit der Langmut Gottes, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit im jetzigen Augenblick, damit er selbst gerecht sei und den rechtfertige, der aus dem Glauben von und an Jesus lebt. Der paulinische Begriff der Gerechtigkeit (dikaiosyne) bezeichnet das angemessene Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer (so bei Ferdinand Christian Baur) und als die dikaiosyne theou die Kraft Gottes, die aber nicht, was man in einer Bekenntnisformel gut verstehen kann, wie dieser Tod eine Versöhnung bringen kann. 2. »Gott hat ihn als Sühne hingestellt« (Röm 3,21-26) »Christus hat uns dadurch erlöst, dass die Verkündigung der Auferstehung und des Todes des Gottessohnes die Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes offenbart.« das sachgemäße Verhältnis des Vertrauens wiederherstellt: Gott rechtfertigt. Die Gerechtigkeit Gottes ist keine Eigenschaft Gottes, sondern eine Kraft der Veränderung (Röm 1,16-17) und der Eine Antwort zu dieser Frage, die einen logischen Zusammenhang zwischen dem Ereignis der Auferstehung und des Todes Jesu und unserer Befrei- ZNT 17 (9. Jg. 2006) Befreiung (Röm 6, 15-23 ): Gott ist gerecht, indem er jeden/ jede rechtfertigt, der/ die auf das Vertrauen, das in Christus geoffenbart ist, vertraut (Röm 3,26). Diese Gerechtigkeit Gottes ohne das Gesetz ist definiert durch eine Kontinuität mit der Verheißung, sie geschieht 15 im Vertrauen auf das Vertrauen Jesu und sie ist universal für jeden/ jede bestimmt (Röm 3,21- 22a). Es gibt keinen Unterschied (Röm 3,22b, vgl. Röm 1,18-3,20): Die Versuche, das Missverhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer aufgrund von qualifizierenden Eigenschaften (die durch das Gesetz symbolisiert sind) zu beseitigen, sind kontraproduktiv, denn die Logik der Gerechtigkeit Gottes ist die Gnade. Die Deutung der Auferstehung und des Todes Jesu ist klar und wird wiederholt hervorgehoben: Sie sind die Offenbarung, die Umsonstheit der Gnade Gottes, der bedingungslos seinen Sohn als Versöhnungsort oder Sühnemittel (hilasterion) geschenkt hat (Röm 3,24-25). Die kultische Opfermetaphorik des Großen Versöhnungstags wird als Interpretament einer Offenbarung Gottes, der sich dadurch als der Gott, der dem Glauben seine Gerechtigkeit umsonst durch seine großzügige Gnade erweist, umfunktioniert. Der Begriff hilasterion ist an sich ambivalent: • Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der hellenistisch-jüdischen Literatur meint hilasterion Sühnegaben oder Versöhnungsmittel. • in der LXX bezeichnet hilasterion ausschließlich den auf der Bundeslade liegenden Deckel, der am Großen Versöhnungstag mit dem Blut bespritzt werden soll: Ex 25,16LXX (= 25, 17MT), 17(18). 18(19). 19(20). 20(21 ). 21(22). 31,7; 35,12; 38,5LXX (37,6); 38,7 (37,8); 38,7 (37,8); 38,8 (37,9); Lev 16,2.2.13.14.14.15; Num 7,89; Am 9,1; Ez 43,14.17.20. Auffällig ist auf jeden Fall, dass Jesus nicht als Opfer »für die Sünden« oder »für uns« hingestellt wird, wie es eine Opfertheologie der Stellvertretung denken würde. Das »für uns«, »an unserer Stelle« oder »wegen unserer Sünden«, das die Metaphorik des Versöhnungstages hervorrufen müsste, fehlt im gesamten Gedankengang. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr konsequent auf die Umsonstheit der Gnade Gottes gelenkt. Gott hat seinen Sohn als Offenbarung der Radikalität des Geschenkscharakters seiner rechtfertigenden Gerechtigkeit dahingegeben. Die Veränderungskraft, die diese Gerechtigkeit Gottes definiert, erweist sich zum einen in der Befreiung von der Vergangenheit durch die Vergebung der vergangenen Sünden und in der jetzigen Rechtfertigung, die 16 jeden/ jede, der/ die vertraut, in eine neue, anerkannte und verantwortliche Person verwandelt. 