ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2006
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Dronsch Strecker VogelDie narrative Welt der Apostelgeschichte
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2006
David Trobisch
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David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte Apg 1,1-2a: Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er (in den Himmel) aufgenommen wurde.' Literarisch steht die Apostelgeschichte in enger Verbindung zum Vier-Evangelien-Buch, bildet sie doch den zweiten Teil des lukanischen Werkes. Aber die Apostelgeschichte erklärt den Lesern des Neuen Testamentes auch, wer die Autoren der beiden großen Briefsammlungen sind. Sie stellt zunächst die Autoren der Katholischen Briefe vor: Jakobus, Petrus, und Johannes. Die zweite Hälfte der Apostelgeschichte befaßt sich mit dem Autor der übrigen neutestamentlichen Briefe: Paulus. Da beide Briefsammlungen den Lesern im gleichen Werk wie die Apostelgeschichte, dem Neuen Testament, präsentiert werden, kann man die Leseanweisung folgendermaßen verstehen: Beim Lesen soll man Informationen aus den Briefen mit dem in der Apostelgeschichte gebotenen erzählerischen Rahmen in Es handelt sich bei der neutestamentlichen Apostelgeschichte nicht um ein Tagebuch oder eine eidesstattliche Erklärung eines Augenzeugen, die uns im Original zur Verfügung steht, sondern um einen literarischen Text, der für ein breites Publikum überarbeitet, vervielfältigt und veröffentlicht wurde, also um Literatur. Es sollten daher auch Methoden angewandt werden, die für die Auslegung von literarischen Texten hilfreich sind. Der Versuch, mit Abstand zu überprüfen, welche der erzählten Ereignisse auch tatsächlich so stattgefunden haben, sollte erst der zweite Schritt sein. Literaturkritik ist eine Übung im Zuhören, im wohlwollenden Sich-gehen-lassen, es geht zunächst darum, sich auf die Stimme des Erzählers einzulassen, mit den handelnden Personen mitzuleiden und sich mitzufreuen. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen, das nicht so ganz zu einem wissenschaftlichen Beitrag zum Neuen Testament zu passen scheint. Denken Sie an Karl Verbindung setzen. Dieser Gedanke verdient es, ein wenig ausgeführt zu werden, unterscheidet er sich doch von vielen anderen Ansätzen. Wird die Einheit des Neuen Testamentes ernst >> Wird die Einheit des Neuen Testamentes ernst genommen, so versteht sich die Apostelgeschichte als eine Art Kommentar zu den anderen Schriften.« May. Wer damit aufgewachsen ist, wird ein Bild vom Wilden Westen der USA haben, das von ehrenhaften Indianern, korrupten Eisenbahnfirmen, Trappern und europäischen Greenhorns begenommen, so versteht sich die Apostelgeschichte als eine Art Kommentar zu den anderen Schriften. Sie zitiert keinen Paulusbrief ausdrücklich und doch ist dadurch daß ' Paulus der Held weiter Teile des Buches ist, der Verweis auf die Paulusbriefe für die Leser ebenso deutlich wie der Verweis auf das Lukasevangelium im ersten Satz der Schrift. Das gleiche gilt für Jakobus, Petrus und Johannes, die Autoren der Katholischen Briefe. Dadurch, daß nicht ausdrücklich aus den Briefen zitiert wird, wird den Lesern suggeriert, daß hier ein Bericht vorliegt, der unabhängig von den beiden Briefsammlungen noch einmal dieselben Ereignisse behandelt. ZNT 18 (9.Jg. 2006) völkert ist, die Wüsten durchqueren, auf Geisire treffen, mit dem Pferd Canons überspringen, Schätze aus Seen heben und Grislybären bloß mit dem Messer töten. Ganz ungeachtet der Frage, ob alles auch tatsächlich so stattgefunden hat, wie Karl May es beschreibt, muß man doch eingestehen, daß es dem Autor gelungen ist, ein Jahrhundert lang das Bild des » Wilden Westens« in der Phantasie seines deutschen Lesepublikums zu prägen. Der Fachausdruck dafür ist »Narrative Welt«. Überprüft man aber die Tatsachen, so stellt sich schnell heraus, daß