ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2006
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Dronsch Strecker VogelNeue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben
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Alain Gignac
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Alain Gignac Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben 1 Der Fall der Berliner Mauer (und das Ende der marxistischen Utopie) sowie das Phänomen der Globalisierung (und der Triumph des Neo-Liberalismus) haben zwei bedeutende politische Denker veranlasst, Paulus wiederzuentdecken, obwohl beide agnostisch oder sogar atheistisch sind 2 so als ob uns der paulinische Korpus aus der Aporie, in die die politische Reflexion geraten ist, herausziehen könnte. Der Franzose Alain Badiou und der Italiener Giorgio Agamben sind zwar nicht die einzigen Philoso- Die Theologen und Exegeten, sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, Philosophen in ihrem Fachbereich wildern zu sehen, können von diesen neuen paulinischen Interpretationen viel lernen, auch wenn sie manchmal feststellen, dass sich bestimmte Elemente der paulinischen Theologie in den Synthesen von Badiou und Agamben nur schwer integrieren lassen. Dies gilt aber für jede Auslegung, einschließlich der Interpretationen von Luther und Barth: Keine vermag den paulinischen Text, der seit phen, die sich für das politische Denken des Paulus interessieren,' aber ihr Ansatz ist insofern exemplarisch, als er sich als das Ergebnis der Reflexion eines ganzen philosophischen Lebens darstellt und die Figur des Paulus die Zusammenfassung dieser Re- »Die Theologen und Exegeten, sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, Philosophen in ihrem Fachbereich wildern zu sehen, können von diesen neuen paulinischen Interzweitausend Jahren der westlichen Welt zu denken gibt, völlig auszuschöpfen. Vor einigen Jahren habe ich die paulinischen Interpretationen von Alain Badiou, Giorgio Agamen, aber auch von Jacob Taubes 4 parallel dargepretationen viel lernen ... «. flexion bildet. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft der Demokratie und die universale Anerkennung des Menschlichen im Menschen. Ist eine politische Utopie noch zu begründen? Gibt es noch einen Raum für die Politik? Kann das politische Handeln noch als eine relevante Möglichkeit betrachtet werden angesichts des entpersonalisierenden Systems des Konsums, das trotz der Diskurse über die Freiheit herrscht? Ist eine demokratische und solidarische Veränderung der Sachverhalte noch denkbar? Und wie kann Pluralität wahrgenommen werden, ohne dass die Universalität aufgegeben wird? »Paulus ist für mich ein dichterischer Denker des Ereignisses und zugleich der, welcher in seiner Aussage wie in seinem Tun die bleibenden Züge jener Figur zeigt, die man den militant oder Kämpfer nennen könnte. An ihm tritt eine Verbindung zutage, die durch und durch menschlich ist und deren Schicksal mich fasziniert: die nämlich, die zwischen der generellen Idee eines Bruchs, eines Umsturzes, und der einer Praxis und eines Denkens besteht, welches die subjektive Materialität dieses Bruchs darstellt« (Badiou, sf.). ZNT 18 (9. Jg. 2006) stellt.' Ich habe unter anderem versucht, die Verwurzelung ihrer Auslegung innerhalb ihres eigenen Werkes zu zeigen. Ich legte den Akzent auf ihre philosophischen Fragestellungen und auf die ideengeschichtlichen Traditionen, die sie aufnehmen. Ich warnte auch vor der Gefahr, ihre Begrifflichkeit (Sein, Ereignis, Fabel) im Rahmen des herkömmlichen ontologischen Wortschatzes zu lesen. Es war mein primäres Ziel, mich als Exeget ohne einen großen Abstand mit ihren Hauptthesen auseinander zu setzen. Im vorliegenden Essay möchte ich auf eine parallele Darstellung verzichten, um vielmehr die Ansätze auf die ihnen inhärenten theologischen Themen hin zu untersuchen, mit denen Badiou und Agamben die Theologie herausfordern. 6 Fassen wir deshalb die Thesen von Badiou und Agamben in Grundzügen zusammen. Nach Badiou ist Paulus der erste Theoretiker, der aufgrund des Ereignisses seiner Berufung die Struktur des Universalismus beschrieben und begründet hat: »Das, was uns am Werk des Paulus fesselt, ist eine einzigartige [...] Verbindung, deren eigent- 15 licher Erfinder Paulus ist: die Verbindung, die einen Übergang zwischen einer Aussage über das Subjekt und der Frage nach dem Gesetz herstellt. Es geht darum, dass Paulus ergründen will, welches Gesetz ein jeder Identität beraubtes Subjekt strukturieren kann, ein Subjekt, das von einem Ereignis abhängt, dessen einziger ,Beweis, genau darin besteht, dass ein Subjekt sich zu ihm bekennt. Das Wesentliche dieser paradoxen Verbindung zwischen einem Subjekt ohne Identität und einem Gesetz ohne Stütze besteht für uns darin, dass sie die geschichtliche Möglichkeit einer universalen Verkündigung begründet. Die unerhörte Geste des Paulus ist die, die Wahrheit jedem kommunitären Zugriff zu entziehen, mag es sich um ein Volk, eine Stadt, ein Reich, ein Territorium oder eine soziale Klasse handeln. Das, was wahr ist ( oder gerecht, was in diesem Falle dasselbe ist), lässt sich auf keine objektive Menge zurückführen, weder nach seiner Ursache noch nach seiner Bestimmung« (Badiou, 13f.). Paulus ist im wissenschaftlichen Sinne des Wortes das Paradigma des Subjektes, das durch das Ereignis der Offenbarung des Auferstandenen und der Berufung als individuelle Subjektivität konstituiert wird und sich von der alten Zeit der allgemein-objektiven Definitionen und der Partikularitäten unterscheidet. Die Singularität des Ereignisses, das den anekdotischen Ablauf der Geschichte unterbricht, die Treue des Subjekts zu diesem Ereignis (Der Glaube), die Betonung seiner universalen Gültigkeit (Die Liebe) und seine Gewissheit (Die Hoffnung) begründen den universalen Charakter der Wahrheit. 