3. Die erste These von Rene Girard': Literaturwissenschaft und Kulturtheorie Rene Girard (': •1923) ist ein Literaturwissenschaftler, der aus komparatistischen Untersuchungen (Dante, Hugo, Stendahl, Cervantes, Flaubert, Proust, Dostojewsky, Camus, Sophokles, Euripides) die kulturtheoretische Hypothese entwickelt hat, dass die kulturelle, religiöse und politische Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft auf einem Opferkult basiert, der die Opferung eines sakralisierten Opfers ritualisiert wiederholt, das stellvertretend für die Gewalt der ganzen Gesellschaft gestorben ist. Die Krise des Opferkultes und der kulturellen Ordnung führt zu der Notwendigkeit, ein neues mögliches stellvertretendes Opfer zu finden, in dessen Richtung die Gewalt, die sich in der Gesellschaft ansammelt und nicht mehr durch die Ritualisierung gestillt werden kann, neu gelenkt wird. Die Sakralisierung, die aus seinem Opfertod folgt, begründet dann die neue gesellschaftliche Ordnung, bis sich der Zyklus der Gewalt wieder schließt. »Betrachtet man die Opfertheologie, also die Selbstinterpretation des Opfers, nicht als die abschließende Opfertheorie, dann wird sogleich deutlich: neben dieser Theologie und ihr im Prinzip untergeordnet in Wirklichkeit aber wenigstens bis zu einem gewissen Punkt von ihr unabhängig gibt es einen anderen religiösen Diskurs über das Opfer, bei dem es um dessen soziale Funktion geht und der viel mehr Interesse verdient« (La violence et Je sacre, 22). 1. Das Opfer hat stellvertretende Funktion, indem sich das gesamte Gewaltpotential, das die Ordnung der Gesellschaft bedroht, auf ein einzelnes Individuum konzentriert. »... das Problem der Stellvertretung stellt sich auf der Ebene der Gemeinschaft als Ganzes. Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes bedrohten Individuums, es wird nicht diesem oder jenem besonders blutrünstigen Individuum geopfert, sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mit- ZNT 17 (9. Jg. 2006) gliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst« (La violence et le sacre, 21-22). »Der Antagonismus eines jeden gegen jeden macht Platz für die Gemeinschaft aller gegen einen einzigen« (La violence et le sacre, 116). »Die Menschen wollen sich überzeugen, dass das ganze Übel auf die Verantwortung eines einzigen zurückzuführen ist, den es leicht sein wird, zu beseitigen« (La violence et le sacre, 118). 2. Der Opferkult entsteht aufgrund der Illusion, dass die Opferung die Gemeinschaft von ihrer eigenen Gewalt befreit hat und die religiös-soziale Ordnung, die ein friedliches Leben ermöglicht, wiederhergestellt hat: »Nachdem alle vorherigen Gewalttaten die Gewalt nur vermehrt haben, setzt wunderbarerweise die Gewalt gegen dieses Opfer jeder Gewalt ein Ende. Das religiöse Denken hat zwangsweise dazu geführt, nach der Ursache dieses außerordentlichen Unterschieds zu fragen ... Diesem Opfer den Glück bringenden Abschluss zuzuschreiben, scheint um so logischer, weil die gegen dieses Opfer ausgeübte Gewalt gerade das Ziel hatte, die Ordnung und den Frieden wieder herzustellen ... Dieses Opfer scheint also die am meisten übeltuenden und die am meisten wohltuenden Aspekte der Gewalt in seiner Person zu vereinigen... Es reicht nicht aus, wenn man sagt, dass das stellvertretende Opfer den Übergang von der wechselseitigen und destruktiven Gewalt zur gründenden Einmütigkeit >symbolisiert<. Es selbst sichert diesen Übergang und ist eins mit ihm. Das religiöse Denken hat zwangsläufig dazu geführt, das stellvertretende Opfer, das heißt das letzte Opfer, das Opfer, das unter der Gewalt leidet, ohne neue Vergeltungen auszuüben, als ein übernatürliches Geschöpf zu sehen, das die Gewalt sät, um dann den Frieden zu ernten, als einen furchterregenden und geheimnisvollen Retter, der die Menschen krank macht, um sie dann zu heilen ... Der Held ist Anstifter von Gewalt und Unordnung, solange er unter den Menschen lebt, sobald er ausgeschlossen worden ist, und dies geschieht immer noch durch die Gewalt, erscheint der Held als eine Art Erlöser« (La violence et le sacre, 126-127). 