eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 9/18

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2006
918 Dronsch Strecker Vogel

Wie historisch ist die Apostelgeschichte?

121
2006
Ute E. Eisen
znt9180037
Wie historisch ist die Apostelgeschichte? Eine Einführung zur Kontroverse Die Frage nach der Historizität biblischer Schriften ist mindestens so alt wie das moderne Geschichtsbewusstsein. Noch heute steht mit ihrer Beantwortung für viele Menschen die Glaubwürdigkeit der Bibel auf dem Spiel. Für einige bedeutet der Umstand, dass nicht alle Jesusworte auf Jesus selbst zurückgehen, eine Anfechtung ihres Glaubens. Wieder andere jedoch führt es in eine Krise, wenn sie z.B. die Seewandelerzählung als historischen Bericht glauben sollen. Diese Vorbemerkung möge markieren, wie unterschiedlich die Selbst- und Weltverständnisse sind. Für (fast) jeden Standpunkt gibt es gute Gründe. Eine einheitliche Sichtweise zu erzwingen, kann nicht das Ziel sein. Vielmehr aber die Voraussetzungen der verschiedenen Sichtweisen zu reflektieren, scheint mir eine dringliche Aufgabe der Theologie. Die beiden Neutestamentler Daniel Marguerat und Rainer Riesner beantworten die Frage nach der Historizität der Apostelgeschichte im Kontext ihrer theologischen und geistesgeschichtlichen Herkunft und Verortung sehr unterschiedlich. Rainer Riesner ist theologisch durch die Universität Tübingen geprägt, deren renommierter Emeritus Martin Hengel seit Jahrzehnten mit besonderer Leidenschaft für die Historizität der Apostelgeschichte streitet. Mit Hengel und der altkirchlichen Überlieferung seit Irenäus sieht Riesner im Verfasser der Apostelgeschichte den Paulusbegleiter und Arzt Lukas. Im Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) lege dieser Verfasser seine Arbeitsweise offen und erweise sich darin als zuverlässiger Historiker. Mit seinem Vorgehen gestalte er zwar auch den Stoff, so etwa in den Reden im Hinblick auf den Wortlaut, aber er sei bestrebt, den Inhalt der Reden so genau wie möglich wiederzugeben. Die vieldiskutierten sog. Wir-Passagen der Apostelgeschichte betrachtet Riesner als Indiz für die Augenzeugenschaft des Verfassers. Zu den >»panegyrischen Anwandlungen< des Lukas«, wie Riesner sie mit Adolf von Harnack nennt, zählt er etwa die idealisierende Schilderung der Gütergemeinschaft der Urgemeinde. Diese sei zwar durchaus von alttesta- ZNT 18 (9. Jg. 2006) mentlichen und griechisch-römischen Idealen inspiriert, aber sie deshalb für erfunden zu halten, weist er zurück. Ganz anders geht der französische Neutestamentler und N arratologe Daniel Marguerat an die Fragestellung heran, indem er seine Antwort in geschichtstheoretische und -philosophische sowie erzähltheoretische Reflexionen einbindet. Als Konsens formuliert Marguerat zunächst: »Dass wir mit einer fundamentalen ,historischen Zuverlässigkeit, der Apostelgeschichte rechnen können«. Er betont jedoch, dass beim Verständnis von Historizität der entscheidende Dissens bestehe. Marguerat mahnt, nicht allzu naiv gegenüber Geschichtsschreibung zu sein. Vielmehr regt er an, über Konzepte von Historiographie nachzudenken und knüpft dabei etwa an Raymond Aron, Henri-Irenee Marrou, Paul Veyne, Paul Ricceur und Arnaldo Momigliano an. Seine These lautet, dass zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung zu differenzieren sei, denn es gebe keine Geschichte außerhalb ihrer Vermittlung. »Geschichtsschreibung ist nicht beschreibend, sondern (re)konstruktiv« und die spezifische Perspektive des Historiographen fließt stets in die Darstellung ein. Zudem unterscheidet Marguerat mit Ricceur drei Typen der Historiographie. Eine davon ist die poetische, zu der er die Apostelgeschichte zählt. Marguerat bezeichnet sie als Gründungserzählung (frz. recit fondateur), die von einer identitätsstiftenden Funktion geprägt sei und deren Wahrheit in der Interpretation liege. Welche der beiden Positionen die geneigte Leserin bzw. den geneigten Leser mehr überzeugt, hängt nicht zuletzt von texttheoretischen, hermeneutischen und geschichtsphilosophischen Vorentscheidungen ab. Urteilen sie selbst ... Ute E. Eisen 37