16 »Der grundsätzliche Gedankengang des Paulus ist der folgende: wenn ein Ereignis stattgefunden hat und wenn die Wahrheit darin besteht, es zu bekennen und ihm dann treu zu bleiben, dann folgen daraus zwei Konsequenzen: Wenn, einmal, die Wahrheit ereignishaft ist oder der Ordnung dessen angehört, was geschieht, dann ist sie singulär. Sie ist weder struktural noch axiomatisch noch legal. Keine vorhandene Allgemeinheit kann von ihr Rechenschaft geben oder das Subjekt, das sich auf sie beruft, strukturieren. Es kann also kein Gesetz der Wahrheit geben. Da, weiter, die Wahrheit sich ausgehend von einem Bekenntnis von essentiell subjektivem Charakter einschreibt, wird sie von keiner bereits konstituierten Teilmenge gestützt, verleiht nichts Kommunitäres oder historisch Etabliertes ihrem Prozess seine Substanz. Die Wahrheit ist im Hinblick auf alle kommunitären Teilmengen diagonal; sie autorisiert sich durch keine Identität, und (dieser Punkt ist offenkundig der delikateste) sie konstituiert auch keine. Sie ist allen angeboten und für jeden bestimmt, ohne dass irgendeine vorausgesetzte Zugehörigkeit dieses Angebot oder diese Bestimmung einschränken könnte« ( Badiou, 28f.). Giorgio Agamben verweist auf eine Vorstellung des Messianismus, den er mit den Namen von Jacob Taubes und Walter Benjamin verbindet: »Die Möglichkeit, die Botschaft des Paulus zu verstehen, fällt mit der Erfahrung dieser [messianischen] Zeit vollständig zusammen: Ohne diese Erfahrung bleibt jene als toter Buchstabe zurück. Daher wird das Unterfangen, Paulus wieder in seinem messianischen Kontext zu verorten, für uns zuallererst bedeuten zu versuchen, den Sinn und die innere Form derjenigen Zeit zu verstehen, die bei ihm ho nyn kair6s, die ,Jetztzeit" heißt, und sich erst dann zu fragen, in welcher Art und Weise so etwas wie eine messianische Gemeinschaft wirklich möglich ist« (Agamben, 1lf.). Paulus sei der anspruchvollste messianische Denker, was sowohl das Christentum als auch das Judentum verkannt haben: »Die paulinische klesis ist [...] eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet. Auch in diesem Sinne ist das, was nicht ist (ta me onta), stärker, als das, was ist. [...] Das messianische Subjekt betrachtet die Welt nicht, als ob sie gerettet wäre. Vielmehr betrachtet es die Rettung, indem es sich mit den Worten Benjamins im Unrettbaren verliert. So kompliziert ist die Erfahrung der klesis, so schwierig ist es, im Ruf zu verharren« (Agamben, 53f.). Auf der einen Seite wird die Universalität hervorgehoben, auf der anderen Seite liegt der Akzent auf dem Zeitverständnis, obwohl sich beide Ansätze in unterschiedlicher Art und Weise sowohl mit dem Universalen als auch mit der Zeit befassen. Beide wählen den Weg der paulinischen Theologie, um die Relevanz einer politischen Philosophie zu begründen, die auf einen Umsturz der herrschenden politischen Systeme zuläuft. Während durch die Logik eines Universalismus des Denkens bei Badiou alles auf eine Verwandlung der offenen Demokratie in einen Parlamentarismus zuläuft, wird bei Agamben das politische System ZNT 18 (9. Jg. 2006) Alain Gignac Professor Alain Gignac, geboren 1964 in Quebec, war nach dem Studium von 1985-1999 Lehrer am College Saint-Charles-Garnier (Quebec). Von 1992-1994 war er am DSEB Institut catholique de Paris und DEA Sorbonne und wurde 1996 an der Universität von Montreal promoviert. 1996-1999 Lehrbeauftragter an der Universite Lava! und an der Universite du Quebec a Chicoutimi. Seit 1999 Professor an der Universite de Montreal. Veröffent! ichungen.u.a.: A. Gigµac et A .. Fortin (Hgg.), »Christ est mort pour nous«: etudes semiotiques, foministes et soteriologiques en l'honneur d'Olivette Genest (coll. Sciences bibliques 14), Montreal 2005; Traduction et annotation de Galates et Romains dans Bible: nouvelle traduction, Paris und Montreal 2001; Juifs et chretiens a l'ecole de Paul de Tarse? Enjeux identitaires et ethiques d'une lecture de Rm 9~ 11 (Sciences bibliques), Montreal 1999. durch das von ihm postulierte messianische Bewusstsein, das sich jenseits der geschichtlichen Abläufe vollzieht, in Frage gestellt und führt zu einem Ausnahmezustand. Beide stellen somit Paulus und seine Schriften explizit in den Kontext einer gegenwärtigen politischen Philosophie. So formuliert können die beiden Thesen verwirren, weil sie ein überraschendes, unter Umständen reduktionistisches, aber auf jeden Fall ungewohntes Paulusbild widerspiegeln. Deshalb möchte ich in einem ersten Teil die Stärken und die problematischen Seiten ihres Zugangs zu Paulus darstellen. Im zweiten Teil werde ich Themen der paulinischen Theologie benennen, die sie neu beleuchten: Nämlich das Zeitbewusstsein, das glaubende Subjekt, die Dialektik des Fleisches und des Geistes und die Problematik des Gesetzes. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass beide Philosophen trotz ihres gemeinsamen Interesses ZNT 18 (9. Jg. 2006) an einer relecture der Theologie des Paulus auch grundsätzliche Differenzen hinsichtlich ihrer politischen Lektüre im Generellen sowie hinsichtlich ihrer Interpretation von Paulus im Speziellen haben. Beide teilen zwar das Interesse an den paulinischen Schriften; Badiou durch eine systematische Darstellung, die sich im Wesentlichen auf den Galaterbrief, den 1. Korintherbrief sowie Römer 7 bezieht, Agamben durch einen Kommentar der zehn ersten Wörter des Römerbriefes, um eine politische Philosophie, die sich auf die marxistische Philosophie beruft, anthropologisch oder im Sinne von Walter Benjamin messianisch zu begründen. Aber dennoch dürfen ihre grundlegenden Differenzen nicht übersehen werden. Ihre Auseinandersetzung betrifft insbesondere ihr kontrovers diskutiertes Verständnis des Universalismus und des Verhältnisses des Einzelnen zur Geschichte. Gegen die von Agamben pointierte Kritik am Universalismus hat Badiou hervorgehoben: »Das Denken ist nur dann