eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 9/17

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2006
917 Dronsch Strecker Vogel

Ist der eine Gott gewalttätig? Fragen an das Neue Testament

61
2006
Eckart Reinmuth
znt9170048
Eckart Reinmuth Ist der eine Gott gewalttätig? Fragen an das Neue Testament Die Diskussion um die von Jan Assmann wirkungsvoll erneuerte These, dass zwischen Gottesglauben und Gewalt ein Ursachenzusammenhang bestehe, ist in Bewegung. Vom Monotheismus führte sie über die »mosaische Unterscheidung,< zur »Leidenschaft« des biblischen Gottes, die nun im Kontroversbeitrag für dieses Heft als Quellort religiös begründeter Gewalt benannt wird. Assmanns Generalthese ist nach meinem Eindruck variierbar, aber im Kern konsistent. Sie steht im Kontext beunruhigender Gegenwartserfahrungen, zu denen nicht nur der Terrorismus, sondern auch der nachholende Diskurs über den Holocaust und die Massenmorde der jüngsten Vergangenheit gehören. Assmanns Antwort ist eine Geschichte, deren Sub- Exklusionsprozesse haben die gesamte Antike, auch die ägyptische, geprägt. Sie waren zwar für die Konstruktion kollektiver Identitäten unabdingbar; die Definition der Anderen als anders hatte anthropologischen Rang. Das Christentum stellte jedoch genau diese Voraussetzung in Frage. Das wäre ohne die Gewissheit, dass alle Menschen Adressaten der Liebe Gottes sind, nicht möglich gewesen. Das frühe Christentum lebte nicht von der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, sondern von der Geschichte, die Gottes Menschwerdung erzählte. Es begriff diese Geschichte als das endgültige Handeln Gottes. Das schloss die Erwartung seines richtenden Handelns ein. Die Gewalttätigkeit Gottes bezieht sich 1m Neuen Testament wie in seitext lautet: Gäbe es die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion nicht, so wäre eine wesentliche Quelle der Gewalt hin- ·~ TROV nen biblischen und frühjüdischen Wurzeln auf die Gewalt und das Unrecht von fällig. Dabei wird die Ambivalenz gesellschaftlicher Gewalt ausgeklammert. Mit den drei Formen ,göttlicher Gewalt<, die Jan Assmann skizziert, gerät leicht die schwierige Frage nach der Legitimation gesellschaftlicher Gewalt aus dem Blick. Angesichts der gegenwärtigen politischen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen ist es kaum geraten, diese Frage leichthin abzutun. Sie muss dringend neu gestellt und begründet werden. Mein Kontroversbeitrag bezieht sich indessen auf die grundlegende Leistung der jüdischen und christlichen Tradition, Gewalt Menschen. Aus dem Wissen, dass keine Liebe ohne Nein zu denken ist, wurde jedoch immer wieder die Gewalt derer, die die Liebe zum Gesetz machten. Ich will das erläutern und der grundlegenden Geschichte nachgehen, die das Neue Testament prägt. Das letzte Buch der Bibel bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass Gott sich mit Gewalt gegen alle Ungerechtigkeit durchsetzen wird. Die Bilder dieser Erwartung endgültiger Gerechtigkeit sind anstößig; die Radikalität dieses Denkens macht erschrocken. Es ist schwer geworden, sie mit dem liebenden Handeln eines gütigen und vergebenden Gottes zusammen zu als zentrales anthropologisches Problem benannt zu haben. Im Neuen Testament geht es nicht um die Entfesselung religiös definierter Gewalt, sondern um ihre Brechung. Gewalterzeugende »Aus dem Wissen, dass keine Liebeoh.ne Nein zu denken ist, wJrde jedoch immerwieder die Gewalt derer, die die Liebe zum Gesetz machten.