eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 9/18

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2006
918 Dronsch Strecker Vogel

Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte

121
2006
Rainer Riesner
znt9180038
Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte »Es ist nicht nur im Großen und Ganzen ein wirkliches Geschichtswerk, sondern auch die Mehrzahl der Details, die es bringt, ist zuverlässig. Es folgt außer einigen panegyrischen Anwandlungen in bezug auf die Urgemeinde keinen Tendenzen, die die reine Darstellung des geschichtlichen Verlaufs stören, und sein Verfasser hat genug gewußt, um als Geschichtsschreiber auftreten zu dürfen. Es ist fast von jedem möglichen Standpunkt geschichtlicher Kritik aus ein solides und respektables, in mancher Hinsicht aber ein außerordentliches Verfasser der Apostelgeschichte mit dem zeitweiligen Paulus-Begleiter und Arzt Lukas (Phlm 24; Kol 4, 14) gleichgesetzt hat, sondern sein Wissen dem römischen Gemeindearchiv verdankte.' Die Identifizierung geht wahrscheinlich auf die Zeit vor dem Ausschluss des Markion aus der römischen Gemeinde im Jahr 144 zurück. Diese externe Verfasserzuweisung wird durch das interne Zeugnis des lukanischen Doppelwerks unterstützt. Fiktive Reiseschilderungen der Antike reklamieren in direkter Weise Augenzeugenschaft. Die Wir-Berichte der Apos- Werk; außerordentlich ist schon der Mut des Lukas, die komplizierte Geschichte einer im lebendigsten Flusse sich befindenden religiösen ~ TROV telgeschichte (Apg 16,10-16; 20,5-21,18; 27,1-28,16), die das nur indirekt tun, gehen offensichtlich auf emen Bewegung zu schildern«. 1 Diese Beurteilung der Apostelgeschichte stammt von keinem konservativen Exegeten, sondern von dem großen Liberalen Adolf von Harnack. Während der letzten J ahre hat es in der deutschen protestantischen Theowirklichen Paulus-Begleiter zurück. Da sich ihre Sprache und ihr Stil innerhalb des zweiten Teiles der Apostelgeschichte nicht vom Rest abheben, ist von einer Identität des Verfassers der Wir-Stücke und des Gesamtwerkes auszugehen. Die Vorworte zum Doppelwerk (Lk logie eine gewisse Harnack- Renaissance gegeben, die sich auf die Bewertung des lukanischen Doppelwerks allerdings nicht ausgewirkt hat. Das ist zu bedauern, denn Harnack war ein besserer Historiker als Theologe. Meiner Überzeugung nach kann Harnacks »Ein entscheidender Faktor bei 1,1-4; Apg 1,1-2) lassen sich mit Loveday A. Alexander den Einleitungen zu wissenschaftlich-technischer Literatur und da wieder besonders denen zu ärztlichen Werken vergleichen. 3 Vor kurzem hat Annette Weissenrieder geder Beurteilung eines Geschichtswerkes ist die Frage nach dem Verfasser und seiner Nähe zu den geschilderten Ereignissen.« Urteil über Lukas mit Hilfe moderner exegetischer Erkenntnisse an manchen Stellen präzisiert, im Wesentlichen aber bestätigt werden. Der Paulus-Begleiter Lukas ... Ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung eines Geschichtswerkes ist die Frage nach dem Verfasser und seiner Nähe zu den geschilderten Ereignissen. Claus-Jürgen Thornton hat gute Gründe dafür vorgebracht, dass Irenäus (Adv Haer III 1,1) nicht aufgrund exegetischer Kombinationen den 38 zeigt, dass Lukas nicht nur manchmal medizinische Terminologie benutzt, sondern auch gelegentlich Krankheitskonzepte zu Grunde legt, die antiken medizinischen Theorien entsprechen.' Gerade auch Ärzte brachten im Altertum die geistigen Voraussetzungen mit, um Geschichtswerke zu schreiben. Als Zeit des lukanischen Doppelwerks werden in der deutschsprachigen Forschung meist die 80er oder 90er-J ahre des ersten Jahrhunderts genannt. Diese Datierung hat den großen Vorteil, so unpräzise zu sein, dass sie sich kaum falsifizieren lässt. Wie schon Adolf