universal, wenn es sich an alle wendet, und in dieser Adresse verwirklicht es sich als Macht. Sobald aber alle, auch der vereinzelte Kämpfer, nach dem Maß des Universalen gelten, muss daraus die Subsumierung des Anderen unter das Selbe entstehen. Paulus zeigt im Einzelnen, wie ein universales Denken ausgehend von der mundanen Wucherung der Alteritäten (der Jude, der Grieche, die Frauen, die Männer, die Sklaven, die Freien etc.) Selbes und Gleiches produziert ( es gibt weder Jude noch Grieche etc.). Die Produktion von Gleichheit, die gedankliche Außerkraftsetzung von Differenzen, sind die materiellen Zeichen des Universalen. Gegen den Universalismus als Produktion des Selben hat man neuerdings eingewandt,' er finde sein Emblem, wenn nicht gar seine Erfüllung, in den Lagern, wo jeder, weil bloß noch ein Körper am Rande des Todes, vollkommen gleich mit jedem anderen sei. Dieses Argument ist Schwindel ... « (Badiou, 200f.). Agamben seinerseits nimmt ausdrücklich auf Badiou Bezug, indem er seine Aussagen mit dem Universalismus der katholischen Institution in Verbindung setzt: »Sie wissen, daß Paulus immer schon für den Apostel des Universalen gehalten wurde und daß ,katholisch" d.h. universell, der Titel ist, den die Kirche für sich reklamiert hat, als sie sich auf 17 1. seine Doktrin zu stützen gedachte. So lautet der Untertitel eines jüngst erschienenen Buches Die Begründung des Universalismus: Dieses Buch will geradewegs zeigen, >wie ein universales Denken ausgehend von der mundanen Wucherung der Alteritäten [...] Selbes und Gleiches produziert< (Badiou 2002, S. 201). Aber ist es wirklich so? Ist es möglich, bei Paulus ein Universales als ,Produktion des Selben< zu denken? Es ist klar, daß der messianische Schnitt des Apelles nie ein Universales erreicht. Der Jude >nach dem Hauch< ist kein Universales, weil es nicht von allen Juden gesagt werden kann, genausowenig, wie der ,Nichtjude nach dem Fleisch, etwas Universales ist. Das bedeutet aber nicht, daß die Nicht-Nichtjuden nur ein Teil der Juden oder der Nichtjuden wären. Sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit für die Juden und für die gojim dar, mit sich selbst zusammenzufallen, sie sind eher so etwas wie ein Rest zwischen dem Volk und sich selbst, zwischen jeder Identität und sich selbst. Man kann hier die Distanz ermessen, die das paulinische Verfahren vom modernen Universalismus trennt« (Agamben, 64 ). Ein philosophischer und synchronischer Zugang zu Paulus Die Exegese des 20. Jahrhunderts ist vor allem historisch-kritisch gewesen. Paulinische Texte zu interpretieren hieß, den Sinn zu rekonstruieren, den er für die Adressaten des 1. Jahrhunderts gehabt haben könnte. Die Auslegung paulinischer Texte stellt sich dementsprechend als ein Versuch dar, mittels exegetischer Methoden den zeitlichen Hiatus zwischen der originären Entstehungszeit und der Gegenwart zu überbrücken mit dem Ziel, sich durch ein wissenschaftli- »Wozu das alles? Man kann es nachlesen. Halten wir uns lieber ohne Umweg an die Lehre« (Badiou, 34). Und Agamben kommt sogar zu der Feststellung: »Was bedeutet es, im Messias zu leben, was ist das messianische Leben? Und welche Struktur besitzt die messianische Zeit? Diese Fragen, die die Fragen des Paulus sind, müssen auch die unseren sein« (Agamben, 29). 8 Es ist nicht ihr Anliegen zu verstehen, was der Text bedeutete, sondern was er bedeutet. Platon, Paulus, Augustinus, Hegel und Benjamin sind Zeitgenossen, mit denen wir uns unterhalten. Auffallend ist, dass Badious und Agambens aktueller Zugang zu den Texten an eine kirchlich orientierte Bibellektüre erinnert, wie sie insbesondere in der Liturgie praktiziert wird ein Zugang, den die akademische Exegese aus methodologischen oder ideologischen Gründen kaum berücksichtigt. Getauscht werden auch die klassischen Rollen der Philosophie und der Theologie. Da, wo Thomas von Aquin Aristoteles las, um den Glauben zu verstehen, liest jetzt der Philosoph die Bibel, um den Menschen zu verstehen. Man könnte Badiou und Agamben vorwerfen, den Text auf seine immanenten Dimensionen zu reduzieren und die paulinische Theologie ihres theologischen Inhalts zu entleeren, um nur noch ihre gedankliche Struktur zu beachten. Nach Agamben ist Christus kein Eigenname, sondern ein Titel, der von der Person, die ihn trägt, unabhängig bleibt: es geht nicht darum, Christus zu ches Instrumentarium an die originäre Entstehungszeit anzunähern. Badiou und Agamben drehen das Verfahren um. Ihr Zugang zum Text ist bewusst synchronisch und nicht diachronisch. Der Text stammt zwar aus der Vergangenheit, aber er ist unmittelbar an uns gerichtet und spricht zu uns in der beweg- »Getauscht werden [ ..jdit: klassischen Rollen der Philosophie und der Theologie. erkennen, sondern darum, »bescheidener und philosophischer, die Bedeutung des Wortes christ6s, d.h. ,Messias" zu verstehen« (Agamben, 29). Da, wo Thomas von Aquin Aristoteles las, um den Glauben zu verstehen, liest jetzt der Ph,ilosoph die Bibel, um den Menschen zu 1Jerstehen. « In einer ähnlichen Art und Weise hält Badiou das Osterkerygma des christlichen Glaubens für eine Fabel: ten Zeit, in der wir leben. Den beiden Philosophen ist die historisch-kritische Forschung nicht unbekannt, und jede Seite belegt die Breite ihrer Kenntnisse. Badiou erklärt jedoch: »Auch wird man fragen, welchen Gebrauch wir von der Apparatur des christlichen Glaubens, von der die Person und die Texte des Paulus abzulösen schlechthin unmöglich scheint, zu 18 ZNT 18 (9.Jg. 2006) machen gedenken. Warum sich auf diese Fabel berufen, warum sie analysieren? Denn damit die Sache klar ist genau um eine solche handelt es sich für uns. Und zwar ganz besonders im Fall des Paulus, von dem wir sehen werden, dass er, aus hochwichtigen Gründen, das Christentum auf eine einzige Aussage reduziert: Jesus ist auferstanden« (Badiou, 1lf.). Der Begriff der Fabel