Karl May nicht aus eigener Erfahrung schreibt. Obwohl meistens in der ersten Person berichtet wird, hat er lediglich 9 Reiseberichte seiner Zeit ausgewertet. Erst 1908, vier Jahre vor seinem Tod, bereist er zum ersten Mal die USA. Es stellt sich deshalb die Frage: Darf man in der ersten Person berichten, obwohl man nicht dabei war? Als Historiker wohl nicht, als Geschichtenerzähler aber sehr wohl. Was also in Karl Mays Schriften tatsächlich die historische Wirklichkeit des ausgehenden 19. J ahrunderts beschreibt und was nicht, wird man nicht aus einer Kritik seiner eigenen Schriften erheben können, sondern man wird Quellen brauchen, die unabhängig von seinen Schriften dieselben Ereignisse beschreiben und deren Quellenwert klar einschätzbar ist. Und hier sehe ich das Problem der historischen Auswertung der Apostelgeschichte. Wir haben keine unabhängigen Quellen. Wer die Einheit des Neuen Testamentes ernst nimmt, muß eingestehen, daß die neutestamentliche Briefliteratur schwerlich als unabhängige Quelle im historischen Sinne gewertet werden kann. Die Herausgeber der ersten Auflage des Neuen Testamentes wußten sehr wohl, daß die Leser die Apostelgeschichte im Kontext der Paulusbriefe und der Katholischen Briefsammlung lesen würden. Die N ebeneinanderstellung ist Absicht, sie ist Programm. Was man in den Briefen nicht versteht, erklärt oft genug die Apostelgeschichte. Und umgekehrt verhält es sich ebenso. Einmal angenommen, daß Sie diesen Beitrag noch nicht zur Seite gelegt haben und bereit sind, sich auf das Experiment einzulassen: Wie also sollte man das Buch dann What is Narrative Criticism? (Minneapolis: Fortress Press, 1991) geschrieben. Im folgenden versuche ich zu zeigen, was herauskommen kann, wenn man die Apostelgeschichte auf diese Art betrachtet. 1. Narrative Analyse Was braucht man, um eine Geschichte zu erzählen? Man braucht Personen, Schauplätze und eine Handlung, die bestimmt, wer was wann und wo macht. Um die Handlung voranzutreiben, braucht jede Geschichte einen Konflikt, der im Laufe der Erzählung aufgelöst wird. Der Titel des Buches, »Die Taten der Apostel«, weist die Leser an, die wichtigsten handelnden Personen als »Apostel« zu verstehen. Im ersten Teil des Buches handelt es sich dabei um Personen, die mit Jesus von N azareth eng vertraut sind, weil sie aus seinem engsten Familien- oder Schülerkreis stammen. Dazu gehören unter anderen Petrus, Johannes, Jakobus und der Jesusbruder Judas, die vier Autoren der sieben Katholischen Briefe des Neuen Testamentes. Apg 1,13-14: Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus ... Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern. lesen? Gibt es eine Möglichkeit, Erzählungen zu analysieren und zu beschreiben, die das subjektive Leseerlebnis übersteigt, eine Art Methode, Literatur zu kritisieren? »Literary Criticism«, ein Begriff, den ich hier als Literaturkritik wiedergebe, ist im englischen Sprachraum im 19. »Mein Vorschlag besteht darin, den grundsätzlichen Konflikt, der erzählerisch aufgeli5st wird, im Streit zwischen Paulus und der }erusalemt: r Führung zu sehen, wie er in de,n Paulusbriefen deutlich In der zweiten Hälfte der Apostelgeschichte ist die Hauptperson der Handlung Paulus, der ebenso wie die Leser der Apostelgeschichte Jesus von N azareth nicht getroffen hat, aber durch ein spirituelles Erlebnis zum Nachfolger des auferstandedokumentiert ist.« Jahrhundert entstanden. Durch das Aufkommen von Tageszeitungen war der Bedarf nach kritischen Beurteilungen von Neuerscheinungen und Theaterstücken gewachsen. Die Untergattung, »Narrative Criticism« oder Narrative Kritik, wie ich sie nenne, befaßt sich mit erzählender Literatur. Eine gute Einführung hat Mark Allan Powell, 10 nen Christus wird. Auf die Schauplätze der Handlung werden die Leserinnen und Leser durch Apg 1,8 vorbereitet: Jerusalem, Judäa, Samarien und dann die ganze Welt. Apg 1,8: Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch David Trobisch wurde in Kamerun, Westafrika geboren. Er studierte evangelische Theologie in Neuendettelsau, Tübingen und Heidelberg, wo er promovierte und sich habilitierte. Seit 1995 lebt und arbeitet er in den USA. Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg, Missouri State University, Yale Divinity School und Bangor Theological Seminary. Er wohnt in Portland, Maine. Weitere Informationen zu Person und Forschungsschwerpunkten unter: .www.bts.edu/ trobisch und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. Doch worin besteht der Konflikt, ohne den eine Handlung nicht möglich ist? Das ist natürlich Interpretationssache. Mein Vorschlag besteht darin, den grundsätzlichen Konflikt, der erzählerisch aufgelöst wird, im Streit zwischen Paulus und der Jerusalemer Führung zu sehen, wie er in den Paulusbriefen deutlich dokumentiert ist. 1Kor 1,12 erwähnt eine Petruspartei und eine Pauluspartei. In 1Kor 9,5-6 werden ausdrücklich Petrus, die Apostel und die Brüder des Herrn erwähnt. Diese halten sich an Jesu Anweisung, sich während ihrer Missionstätigkeit von den Gemeinden aushalten zu lassen, während Paulus von der eigenen Hände Arbeit lebt. Paulus bricht hier ganz offensichtlich ein Gebot J esu. 1Kor 9,3-6: Das aber ist meine Rechtfertigung vor denen, die abfällig über mich urteilen: Haben wir nicht das Recht, zu essen und zu trinken? Haben wir nicht das Recht, eine gläubige Frau mitzunehmen, wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte und wie Kephas? Sollen nur ich und Barnabas auf das Recht verzichten, nicht zu arbeiten? Und schließlich ist wohl der gesamte Galaterbrief ein Kommentar zu dem unerfreulichen Zwischenfall in Antiochien, bei dem Paulus öffentlich Petrus kritisiert (Gal 2,11). Auch einiges in den Katholischen Briefen kann als Kritik an Paulus gelesen werden. Im Jakobusbrief scheint Jakobus direkt gegen das paulinische Konzept der Rechtfertigung aus Glaube allein zu argumentieren (Jak 2,24 ), und die Beschwörung der Einigkeit zwischen Petrus und Paulus im 2. Petrusbrief macht erst auf dem Hintergrundeines Streites Sinn (2Petr 3,15-16). In meinen Augen bildet die Apostelgeschichte einen narrativen Kommentar zu diesen Textstellen. Sie löst diesen offensichtlichen Konflikt auf. Mein Argument ist dabei die Struktur der Apostelgeschichte, die in etwa gleichviel Text für J erusalem verwendet wie für Paulus, und die J erusalemer um Petrus nicht gegen Paulus und seine Mitarbeiter ausspielt. In der ersten Hälfte des Buches wird über die J erusalemer berichtet, in der zweiten Hälfte über Paulus. Ungefähr in der Mitte des Werkes in Kapitel 15 treffen sich alle und verabschieden eine gemeinsame schriftliche Erklärung (Apg 15,23-29), in der der Konflikt zwischen Paulus und den J erusalemern zunächst eingestanden und dann aufgelöst wird. Diese Tendenz drückt sich auch in der Auswahl der erzählten Wundergeschichten und wunderbaren Begebenheiten aus: Alles was Petrus tut, wird von Paulus wiederholt. Einige Beispiele: Petrus heilt zusammen mit Johannes im Jerusalemer Tempel einen Mann, der von Geburt an gelähmt war (Apg 3,1-10), Paulus heilt in Lystra einen Mann, der von Geburt an gelähmt war (Apg 14,8-10). Allein durch seinen Schatten heilt Petrus in Jerusalem Kranke (Apg 5,15), Paulus vermag dasselbe in Ephesus allein durch seine Schweiß- und Taschentücher (Apg 19,12). Petrus treibt in Jerusalem unreine Geister aus (Apg 5,16), Paulus befiehlt dem Wahrsagegeist einer Magd in Ephesus, die Frau zu verlassen (Apg 16,18). Auch der Bericht, daß die Kranken aus den umliegenden Städten zu Petrus nach Jerusalem gebracht und alle geheilt werden (Apg 16), findet eine Parallele bei Paulus, zu dem nach sei- 11 nem Schiffbruch auf Malta alle Kranken der Insel gebracht und geheilt werden (Apg 28, 9). Petrus erweckt die Jüngerin Tabita in Joppe (Apg 9,36- 41 ), Paulus den jungen Eutychus in