ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2006
918
Dronsch Strecker VogelStichwort: Lukas, Historiker
121
2006
Eckhard Plümacher
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Eckhard Plümacher Stichwort: Lukas, Historiker Über den literarischen Charakter des lukanischen Doppelwerkes hat sich dessen Autor nirgends direkt geäußert, auch nicht im Prooemium Lk 1,1-4. Einzig die Unternehmungen jener, die schon zuvor »von den Geschichten, die unter uns geschehen sind«, berichtet haben, werden hier mit dem von den Zeitgenossen oft genug zur Bezeichnung historischer bzw. biographischer Literaturerzeugnisse benutzten terminus technicus diegesis charakterisiert (Lk 1,1; vgl. z.B. Dionys von Halikarnass, Ant. Rom. I 7,4; J osephus, Bell VII 42 bzw. Plutarch, Lyc. 1,7), nicht das Doppelwerk selbst. Sein eigenes Vorhaben, definiert Lukas anders, weniger prägnant, als bloßes »in der rechten Reihenfolge (kathexes) aufschreiben« (Lk 1,3). Wenn freilich der zu Beginn von Lk 1,3 mitgeteilte Entschluß des Autors, es nunmehr den Lk 1,1 erwähnten Vorgängern nachtun und ebenfalls zur Feder greifen zu wollen, nicht nur auf das Faktum des Schreibens als solchen, sondern auch auf die literarische Gattung des geplanten Werkes zu beziehen wäre, enthielte das Prooemium wenigstens einen indirekten Hinweis auf Vokabular zwischen lukanischem Prooemium und Thukydides' Methodenkapitel besteht, ist deutlich genug, um das literarische Selbstverständnis des Lukas zu enthüllen: Ganz offensichtlich wollte auch er Historiker sein. Wenn Lukas Historiker hellenistischer Historiker zu sein beanspruchte, ist anzunehmen, daß sich dieser Anspruch auch bei der literarischen Gestaltung seines Werkes bemerkbar gemacht hat. Charakteristika einer historischen Darstellung weist freilich kaum das Lukasevangelium, umso mehr jedoch die Apostelgeschichte auf. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Während Lukas sich bei der Abfassung seines ersten Buches (Apg 1,1) umfänglichen Quellenschriften dem Markusevangelium sowie der Logienquelle gegenübersah, von denen die erstere auch bereits eine fest geprägte und anscheinend unverzichtbare literarische Form (eben die des Evangeliums) aufwies, hatte der schriftstellerische Gestaltungswille des Lukas in der Apostelgeschichte freie Bahn; weder waren hier wie im Lukasevangelium formale den literarischen Charakter des Doppelwerkes: Lukas hätte dann ebenfalls eine diegesis verfassen wollen. » Wenn Lukas Historiker hellenistischer Historikerzu Vorbilder zu berücksichtigen, noch gab es überhaupt größere Quellenkomplexe, die der literarischen Gestaltungskraft hätten hinderlich sein können. Das Quellenmaterial bestand hier weithin aus knappen Einzeltraditionen solchen, wie sie z.B. die gemein- Präziser als über die literarische Gestalt seines Werkes hat sich Lukas über sein der Abfassung dieses Werkes vorangegangenes Tun geäußert. Bevor er schrieb, sei er »von sein beanspruchte, ist anzunehmen, daß sich dieser Anspruch auch bei der literarischen Gestaltung seines Werkes bemerkbar gemacht bat.« Beginn an allem genau (akribos) nachgegangen« (Lk 1,3). Eben dies hatte schon Jahrhunderte zuvor ein anderer Autor, der Historiker Thukydides, für sich in Anspruch genommen: beim Aufschreiben der Geschehnisse nicht nach Gutdünken verfahren, sondern den Nachrichten anderer mit aller erreichbaren Genauigkeit (akribeia) bis ins einzelne nachgegangen zu sein (I 22,2). Entsprechende Versicherungen sind in der Folgezeit dann bei den Historikern üblich geworden. Die beträchtliche Übereinstimmung, die in Topik und 2 hin als > Itinerar< bezeichneten Partien prägen-, die sehr viel leichter in eine Darstellung eigener Art einzuschmelzen waren. Als Historiker zeigt sich Lukas am augenfälligsten in den