im Vokabular von Badiou ist durch Konnotationen bestimmt, die auf die Psychoanalyse von Jacques Lacan verweisen und die ihm seine Bedeutung geben: »Eben dieser Punkt aber ist es, der der Fabel angehört, denn an allem anderen, wie Geburt, Predigt und Tod, kann man letztlich festhalten. ,Fabel, ist, was in einer Erzählung sich für uns mit keinem Realen berührt, es sei denn mit jenem unsichtbaren, nur indirekt zugänglichen Rest, der allem offenkundig Imaginären anhaftet. In dieser Hinsicht reduziert Paulus die christliche Erzählung auf den einzigen Punkt, an dem sie Fabel ist, mit der Gewalt dessen, der weiß, dass diesen Punkt für real zu halten, vom gesamten Imaginären an seinen Rändern dispensiert« (Badiou, 12). Gerade als Fabel ist die Auferstehung singuläres Ereignis: »Denn das Ereignis ist für Paulus nicht gekommen, um etwas zu beweisen; es ist reiner Beginn. Die Auferstehung Christi ist weder ein Argument noch eine Erfüllung. Es gibt weder einen Beweis des Ereignisses, noch ist das Ereignis ein Beweis« (Badiou, 95). Der theologisch-kritische Zugang, der sowohl Kaiserideologie den vernünftigen Gottesdienst gegenüberstellt (Röm 12,1-2), sind Dimensionen, die unterbelichtet bleiben. Auch die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen hat im Römerbrief eine Relevanz, die Badiou vergisst, weil seine Aufmerksamkeit auf den 1. Korintherbrief fokussiert ist. 9 Diese radikale Auslegung hat aber gleichzeitig einen doppelten Vorteil. Zum einen lässt sie Denkstrukturen aufscheinen, die für das Verständnis der Theologie des Paulus zentral sind. Zum anderen haben wir von der zeitgenössischen Reflexion der Geisteswissenschaften gelernt, dass das Spiel der Signifikation genauso stark, wenn nicht noch mehr mit den zugrundeliegenden Strukturen als mit Inhalten verbunden ist. Obwohl es nicht zu ihrem unmittelbar erklärten Ziel gehört, entwerfen die beiden Philosophen eine neue systematische Darstellung der Struktur des christlichen Glaubens, die von der Theologie aufzunehmen und zu diskutieren ist. Alles in allem: Die anthropologischen Strukturen, die bei Paulus entdeckt werden und als philosophisch relevant anerkannt werden, können hilfreich sein, die christliche Erfahrung zu deuten! Jenseits der Diskussion der exegetischen Einzelheiten bringen Badiou und Agamben einen frischen Wind in die paulinische Forschung, die sich oft genug auf positivistische Beobachtungen beschränkt, ohne ihre Relevanz zu zeigen, oder die sich im Kreis der bereits ausdiskutierten Debatten zwischen der lutherischen Auslegungstradition und den sogenannten neuen Perspektiven (E.P. Sanders, J. Dunn) über die Kohärenz des Badiou als auch Agamben kennzeichnet, kann zu einer gewissen Einseitigkeit führen: Die apokalyptische Struktur der paulinischen Theologie, das eschatologische Bewusstsein der Endzeit, die ekklesiologische Reflexion über die Charismen sowie die soteriologische Bedeutung des Todes J esu werden nicht diskutiert. » Badiou und Agamben .sind Außenseiter, die uns daran erinnern, dass sich die aktuelle Bedeutung der Pa.ulusbriefe nicht auf die klassischen Interpretationen der Rechtfertigungslehre beschränken lassen ... « paulinischen Gesetzesverständnisses, über die Bedeutung der pistis christou (Röm 3,22; Gal 2,16) oder über das Zentrum der paulinischen Theologie bewegt. Badiou und Agamben sind Außenseiter, die uns daran erinnern, dass sich die aktuelle Bedeutung der Paulusbriefe nicht Der Christozentrismus von Paulus wird seines Sinns entleert. Ebenso wenig werden die redaktionellen Umstände und der historische Kontext der paulinischen Briefe berücksichtigt. Auch das religiös-politische Denken, das der römischen ZNT 18 (9. Jg. 2006) auf die klassischen Interpretationen der Rechtfertigungslehre beschränken lassen, sondern dass sie zu den Klassikern des Abendlandes gehören. 19 2. Themen der paulinischen Theologie in den Werken Agambens und Badious 1. Die Zeit: Sowohl Badiou als auch Agamben heben die Bedeutung des kairos hervor, der als Augenblick der Gnade, in dem sich die messianische Zeit entfaltet (Agamben), oder als die Singularität, die aus der Kette der Ursachen und Wirkungen herausspringt, ohne von ihnen abhängig zu sein (Badiou), verstanden wird und die Kontinuität des chronos unterbricht: »Anders als die Tatsache ist das Ereignis nur an der universalen Mannigfaltigkeit messbar, deren Möglichkeit es vorschreibt. In diesem Sinn ist es nicht Geschichte, sondern Gnade« (Badiou, 86). Für Paulus besteht das Ereignis in der Berufungsgeschichte, in dem der Apostel der Heiden vom Auferstandenen ergriffen wird. Das Ereignis drängt sich Paulus auf, verändert seinen Lebenslauf und sendet ihn zu den Heiden: » Trotz alledem aber ist man, wenn man Paulus liest, erstaunt, wie wenig Spuren die Epoche, die Gattungen und die Umstände in seiner Prosa hinterlassen haben. Im Imperativ des Ereignisses gibt es etwas Dichtes und Zeitloses, etwas, was uns, eben weil es darum geht, ein Denken in seiner auftretenden Singularität, aber unabhängig von jeder Anekdote, auf das Universale zu beziehen, unmittelbar verständlich ist, ohne dass wir (ganz anders als oftmals in den Evangelien, von der dunklen Apokalypse gar nicht zu reden) zu umständlichen historischen Meditationen gezwungen wären« (Badiou, 70f.). Die historischen Umstände des Ereignisses haben kaum Relevanz und ihre Bedeutung beschränkt sich auf die Hervorhebung ihres außerordentlichen Charakters. Weder die Zukunft noch die Vergangenheit sind wichtig. Selbst die Hoffnung ist keine Erwartung, sondern sie »bezeichnet das Reale der Treue in der Probe ihrer Ausübung, hier und jetzt« (Badiou, 178). Badiou konzentriert alles in der überwältigenden Erfahrung des kairos, die den chronos außer Kraft setzt und ihm gleichzeitig seinen Sinn verleiht. Was allein zählt, ist die Handlung in der Gegenwart. Die Verknüpfung zwischen chronos und kairos nimmt