Troas (Apg 20,9-12). So wie Petrus in Lydda den lahmen und seit acht Jahren bettlägerigen Äneas heilt (Apg 9,33-34 ), so heilt Paulus auf Malta den Vater des Publius, der an der Ruhr erkrankt war und mit Fieber im Bett lag (Apg 28,8). Petrus und Johannes setzen sich erfolgreich gegen den Zauberer Simon durch (Apg 8,18-25), während Paulus und Barnabas den Zauberer Elymas blenden (Apg 13,6-12). Kornelius fällt vor Petrus ehrfürchtig nieder (Apg 10,25), Paulus und Barnabas werden in Lystra wie Götter verehrt (Apg 14,11-18, vgl. 28,6), und beide Male lehnen sie die Verehrung mit dem gleichen Einwand ab: »auch ich bin nur ein Mensch« (Apg 10,26), bzw. »auch wir sind nur Menschen« (Apg 14,15). Petrus und Johannes erteilen den Heiligen Geist durch Handauflegung (Apg 8,14-17; vgl. 10,44), ebenso legt Paulus seine Hände auf die zwölf Anhänger Johannes des Täufers und der Heilige Geist kommt auf sie herab (Apg 19,1-7). Durch eine Vision wird Petrus in Joppe zum Heidenmissionar (Apg 1 O; vgl. 11,5- 10) und durch eine Vision wird Paulus vor Damaskus zum Christusverkünder (Apg 9,1-22; vgl. 22,6-11; 26,12-18). 2 2. Kritische Anfragen Natürlich funktioniert Narrative Kritik um so besser, je sorgfältiger die Erzählung konstruiert ist. Und hier ergibt sich eine offensichtliche Schwierigkeit im Falle der Apostelgeschichte. Sie ist im Vergleich zu den anderen neutestamentlichen Erzählbüchern, das sind die vier Evangelien und die Offenbarung, und im Vergleich zu zeitgenössischen Erzählungen sehr achtlos und ungemein schlampig redigiert worden. Während am Ende des Lukasevangeliums die Himmelfahrt am Ostersonntag und am Ölberg stattfindet, geschieht sie in der Apostelgeschichte vierzig Tage nach Ostern und in Bethanien, das mehrere Kilometer entfernt liegt. Drei Mal wird die Bekehrung des Paulus berichtet. In 9,4.7 hören Paulus und seine Begleiter die Stimme Gottes, in 22,7.9 hört sie nur Paulus. In 9,7 sehen die Begleiter das Licht nicht, in 26, 13 aber sehen sie es. Das hätte sich 12 leicht korrigieren lassen. Bis 13,7 wird Paulus als Saulus bezeichnet, 13,9 erwähnt beiläufig »Saulus, der auch Paulus heißt«, und von da an wird er nur noch Paulus genannt. Die Erzählung liefert keinerlei Erklärung für den Namenswechsel. Das ist nicht gut gelöst. Die Liste von Beispielen ließe sich noch lange fortsetzen. Die unbefriedigende Endredaktion der Apostelgeschichte hat schon früh dazu Anlaß gegeben, den Text zu bearbeiten. Spuren mehrerer konkurrierender Ausgaben haben sich in den Handschriften erhalten, besonders bekannt ist hier die redaktionelle Bearbeitung des sogenannten westlichen Textes, die etwa zehn Prozent erklärenden Text ergänzt. 3 Da die literarische Qualität der Apostelgeschichte nicht sehr hoch anzusetzen ist, scheint es nicht angemessen, Analysen auf Details zu stützen, sondern sich auf die groben Linien und den Gesamtentwurf zu konzentrieren, wie ich es oben dargelegt habe. Ich denke das Programm dieses Buches, den Konflikt zwischen Paulus und Jerusalem aufzulösen, ist im Aufbau deutlich erkennbar. 3. Historischer Quellenwert Ist Karl May eine zuverlässige Quelle für die Situation in Nordamerika im ausgehenden 19. Jahrhundert? Wohl kaum. Zu viel Phantastisches mischt sich in die korrekten Beschreibungen. Was Karl Mays Werk aber ausgezeichnet beschreibt, ist das Bild, das der Autor und seine Leserschaft entwickelten, eine narrative Welt, die bis heute noch ihre Auswirkungen hat. Ich habe in Franken einmal erwachsene Männer als Cowboys und Indianer verkleidet zu Wigwams reiten sehen, in denen sie dann das Wochenende verbrachten. Meines Erachtens besteht der historische Quellenwert der Apostelgeschichte darin, daß sie uns ein Bild der inneren Welt eines frühchristlichen Erzählers und seiner Leserschaft zeichnet. Ereignisse aus der Vergangenheit, die der implizite Autor nach eigenen Aussagen nur vom Hörensagen kennt (Lk 1,1-4), werden neu erzählt, um