« denken. Die Christen, deren Hoffnungen sich in der J ohannesoff enbarung artikulieren, haben sich der Frage gestellt: Was kann, was wird Gott angesichts der Rettungs- Techniken wie die des Ausschließens und Ausgrenzens anderer Menschen werden dabei nachhaltig in Frage gestellt und unterminiert. 48 losigkeit menschlichen Handelns tun? Die Radikalität des letztgültigen Handelns Gottes entspricht der erfahrenen Totalität und Absurdität menschlicher Ungerechtigkeit. ZNT 17 (9. Jg. 2006) Eckart Reinmuth Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seine Hauptforschungsgebiete si11d die antik-jüdische Literatur und ihre Hermeneutik sowie moderne Literatur- und Geschichtstheorien in ihrer Bedeutung für die Auslegung des Neuen Testaments heute. Veröffentlichungen unter: http : / / w.ww. theologie. uni-rostock. de/ reinmuth.htm. Letzte Buchveröffentlichungen: Hermeneutik des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002; Neutestamentliche Historik ~ Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003; Paulus, Gott neu denken (BG 9), Leipzig 2004; Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/ II), Leipzig 2006; Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen 200ti>. Seine Gerechtigkeit ist nicht als tolerantes Geltenlassen von Unmenschlichkeit und Unterdrückung denkbar. Die Hoffnung auf den Gott, der jede Inhumanität und Ungerechtigkeit beseitigen wird, wurde zum heuristischen Prinzip für das Erkennen der Gegenwart. In der J ohannesoff enbarung kommunizieren Menschen miteinander, die Tod und Verfolgung in Kauf nehmen und ihr Leiden in die Erwartung katastrophischer Vergeltung transponieren. Aber sie leben um dieser Transposition willen gewaltlos. Das Zentrum der Offenbarung ist nicht die Gewalt der Bilder, sondern die Gewaltlosigkeit des Lammes (Offb 5), in der sich die Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen der Glaubenden spiegeln. Sie ist in der Perspektive ZNT 17 (9. Jg. 2006) Eckart Reinmuth Ist der eine Gott gewalttätig? des Autors die Genesis der Menschlichkeit. Sie ermöglicht es, den Schrecken der Gegenwart ins Auge zu sehen. Nur in dieser Perspektive lässt sich das Gemenge von Gewalt und Gewaltlosigkeit in den Bildern der Offenbarung entziffern. Die Kernmetapher dieses Gottes, die die tödliche Erfahrung unrechter Gewalt versinnbildlichte, war das geschlachtete Lamm. Ihm, nicht einer himmlischen Armada, war am Kreuz alle Gewalt übertragen worden. Hier hing ein Gewaltloser, der in einem Gewaltexzess getötet worden war. Diese denkwürdige Ersetzung landläufiger Gewalt durch ihr Gegenteil gehört zum Grundnenner aller neutestamentlichen Schriften. Es war eine Permutation, die bis heute als anthropologische und ethische Herausforderung wirkt. Sie entspricht einer Bewegung, die mit dem gedachten Anfang der Geschichte einsetzt. Von den ersten Erzählungen der Bibel an geht es um Gewaltbegrenzung unter Menschen, für die Gott selbst einsteht (Gen 4,1-16). Sie ist scharf mit der ständig eskalierenden Gewalt der Menschen kontrastiert (Gen 4,23f.). Die Erinnerung an die Leidenschaft Gottes, auf die Jan Assmann als maßgebliche Gewaltquelle verweist, wird im Neuen Testament in denkwürdiger Weise aufgenommen. Im Johannesevangelium wird die tödliche Konsequenz, die Jesus sich mit seiner zeichensetzenden Tempelaktion gleich zu Beginn seines Auftretens einhandelt, mit Hilfe eines Zitats aus den Psalmen interpretiert (Ps LXX 68,10). »Die Leidenschaft für dein Haus wird mich fressen«, so nimmtJoh 2,17 das Psalmwort auf und deutet es, ins Futur gewendet, als memento passionis ein Motiv, das im Johannesevangelium auch auf die Glaubenden ausgedehnt wird (vgl. z.B. Joh 15,18ff.). Sie verstehen sich in Analogie zum Geschick J esu als Opfer, nicht als Ausübende ungerechtfertiger Gewalt (vgl. auch Joh 16,2; s.u.). Wie Jesus, den das Johannesevangelium >Gott< nennt (20,28; vgl. 1,1.18), erfahren sie darin »die Gewalt, die das Recht braucht, um wirksam zu werden« (so Jan Assmann in seinem Beitrag). Bereits die Theologie des Paulus reflektiert radikal und folgenreich, wie diese Gewalt in der Kreuzigung Jesu wirksam wird. Im Neuen Testament trifft die Gewalt des Gesetzes Gott selbst. Im Matthäusevangelium wird der Weg Jesu konsequent als ein Gewaltverzicht gedeutet, der 49 Kontroverse in der Geschichte des Gottes Israels gründet. J esu Weg unterscheidet sich grundlegend von der öffentlichen Gewaltanwendung, die das Handeln der Herrschenden kennzeichnet (vgl. Mt 20,25- 28); er führt nicht nur ans Kreuz, sondern in den expliziten Verzicht auf jede Anwendung von Gewalt (Mt 26,52f.). Dieser Verzicht ist freilich kein Zufall, keine Augenblicksentscheidung. In ihm vollzieht sich die in den Schriften Israels vorgezeichnete Geschichte Gottes (Mt 26,54). Das löst Erschrecken aus und treibt die Jünger stehenden Fußes in die Flucht (Mt 26,56). In der Versuchungsgeschichte war die Entscheidung bereits gefallen: »Bist du Gottes Sohn« mit dieser klugen Kondition wird die zweite Versuchung eingeleitet. Sie besteht darin, dass J esu Identität als des Repräsentanten Gottes durch die Demonstration seiner Macht gesichert werden könnte. Jesus antwortet mit ausdrücklichem Verzicht (Mt 4,5-7). Das kennzeichnet seinen Weg bis zuletzt (vgl. auch Mt 27,39-43). Er wird in seinem Gewaltverzicht als Sohn des Gottes erkennbar, dessen Macht darin besteht, dass er auf sie verzichten kann. Der so genannte Philipperhymnus erzählt die Geschichte J esu Christi als Erniedrigung Gottes bis in den Sklavenstand. Dass ein göttliches Wesen sich so erniedrigt, wurde im antiken Kontext als schockierend empfunden. Freiwilliger Statusverlust galt als Schande. Die Geschichte J esu Christi hingegen erzählte davon, dass Gott auf diesem Wege geradezu Gott wird und sich damit in stärksten Gegensatz zu den Inhabern von Macht und Gewalt begibt (vgl. Phil 2,9-11) ein Gott für Sklaven, ein Gott für Ausgegrenzte, für >überflüssige Menschen< und Herrenlose (1Kor l,26ff.), und deshalb ein Gott für Sklaven und Herren, für Juden und Nichtjuden, Männer und Frauen (vgl. Gal 3,28; dazu 1Kor 12,3; Kol 3,11). Darum kann der Autor des Epheserbriefes Jesus Christus als den Niederreißer von Grenzzäunen verstehen und ihn ,den Frieden< nennen (Eph 2,14). Seine Geschichte bedeutete nicht den Ausschluss anderer Menschen, sondern der Gewalt als menschlicher Handlungsoption. Hier, in dieser narrativen Transformation des Gottes Israels, liegt der ursprüngliche Anstoß, den der christliche Glaube in der antiken Welt auslöste. Er legte mit seiner Gottesgeschichte nicht nur den Daumen auf das Gewaltpotential kollektiver Ausgrenzungsprozesse, sondern auch auf den anthropolo- 50 gischen Zusammenhang von Leiden und Gewalt. Leidkompensation und -prävention wurden als bestimmende Motive menschlicher Gewalt aufgedeckt und entkräftet. Das Entmachtende der Identifikation Gottes mit