3. Die Verewigung der durch das stellvertretende Opfer hergestellten Ordnung ist die Funktion des Religiösen: »Als erstes haben wir die kathartische Funktion des Opfers ermittelt. Wir haben dann die Krise ZNT 17 (9.Jg. 2006) Fran1; ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« des Opferkultes als Verlust dieser kathartischen Funktion und aller kulturellen Unterschiede definiert. Wenn die einmütige Gewalt gegen das stellvertretende Opfer dieser Krise tatsächlich ein Ende setzt, dann wird offenkundig, dass sie am Anfang eines neuen Opfersystems stehen muss. Wenn das stellvertretende Opfer allein den Entstrukturierungsprozess unterbrechen kann, dann steht es am Anfang aller Strukturierung ... Wir haben [...] gute Gründe zur Annahme, es könnte sich bei der Gewalt gegen das stellvertretende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, dass sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet, nämlich den Kreis des Opferritus, der sehr wohl der Ritus der ganzen Kultur sein könnte« (La violence et le sacre, 135). »Das Ritualopfer gründet auf einer doppelten Stellvertretung. Die erste ist die nie wahrgenommene Stellvertretung der Gesellschaft durch ein einziges ihrer Glieder; sie beruht auf dem Mechanismus des stellvertretenden Opfers. Die zweite, die einzige eigentlich rituelle Stellvertretung, überlagert jene erste; sie setzt an die Stelle des Ursprungsopfers ein Opfer aus einer opferfähigen Kategorie. Das versöhnende Opfer gehört zur Gemeinschaft, das rituelle Opfer nicht; das muss so sein, weil der Mechanismus der Einmütigkeit nicht automatisch zu dessen Gunsten spielt« (La violence et le sacre, 148). Das rituelle Opfer »ersetzt nie dieses oder jenes Mitglied der Gemeinschaft oder gar die ganze Gemeinschaft: es tritt immer an die Stelle des stellvertretenden Opfers. Wie das stellvertretende Opfer an die Stelle aller Mitglieder der Gemeinschaft gesetzt wird, so spielt die Opferstellvertretung tatsächlich die Rolle, die wir ihr zugeschrieben haben: Sie schützt alle Mitglieder der Gemeinschaft vor der eigenen und gegenseitigen Gewalt, aber dies immer durch die Vermittlung des stellvertretenden Opfers« (La violence et le sacre, 147). 4. Die zweite These von Rene Girard 2 : Die evangelische Offenbarung Die »jüdisch-christliche Schrift«, unter anderem die Passionsgeschichte der Evangelien und die paulinische Interpretation des Kreuzes, stellen nicht nur eine nicht-sakrifizielle Deutung des Todes Jesu dar, sondern sie offenbaren anhand der Deutung, die Jesus von seinem Tod in den Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern im Voraus gibt und in der Erzählung des Todes Jesu, 17 Zum Thema sowohl den Mechanismus der Gewalttat als auch die Verdrängung der doppelten Stellvertretung. Der Tod Jesu stellt sich daher als die Offenbarung einer Erkenntnis dar, die sowohl das Ende der Ritualisierung des Opferkultes als auch die Aufforderung, die eigene Gewalt wahrzunehmen und mit Hilfe des universalen Liebesgebotes (»deinen Nächsten wie dich selbst«) zu verarbeiten, impliziert. Der Ausgangspunkt der »zweiten« These von Rene Girard, nach welcher der Tod Jesu die Enthüllung des doppelten