die Gegenwart des Autors und seiner Leser zu erklären. Und man verzeihe mir die Parallele zu den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg das lukanische Werk hat das Kirchenjahr mehr geprägt ZNT 18 (9.Jg. 2006) als irgendeine andere Schrift. Ohne die Apostelgeschichte hätten wir keine Himmelfahrt vierzig Tage nach Ostern und wohl auch kein Pfingstfest. Ist Jesus wirklich gen Himmel gefahren? Haben sich wirklich kleine Flämmchen gebildet als der Heilige Geist herniederkam? Wohl kaum. Können wir verstehen, warum der Autor die Geschichte so erzählt? Aber natürlich. Der Heilige Geist ersetzt die Gegenwart J esu. Und dazu muß Jesus erst einmal verschwinden. Eine wunderbare narrative Lösung eines theologischen Problems und eine sehr angemessene Beschreibung der spirituellen Erfahrung eines antiken und modernen Christen dies sei ohne einen ironischen Unterton festgehalten. Die Bibel ist voller Geschichten, die das Unerklärbare erklären. Warum arbeiten wir am Sonntag nicht? Nun, Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen, am siebten ruhte er (Gen 2,2). Woher kommen die Babies? Nun, Gott hat Adam eine Rippe entfernt und daraus die erste Frau gemacht. Was aus einem Leib kommt, will wieder zu einem Leib werden: im Kind. Wie kommt es zu den vielen verschiedenen Sprachen? Das hängt mit dem Turmbau zu Babel zusammen (Gen 11,9). Warum müssen Maria und Joseph bei Matthäus und Lukas nach Bethlehem reisen? Weil es so von den Propheten angekündigt wurde, aus N azareth kann der Messias nicht kommen. Wie kommt es, daß Jesus zu seinen Lebzeiten gebot, sich bei der Verkündigung auf die verlorenen Schafe in Israel zu beschränken (Mt 10,5 ), das Christentum sich aber fast ausschließlich außerhalb Israels verbreitet hat? Nach Matthäus ist Jesus nach seinem Tod noch einmal erschienen und hat seine Aussendungsrede erweitert (Mt 28). Ist die Welt tatsächlich in sieben Tagen entstanden? Ist Jesus wirklich in Bethlehem geboren? Wohl kaum. Oder vorsichtiger ausgedrückt: zuverlässige Quellen außerhalb literarischer Texte entscheiden, was tatsächlich geschah. Wenn es um Geschichten geht, muß mit dichterischer Freiheit gerechnet werden. Der historische Quellenwert der Apostelgeschichte besteht für mich darin, daß sie Denkprozesse und Konzepte der sich ausbildenden katholischen Kirche des zweiten Jahrhunderts beschreibt. Die Harmonie der Apostel konnte als Leitbild verstanden werden, das sich auf den Konflikt zwischen den Paulus-treuen Christus- ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte nachfolgern, wie sie sich beispielsweise in den markionitischen Gemeinden organisierten, und Jerusalem-treuen Jesusanhängern (z.B. Ebioniten) des zweiten Jahrhunderts anwenden ließ. Ohne diese harmonisierenden Tendenzen des Neuen Testamentes hätte sich das Christentum vielleicht nicht zu einer Bewegung entwickelt, der es über Jahrtausende hinweg gelungen ist, immer wieder Einheit in der Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen ihrer Mitglieder zu finden. Ob die Apostelgeschichte darüber hinaus auch einen Quellenwert für das erste Jahrhundert hat, kann nicht allein anhand der narrativen Welt der Apostelgeschichte ermittelt werden. Die Frage der Historizität der geschilderten Ereignisse muß meines Erachtens von Quellen außerhalb des Textes beantwortet werden. Denn in Dichtung - und dazu gehören die frommen Erzählungen der Apostelgeschichte steht historisch Korrektes neben freier Erfindung, Autoren sind nicht verpflichtet ihren Lesern und Leserinnen offenzulegen, wo das eine endet und das andere beginnt. 