von Harnack bestreitet jetzt eine althistorische Dissertation von Alexan- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte Rainer Riesner Rainer Riesner, Jahrgang 1950, Promotion 1980 und Habilitation 1990 in Tübingen, 1997/ 98 Lehrstuhlvertretung in Dresden, seit 1998 Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik/ Neues Testament an der Universität Dortm1md. der Mittelstaedt an der Universität Konstanz, dass Lukas 19,41-44; 21,20-24 die Zerstörung Jerusalems voraussetzt, und plädiert für eine Niederschrift der Apostelgeschichte zur Zeit ihres rätselhaften Abschlusses um 62 während der Gefangenschaft des Paulus in Rom.' Martin Hengel nennt bedenkenswerte Gründe für eine Entstehung in der Zeit der frühen flavischen Kaiser Vespasian und Titus zwischen 75 und 80. 6 Selbst tendiere ich zu einer Abfassung noch vor 70, aber nach dem angedeuteten (Apg 20,22-25.37-38) Martyrium des Paulus. Doch sogar wenn man der konventionellen Spätdatierung folgt, ist der Paulus-Begleiter Lukas als Verfasser nicht ausgeschlossen. Trotz der erschreckend hohen Sterblichkeitsrate in der Antike gab es damals viele, die deutlich mehr als das Durchschnittsalter erreichten. Man braucht nur an die neutestamentlichen Beispiele von Petrus und Paulus zu denken. In einer an Kaiser Hadrian gerichteten Apologie, die sich kaum leichtfertige Argumente leisten konnte, behauptete Quadratus, selbst noch solche gekannt zu haben, die Jesus geheilt, ja vom Tode auferweckt hatte (Eusebius, HE IV 3,1-2). ... als antiker Historiker ... Die Gattung der Apostelgeschichte kann man im Rahmen der antiken Literatur als historische Monographie bestimmen.' Im Vorwort zum Evan- ZNT 18 (9. Jg. 2006) gelium beansprucht Lukas, von »Tatsachen« (pragmata) zu schreiben, »allem von Beginn sorgfältig (akribos) nachgegangen« zu sein und so die »Zuverlässigkeit« (asphaleia) der christlichen Lehren zu erweisen (Lk 1,1-4). Einen vergleichbaren Anspruch erhebt Lukas auch auf rhetorisch sehr effektvolle Weise in der Apostelgeschichte. Nach der letzten großen Verteidigungsrede des Paulus wirft ihm der Prokurator Festus vor, wahnsinnig zu sein (Apg 26,24). Darauf lässt Lukas den Paulus antworten: »Ich rase nicht, sondern rede Worte der Wahrheit (aletheia) und Vernunft (sophrosyne). Der König versteht sich auf diese (Dinge), deshalb rede ich freimütig zu ihm. Ich bin überzeugt, dass ihm nichts davon verborgen geblieben ist, denn dies ist nicht im Winkel (en gonia) geschehen« (Apg 26,25- 26). Mit der letzteren, sprichwortartigen Wendung (vgl. Epiktet, Diss II 12.17; Platon, Gorgias 485D) unterstreicht Lukas den Öffentlichkeitscharakter der grundlegenden Ereignisse der jesuanischen und apostolischen Geschichte. Anders als spätere gnostische Evangelien beruft er sich nicht auf geheime Offenbarungen an Einzelne, sondern ist überzeugt, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens auch der Vernunft geleiteten, historischen Nachfrage von Skeptikern zugänglich ist und ihr standhält. Lukas folgte auch insofern den Standards besserer antiker Geschichtsschreiber, als er über seine Quellen und Darstellungsweise Rechenschaft gab. ... mit guten Quellen ... Da sich das kurze Vorwort der Apostelgeschichte (Apg 1,1-2) auf den ersten Teil (protos logos) des Doppelwerkes zurück bezieht, darf man das ausführlichere Vorwort zum Evangelium (Lk 1, 1-4) auch im Blick auf die Informationsmöglichkeiten des Lukas für die Apostelgeschichte auswerten. Wenn Lukas von den »Tatsachen« spricht, die sich »unter uns (en hemin) zugetragen haben«, so kann er damit durchaus andeuten, dass er als Angehöriger der apostolischen Generation einige Ereignisse selbst miterlebt hat. In der Apostelgeschichte entsprechen dem die Wir-Berichte. Wenn es im Vorwort heißt, dass »die Augenzeugen (autoptai) von Anfang an uns (hemin) überliefert haben« (Lk 1,2), so dürfte impliziert sein, dass Lukas selbst noch einige von ihnen treffen konnte. Dass Lukas als Zeitgenosse der Apostel die Möglichkeit nutzte, 39 andere solche Zeitgenossen über Ereignisse zu befragen, deren Zeuge er nicht selbst gewesen war, dafür gibt es gerade in der Apostelgeschichte ein wichtiges Indiz. Nicht nur die Wir-Berichte selbst, sondern auch die ihnen zeitlich und örtlich nahestehenden Passagen zeichnen sich durch eine besondere Dichte von chronologischen, geographischen und anderen Detailangaben aus, von denen wenigstens einige historisch verifiziert werden können. 8 Das ist auffällig, weil die lukanischen Schilderungen an anderen Stellen vergleichsweise vage bleiben. Diese ungleichmäßige Verteilung von Einzelheiten spricht dagegen, Lukas einer zu phantasievollen Darstellungsweise zu verdächtigen. Wo er keine detaillierten Nachrichten besaß, hat er offensichtlich nicht durch schriftstellerische Kreativität nachgeholfen. Manchmal scheint das historiographische Problem sogar darin zu bestehen, dass Lukas mehr wusste als er schrieb (vgl. Apg 9,30- 31; 15,37-39; 19,30-31). Mindestens für das Evangelium hat Lukas auch über schriftliche Quellen verfügt, Markus oder eine markusähnliche Darstellung sowie eine mit Matthäus gemeinsame Überlieferung. Vor allem bei der Wiedergabe der Worte Jesu, deren semitische Sprachgestalt den stilistisch durchaus anspruchsvollen Lukas gestört haben muss, zeigt er einen zurückhaltenden Umgang mit diesen Quellen. Von großer Relevanz ist die Frage, woher Lukas sein Sondergut übernahm, das rund die Hälfte seines Evangeliums ausmacht. schichte hoch einschätzt, braucht die Grenzen der lukanischen Darstellung nicht zu übersehen. Sie ergeben sich einmal aus den Möglichkeiten und Konventionen eines antiken Historikers. Wenigstens die Gebildeten unter den Hörern und Hörerinnen bzw. Lesern und Leserinnen wussten, dass es sich bei den Reden der Apostelgeschichte nicht um stenographische Mitschriften handelt. In diesem Zusammenhang wird oft in ungenauer Weise das Vorwort zum »Peloponnesischen Krieg« von Thukydides (I 22,1) angeführt. Der große griechische Historiker hat bei der Komposition von Reden keineswegs der bloßen dichterischen Einfühlung das Wort geredet. Während beim Wortlaut Freiheit bestand, sollte doch der Inhalt der aktuellen Rede so genau wie möglich wiedergegeben werden. Noch deutlicher hat Polybios bei der Gestaltung von Reden die Aufgaben des Poeten und des Historikers voneinander abgegrenzt (II 56,10-12). Über das Verhältnis von redaktioneller Freiheit und historischer Gebundenheit in den Reden der Apostelgeschichte können nicht pauschale Urteile, sondern allein Einzelanalysen entscheiden. Eine andere Grenze ergab sich für die Geschichtsschreibung des Lukas daraus, dass er nicht in allen Fällen selbst die Zuverlässigkeit einer Quelle überprüfen konnte, besonders wenn es um weiter zurückliegende Ereignisse ging. So nennt Lukas einen Aufstandsführer namens Theudas, der vor der Revolte von Judas dem Galiläer, die durch einen Zensus Man kann weiterhin und sogar mit durch die Qumran-Funde verstärkten philologischen Argumenten eine These vertreten, die in der Vergangenheit vor allem von Paul Feine »Manchmal scheint das historiographische Problem sogar darin zu bestehen, dass Lukas mehr wusste als er schrieb ... « veranlasst wurde, aufgetreten sein soll (Apg 5,36-37). J osephus erwähnt den Aufstand eines Theudas in späterer Zeit unter dem Prokurator Cuspiverteidigt wurde: Lukas verfügte nicht nur im Evangelium über eine Sonderquelle aus konservativ-judenchristlichen Kreisen, die sich in Jerusalem und Judäa um den Herrenbruder Jakobus und andere Herrenverwandte gesammelt hatten. Diese Überlieferung macht sich auch in der Darstellung der U rgemeinde im ersten Teil der Apostelgeschichte (Apg 1-12 und 15) bemerkbar. 