ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2007
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Dronsch Strecker VogelErinnerung an Jesus im Johannesevangelium
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2007
François Vouga
Vor der für das Johannesevangelium entscheidenden Frage nach der Möglichkeit des Glaubens angesichts der Voraussetzung, dass die Adressaten des Evangeliums nicht mehr die Möglichkeit haben und haben werden, Jesus zu sehen, wird die Aufgabe der Erinnerung an Jesus herausgearbeitet. Es wird die narrative Funktion des Parakleten für die notwendige Vergegenwärtigung Jesu unter der Bedingung seiner Abwesenheit herausgestellt, ebenso wird die narrative Strategie des Evangeliums verdeutlicht, welches die Kontinuität zwischen der Offenbarung des Sohnes und des Zeugnisses seiner Gesandten (Lieblingsjünger und Petrus) herstellt. Dabei wird deutlich, dass dem Heiligen Geist im Johannesevangelium eine grundlegende Funktion zukommt, denn er ermöglicht die aktuelle Annahme des Evangeliums durch das „Sich-Erinnern“ in verschiedenen Vollzügen.
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28 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Das Evangelium des Lieblingsjüngers stellt sich selbst als die Vermittlung einer Offenbarung vor, die nicht nur das Heil und das ewige Leben bringt, sondern auch die Möglichkeit, Heil und ewiges Leben im Glauben zu empfangen. Das ist sogar das ausdrückliche Ziel des Buchs, wie es der Evangelist seinen Adressaten in der 2. Pers. plur. explizit erklärt (Joh 20,31): Diese [Zeichen] sind geschrieben worden, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, und damit ihr das Leben in seinem Namen habt, indem ihr glaubt. Diese Offenbarung ist von den vom Text des Evangeliums direkt angesprochenen Adressaten durch einen zeitlichen Abstand getrennt. Sie muß vergegenwärtigt werden, um für die Leser relevant und gültig zu werden. Die geographische und historische Distanz zwischen der Person Jesu, dem Grund des Evangeliums, und den Adressaten seiner Verkündigung erklärt die Entstehung der gesamten Schriften des Neuen Testaments. Sie sind verfaßt worden, weil die ersten Zeugen abwesend oder gestorben sind (Jakobus, Petrus und Paulus, drei der vier Säulen in Gal 2,1-10, sind fast gleichzeitig am Anfang der 60er Jahre hingerichtet oder verschwunden) und nur noch in der Form der Apostelbriefe und der Evangelien reden können. Das Lukasevangelium benennt das Problem (Lk 1,1-4), aber das Johannesevangelium ist das erste, das es bewußt reflektiert und es zum expliziten Thema des Evangeliums selbst - nicht nur eines konventionellen Prologes - macht. 1. Das hermeneutische Bewußtsein des Johannesevangeliums Die Aufgabe der Vergegenwärtigung wirft nach dem Johannesevangelium zwei verschiedene hermeneutische Fragen auf. 1.1. Die Erinnerung als Möglichkeit des Glaubens Die erste betrifft die Möglichkeit überhaupt, mit dem Fleisch gewordenen Gotteswort gegenwärtig zu werden. Kann ein Mensch glauben, wenn er Jesus nicht gesehen hat und ihn nicht mehr wird sehen können? Die Möglichkeit des Glaubens bildet das zentrale Thema der ersten österlichen Erzählungen und Dialoge (Joh 20,1-31). Der Sohn ist bereits am Kreuz erhöht worden (Joh 3,14; 8,28; 12,32) und er ist nun unterwegs zum Vater (Joh 20,17). Neun Szenen stellen die Schritte einer Kontaktwiederaufnahme vor: • Maria-Magdalena entdeckt das offene Grab (20,1), • Magdalena informiert Petrus und den geliebten Jünger über den Diebstahl (20,2), • Petrus und der geliebte Jünger im Grab (20,3- 10), • Jesus offenbart sich Maria-Magdalena (20,11- 18), • Jesus offenbart sich den zehn Jüngern (20,19- 23), die Osterbotschaft der zehn Jünger an Thomas (20,24-25), • Jesus offenbart sich den zehn