Stellvertretungsmechanismus der Gewalt durch das Opfer und durch den Opferkult bedeutet, liegt im Zusammenhang von drei Offenbarungsmomenten, die im Matthäusevangelium miteinander verbunden sind: • Die Wiederaufnahme von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer«. • Die Ankündigung und die Vorausdeutung des Todes Jesu als Folge der Heuchelei, die gerade als ritualisierte Verdrängung des Stellvertretungsmechanismus der Gewalt in den Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern analysiert wird (Mt 23,13.27-28.29-33). • Der Bericht des Todes Jesu, der die Offenbarung bestätigt und besiegelt (Mt 27). 1. Die erste Invektive (Mt 23,13) warnt die Schriftgelehrten und Pharisäer vor ihrer Heuchelei, die darin besteht, dass sie den Schlüssel einer Erkenntnis haben, den sie missbrauchen, indem sie den Mechanismus der Gewalt verkennen und verdrängen. (13) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Himmelsherrschaft verschließt vor den Menschen! Ihr kommt nämlich nicht hinein und lasst die, die eintreten, nicht hineingehen. 2. Die letzte Invektive, die vor einer objektiven Heuchelei der Selbsttäuschung warnt, die die persönliche Verantwortung gegenüber der eigenen Zeit und dem eigenen Ort verdrängt (Mt 23,29- 33), und die Metaphorik der geweißten Gräber, die in der vorletzten Invektive (Mt 23,27-28) die stellvertretende Verwechslung zwischen Leben und Tod enthüllt, offenbaren den doppelten Mechanismus der Ritualisierung der Gewalt. Die geweißten Gräber warnen vor der kultischen 18 Selbsttäuschung, die durch die Lüge der weißen Farbe versucht, den Tod, der die Ordnung des Lebens vor der Gewalt schützen soll, zu verbergen. »Deshalb wirft Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern vor, die Gräber der Propheten zu bauen, die ihre Väter getötet haben. Verkannt wird der gründende Charakter des Mordes, indem man entweder bestreitet, dass die Väter getötet haben, oder indem man die Schuldigen verurteilt. Um die eigene Unschuld zu beweisen, wiederholt man die gründende Geste, erhält das Fundament fort, das die Wahrheit verdrängt; man will nicht wissen, dass die ganze Menschheit auf der Verdrängung der eigenen, auf immer neue Opfer projizierten Gewalt gegründet ist« (Des choses cachees, 186). (27) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr geweißten Gräbern gleicht, die von außen zwar schön erscheinen, innen aber voll sind mit Totengebeinen und aller Unreinheit. (28) So scheint auch ihr von außen zwar den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll von Heuchelei und Gesetzlosigkeit. (29) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Gräber der Propheten baut und die Grabmäler der Gerechten schmückt (30) und sagt: » Wenn wir gewesen wären in den Tagen unserer Väter, wären wir nicht ihre Teilhaber am Blut der Propheten geworden«. (31) So dass ihr euch selbst bezeugt, dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten getötet haben. (32) Auch ihr erfüllt nur das Maß eurer Väter. (33) Schlangen, Brut von Giftschlangen, wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entfliehen? 3. Die evangelische Erzählung des Prozesses, der Kreuzigung und des Todes J esu und dann die Geschichte der Steinigung des Stephanus (Apg 6,8 - 8,3 ), die den Mord und das Martyrium durch keine theologische Deutung erklären und verschleiern, fördern die Mechanismen der Willkür und der Ungerechtigkeit der menschlichen Gewalt offen zu Tage. »Die verbale Offenbarung des Gründungsmordes muss mit der Offenbarung in Taten, mit der Wiederholung dieses Mordes gegen denjenigen, ZNT 17 (9. Jg. 2006) der ihn offenbart und dessen Botschaft die Welt nicht hören will, in