bei Agamben eine andere Form an, indem 20 sie eine messianische Zeit definiert, die sich sowohl vom Eschaton als auch von der Apokalyptik unterscheidet: »Die Zeit hingegen, die der Apostel erlebt, ist nicht das eschaton, ist nicht das Ende der Zeit. Wenn man die Differenz zwischen Messianismus und Apokalypse, zwischen Apostel und Visionär in einer Formel ausdrücken müsste, so glaube ich, dass man[ ... ] sagen könnte, dass das Messianische nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes ist. Den Apostel interessiert nicht der letzte Tag, nicht der Augenblick, in dem die Zeit aufhört, sondern die Zeit, die zusammengedrängt ist und zu enden beginnt (1 Kor 7,29: ho kair6s synestalmenos estin) oder, wenn man will, die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt« (Agamben, 75). » ... die messianische Zeit, die Zeit, die der Apostel erlebt und die ihn einzig interessiert, ist weder die olam hazzeh [=die Dauer der Welt von ihrer Schöpfung bis zu ihrem Ende] noch das olam habba [=die Welt, die kommt, die unzeitliche Ewigkeit], weder die chronologische Zeit noch das apokalyptische eschaton, sondern wieder einmal ein Rest, nämlich die Zeit, die zwischen diesen beiden Zeiten übrig bleibt, wenn man mit einer messianischen Zäsur oder mit einem Schnitt des Apells die Teilung der Zeit selbst teilt« (Agamben, 76). » ... die messianische Zeit [erscheint] als jener Teil des profanen Äons, der den chronos und jenen über den zukünftigen Äon hinausgehenden Teil von Ewigkei~, die beide in bezug auf die Teilung der beiden Aone als ein Rest dargestellt sind, konstitutiv überschreitet« (Agamben, 77f.). Die messianische Zeit ist »eine Zeit innerhalb der Zeit nicht jenseits, sondern innerhalb -, die nur meine Verschiebung und meinen Abstand in bezug auf sie, meine Nichtkoinzidenz mit meiner Zeitdarstellung mißt« (Agamben, 81). Genauso wie für Badiou ist die messianische Zeit keine Erwartung, sondern »die operative Zeit, die in der chronologischen Zeit drängt, die diese im Innern bearbeitet und verwandelt, die Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden in diesem Sinne: die Zeit, die uns bleibt« (Agamben, 81). Diese Auslegung erneuert das Verständnis der paulinischen Eschatologie und die Interpretation der Dialektik zwischen der Gegenwart und dem futurischen Charakter des Heils. Das Heil ist nicht vor uns, wie in den klassischen Vorstellun- ZNT 18 (9. Jg. 2006) gen der Heilsgeschichte, sondern es ist als operatives Ereignis und als Appell präsentisch. 10 Die Vorstellung der messianischen Zeit, wie sie Agamben entfaltet, bietet darüber hinaus eine Grundlage, um den patristischen Begriff der Heilsökonomie diesseits einer Heilsgeschichte zu denken: » Paulus stellt durch das typos- Konzept eine Beziehung, die wir von nun an eine typologische nennen können, zwischen den vergangenen Ereignissen und dem nyn kair6s, der messianischen Zeit her« (Agamben, 87). Statt das Verhältnis des Neuen zum Alten Testament als eine chronologische Abfolge zu betrachten, als ob das eine die Fortsetzung des anderen wäre, nimmt es das Neue als die Unterbrechung des Alten wahr, als der kairos, durch welchen der chronos denkbar wird, ohne sich an ihn hinzuzufügen noch ihn zu ersetzen. Für die beiden Philosophen ist das messianische Ereignis um beide Begriffe miteinander zu verbinden nicht so sehr der Zielpunkt oder die Erfüllung der Geschichte als ihr Zentrum und ihre Zusammenfassung. Wie ihre Auslegung der Texte ist ihre politische Philosophie synchronisch, nicht diachronisch. 2. Appell und Identität: Der Verlust der religiösen und moralischen Konsense führt zu einem gesellschaftlichen und politischen Unbehagen, in dem sich die Frage der persönlichen Identität akut stellt. 11 Einerseits besteht die das sich auf die ihm vom Gesetz aufgetragenen Identitäten nicht reduziert, und die Entstehung eines neuen Verhältnisses des Subjektes zu der eigenen Identität und zum Gesetz. Die klesis bildet ein Zentrum der paulinischen Theologie. Badiou verweist auf die Berufung des Apostels (Gal 1) und Agamben auf lKor: »Hos me, ,als ob nicht,: Das ist die Formel des messianischen Lebens und der tiefste Sinn der klesis. Die Berufung ruft zu nichts und zu keinem Ort: Deswegen kann sie mit dem faktischen Rechtszustand zusammenfallen, zu dem jeder berufen wird; aber gerade deswegen wird dieser ganz und gar widerrufen. Die messianische Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung. In diesem Sinn definiert sie die einzige Berufung, die mir akzeptabel erscheint. Was ist nämlich eine Berufung anderes als die Widerrufung jeder konkreten, faktischen Berufung? Es geht selbstredend nicht darum, eine weniger authentische Berufung durch eine wahrhaftere zu ersetzen: In wessen Namen könnte man sich denn für die eine oder die andere entscheiden? Nein: Die Berufung beruft die Berufung selbst, sie ist wie eine Notwendigkeit, die sie bearbeitet und von innen aushöhlt und sie in der Geste selbst, mit der sie in ihr verharrt, nichtig macht« (Agamben, 34f.). »Messianisch zu sein, im Messias zu leben, bedeutet die Enteignung jedes juristisch-faktischen Eigentums in der Form des Als-ob-nicht (beschnitten/ unbeschnitten; Versuchung, die Religion als Identitätsmerkmal zu funktionalisieren. Auf der anderen Seite werden die religiösen Überzeugungen so privatisiert, dass der Gläubige nicht mehr weiß, wie er seine Identität definieren kann. Badiou »Für die beiden Philosophen ist das messianische Ereignis[. ..] nicht so sehr der Zielpunkt oder die Erfüllung der Geschichte als ihr Zentrum Freier/ Sklave; Mann/ Frau). Aber diese Enteignung gründet keine neue Identität: Die ,neue Schöpfung, ist nur der Gebrauch und die messianische Berufung der alten« (2Kor 5,17: ,wenn jemand im Messias ist, neue Schöpfung [... ]: Das Alte ist vorbeigegangen, siehe, Neues ist und ihre Zusammenfassung.