zahlreichen Reden, die er den in der Apostelgeschichte Handelnden in den Mund gelegt hat: insgesamt ca. 24 Redestücke, die zusammen ein knappes Drittel (bei Thukydides und in Sallusts coniuratio Catilinae etwa ein Viertel) des Buches ausmachen. Gleich den Reden der griechischen und römischen Historiker können auch die lukanischen ZNT 18 (9. Jg. 2006) Eckhard Plümacher Dr. Eckhard Plümacher, geb. 1938, Studium der Ev. Theologie und der Geschichte in Bonn, Zürich und Göttingen; 1967 Promotion bei Hans Conzelmann, ab 1968 im wissenschaftlichen Bibliotheksdienst, zuletzt Bibliotheksdirektor der Theol. Fakultät der Humboldt-Uni, versität zu Berlin. Werke: Lukas als hellenistis.cher Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972; Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004. nicht Wiedergabe wirklich gehaltener Ansprachen sein; wie jene passen sie häufig entweder nicht zu der Situation, in der sie angeblich gehalten wurden, oder reichen, selbst wenn sie aus dem Zusammenhang mit der sie umrahmenden Szene nicht herausfallen, doch weit über diese hinaus. So widersprechen sich etwa in 17,16 und 17,22 Szene und Rede diametral; 17, 16 berichtet, daß Paulus bei seiner Ankunft in Athen über die Fülle der Götterbilder äußerst erbost gewesen sei; in der Areopagrede (17,22-31) hingegen bestimmt ihn der gleiche Umstand dazu, die Athener in einer captatio benevolentiae wegen ihrer Frömmigkeit ausdrücklich zu loben (17,22). Durch die Paulusrede vor den Ältesten von Ephesos (20, 18- 35) zieht sich wie ein roter Faden eine Selbstapologie des Paulus (20,20f.; 27.33f.). Entsprechende Anklagen gegen ihn sind aber weder von den Hörern des Paulus vorgebracht worden noch treten solche an anderer Stelle der Apostelgeschichte in Erscheinung. In 22,1-21 will sich Paulus mit einer Rede vor der Volksmenge, die über eine angeblich von ihm begangene Tempelschändung aufgebracht ist (21,28), wie es ausdrücklich heißt, ver- ZNT 18 (9.Jg. 2006) teidigen (22,1). In der Rede selbst beschäftigt sich Paulus jedoch ausschließlich mit seiner jüdischen Erziehung und Frömmigkeit sowie mit seiner Bekehrung und dem Auftrag zur Heidenmission. Die Schwierigkeiten lösen sich, wenn man die Reden nicht im Zusammenhang ihres engeren Kontexts, sondern im Rahmen des ganzen Buches, und das heißt: im Kontext der Intentionen des Verfassers interpretiert. Dann zeigt sich, daß es Lukas bei der Niederschrift dieser Reden nicht auf die Wiedergabe eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses ankommt, sondern darauf, seinen Lesern durch sie »Einsicht in die übergeschichtliche Bedeutung des betreffenden geschichtlichen Augenblicks« bzw. in den »Richtungssinn des Geschehens« zu gewähren. 1 Deshalb wählt er Athen trotz des Umstands, daß der tatsächliche Missionserfolg hier recht gering war (17,32ff.), zum Schauplatz einer Paulusrede. Die Stadt hat als geistiges Zentrum der Welt und Vorort hellenistischer Frömmigkeit (darum die auf die Frömmigkeit der Athener bezügliche captatio 17,22! ) besondere Bedeutung für ihn; sie ist der rechte Ort für die exemplarische Auseinandersetzung des Christen Paulus mit griechischer Geistigkeit: auf die »Typik dieser Auseinandersetzung, die im höheren Sinn geschichtlich ist und in seiner eigenen Zeit vielleicht noch mehr Aktualität hat als zur Zeit des Apostels«, kommt es Lukas an 2 ähnlich wie Thukydides in den Reden des Melierdialogs (V 85-113) auf den »idealen Wettstreit zweier Prinzipien«. 