Jesus von N azareth zielt darauf, dass Menschen ihre Macht über andere Menschen fahren lassen. Sie zielt auf eine neue Begründungslogik des Menschseins, die die Frage der Gewalt einschließt. Das entstehende Christentum sah sich einer doppelten Ausgrenzung gegenüber. Gemeinsam mit dem Judentum stand es im Verdacht, jenseits der Grenzen des religiös Tolerierbaren zu stehen. Vom Judentum unterschied es sich jedoch nicht nur darin, dass seine Existenz mit zunehmender Selbständigkeit immer riskanter wurde, sondern auch darin, dass seine radikale Interpretation der Geschichte des Gottes Israels abgelehnt wurde. Die partielle Gewalttätigkeit der hellenistischrömischen Religiosität gegenüber dem Christentum hatte da ihre Wurzel, wo sie sich als Religion in Frage gestellt sah. Sie war es, die den Vorwurf der superstitio oder des Atheismus auf das Christentum übertrug und es damit zu einer ,Gegenreligion< werden ließ. Der universalistische Geltungsanspruch, den das frühe Christentum vom antiken Judentum übernahm, wurde transformiert. Es folgte damit dem Anstoß Jesu, der sich in provokativer Weise den Ausgegrenzten Israels zugewandt hatte, um an ihnen zeichenhaft die Adressierung der Liebe Gottes deutlich zu machen. Sein Handeln bedeutete Integration, nicht Ausgrenzung. Das frühe Christentum verstand die Liebe Gottes inklusiv; sie galt allen Menschen, insofern sie vor Gott den Ausgegrenzten Israels glichen. Damit wurde jede anthropologisch konstruierte Exklusion unterlaufen und eine wesentliche Quelle von Gewalt aufgedeckt. Antike Gesellschaften wie die griechische und römische definierten sich durch Ausgrenzung des Fremden. So beruhte etwa die Entstehung und Begründung der antiken Sklaverei auf der Ausgrenzung der Nichtgriechen, der Barbaren. Die Modelle von Universalität, die in der hellenistisch-römischen Antike entwickelt wurden, basierten auf einer politischen Anthropologie, die Menschsein so definierte, dass gesellschaftliche Identitäten durch Grenzziehungen entwickelt werden konnten. Sie wurden mit höchsten Autorisierungen legitimiert, die die Definition des ZNT 17 (9.Jg. 2006) Anderen, des Fremden, des Nichtmenschen sicherten. Das frühe Christentum knüpfte bei denjenigen Interpretationsleistungen des antiken Judentums an, die dazu führten, dass die biblischen Schriften nicht exklusiv, sondern inklusiv verstanden werden konnten. Sie galten allen Menschen, sie bildeten Menschsein ab, und sie verkörperten die Erwartungen Gottes gegenüber allen Menschen. Die Geschichte J esu Christi setzte die Geschichte des Gottes Israels fort und brach sie zugleich. Ihre Kraft unterschied sich radikal von der imperialen Gewalt, die auf der politischen Anthropologie der Ausgrenzung basierte. Ihre Adressaten waren von Beginn an die Ausgegrenzten, und ihr Inhalt war der Gott, der durch seine Zuwendung selbst zum Ausgegrenzten wurde (vgl. z.B. Hebr 13,11-13). Hier entstand eine neue Universalität. Ihr Ausgangspunkt war keine politische Anthropologie, sondern die entwaffnende Logik einer bedingungslosen Liebe. Wo sie jedoch konditioniert, unterbrochen, versagt wird, entsteht eine Grenze, die Menschen trennt (vgl. z.B. Mt 18,23-35). Bereits das Neue Testament zeigt, dass das frühe Christentum auf verschiedene Weise versuchte, seine Grenzen zu bestimmen. Im Prozess des Ausgrenzens de-finiert sich die ausgrenzende Gruppe: Sie bestimmt ihre Grenzen im Gegenüber zu anderen Menschen. Das kann zur unterschiedlichen