unmittelbare Verbindung gebracht werden. In der evangelischen Darstellung löst die Offenbarung in Worten einen kollektiven Willen aus, die Wahrheit zum Schweigen zu bringen, und dieser Wille konkretisiert sich in der Form des kollektiven Mords, der den Gründungsmechanismus reproduziert und das Wort bestätigt, das er sich bemüht, zu verdrängen. Die Offenbarung deckt sich insofern mit der gewaltsamen Opposition gegen jede Offenbarung, als es zunächst darum geht, diese lügnerische Gewalt, die die Quelle jeder Lüge ist, zu offenbaren« (Des choses cachees, 193). 4. Die Konsequenzen der evangelischen Offenbarung sind das Ende des sakralen Opferkultes, der als Tarnung der Gewalt Frani; ,ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« als die Verfluchung des Gekreuzigten, den Gott als seinen Sohn geoffenbart hat, durch das Gesetz [Gal 3,13], 3. der Tod Jesu als Erlösung durch die Offenbarung der universalen Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes [Röm 3,24] und 4. der Tod Jesu als die Versöhnung, die uns alle in eine neue Schöpfung verwandelt [2Kor 5,11-21]) setzen alle die Auferstehung und den Tod Jesu in Verbindung mit der notwendigen Befreiung aller Menschen und jedes Einzelnen von sich selbst und, weil die Macht der Sünde und des Fleisches sich in jedem Einzelnen ausübt, mit der (Wieder-)Herstellung eines Vertrauensverhältnisses mit Gott, mit sich selbst und mit der Person der anderen. Die befreiende Veränderung fungiert, und damit die Aufforderung, die eigene Gewalt nicht loszulassen, sondern mit ihr umgehen zu lernen. Im Zuge dessen ist die notwendige Universalität des Gebotes der Nächstenliebe »Nach Rene Girard besteht das Kennzeichen der evangelisch-neutestamentlichen Tradition in der nicht-sakrifiziellen Deutung des Todes Jesu. « betrifft das Verhältnis jedes Einzelnen zu sich selbst in Bezug auf Gott und auf den anderen und ereignet sich in den beiden Momenten der Selbstkritik (Mitgekreuzigt als Alternative zum doppelten Stellvertretungsmechanismus der Gewalt hervorzuheben. Nach Rene Girard besteht das Kennzeichen der evangelisch-neutestamentlichen Tradition in der nicht-sakrifiziellen Deutung des Todes Jesu. mit Christus bin ich der Sünde gestorben) und der Erneuerung (Wie Christus auferstanden ist, bin ich zu einem neuen Leben neu geboren, Röm 6,1-14). Jesus stirbt nicht als Opfer, sondern er gibt sein 5. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als Ende der Stellvertretung Leben für die Menschen. Der Unterschied besteht darin, dass die Mechanismen, die zu der Kreuzigung führen, geoff enbart werden, statt mythisch und sakral verschleiert zu werden, oder anders gesagt: dass die Metaphorik des Opfers im Rahmen eines nicht-opfertheologischen Verständnisses des Todes Jesu umgedeutet wird. Mit Blick auf die eingangs gemachten Bemerkungen zum neutestamentlichen Sprachgebrauch des Verständnisses des Todes Jesus in Kapitel 1 und 2 dieses Aufsatzes ist zu den Thesen von Rene Girard Folgendes festzuhalten: a.) Weder die vorpaulinische Formel »für unsere Sünden gestorben« (lKor 15,3; Gal 1,4) noch die paulinische Formulierung »für uns/ für euch/ für die Sünder gestorben« (Röm 5,6.7.8; 8,32; 14,15; 2Kor 5,14-15) setzen eine sakrifizielle Deutung des Todes Jesu voraus. 