3 Nicht minder ist die zur Gattung der Abschiedsreden gehörige Ansprache 20, 18-35 als der Situationserhellung dienende Äußerung des Acta-Verfassers zu würdigen. Auch sie richtet sich einzig an die Leser. Lukas gibt ihnen hier zu verstehen, daß mit dem Abschied des Paulus von seinem Missionsfeld zugleich eine Epoche der Kirchengeschichte, die Zeit der Apostelschüler, zuende geht und nun die anders als die Epochen zuvor vom Phänomen der Häresie geplagte (vgl. 20,29f.) lukanische >Gegenwart< beginnt, in der man sich, im Besitz der von Paulus unverkürzt weitergegebenen Tradition (Vs 20.27), durch häretische Geheimlehren (vgl. Vs 20.30) nicht verunsichern zu lassen braucht. Die erstaunliche Beziehungslosigkeit der Verteidigungsrede des Paulus (22,1-21) zum Kontext hört schließlich gleichfalls auf, befremdlich zu wirken, wenn man sie nicht mehr im Zusammenhang mit dem Vor- 3 wurf, Paulus habe den Tempel geschändet, interpretiert, sondern sich der historiographischen Intentionen des Lukas als Verstehensschlüssels bedient. Dann ergibt sich, daß der Verfasser der Apostelgeschichte in dem Augenblick, an dem er Paulus am Ende seines Wirkens in Freiheit angelangt sein ließ, offenbar einen Augenblick von besonderer geschichtlicher Bedeutung gesehen hat, der es als solcher erforderlich machte, Paulus Rückblick halten zu lassen scheinbar vor jener Volksmenge, in Wirklichkeit vor dem Forum der Leser. Wenn Lukas aber dergestalt an den wichtigsten Wendepunkten des Geschehens Reden in seine Darstellung eingefügt hat, um mit ihrer Hilfe die Bedeutung des jeweils geschilderten Augenblicks zu erhellen und den Richtungssinn des Geschehens anzugeben, ist er im Grundsätzlichen nicht anders verfahren als Thukydides bestand doch auch bei diesem »das letzte Ziel der Reden« in der »Deutung des Geschehens durch den Historiker selbst: sie erhellen die inneren Zusammenhänge, die sonst ... nur mittelbar im Aufbau und Ton der Darstellung sichtbar werden«.' Thukydideer vom Schlage eines Polybios war Lukas nicht; in den Reden der Apostelgeschichte allerdings ist der Einfluß des großen Atheners deutlich fühlbar. Für eine bestimmte Gruppe von Reden, die sog. Missionsreden (2,14-39; 3,12-26; 4,9-12; 5,29- 32; 10,34-43; 13,16-41), die bestimmten Epoche geschehener (historischer) Predigt. Wie die übrigen Reden der Apostelgeschichte stehen auch diese Reden jeweils an entscheidenden Wendepunkten der Kirchengeschichte allerdings nicht in der Weise, daß Lukas die verschiedenen Wendepunkte durch sie in ihrer den Augenblick transzendierenden Bedeutung erhellt hätte, sondern so, daß »an jedem entscheidenden Wendepunkt der Missionsgeschichte die Predigt verbaliter als das Movens gezeigt werden [sollte], das die Ereignisse selbst hervorbringt und ihren Verlauf bestimmt«.' Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die Petrusrede in 3,12-26. Sie bewirkt den für die Zukunft so einschneidenden Gegensatz von Jesuskerygma und Judentum (vgl. 4,1-3). Die Petrusrede in 10,34-43 hat die erstmalige Begabung von Heiden mit dem Heiligen Geist und deren Taufe zur Folge (10,44-48). Ein weiteres Beispiel stellt die Paulusrede 13, 16-41 dar. An ihrem Schluß findet sich eine Bußmahnung an die Juden. Aus der mangelnden jüdischen Bereitschaft, dem Bußruf zu folgen (13,44f.), resultiert dann die (im folgenden freilich noch nicht wahr gemachte) Ankündigung des Paulus, nunmehr von der Judenzur Heidenmission übergehen zu wollen (13,46f.). Auch hier ist Lukas von der griechisch-römischen Geschichtsschreibung abhängig. Reden, deren literarische Funktion darin besteht, entscheidende historische Prozesse in Gang gesetzt und so Geschichte gemacht durch eine ihnen allen gemeinsame Gliederung gekennzeichnet sind, stets vor jüdischem Publikum gehalten werden und wesentlich besser in ihren Kontext passen, hat man freilich jeden Zusammenhang mit der griechischrömischen Historiographie » Thukydideer vom Schlage eines Polybios war Lukas nicht; in den Reden der Apostelgeschichte allerdings ist der Eir,ifluß des großen Atheners deutlich fühlbar.