Zuschreibung von Werten führen, bei denen die eigene Überlegenheit konstruiert wird; ihr steht die Abwertung der anderen gegenüber. Gerade diejenigen Werte werden den Ausgegrenzten abgesprochen, auf die man selbst stolz ist. Dieser Prozess ist kein speziell christlicher oder religiöser. Er kennzeichnet vielmehr eine Wir können gar nicht anders, als bei der Verwendung solcher Begriffe unsere eigenen Voraussetzungen in Anschlag zu bringen, sollten aber die Ontologisierungs- und Autorisierungsprozesse in der Frühzeit des Christentums berücksichtigen, die entscheidend in die Bildung eines modernen, >nachaufgeklärten< Begriffs von wahrer und falscher Religion eingegangen sind. Wahrheit hat im Neuen Testament nicht den Charakter einer ontologischen Unterscheidung, sondern einer sich ereignenden Befreiung. Sie realisiert sich nicht inquisitorisch, sondern entwaffnend, nicht verurteilend, sondern schöpferisch. Zur Identitätskonstruktion des Christentums gehört auch die tendenzielle Rücknahme der Anstöße, die mit der Jesus-Christus-Geschichte verbunden sind. Hatte Jesus die Konditionierung der Rettung, wie sie der Täufer vertrat, in den Wind geschlagen, so wurde gerade diese Bedingungslosigkeit des rettenden Handelns Gottes tendenziell wieder rückgängig gemacht. Der Glaube selbst wurde zur Bedingung (vgl. z. B. Mk 16,16). Damit sind der Interpretation des Neuen Testaments kritische Fragen aufgetragen: Wenn der Weg Gottes so konsequent in die Gewaltlosigkeit führt, wie ist dann die Gewalttätigkeit mancher Texte zu verstehen, die diesen Weg bezeugen? Was bedeutet es, dass Menschen verunglimpft und diskriminiert werden, weil man sie außerhalb der Grenzen der Gemeinde sieht? Wie kommt es, dass der Identitätsdiskurs des frühen Christentums zur Gewalt führte, die zwischen eigenem Tun und dem in den Texten bezeugten Handeln Gottes nicht unterschied, sondern diese Texte zur eigenen Legitimation instrumentalisierte? Das Problem der Gewalt beginnt im Christentum weniger mit der Unter- Grundproblematik menschlicher Kulturen. Das Christentum hat daran im Zuge seiner vielen Akkulturationsprozesse in unterschiedlichsten Formen teil. Diese Vorgänge müssen beachtet und in historischer Perspektive analysiert werden. »Das Problem der Gewalt scheidung zwischen wahr und unwahr, sondern in der Ontologisierung von Offenbarung und der Fiktionalisierung von Autorität. Sicher das grundstürzend Neue, das eigentlich Undenkbare, also Unerfindliche, konnte nur als Die Unterscheidung zwibeginnt im Christentum weniger mit der Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, sondern in der Ontologisierung von Offenbarung und der Fiktionalisierung von Autorität.« schen wahr und falsch, wahrer und falscher Religion, stellt sich jedoch aus heutiger Sicht völlig anders dar als vor 400, 1.400 oder 2.400 Jahren. Offenbarung kommuniziert werden. Aber aus der Offenbarung als Kommunikationsform wurde ein Monopol. Die Texte des Neuen Testaments standen ursprünglich wie ZNT 17 (9. Jg. 2006) 51 andere antike Texte in Diskursen, in denen autorisierte, durch Offenbarung legitimierte Interpretation gegen solche mit gleichem Anspruch auftrat. Dabei spielt die Autoritätsfiktion eine wesentliche Rolle. Prozesse wie Konservierung, Biographisierung, pseudonyme Textproduktion und Kanonisierung führten zunehmend dazu, die Texte des Neuen Testaments mit der Geschichte Jesu Christi zu identifizieren. Diese Prozesse reicherten ein