« und Agamben, die das Selbstverständnis und die Anerkennung des Subjekts durch die ereignishafte Singularität und durch die Gegenwart des kairos der messianischen Zeit begründen, entdecken die klesis als grundlegende Erfahrung einer Berufung, die dem Einzelnen seine Identität verleiht, indem sie die Partikularismen aufhebt. Die wesentliche Mitteilung des Apostels besteht nämlich in der Universalität der Offenbarung und des Rufes zu einer neuen Identität. Diese neue Identität bedeutet aber nicht einen Identitätswechsel, sondern eine Unterscheidung innerhalb der Subjektivität, ZNT 18 (9. Jg. 2006) geworden)« (Agamben, 37f.). »Die Paulinische klesis ist vielmehr eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet. Auch in diesem Sinne ist das, was nicht ist[ ...], stärker als das, was ist« (Agamben, 53). Auch für Badiou ist die Verbindung zwischen der absoluten Singularität der Berufung und die Entstehung des Subjektes ein Schlüssel für die Interpretation des Paulus: 21 »In seinen Schriften erinnert Paulus stets daran dass er ermächtigt ist, als Subjekt zu sprechen'. Und zu diesem Subjekt ist er geworden[...] In einem gewissen Sinn gibt es keinen, der diese Konversion durchführt: Paulus ist nicht von Vertretern der ,Kirche, bekehrt worden, er ist kein versöhnter Gegner. Es ist klar, dass das Treffen auf der Strasse [i. e. nach Damaskus] das Gründungsereignis mimt. So wie die Auferstehung vollkommen unkalkulierbar ist und so wie man von ihr aus ausgehen muss, so ist der Glaube des Paulus das, wovon er selbst als Subjekt ausgeht und wo nichts hinführt. Das Ereignis - ,es ist geschehen" ganz simpel, in der Anonymität einer Straße ist das subjektive Zeichen des eigentlichen Ereignisses, welches die Auferstehung des Christus ist. Es ist in Paulus selbst die Wieder-Auferstehung (oder Konstitution) des Subjekts. Es ist das matrizenartige Exempel der Verknotung von Existenz und Lehre, denn Paulus zieht aus den Umständen seiner ,Konversion" dass man nur vom Glauben ausgehen kann, vom Bekennen des Glaubens. Das Auftreten des christlichen Subjektes ist voraussetzungslos« (Badiou, 35f.). Wir können beobachten, dass die philosophische Verknüpfung der Entstehung des Subjektes mit der Singularität des gründenden Ereignisses das umstrittene Problem des historischen Charakters der Auferstehung löst. Historisch ist das Bekenntnis des Glaubens, das erklärt, dass »etwas geschehen ist«, das universale Relevanz hat. 3. Die Teilung zwischen Fleisch und Geist: Das Subjekt, das aus dem Ereignis oder aus der messianischen Zeit entsteht, hat deshalb keine ihm auferlegte Identität, weil es in sich selbst geteilt ist. Diese Teilung innerhalb des Subjektes begründet insofern den Universalismus, als sie die jüdische und griechische Partikularität überwindet (Badiou) oder aufhebt (Agamben). Nach Badiou besteht die Teilung innerhalb des Subjektes: »Denn ein Subjekt ist in Wirklichkeit die Verflechtung zweier subjektiver Wege, welche Paulus das Fleisch (sarx) und den Geist (pneuma) nennt. Und das Reale wird, insofern es von den beiden Wegen, die das Subjekt konstituieren, >aufgefasst< wird, unter zwei Namen dekliniert: dem Tod (thanatos) oder dem Leben (zoe)« (Badiou, 105). Das Subjekt steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6, 14 ): 22 »Die kapitale Formel, die wohlgemerkt auch eine universale Adresse ist, lautet: [...] ,denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6, 14). Eine Strukturierung des Subjektes gemäß einem ,Nicht ... sondern<, das nicht als ein Zustand, sondern als ein Werden zu verstehen ist. Denn das ,Nicht-unter-dem Gesetz- Sein, bezeichnet negativ den Weg des Fleischs als suspendiertes Schicksal des Subjekts, ,Unter-der- Gnade-Sein, dagegen den Weg des Geistes als Treue zum Ereignis. Das Subjekt des neuen Zeitalters ist ein ,Nicht ... sondern<. Das Ereignis ist zugleich die Aufhebung des fleischlichen Wegs durch ein problematisches ,Nicht, und die Affirmation des geistigen Wegs durch ein exzeptionelles ,Sondern,. Gesetz und Gnade benennen für das Subjekt die konstitutive Verflechtung, die es auf die Situation bezieht, wie sie ist, und auf die Folgen des Ereignisses, wie sie werden sollen. Unsere These ist in der Tat die, dass ein ereignishafter Bruch sein Subjekt immer in der geteilten Form eines ,Nicht ... sondern< konstituiert und dass genau diese Form der Träger des Universalen ist. Denn das ,Nicht, ist die potentielle Auflösung der geschlossenen Partikularitäten (die ,Gesetz< heißen), während das ,Sondern< jene mühselige Aufgabe bezeichnet, an der die Subjekte des durch das Ereignis (das ,Gnade, heißt) eingeleiteten Prozesses als Mit-Arbeiter teilnehmen« (Badiou, 120f.). Agamben verwendet weiterhin die mathematische Metapher der Teilung: Aus der Teilung ergibt sich ein Rest, und sie betrifft die Völker: Die Unterscheidung, die Paulus zwischen Juden nach dem Fleisch und Juden nach dem Geist vornimmt, teilt die herkömmliche Unterscheidung zwischen Juden und Griechen, ohne sie aufzulösen, und sie tut es so, dass ein kleiner Rest, ein Nicht-alles erscheint. In seiner Auslegung von Röm 2,28-29 und 9,6.25 zeigt Agamben, dass Israel und Nicht- Israel mit sich selbst nicht zusammenfallen können. Es gibt nämlich die Juden nach dem Fleisch und die Juden nach dem Geist und es gibt die Nicht-Juden nach dem Fleisch und die Nicht- Juden nach dem Geist: »Die nomistische Teilung Juden/ Nicht-Juden, im Gesetz/ ohne Gesetz läßt nun auf beiden Seiten einen Rest übrig, den man weder als jüdisch noch als nicht-jüdisch definieren kann; nämlich den Nicht-Nicht-Juden, d.h. denjenigen, der im Gesetz des Messias lebt. [...] Man kann hier die Distanz ermessen, die das Paulinische Verfahren vom modernen Universalismus trennt. Dieser setzt etwas beispielsweise die Humanität des Menschen als Prinzip in Kraft, das alle Diffe- ZNT 18 (9. Jg. 2006) renzen aufhebt, oder als letzte Differenz, jenseits deren keine weiteren Teilungen mehr möglich sind. [...] Für Paulus geht es nicht darum, die Differenzen zu >tolerieren< oder sie zu überschreiten, um jenseits von ihnen das Selbe und das Universale zu finden. Das Universale ist für ihn kein transzendentes Prinzip, von dem aus er auf die Differenzen schauen könnte er verfügt nicht über einen solchen Standpunkt-, sondern ein Verfahren, das die Teilungen des Gesetzes selbst teilt und unwirksam macht, ohne je einen letzten Grund zu erreichen« (Agamben, 63-65). Dem Nicht-sondern von Badiou setzt Agamben ein Als-ob-nicht entgegen, das explizit auf lKor 7,29-31 verweist. Aus der messianischen Berufung entsteht eine Distanz zu sich selbst, die den Sklaven in einen Nicht-Sklaven, den Nicht-Sklaven zu einem Nicht-Nicht-Sklaven verwandelt. 