« zu haben, finden sich genauso wie bei Lukas in den großen Verhandlungsszenen des Livius. Ihm zufolge wird z.B. der Krieg zwischen Rom und Antiochos III. hauptsächlich durch eine Rede ausgelöst, die Hannibal im Rat des Königs bestreiten wollen; in ihnen spiegele sich vielmehr ein christliches Predigtschema, wie es zur Zeit des Lukas üblich gewesen sei.' Es hat sich jedoch gezeigt, daß ein solches Predigtschema nicht existiert hat, 6 und daß diese Reden als spezifisch lukanische Darstellung dessen gedeutet werden müssen, was der Autor der Apostelgeschichte als Quintessenz der apostolischen Verkündigung angesehen wissen wollte, als Beispiele also nicht geschehender (zeitgenössischer), sondern in einer 4 hält; denn »diese Rede machte nicht nur Eindruck auf den König, sondern versöhnte ihn auch wieder mit Hannibal. So ging aus dieser Beratung hervor, daß Krieg geführt werden solle« (XXXV 19,7; vgl. V 49-55; XXI 19,Sff.; XXXIII 13,13). Wie verbreitet die Überzeugung von der geschichtsmächtigen Kraft der Reden unter den Historikern der griechisch-römischen Welt seinerzeit war, beweisen indes am besten die programmatischen Worte des kaum sonderlich originellen 8 Dionys von Halikarnass: er wundere ZNT 18 (9. Jg. 2006) sich, schreibt er in den Antiquitates Romanae (VII 66,3 ), wenn manche Geschichtsschreiber über Kriegsereignisse und die damit in Zusammenhang stehenden Umstände so viele Worte verlören, dann aber, wenn sie über politische Entwicklungen und Unruhen zu berichten hätten, die Reden nicht mitüberlieferten, durch die ganz außerordentliche und staunenswerte Ereignisse zustande gekommen seien. Eben dieser historiographischen Forderung ist Lukas bei der Abfassung der Missionsreden nachgekommen. Freilich hat er diese Forderung nicht um ihrer selbst willen erfüllt, sondern zu dem Zweck, die Legitimität des historischen Prozesses zu erweisen, in dessen Verlauf aus der jüdischen Christenheit des Anfangs die heidenchristliche Kirche seiner Gegenwart geworden war. Dies gelang ihm eben dadurch, daß er zu zeigen vermochte, wie an den entscheidenden Wendepunkten jenes Prozesses stets die Evangeliumsverkündigung der Apostel bzw. des Paulus, der vom Herrn noch selbst zum Zeugendienst »in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis ans Ende der Erde« Berufenen (1,8; 13,47; 22,21), verantwortlicher Motor der Entwicklung gewesen war. Fast mehr noch als die gesprochenen erweisen indes die erzählenden Partien der Apostelgeschichte ihren Autor als hellenistischen Historiker.9 Einen kontinuierlich fortschreitenden Handlungsablauf kennt Lukas nicht; er schildert die Ereignisse vielmehr als Abfolge einzelner Episoden, die zumeist jeder oder jeder über ein geringes Maß hinausgehenden Verbindung mit dem Kontext entbehren und zu deren Verständnis es der Kenntnis des Textzusammenhangs auch gar nicht bedarf. Beispiele für den abrupten erzählerischen Neueinsatz solcher Episoden begegnen z.B. in 10,lff. und 18,12, wo die Erzählung jeweils mit der Vorstellung einer für die folgende Episode wichtigen und noch unbekannten Person neu beginnt. Andererseits können bereits bekannte Fakten im neuen Zusammenhang nochmals erzählt werden (vgl. 10,5f. / 9,43 ). So gut wie nie wirkt die Handlung einer Episode auf anderes Geschehen ein; daß sich z.B. in den 2,lff. dargestellten Pfingstereignissen eine im Zusammenhang der Himmelfahrtsgeschichte berichtete Verheißung (1,8) erfüllt, wird dort nicht einmal erwähnt. Dementsprechend sind die Episoden ZNT 18 (9.Jg. 2006) auch an ihrem Schluß kaum jemals durch sachliche Verbindungslinien mit dem Kontext verknüpft (vgl.14,18/ 14,19; 16,40/ 17,1; 19,40/ 20,1). Vor allem erweisen sich die Episoden der Apostelgeschichte aber als dramatische Szenen, als lebendige, anschauliche Bilder, straff und zielstrebig komponiert, deren