Gewaltpotential an, das in der Geschichte der Kirchen zu verheerenden Auswirkungen kam. Die als Prophetie geäußerte BefürchtungJoh 16,2 >dass jeder, der euch tötet, meinen wird, Gott damit einen Dienst zu tun<, die so ganz anders gemeint war, wurde zum Nenner christlicher Gewaltanwendung. Gott wurde nicht nur Mensch, seine Geschichte wurde auch Text. Der Menschlichkeit seiner Offenbarung entspricht die Menschlichkeit ihrer Interpretation. Er gab sich in die Hände von Menschen das ist das entscheidende Signal am Beginn seines Weges in die Passion (Mk 9,31). Markus macht deutlich, dass die Geschichte Gottes auf sehr »menschliche« (vgl. Mk 8,33b; Ernst Barlach, Der göttliche Bettler. Aus dem Zyklus ,Wandlungen Gottes< von 1921 (Ernst Barlach. Gestaltung Henry Götzelmann. Mit einem Essay von Willy Kurth, Berlin 1985, Abb. 99) Testament ihren eigenen Widerspruch, ihre Treulosigkeit, ihren Verrat, ihre Verhärtung und Blindheit wiedererkennen. Sie ist nicht nur auf Vergebung angewiesen, sondern auch verpflichtet, sich immer neu von der Geschichte Jesu Christi bewegen zu lassen. Viel zu lange hat eine dogmatisch konstruierte Kanonautorität verhindert, dass das nach innen vgl. Mt 16,23b) Reaktionen stieß. Es ist nur zu verständlich, auf den Weg, den Gott zum Menschen wählte, mit Ablehnung und Unverständnis zu reagieren. Es war der Weg seiner Menschwerdung. Aber die Macht, auf die dieser Gott als Mensch verzichtet » Viel zu lange hat eine dogmatisch konstruierte und außen gerichtete Gewaltpotenzial neutestamentlicher Schriften kritisch interpretiert wurde. Das kann nur eine Ethik der Interpretation leisten. Sie muss nicht nur die Nachgeschichten der Texte im Auge haben, sondern mit den anthropologischen Per- Kanonautorität verhindert, dass das nach innen und außen gerichtete Gewaltpotenzial neutestamentlicher Schriften kritisch interpretiert wurde.« hatte, wurde ihm von Menschen wieder umgehängt (vgl. dazu J oh 6, 15). Menschen sind es, die seiner Geschichte glaubten. Sie zeigten dabei von Anfang an, wie sie Menschen sind mit allen Ambivalenzen, mit ihrer Gewalt- und Liebesfähigkeit. Die Ambivalenzen des Menschen werden im Neuen Testament vielfältig thematisiert. Es zeigt kein Wunschbild, sondern Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit. Es enthält nicht nur Zustimmung, sondern auch Abgrenzung, nicht nur Güte, sondern auch Aggression, nicht nur Vergebung, sondern auch Verurteilung. Die Aufnahme auch dieser Widersprüche in den Kanon des Neuen Testaments erfordert die anhaltende Kritik seiner Interpretationen. Der Kirche erwuchs mit dem Kanon ein Anstoß unaufhörlicher Selbstkritik. Sie kann im Neuen 52 spektiven der Jesus-Christus- Geschichte eine Hermeneutik in Anschlag bringen, die hinreichende, theologisch reflektierte Kriterien enthält. Mit der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch war der jüdischen und christlichen Tradition von Beginn an das Verbot der Instrumentalisierung Gottes auferlegt. Der Vorwurf, dass Menschen sich Gottes bedienen, ist in jüdischer und christlicher Perspektive identisch mit dem, dass sie ihn nicht kennen. Im Instrumentalisierungsverbot wurzelt das selbstkritische Potenzial des christlichen Glaubens, das auf Selbstaufklärung dringt und reflektierte Verantwortung einfordert. Deshalb gilt es, das humanum unserer Traditionen gegen das wirkmächtige Spiel ihrer Ambivalenzen aufzubieten. Darin stimme ich Jan Assmann zu. ZNT 17 (9.Jg. 2006)