4. Die Funktion des Gesetzes: Anders als Albert Schweitzer 12 stellen Badiou und Agamben nicht die Kohärenz des paulinischen Gesetzesverständnisses in Frage, sondern versuchen, sie anthropologisch und universal zu verstehen. Agamben schlägt eine sehr elegante Lösung vor, indem er auf Röm 3,31 und 10,4 zurückgreift: Christus setzt das Gesetz außer Kraft, indem er es erfüllt. Begriffe werden von Hegel (Aufhebung), Carl Schmitt, auf den sich Jacob Taubes auch beruft (Der Ausnahmezustand), und Aristoteles (steresis) übernommen und miteinander neu verbunden. Nach dem römischen Recht wird das Gesetz durch die Erklärung des Ausnahmezustandes aufgehoben, um neu begründet zu werden, und in einer vergleichbaren Weise ist der Aufbruch des Messias als die Unterbrechung zu verstehen, durch welche das Gesetz unwirksam wird und ihm seine Geltung zurückgegeben wird, so dass die Norm weder beachtet noch übertreten werden kann. Dabei verweist Agamben nicht ganz ohne Ironie auf die exegetische Debatte: »Man hat sich in Wahrheit nicht sehr scharfsinnig gefragt, ob telos hier ,Ende, oder >Vollendung< bedeute. Nur insofern der Messias den nomos unwirksam macht, ihn aus dem Werk entläßt und ihn der Potenz zurückgibt, kann er dessen telos, d.h. zugleich dessen Ende und Vollendung sein« (Agamben, 11 lf.). Das Gesetzesverständnis von Badiou ist durch die Psychoanalyse von Jacques Lacan geprägt. Sie ist ZNT 18 (9. Jg. 2006) zum einen in seiner Theorie der Diskurse sichtbar: »Das Projekt des Paulus besteht darin, zu zeigen, dass eine universale Heilslogik sich mit keinem Gesetz verträgt, weder mit dem, welches das Denken an den Kosmos bindet, noch mit dem, welches die Regeln einer exzeptionellen Erwählung angibt. Der Ausgangspunkt kann unmöglich das Ganze sein, ebenso unmöglich aber eine Ausnahme vom Ganzen. Weder die Totalität noch das Zeichen kommen in Frage. Man muss vom Ereignis als solchem ausgehen, das akosmisch und illegal ist, sich keiner Totalität einfügt und ein Zeichen von nichts ist. Vom Ereignis auszugehen, bringt jedoch kein Gesetz hervor, keine Form von Herrschaft, weder die des Weisen noch die des Propheten. Man kann es auch so sagen: Der griechische und der jüdische Diskurs sind beide Diskurse des Vaters. Was übrigens auch der Grund ist, warum sie Gemeinschaften in einer Form von Gehorsam zusammenbinden (Gehorsam gegenüber dem Kosmos, dem Reich, Gott oder dem Gesetz). Nur derjenige Diskurs hat die Chance, universal zu sein, sich aller Partikularismen zu entledigen, der sich als ein Diskurs des Sohnes darstellt« (Badiou, 81f.). Die Aussendung des Sohnes hat die Geschichte in zwei Stücke gebrochen. Badiou verweist hier auf Nietzsche und beschreibt die Bedeutung des Gesetzes wie folgt: »Die paulinische Grundthese ist die, dass das Gesetz und nur das Gesetz das Begehren mit einer Autonomie ausstattet, die hinreicht, das Subjekt dieses Begehrens im Hinblick auf diese Autonomie den Platz des Toten einnehmen zu lassen. Das Gesetz ist es, welches dem Begehren Leben verleiht. Dadurch aber versetzt es das Subjekt in die Lage, nur noch den Weg des Todes einschlagen zu können« (Badiou, 148). Anhand Röm 7 geht er einen Schritt weiter und entwickelt eine These, die sich konträr zu den aktuellen exegetischen Bestimmungen des Gesetzesverständnisses bei Paulus verhält: »Der Mensch des Gesetzes ist für Paulus derjenige, bei dem das Tun vom Denken getrennt ist. Dies ist die Wirkung der Verführung durch das Gebot. Diese Figur des Subjekts, wo zwischen dem toten Ich und der unwillentlichen Automatik des lebendigen Begehrens Teilung herrscht, 23 ist für das Denken eine Figur der Ohnmacht. Im Grunde ist die Sünde weniger eine Verfehlung als eine Unfähigkeit des lebendigen Denkens, das Handeln zu bestimmen. [...] Das Gesetz ist das, was das Subjekt als Ohnmacht des Denkens konstituiert« (Badiou, 156). 3. Um (nicht) abzuschließen Diese kurze Darstellung erhebt nicht den Anspruch, das Denken von Agamben und Badiou vollständig wiederzugeben. Die Perspektive, die ich gewählt habe, lässt sowohl die Gesamtarchitektur und die Kohärenz der beiden Ansätze als auch ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen außer Acht. Mein Wunsch ist nur, die Neugierde des Lesers geweckt zu haben und ihn veranlasst zu haben, sie selber zu entdecken. Mir ist bewusst, dass der interdisziplinäre Dialog zwischen Exegeten und Philosophen mühsam ist. Meine Überzeugung ist es jedoch, dass dieser Dialog weiterführend ist. 13 Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass jeder bereit ist, auf einen Objektivitätsanspruch der eigenen Lesetradition zu verzichten. Erst unter dieser Voraussetzung kann eine dialogische Lektüre gelingen und erst dann ist der Weg bereitet für einen Umgang mit den paulinischen Texten, der auf einer hermeneutischen Freiheit gründet. 