Dramatik Lukas gern noch durch Peripetien (14,8-18; 16,16-40; 19,23-40) und dramatische Effekte (1,9; 10,44; 16,27f.; 18,12-17), beides durchaus auch in Gestalt wunderbarer Geschehnisse (1,9; 10,44) oder eines Naturereignisses (16,26 ), gesteigert hat. Mit besonderer Meisterschaft handhabt Lukas den »dramatischen Episodenstil« (E. Haenchen) indes immer dann, wenn er bestimmte Thesen samt den daraus folgenden Konsequenzen in szenisches Geschehen übersetzt, um jene ihrer unanschaulichen Abstraktion zu entkleiden und so ihre Wirkung auf den Leser zu verstärken bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Zum Beispiel formuliert er nirgends abstrakt, daß der römische Staat und seine Gerichtsbarkeit zur Entscheidung religiöser Streitigkeiten nicht kompetent, solche Streitigkeiten also gar nicht justitiabel seien; er demonstriert seine These vielmehr in den Szenen 18,12-17; 25,13-22; 25,23-26,32 am konkreten Fall. Was Lukas wichtig erscheint, teilt er dem Leser nicht in trockenem Referat mit, sondern setzt es in das Geschehen lebendiger Einzelszenen um, deren dramatischer Handlung der Leser alles Wesentliche gleichsam mit eigenem Auge entnehmen kann. Es ist der Stil einer bestimmten Richtung der hellenistischen Historiographie, den Lukas hier benutzt: der Stil der mimetischen (früher als tragisch-pathetisch bezeichneten) Geschichtsschreibung. Deren Ziel war die packende Gestaltung anschaulicher, lebenswahrer Bilder, die den Leser fesseln sollten wie eine Theaterszene (vgl. Lukian, Hist. conscr. 51). Anhänger dieser historiographischen Richtung waren u.a. Duris von Samos (vgl. Diodorus Siculus XIX 108f.; XX 33f.), Phylarch (vgl. Plutarch, Cleom. 19f.; 29; 38), die Alexanderhistoriker Kleitarch (vgl. Diodorus Siculus XVII 26f.; 98f.) und Curtius Rufus (vgl. IV 1,38-4,21) sowie der Verfasser des 2. Makkabäerbuches (vgl. 3,1-40). Sie alle zeigen mehr oder minder deutlich jene stilistischen Eigentümlichkeiten, die auch für die lukanischen Episoden kennzeichnend sind: häufig mangelnde Kontextbezogenheit, das Stre- 5 ben nach Bildhaftigkeit sowie den Sinn für dramatische Effekte und Peripetien. Besonders charakteristische Beispiele für den Stil der mimetischen Historiographie stellen die Einzelerzählungen des Livius dar, die »visuell konzipiert sind, und deren Bestes in ihrer starken Bildwirkung, in ihrer lebendigen Anschaulichkeit zu finden ist«. 10 Der Leitgedanke der mimetischen Historiographie war, durch Nachahmung der Wirklichkeit, d.h. durch mimesis bzw. enargeia in der Darstellung geschichtlicher Ereignisse zu unverkürzter Wiedergabe der Lebenswahrheit zu gelangen (s. den Programmsatz des Duris, FGrH 76 F 1). Dies bedeutete freilich nicht, daß man nach historischer Faktentreue strebte sah man in der mimesis doch häufig selbst dann noch ein angemessenes Mittel zur Veranschaulichung von Geschichte, wenn man die historischen Tatbestände durch die auf Lebensechtheit bedachte Darstellungsweise verzerrte oder gar durch »fiktive, beziehungsweise potentielle Wirklichkeit« ersetzte.11 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Kritik, die Polybios an Phylarch übte: dieser besorge die Geschäfte der Tragödie, wenn er sich bemühe, »an das Gefühl der Leser zu appellieren und sie zu Mitleidenden des Geschilderten zu machen«, versäume darüber aber die der Geschichtsschreibung, nämlich »unverkürzt des wirklich Getanen und Gesagten zu gedenken« (II 56,7-10). Worauf es der mimetischen Geschichtsschreibung in erster Linie ankam, war, den Leser zur hedone, zur Gemütserregung, zu führen, sei es zu bloßer Unterhaltung (delectatio; Cicero, Farn. V 12,4), sei es auch zur »Seelenreinigung beziehungsweise -befreiung, welche insbesondere vom Nacherleben der Tragödie ausgeht«. 