9 ... nicht ohne Grenzen und Tendenzen, ... Auch wer den historischen Wert der Apostelge- 40 us Fadus (Ant XX 97-99). Ob es sich um zwei verschiedene Ereignisse handelte oder ob ein Fehler bei Josephus oder Lukas vorliegt, lässt sich bei unserem momentanen Wissensstand schwer entscheiden. Vor besondere Probleme stellen den modernen Forscher die Absichten, die Lukas mit seinem Doppelwerk verband, und die man seit den Tagen der älteren » Tübinger Schule« unter dem Stichwort »Tendenz« diskutiert. Die Schwierigkeiten für urchristliche Gemeinden gehen nach der Apostelgeschichte meist, wenn auch nicht ausschließlich (vgl. Apg 16,16-40; 19,23-40), von jüdischer Seite aus. Wer hierin nicht nur eine sehe- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte matisierte, sondern eine antijüdische Darstellung sehen möchte, sollte Folgendes bedenken: Nicht nur in der judenchrist! ich geprägten Vorgeschichte seines Evangeliums (Lk 1-2) gibt es bei Lukas freundliche Schilderungen jüdischer Menschen wie bei kaum einem anderen Autor des Neuen Testaments. Lukas kennt den pluralistischen Charakter des damaligen Judentums (Apg 23,1-11) und schildert deshalb eine ganze Bandbreite von Reaktionen auf die neue messianische Bewegung der »Nazaräer« (Apg 24,5): Zustimmung (Apg 17,10-12), Sympathie (Apg 2,47; 22,12), Abwarten (Apg 5,34-39) und entschiedene Gegnerschaft (Apg 5,17-33; 9,1-2; 12,1-2; 14,19-20; 17,5-9 usw.). Dass es Gewaltanwendung nicht nur von Seiten des Synhedriums in Jerusalem, sondern ebenso in der Diaspora gab, bezeugt Paulus (2Kor 11,24-25; vgl. 1Thess 2,14-16), und dieses Phänomen fügt sich auch sonst in den zeitgeschichtlichen Rahmen ein, wie sich anhand der Schriften des Philo von Alexandrien zeigen lässt. 10 Die Darstellung des Lukas bietet personell und geographisch nur einen Ausschnitt aus der Geschichte der urchristlichen Bewegung zwischen den Jahren 30 und 62 n.Chr. Lukas schildert die Anfänge in Jerusalem, aber dann geht der Weg der christlichen Botschaft nur noch nach Westen durch Petrus an die hellenisierte Mittelmeerküste von Palästina und durch Paulus über Kleinasien sowie Griechenland nach Rom. Nur in Andeutungen verrät Lukas, dass er Gemeinden in Galiläa kennt (Apg 9,31) und um die Ausbreitung der messianischen Bewegung nach Süden (Apg 2,10; 8,26-39), Norden (Apg 2,9) und Osten (Apg 2,9; 9,2) weiß. Unübersehbar ist auch eine irenische Tendenz, die Lukas innerchrist! iche Konflikte aber nicht völlig übergehen lässt (Apg 6,1; 11,1-3; 15,1-7.37-39; 21,18-21). Er wollte die grundlegende Übereinstimmung der führenden Repräsentanten Petrus, J akobus und Paulus zeigen. Das wird direkt bei seiner Darstellung des so genannten Apostelkonzils deutlich (Apg 15,1-29), zeigt sich aber auch daran, dass er in seinem Doppelwerk Traditionen zusammengeführt hat, die auf den Umkreis von Petrus (markinische Tradition), Jakobus (Sonderüberlieferung) und Paulus zurückgehen. Auf seine Weise nimmt Lukas im Doppelwerk den neutestamentlichen Kanon in nuce vorweg. Dass es grundlegende theologische Übereinstimmungen zwischen Petrus, J akobus ZNT 18 (9. Jg. 2006) und Paulus gab, ist sicherlich eine höchst kontroverse, aber keineswegs von allen modernen Exegeten negativ entschiedene Frage. ... aber im Wesentlichen zuverlässig. Wenigstens drei Beispiele sollen andeuten, dass auch in besonders umstrittenen Bereichen eine positive Wertung der lukanischen Geschichtsschreibung möglich ist. Zu den »panegyrischen Anwandlungen« des Lukas zählen wie Adolf von Harnack viele Ausleger die Schilderung der Gütergemeinschaft der Urgemeinde (Apg 2,42-45; 4,32-35). Es