24 Anmerkungen Ich danke meinem Kollegen Frans; ois Vouga für die Übersetzung des Textes und seine wertvollen Anregungen. G. Agamben, II tempo ehe resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Torino 2000. Deutsche Übersetzung: Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römerbrief (edition suhrkamp 2453), Frankfurt am Main 2006; A. Badiou, Saint Paul. La fondation de l'universalisme, Les essais du College international de philosophie, Paris 1997. Deutsche Übersetzung: Paulus: Die Begründung des Universalismus, München 2002. Die aufgenommenen Zitate aus diesen beiden Werken im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes folgen in der Regel der jeweiligen deutschen Übersetzung. An einigen Stellen, an denen die vorliegenden deutschen Übersetzungen zu Badiou und Agamben fehlerhaft sind, wurde_ in Anlehnung an die Originalausgaben eine eigene Ubersetzung angefertigt. Vgl. unter anderen S. Breton, Saint Paul (Philosophies 18), Paris 1988; J.-F. Lyotard/ E. Gruber, Un trait d'union (Trait d'union), Sainte-Foy, Quebec 1994; J.-F. Lyotard, D'un trait d'union, Rue Descartes, 1/ 4 (1992), 47-60; P. Ricoeur, Paul apotre. Proclamation et argumentation. Lectures recentes, Esprit, (2003 ), 85-112; M. Serres, Le fils adoptif, in: Rameaux, Paris 2004, 77- 111. Vgl. J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993. A. Gignac, Taubes, Badiou, Agamben: Reception of Paul by Non-Christian Philosophers Today, in: Society of Biblical Literature (Hg.), 2002 Seminar Papers, Atlanta 2002, 74-110. Als Reaktionen auf die Ansätze von Agamben und/ oder Badiou siehe: P. Büttgen, L: attente universelle et les voix du preche. Sur trois intcrpretations rccentes de saint Paul en philosophie, Etudes Philosophiqucs 1 (2002), 83-101; D. Müller, Le Christ, releve de la Loi (Romains 10,4): La possibilite d'une ethique messianique a la suitc de Giorgio Agamben, Sciences religieuses / Studies in Religion 30 (2001), 51-63; F. Vouga, La nouvelle creation et l'invention du moi, Etudes Theologiques et Religieuses 75 (2000), 335-347; F. Vouga, Die politische Relevanz des Evangeliums. Rezeption des Paulus in der philosophischen Diskussion, in: Ch. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache - Text, Wolfgang Stegemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2005, 192-208; S. Zizek, The Politics of Truth, or, Alain Badiou as a Reader of St Paul, in: Ders., The Ticklish Subject: an Essay in Political Ontology, London 2000, 127-170. Badiou spielt auf G. Agamben, Homo sacer 1: die souveräne Macht und das nackte Leben (Erbschaft unserer Zeit 16), Frankfurt am Main 2002 (Italienisch 1995) und Homo sacer 2: Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt am Main 2003 (Italienisch 1998), an. Dieses Zitat von Agamben befindet sich auch auf dem Cover der französischen sowie der deutschen Ausgabe des Buches. Vgl. A. Gignac, Juifs et chretiens a l'ecole de Paul de Tarse. Enjeux identitaires d'une lecture de Romains 9- 11 (Co! ! . Sciences bibliques), Montreal/ Paris 1999. 10 Vgl. A. Gignac, Temps et recit de salut chez saint Paul. Romains et la crise des metarecits diagnostiquee par Jean-Francois Lyotard, in: M. Gourgues / M. Talbot (Hgg.), En ce temps-la. Conceptions et experiences bibliques du temps (Sciences bibliques 10), Montreal/ Paris 2002, 137-181. 11 Vgl. S.H.-G. Soeffner, Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt/ New York 2005. 12 Vgl. auch H. Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 1983. 13 Exegetische Gespräche mit Alain Badiou haben vom 15.-16.10.1998 in der theologischen Fakultät in Montpellier (die Beiträge von A. Badiou, F. Vouga, J.-D. Causse und E. Cuvillier sind veröffentlicht worden in: EThR 75 (2000), 321-372) und, zusammen mit Slavoj Zizek, vom 14-16.4.2005 in der Universität von Syracuse, NY, stattgefunden: Paula Fredriksen betonte, anhand der Beispiele von Origenes und Augustin, die Eigenwilligkeit der philosophischen Rezeption des Paulus, E.P. Sanders setzte sich ohne besondere Berücksichtigung der Thesen von Badiou mit dem paulinischen Universalismus auseinander, während Dale B. Martin zeigte, wie Paulus das Dilemma zwischen dem Universalismus und dem Monotheis- ZNT 18 (9. Jg. 2006) mus Israels durch die Eröffnung der Erwählung für die Heiden gelöst hat und Daniel Boyarin stellte Paulus in einem positiven Sinne als Sophist eher als Anti-Philosoph, wie Badiou es tut dar, um die praktische Auswirkung, die Realität der Gemeinden und den historischen Kontext bei der Interpretation besser berücksichtigen zu können. Vorschau auf Heft 19 Themenheft: Auferstehung Neues Testament aktuell: Eckart Reinmuth, Ostern - Ereignis und Erzählung. Die jüngste Diskussion und das Matthäusevangelium Zum Thema: Dieter Zeller, Religionsgeschichtliche Erwägungen zur Auferstehung Richard B. Hays/ David Kirk, Die Diskussion der Auferstehung im angloamerikanischen Bereich Ulrich Volp, Die Auferstehungsproblematik in der Alten Kirche Kontroverse: Auferstehung der Toten eine individuelle Hoffnung? Robert C. Neville vs. Hans Kessler Hermeneutik und Vermittlung: Gebhard Löhr, Islamische und christliche Auferstehungshoffnung. Der Koran und das NT im Vergleich. Buchreport: Dale C., Jr. Allison, Resurrecting Jesus, T & T. Clark Publishers 2005 (rez. v. Stefan Alkier) N.T. Wright, The Resurrection of the Son of God, SPCK 2003 (rez. v. Stefan Alkier) ZNT 18 (9. Jg. 2006) Alain Gignac Neue Wege der Auslegung ./ .Zuverl' '~>Kostenlindern ,\Js \tersicheter im Räu.: rit d~r~lrt: he~ K@l'fflef'I wir u~'fftitil~ri 1! 1e: s: ön: de~n ·· Befntlfetregetunger: tirn. .. tdre~n.(ninerr} &ererth bntens, aus; _,' ' 81\tf'Ch..\llfJM'fe anerkann.t '~nstig~tFTialiflosurlsen .st~ w.r~~rurn Jhr ers; ter, • .· Al'lts.p~hp<llrtmer, ~llln: •. •um lhreö.f; ler$inlkhe». · ~rank~nversidtefµngs; . . ,$Chutz ,e: nt~ \ "',\i~~: / ~ : : ,.; ·~·.~·.,', ", " ·~ . i ". '.~h~n AliS: prechparther ·•.,f,.~Ort@rlahreriSie: hler: · ,c'•' " " ' '' ,", '' ' ,' ', " ', ·••-~lt.~.•. ll~südl, Rftelnlättd .. K~sfl$0e~~1~$ansbe4k'; ll~ (o~s as~'9': 1.ßa.a8 · .. ·· . Tefdt.it~<(t: l: },JSi; t•~JO~ .. '(b.eifel~IU'heill@~rtJ€1e.i'hilfe..de www; bru()(er! lrfftet! lte · 25