12 Auch für diese Psychagogie bietet wieder Livius die eindrücklichsten Beispiele, vor allem dort, wo seine Einzelerzählungen dem Leser die exempla maiorum in ihrer die Gegenwart verpflichtenden Kraft vor Augen stellen (z.B. II 10; 12; 13,6-11) und die geschilderten Ereignisse so als salutaria exempla ... humano generi (V 27,13) wirken lassen. Für die Zwecke des Lukas war dieser Stil wie geschaffen. Nach dem Ausbleiben der als nahe bevorstehend erhofften Parusie hatte sich das Christentum zunehmend der Einsicht zu stellen gehabt, daß es fortan zunächst in dieser Welt zu existieren und den aus solcher Existenz resultierenden Problemen ins Auge zu blicken galt so 6 insbesondere der Tatsache, daß die pagane Welt dem Christentum wenn nicht a priori (vgl. 26,28 .3 lf.) so doch de facto immer feindlicher gegenüberstand (vgl. Plinius, Ep. 1O,96f.), wobei auch der pagane Antijudaismus eine Rolle spielte (vgl. 16,19-23; 19,33f.). Gegen Konsequenzen, die aus solcher Situation gezogen werden konnten, dürfte sich Lukas gewandt haben: einerseits gegen eine kompromißlose Gegnerschaft gegen Staat und Gesellschaft, wie sie gemeinsam mit der Erneuerung apokalyptischer Erwartungen in der J ohannesapokalypse sichtbar wird, andererseits gegen die resignative Tendenz, sich anzupassen, um nicht aufzufallen (ein späteres Beispiel für diese Haltung bei Tertullian, de corona 1). Die auf Triumph gestimmten Bilder in Apg 14,8-18; 16,16-40; 17,16-33 und 19,23-40 sollen demgegenüber zeigen, wie sich das Christentum allen Widerständen zum Trotz doch immer wieder in der Welt durchzusetzen vermocht hat; die lebensvoll und darum überzeugend dargestellte exemplarische Schilderung von seinerzeit günstig verlaufenem Geschehen soll den Leser zu der Hoffnung führen, daß das, was er so eindrücklich für die Vergangenheit geschildert sah, auch in seiner Gegenwart Wirklichkeit werden könne. 13 Noch deutlicher tritt die psychagogische Absicht des Lukas jedoch in jenen Szenen zutage, in denen er seine politische Apologetik inszeniert hat (18,12- 17; 25,13-22; 25,23-26,32). Der Schein der Wirklichkeit, der über diese in 26,31 in einem Quasi- Freispruch für Paulus und damit für das Christentum insgesamt gipfelnden Szenen gebreitet ist, soll die Stichhaltigkeit der lukanischen Argumentation in actu vorführen. Zu klären hatte Lukas freilich noch ein weiteres, für ihn und seine Leser wohl noch gewichtigeres Problem. Antwort zu finden galt es auch auf die Frage, weshalb die Juden trotz aller Bemühungen der christlichen Missionare (Paulus wird von Lukas den Ankündigungen von Apg 13,46f. und 18,6 entgegen bis zum Ende der Apostelgeschichte vor allem als Judenmissionar geschildert! ) und trotz beachtlicher Bekehrungserfolge sich in ihrer Gesamtheit dem Evangelium versagt hatten. Die Glaubensverweigerung der Synagoge war für die lukanische Kirche von erheblichem Belang mußte solche Glaubensverweigerung doch die heilsgeschichtliche Legitimität einer mehr oder minder nur noch aus Heidenchristen bestehenden ZNT 18 (9. Jg. 2006) Kirche aufs äußerste gefährden, insofern diese jeder ersichtlichen Kontinuität mit Israel, dem das Evangelium ursprünglich gegolten hatte (13,46), ermangelte. Wie Lukas sich diesem Problem stellte, ist bereits der Funktion zu entnehmen, die er den Missionsreden zugewiesen hatte (s.o. die Ausführungen bei der Fußnote sieben). Seine einschlägige Auskunft, nämlich die, daß der (den Übergang des Evangeliums aus den Händen der Juden in die der Heidenkirche implizierende) Schritt von der Judenzur Heidenmission seinerzeit nicht willkürlich erfolgt, sondern von der göttlichen providentia selbst veranlaßt und Paulus vom Herrn sogar ausdrücklich geboten worden war, erteilt Lukas indes auch im Rahmen der erzählenden Partien seines Werkes charakteristischerweise