4. Historisch-kritische Methode Gelegentlich wird Literaturkritik verstanden als ein Ansatz, der mit historisch-kritischen Methoden konkurriert. Ich denke nicht, daß das der Fall ist. Formgeschichte lehrt uns, einen Text zunächst in seiner Endgestalt zu verstehen, und durch sorgfältige Bestimmung der Gattung und des Sitzes im Leben den Quellenwert zu beschreiben. Genau das kann Literaturkritik leisten. Die Apostelgeschichte wird erstmals von Irenaeus in Adversus Haereses ausdrücklich zitiert. Das ist um das Jahr 180, kurz bevor die handschriftliche Tradition in den Papyri einsetzt. Es gibt keinen zwingenden Grund, die Entstehung der Apostelgeschichte viel früher anzusetzen. Ihre enge Verbindung zum Vier-Evangelien- Buch und zu den beiden neutestamentlichen Briefsammlungen scheint für eine späte Endredaktion dieser Schrift zu sprechen, zu einer Zeit, in der das Neue Testament in der Form, in der wir es kennen, bereits feststeht. Auch wenn es natürlich nicht klar nachgewiesen werden kann, so sollte doch die Vermutung ernst genommen werden, daß die Apostelgeschichte gattungsmäßig verwandten Schriften wie die Acta Pauli et Theclae 13 oder das Martyrium des Ignatius kannte und imizu verzaubern und zu erweitern, als Künstler. Theologie und Kunst sind verwandt. Das Reden tierte. Und was den historischen Wert einer Quelle angeht, sollte man stets von der Quelle ausgehen und auf die Ereignisse hinarbeiten, auf die die Quelle Bezug nimmt, und niemals umgekehrt. Dies ist eine schwerer Weg für Neutestamentler, die auch Theologen sein wollen. Denn als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft hat man eben so seine Vorstellungen, was im ersten Jahrhundert tatsächlich »Auch wenn es natürlich nicht klar nachgewiesen werden kann, so sollte doch die Vermutung ernst genommen werden, daß die Apostelgeschichte gattungsmäßig verwandten Schriften wie die Acta Pauli et Theclae oder das Martyrium des Ignatius kannte und imitierte.« von Gott verweist auf eine menschliche Erfahrung, die sich der intersubjektiven Meßbarkeit entzieht, ähnlich wie Schmerz oder Freude oder Trauer oder Einsamkeit. Auch wenn die Erfahrung geteilt wird, bleibt sie doch weitgehend in einer inneren, persönlichen Welt. Diese Welt wird mit Erzählungen erreicht. Die Apostelgeschichte befindet sich in diestattgefunden hat. Genau wie der Autor und Redaktor der Apostelgeschichte. ser Tradition. Auch Jesus von Nazareth wird von den Evangelisten als Geschichtenerzähler dargestellt. Geschichten von Gott zu erzählen, ist keine Schande, es ist Kunst. 5. Theologische Überlegungen Anmerkungen Warum gehen Dichter mit der historischen Wirklichkeit so großzügig um? Warum stellen Maler die Welt anders da, als man sie mit den eigenen Augen sieht? Warum müssen Musiker Lieder schreiben, um die Wirklichkeit zu erfassen? Es gibt darauf keine klare Antwort. Falls der Versuch gelingt, bezeichnen wir das Ergebnis als Kunst und die Leute, denen es gelingt unsere Erfahrung Die deutschen Bibelzitate sind entnommen: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1980. Weitere Beispiele: D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments: Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1996, 128-134 = The First Edition of the New Testament, New York 2000, 80-85. W.A. Strange, The Problem of The Text of Acts, Cambridge 1992. 14 Oda Wischmeyer (Hrsg.) Paulus Leben - Umwelt - Werk - Briefe UTB 2767 2006, 320 Seiten, div. Abb. und Tab., €[0] 19,90/ SFR 34,90 ISBN 3-8252-2767-7 Das Buch ist als Lehrbuch für die Examensvorbereitung in den Fächern Evangelische und Katholische Theologie konzipiert und stellt Umwelt, Person, Werk, Briefe, theologische Themen und Wirkung des Paulus auf dem neuesten Forschungsstand dar. Besonderes Interesse gilt drei Bereichen: der Rekonstruktion des jüdischen und griechisch-römischen religiösen Umfeldes, der strukturierten, formalen und thematischen Erschließung der Briefe sowie der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Paulus. Das Buch steht zwischen den umfangreichen Spezialdarstellungen der paulinischen Theologie und den Kurzeinführungen für einen allgemeinen lnteressentenkreis und erfüllt damit ein Desiderat der deutschsprachigen Fachliteratur. A. Francke ZNT 18 (9.Jg. 2006)