muss keineswegs bestritten werden, dass Lukas sowohl alttestamentliche (Dtn 15,1-4) wie griechisch-philosophische Ideale (Platon, Resp V 462C; Jamblichos, Vit Pyth 30,168) erfüllt sah. Aber ist seine Darstellung deshalb einfach erfunden? Josephus hat die Essener als ideale jüdische Gemeinschaft geschildert (Bell II 119-161; Ant XVIII 18-22), und trotzdem sind die meisten seiner Einzelinformationen über sie zutreffend. Die örtliche Nähe zwischen dem Essener-Viertel (Josephus, Bell V 145) und dem ersten Zentrum der Urgemeinde auf dem Südwesthügel Jerusalems (Epiphanius, De mensuris et ponderibus 14 [PG 43,260]) sowie die Konversionen von Essenern zur neuen messianischen Gemeinschaft (vgl. Apg 2,5; 6,7) bilden einen plausiblen Hintergrund (vgl. 1QS 6,13-23) für die Gütergemeinschaft eines Teiles der Urgemeinde. 11 Man kann sogar die Ansicht vertreten, dass Lukas sich bei seiner Schilderung den hellenistischen Adressaten weniger angepasst hat als J osephus. Wenn man das Treffen von Paulus mit Jakobus, Petrus und Johannes in Galater 2, 1-10 mit dem Konzil von Apostelgeschichte 15 identifiziert, gerät man in größte Probleme mit der Darstellung des Lukas. Er hat dann entweder aufgrund einer falschen oder missverstandenen Nachricht eine frühe Kollektenreise des Paulus angenommen oder eine solche erfunden, um den Apostel in stärkere Abhängigkeit vom heilsgeschichtlich-apostolischen Zentrum Jerusalem zu bringen (Apg 11,27-30; 12,25). Hier wird dann auch oft das stärkste Argument gegen Lukas als Paulus-Begleiter gefunden (U. Schnelle). Offenbar als erster hat Johannes Calvin in seinem Kommentar zu diesem Brief die Jerusalem-Reise in 41 Galater 2 und Apostelgeschichte 11 identifiziert (CR 78,182). Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gilt diese Gleichsetzung als klassische Lösung evangelikaler Ausleger (W.M. Ramsay, F.F. Bruce, I.H. Marshall, R.N. Longenecker, R.J. Bauckham). Aber in jüngster Zeit hat auch die katholische Exegetin Ruth Schäfer in einer Bochumer Dissertation diese Lösung ausführlich verteidigt. 12 Diese Rekonstruktion ist ebenfalls nicht ohne Probleme, kann aber spätestens jetzt nicht mehr als hoffnungsloser Harmonisierungsversuch abgetan werden, sondern stellt eine diskussionswürdige Alternative dar. Wenn man ihr folgt, würde sich ein zweites Problem der lukanischen Darstellung abmildern, wenn nicht sogar lösen lassen. Nach Gal 2,6 wurde Paulus »nichts auferlegt«, während er nach Lukas dem »Aposteldekret« zugestimmt haben soll (Apg 15,22-35; 16,1-6). Nun ist es allerdings auch abgesehen von der chronologischen Rekonstruktion die Frage, ob Paulus solche Verpflichtungen von Heidenchristen für die Tischgemeinschaft mit Judenchristen anerkannt hätte. Wenn man mit Markus Bockmuehl die halachischen Diskussionen um die Ausdehnung von Erez Jisrael und die damit verbundene Geltung ritueller Vorschriften beachtet (vgl. Apg 15,23), dürfte aber selbst über diese Frage nicht das letzte Wort gesprochen sein. 13 Seit einem einflussreichen Aufsatz von Philipp Vielhauer ist vielen der angebliche »Paulinismus« der Apostelgeschichte suspekt. Lukas habe den Apostel des gesetzesfreien Evangeliums zum christianisierten Pharisäer stilisiert, um Paulus für den beginnenden Frühkatholizismus kompatibel zu machen. So sei es historisch völlig undenkbar, dass der Apostel ein Nasiräats-Gelübde auf sich genommen (Apg 18,18) und für judenchristliche Nasiräer am Jerusalemer Tempel gespendet habe (Apg 21,23-26). In letzter Zeit für moderne Forscher nicht immer leicht zu vermeiden, dass gegenwärtige Tendenzen die eigene Wahrnehmung von Geschichte bestimmen. Ein protestantischer Theologe der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hätte sich sicher nicht auf eine derart solidarische