wiederum nicht in Form einer abstrakten Darlegung, sondern indem er sie der Handlung dramatischer Szenen inkorporiert (10, 1- 11, 18; 22,17-22). Der eigentliche Grund für die die Heidenkirche ins Recht setzende Glaubensverweigerung Israels enthüllt der Actaverfasser seinen Lesern freilich erst in der dramatischen Schlußszene des Buches (28,23-28). Angesichts der wie noch stets so auch hier über die ihnen zuvor verkündete Heilsbotschaft streitenden Juden läßt der Verfasser der Apostelgeschichte Paulus nun in Rom sein letztes Wort sprechen. Unter Bezugnahme auf das als vom Heiligen Geist inspiriert bezeichnete Prophetenwort J es 6,9f. konstatiert Paulus, daß die Juden das Heil deswegen nicht akzeptiert haben, weil sie es nicht akzeptieren konnten, und es deshalb nicht akzeptieren konnten, weil sie verstockt sind und Gott ihre Verstocktheit nicht »heilen« Geschichte selbst, der der Leser der Apostelgeschichte die Antwort auf seine drängenden Fragen entnehmen kann; einmal mehr erhalten die von Lukas geschilderten Geschehnisse so aber auch ganz wie z.B. bei Livius! den Charakter von salutaria exempla, die nicht einfach nur Geschichte erzählen, sondern, indem sie das tun, zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen helfen sollen. Das paßt genau zu dem Zweck, dem die historische Schriftstellerei des Lukas dessen eigenem Zeugnis zufolge insgesamt dienen will: den Lesern zur Vergewisserung (asphaleia) hinsichtlich der ihnen in der Gemeindekatechese begegneten Traditionen zu verhelfen (Lk 1,4), d.h. sie der Tatsache zu versichern, daß ihr Christentum durchaus in Ordnung war. So gewiß Lukas als hellenistischer Historiker verstanden werden muß, so wenig läßt er sich einer bestimmten Richtung der griechisch-römischen Geschichtsschreibung zuordnen. Aus der pragmatischen Geschichtsschreibung stammen die Thukydideismen des Prooemiums sowie das Konzept, durch Reden die Bedeutsamkeit historischer Ereignisse zu betonen bzw. den Richtungssinn des Geschehens anzudeuten. Der dramatische Episodenstil hingegen war der Erzählstil der mimetischen Historiographie. Dem Klassizismus (Attizismus), dem seinerzeit freilich nicht nur Historiker, sondern Schriftsteller auch vieler anderer Literaturgattungen ausgiebig frönten, verdankt Lukas die Methode (colorem sincerum vetustatis appingere: Fronto, ed. van den Hout 1145f.) seiner Septuagintamimesis. 16 Der Verfasser des Doppelwerkes hat sich seine schriftstellerischen Mittel offenbar unter wird (28,25-27). 14 Adressaten des Heils seien, so fährt der lukanische Paulus nunmehr in Form einer feierlichen Deklaration fort, die Heiden (daß sie dies nur faute de mieux wären, steht nicht im Text 1 '), um mit dem auf die Epoche der (in der Apostelgeschichte noch nicht eigent- »So gewiß Lukas als hellenistischer Historiker verstanden werden muß, so wenig läßt er sich einer bestimmten Riehtung der dem Gesichtspunkt der Zweckdienlichkeit und nicht dem der historiographischen Schulzugehörigkeit ausgesucht. Ähnlich schwierig ist es, für die äußere Form des Doppelwerkes einen Ort in den Traditionen der hellenistigriechisch-römischen Geschichtsschreibung zuordnen.« lich geschilderten) Heidenmission vorausblickenden vaticinium ex eventu zu schließen, daß eben sie, die Heiden, es seien, die der Heilsbotschaft (anders als Israel) auch Gehör schenken werden (28,28). Summa: Einmal mehr ist es also die ZNT 18 (9. Jg. 2006) sehen Geschichtsschreibung zu finden. Am ehesten könnte man es aufgrund des Charakters der Apostelgeschichte als historischer Monographie (entsprechend dem von Cicero, Farn. V 12 skizzierten Programm und ähnlich dem 2. Makkabäerbuch oder Sallusts coniuratio 7 bzw. bellum I ugurthinum) sowie angesichts des Eindringens der Tendenz zu monographischer Aufgliederung in die