6.) Die paulinischen Interpretationen des Todes Jesu (1. das »Kreuz«, das heißt die Verkündigung des Evangeliums der Auferstehung und des Todes Jesu, als Torheit [lKor 1,17-25], 2. das »Kreuz« ZNT 17 (9.Jg. 2006) Der Verweis auf das Sühnewort (hilasterion) ist in Röm 3,24-26 die einzige paulinische Deutung der Auferstehung und des Todes Jesu mit Hilfe einer opferkultischen Symbolik (Ex 25; Lev 16). Die kultischen Vorstellungen, die den Tod Jesu als Ort des Opfers bezeichnen (Röm 3,25 ), werden in eine nicht-opfertheologische Interpretation des Todes Jesu umfunktioniert: Der Tod Jesu ist nicht Bestandteil eines Stellvertretungsprozesses, sondern er bedeutet eine Veränderung aller: »Durch den Glauben« (Röm 3,25) durchbricht die opferkultische Logik und kündigt die Kraft einer Gerechtigkeit an, die die Vergebung der vergangenen Sünden (Röm 3,25) mit der Rechtfertigung bzw. Berichtigung - J. Louis Martyn spricht in seinem Kommentar zum Galaterbrief von »rectification«, »Berichtigung« der Sünder (Röm 3,26) eng verbindet. Paulus stellt nicht den TodJesu als die Umleitung der Gewalt oder der Verantwortung für eine 19 äußerliche, gesellschaftliche Unordnung dar, sondern als die Erlösung von der Verzweiflung der Existenz, die sich vor Gott aufgrund ihrer Eigenschaften rechtfertigt durch die Offenbarung der Gnade der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes. Der Tod Jesu ist deshalb die Erlösung (Röm 3,24), weil es keinen Unterschied gibt (Röm 3,22c), weil alle Sünder sind und der Ehre Gottes ermangeln (Röm 3,23), weil kein Mensch vor Gott aufgrund seiner Eigenschaften gerecht werden kann (Röm 3,20 als Zusammenfassung von Röm 1,18-3,20), weil die Gerechtigkeit Gottes die Menschen immer schon umsonst gerechtfertigt hat (Röm 3,21-22a). Diese Erlösung findet nicht in einer Stellvertretung statt, sondern in der Offenbarung der umsonst vergebenden und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes. Diese Offenbarung der umsonst vergebenden und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes findet in der Hinstellung eines Ver- Eckart Reinmuth söhnungszeichens statt, das sowohl das Ende des Opferkultes als sakrale Wiederholung des Opfers als auch die universale Aufforderung an alle Menschen, sich durch die Gerechtigkeit Gottes verändern zu lassen und von seiner Gnade zu leben, voraussetzt. Anmerkungen 1 Literatur von Rene Girard zu diesem Kapitel: • Mensonge romantique et verite romanesque, Paris 1961; • La violence et le sacre, Paris 1972. Dt: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987; • Critique dans un souterrain, «Amers», Lausanne 1976. 2 Folgende Literatur ist grundlegend für diese zweite These von Rene Girard: • »Les maledictions contre ! es Pharisiens et l'interpretation evangelique«, Bulletin du Centre protestant d'etudes, Geneve 1975; • Des choses cachees depuis la fondation du monde, Paris 1978. Dt: Das Ende der Gewalt, Freiburg 1983. Anthropologie im Neuen Testament 20 UTB 2768 2006, VIII, 338 Seiten,€ [D] 24,90/ SFR 43,70 ISBN 3-8252-2768-5 Anthropologische Fragestellungen liegen im zentralen Interesse aktueller theologischer Forschung. In einer für Studenten klar verständlichen Sprache geht das Buch der Frage nach, wie neutestamentliche Perspektiven in die Wirklichkeit der Menschen in der Gegenwart einzubringen sind. Nach einer umfangreichen Einführung in die Fragestellung werden in vier Blöcken anthropologische Perspektiven der Synoptiker, der johanneischen und paulinischen sowie der übrigen neutestamentlichen Literatur zumeist an ausgewählten Texten dargestellt. Neben der an den Schriftgruppen des Neuen Testaments gegliederten Darstellung sorgt ein Bibelstellenregister für gezielten Zugriff. Damit wird ein textorientierter Zugang zur Thematik sichergestellt, wodurch sich das Buch gezielt für Lehre und Prüfungsvorbereitung einsetzen lässt. Aus dem Inhalt: Einführung • Anthropologie in den synoptischen Evangelien • Anthropologie im Johannesevangelium • Paulus • Übrige Schriften • Nachwort• Bibliographie • Register A. Francke ZNT 17 (9. Jg. 2006)