Geste gegenüber in ihrer Existenz bedrohten, konservativen Judenchristen eingelassen, der Verfasser von Röm 9-11 schon eher. Wie viel wir Lukas verdanken, kann man sich auch an zwei Gegenproben klar machen. Nach dem abrupten Schluss der Apostelgeschichte gehen die Rekonstruktionen der weiteren paulinischen Biographie völlig auseinander. Wurde der Apostel gleich in der ersten römischen Gefangenschaft hingerichtet oder noch einmal freigelassen? Reiste er ein weiteres Mal nach Osten (Pastoralbriefe) und/ oder hat er noch Spanien erreicht (1Clem 5,6-7)? Erlitt er vor oder in der neronischen Verfolgung (64-68) das Martyrium? War der Ort seines Todes Rom, wie die Tradition besagt (Eusebius, HE II 25,7), oder gar Philippi, wie eine moderne Hypothese behauptet (H. Koester, A.D. Callahan)? Auch alle Versuche, unter totalem Verzicht auf den lukanischen Geschichtsrahmen zu einer Chronologie des Paulus zu kommen (J. Knox, G. Lüdemann, N. Hyldahl), enden in völlig gegensätzlichen Entwürfen. Man ist versucht, das Fazit zu formulieren: Lukas oder Chaos! Ich bin nicht nur als Familienvater und Ausbilder von Religionslehrern und Religionslehrerinnen froh, dass die Apostelgeschichte im Kanon steht. Wie sollte man Schülern und Schülerinnen ohne die farbigen Schilderungen des Lukas den Apostel Paulus und seine Theologie nahe bringen? Aber auch hinsichtlich der Erforschung des Urchristentums halte ich das Doppelwerk des Lukas für einen Glücksfall. Er hat bereits eine historiographische Leistung vollbracht, der sich gibt es gewichtige Stimmen, unter ihnen die des berühmten jüdischen Forschers Jacob N eusner, welche die lukanische Darstellung für richtig, zumindest aber für möglich halten. 14 Vielhauer schrieb in einer Zeit schärfster protestantisch-katholischer Kontro- »Auch wenn hier die Wertungen im Einzelfall auseinander gehen mögen, stellt uns Lukas vor die unausweichliche Altererst zweihundert Jahre später die Arbeit des Eusebius vergleichen lässt. Ohne Lukas wüssten wir wesentlich weniger. native, ob wirklich alle Geschichte atheistisch verstanden werden kann oder nicht.« Daniel Marguerat sieht das lukanische Doppelwerk am Schnittpunkt der alttestamentlich-jüdischen und der versen, wir leben in einer Periode des ernsthaften Dialoges mit dem Judentum. Gewiss ist es auch griechischen Geschichtsschreibung. 15 Marguerat hat auch völlig Recht, dass Lukas entgegen der 42 ZNT 18 (9.Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte von Thukydides ausgehenden historiographischen Tradition mit einem direkten Eingreifen Gottes in die Geschichte rechnete. Aus diesem unleugbaren Sachverhalt sind allerdings zwei völlig unterschiedliche Folgerungen möglich. Lukas könnte von seinen theologischen Voraussetzungen her Heilsgeschichte konstruiert haben, ohne allzu sehr Rücksicht auf die historischen Realitäten zu nehmen. Lukas kann aber auch in Ereignissen, die er in Quellen vorgefunden, auf Nachfrage erfahren oder sogar selbst erlebt hatte, Gottes Handeln zum Heil von Menschen wahrgenommen haben. Adolf von Harnack hielt an der substanziellen historischen Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte fest, obwohl er bei einigen Erzählungen mit sehr früh einsetzender Legendenbildung rechnete. Man sollte in der Tat nicht die Beurteilung von einzelnen Wundergeschichten zum entscheidenden Maßstab machen. Auch wenn hier die Wertungen im Einzelfall auseinander gehen mögen, stellt uns Lukas vor die unausweichliche Alternative, ob wirklich alle Geschichte atheistisch verstanden werden kann oder nicht. Das bleibt auch nach der Aufklärung und der schon früher in dieser Zeitschrift ausgetragenen Kontroverse (ZNT 7 [2001]) eine grundlegende philosophische und theologische Frage. Anmerkungen A. von Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament III: Die Apostelgeschichte, Leipzig 1908, 222. Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT I/ 56), Tübingen 1991. Preface to Luke's Gospel: Literary Convention and Social Context in Luke 1: 1-4 (SNTSMS 78), Cambridge 1993. Images of Illness in the Gospel of Luke: Insights of Ancient Medical Texts (WUNT II/ 164), Tübingen 2003. Vgl. auch M. Hengel/ A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT I/ 108), Tübingen 1998, 18-26. Lukas als Historiker. Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes (TANZ 43), Tübingen 2006. The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ. An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, Harrisburg 2000, 186-194. Vgl. D.W. Palmer, Acts and the Ancient Historical Monograph, in: B.W. Winter/ A.D. Clarke, The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, Grand Rapids/ Carlisle 1993, 1-30. ZNT 18 (9. Jg. 2006) Vgl. C.J. Hemer, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (WUNT I/ 49), Tübingen 1989; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie (WUNT I/ 71), Tübingen 1994; H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes.E 71), Stuttgart 1996. P. Feine, Eine vorkanonische Überlieferung des Lucas in Evangelium und Apostelgeschichte, Gotha 1891. Vgl. R. Riesner, Prägung und Herkunft der lukanischen Sonderüberlieferung, TBei 24 (1993), 228-248; ders., James' Speech (Acts 15: 13-21), Simeon's Hymn (Luke 2: 29-32) and Luke's Sources, in: J.B. Green/ M. Turner, Jesus of Nazareth - Lord and Christ: Essays on the Historical Jesus and New Testament Christology, Grand Rapids / Carlisle 1994, 263-278; ders., Lukas, in: V. Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, 391-394; ders., Das Lokalkolorit des Lukas-Sonderguts: italisch oder palästinisch-judenchristlich? , SBFLA 49 (1999), 51-64; ders., Die Emmaus-Erzählung (Lukas 24,13-35). Lukanische Theologie, judenchristliche Tradition und palästinische Topographie, in: K.H. Fleckenstein / M. Louhivuori/ R. Riesner (Hgg.), Emmaus in Judäa. Geschichte - Exegese - Archäologie (BAZ 11), Gießen 2003, 150-208; ders., Genesis 3,15 in der vorlukanischen und johanneischen Tradition, SNTU 29 (2004), 119-178; ders., Once More: Luke-Acts and the Pastoral Epist! es, in: S.W. Son (Hg.), History and Exegesis: New Testament Essays in Honor of Dr. E. Earle Ellis, New York/ London 2006, 239-258. 10 Vgl. T. Seland, Establishment Violence in Philo and Luke: A Study of Non-Conformity to the Torah and Jewish Vigilante Reactions (BIS 15), Leiden 1995; L.W. Hurtado, How on Earth Did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids / Cambridge 2006, 152-178. 11 Vgl. B.J. Capper, Community of Goods in the Early Jerusalem Church, in: W. Haase (Hg.), ANRW II 26/ 2, Berlin/ New York 1995, 1730-1774; R. Riesner, Essener und Urgemeinde in Jerusalem. Neue Quellen und Funde (BAZ 6), Gießen 1998; ders., Essener und Urkirche auf dem Südwesthügel Jerusalems, in: N.C. Schnabel, Laetare Jerusalem, Münster 2006, 200-234. 12 Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II/ 179), Tübingen 2004. 13 Jewish Law in Gentile Churches: Halakhah and the Beginning of Christian Public Ethics, Edinburgh 2000, 49-83. 14 M. Boertien, Nazir (Nasiräer). Die Mischna, Berlin/ New York 1971, 28f.71f.90-95; J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 526-530; J. Neusner, Vow-Taking, the Nazirites, and the Law: DoesJames' Advice to Paul Accord with Halakhah? , in: B. Chilton/ C.A. Evans (Hgg.), James the Just and Christian Origins (NT.S 98), Leiden 1999, 59-82; W. Eckey, Die Apostelgeschichte II, Neukirchen-Vluyn 2000, 485-490. 15 La premiere histoire du christianisme: Les Actes des Apotres (LD 180), Paris/ Genf 1999, 11-42. 43