Universalgeschichte (vgl. Diodorus Siculus XVI 1) als den Versuch ansehen, in zwei locker miteinander verbundenen Monographien eine um der Bedürfnisse der Gegenwart willen verfaßte - Gesamtgeschichte des Christentums (einschließlich der Schicksale seines Gründers, vgl. Apg 1,1) zu schreiben, in der allerdings die Jahrzehnte nach der Lukas zufolge in Rom definitiv erfolgten Trennung von Kirche und Synagoge nicht mehr erzählt worden sind. Nachfolger hat Lukas nicht gefunden. So muß denn als Vater der Kirchengeschichtsschreibung weiterhin Euseb gelten. Der Ruhm, »der erste christliche Historiker« (M. Dibelius) gewesen zu sein, gebührt freilich dem unbekannten Verfasser des später dem aus Phlm 24; Kol 4,41 und 2Tim 4,11 bekannten Paulusbegleiter Lukas zugeschriebenen - Doppelwerkes, auch wenn ihn erst die Exegese der Neuzeit als solchen (wieder- )entdeckt hat. Anmerkungen M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte (FRLANT 60), 5. Aufl., Göttingen 1968, 120f. Dibelius, Aufsätze, 133. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/ Leipzig 1936, 501. H. Gundert, Athen und Sparta in den Reden des Thukydides, Die Antike 16 (1940), 98-114, hier: 98; Alexander Mittelstaedt vgl. z.B. Thuc. I 68-71; 73-78; II 87; 89. Dibelius, Aufsätze, 142. U. Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen (WMANT 5), Neukirchen-Vluyn 1961, 72-91. Wilckens, Missionsreden, 96. E. Schwartz, Art. Dionysios von Halikarnassos I. Die römische Archäologie, PRE 5 (1905), 934-961, hier: 934. Gelegentlich jedoch auch die des Lukasevangelium, vgl. U. Busse, Das Nazareth-ManifestJesu. Eine Einführung in das lukanische Jesusbild nach Lk 4,16-30 (SBS 91 ), Stuttgart 1978, 55-67. 10 E. Burck, Die Erzählungskunst des T. Livius, 2. Aufl., Berlin/ Zürich 1964, 200f.; vgl. II 40; XXXI 17; xxxxv 12. 11 H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung (Sb WGF 5,3 ), 3. Aufl., Wiesbaden 1975, 80. 12 Strasburger, Wesensbestimmung, 82. 13 Dies gilt umso mehr, als Lukas Verfolgung und Leid in seiner Darstellung keineswegs verschweigt, vgl. nur Apg 7,54-60; 9,16; 12,1-5; 14,1-5.19.22; 20,25.36-38 (Andeutung des Todes Pauli). 14 Die Härte dieser Absage an Israel hat in der jüngeren Vergangenheit erhebliches Mißfallen erregt. Für dieses Mißfallen gibt es gute Gründe. Versuche, dem lukanischen Text durch exegetische Kunststücke seine Schärfe zu nehmen, waren und sind jedoch wenig hilfreich. Was hier hilft, ist einzig Sachkritik an den Aussagen des Autors selbst. 15 Allerdings sind sie jetzt, nachdem die Mission unter Juden aufgrund von deren Verstocktheit obsolet geworden ist, die einzigen Adressaten des Heils. Die Zeiten, da festzustellen war, »daß auch (kai) die Heiden das Wort Gottes angenommen hatten« (11, 1, vgl. 10,45; 11,18 und 26,23), sind vorbei. 16 Dazu Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StNT 9), Göttingen 1972, 38-72. Alexander Mittelstacdt Lukas als Historiker 8 Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Band 43 2006, 271 Seiten, €[0] 59,-/ SFR 100,- ISBN 3-7720-8140-1 Die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems im Lukasevangelium gilt allgemein als »vaticinium ex eventu«, weshalb man das Evangelium und die Apostelgeschichte erst nach dem vermeintlichen Eintreten dieser Prophezeiung im Jahr 70 ansetzt. Dabei lieferte die Apokalyptik die entscheidenden Vorlagen; Markus wie Lukas erwarteten eine Zerstörung Jerusalems als Teil der endzeitlichen Geschehnisse. Zudem offenbart die gesamte Gestaltung des Doppelwerkes eine völlige Unkenntnis seines Autors über die Christenverfolgung unter Nero. Stattdessen legen Indizien nahe, dass der Großteil der Arbeit am Doppelwerk während der Gefangenschaft des Paulus in Caesarea (57-59 n.Chr.) geleistet wurde. ZNT 18 (9. Jg. 2006)