Jüngern und Thomas (20,26-29) • Das Evangelium erklärt den Lesern die ihm zugrundeliegende Erzählabsicht, den Glauben zu veranlassen (20,30-31). Der vom Himmel gesandte Gottessohn bleibt oder wird präsent im Glauben, und der Glaube wird vom Auferstandenen und dann von dem Geist, den er auf seine Jünger pustet (20,22-23), gegeben. Die Verheißung des Heils und des ewigen Lebens gilt daher für alle, die glauben werden, selbst wenn sie ihn persönlich nicht gesehen haben (20,29). Diese Szenen sind durch die Reflexion vorbereitet, die in den Abschiedsreden stattgefunden hat (13,1-17,26). Die Erzählungen von Ostern materialisieren die Verheißungen des Sohnes, der zu seinen Jüngern nach seinem Tod zurückkommen wird und ihnen seinen Geist, den Paraklet, senden lassen oder senden wird (14,15-17; 14,25- Zum Thema François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 28 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 29 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium 26; 15,26-27; 16,7-15. Der Paraklet wird die Jünger an alles erinnern, was Jesus ihnen geoffenbart hat. 1.2. Die Erinnerung als Kontinuität des Zeugnisses Die zweite hermeneutische Frage, die mit der Möglichkeit des Glaubens eng verbunden ist, betrifft die irdische Kontinuität des Zeugnisses. Genauso wie Johannes der Täufer sind die Jünger nicht das Licht, das in der Welt gekommen ist und Fleisch wurde, sondern sie zeugen von dem Licht, damit alle durch sie glauben (1,5-8). Der Erhöhte, der unter ihnen am Ostertag erscheint, bestätigt den Auftrag der Abschiedsreden (20,21-23): (21) Er sagte ihnen wiederum: »Euch Friede! Wie der Vater mich gesandt hat, auch ich sende euch«. (22) Und als er dies gesagt hatte, pustete er und sagt zu ihnen: »Nehmet den Heiligen Geist! (23) Denen ihr die Sünden vergeben werdet, werden sie ihnen vergeben, denen ihr nicht vergebt, sind sie nicht vergeben worden«. In sieben Szenen wird die Frage der Kontinuität zwischen der Offenbarung des Sohnes und des Zeugnisses seiner Gesandten wiederaufgenommen (21,1-25). Die beiden Figuren des Petrus und des Lieblingsjüngers sind wiederum miteinander verbunden. Die Rollenverteilung hat aber eine andere Funktion als in den ersten Szenen. Reflektiert wird nicht mehr die Möglichkeit überhaupt des Glaubens, des Verstehens und der Überwindung des Unverständnisses (20,3-10), sondern die historische Kontinuität der Gottesoffenbarung des Sohnes in der Welt wird unter zwei verschiedenen Aspekten erzählerisch legitimiert und gesichert: Petrus wird mit der Aufgabe beauftragt, Symbol der Einheit der Schafe und der Lämmer des erhöhten Sohnes zu werden und zu bleiben (21,15-19), während der Jünger, den Jesus liebte, als die Autorität eingesetzt wird, unter welcher die johanneische Offenbarung ihre literarische Gestalt annimmt und die den Wahrheitsgehalt der Kontinuität ihres Zeugnisses garantiert (21,20- 25). Die beiden Figuren werden nicht einfach nebeneinander gestellt: Petrus, der nach der Fußwaschung und im leeren Grab auf das Verständnis des geliebten Jüngers angewiesen war (13,23-26; 20,3-10), ist von seinem Zeugnis weiterhin abhängig, um mit Verstand handeln zu können (21,7) 1 : • Petrus und die Jünger wollen fischen gehen (21,1-3), • Jesus sendet noch einmal die Jünger (21,4-6a), der geliebte Jünger versteht das Zeichen und Petrus folgt seinem Zeugnis, das ihn zu Jesus führt (21,6b-8), • Jesus offenbart sich den Jüngern, indem er ihnen das Brot und die Fische zu essen gibt (21,9-14), • Jesus gibt Petrus den Auftrag, seine Schafe und seine Lämmer zu weiden und zu hüten (21,15-19), François Vouga Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga geboren 1948 in Neuchâtel; 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986 an der Kirchlichen Hochschule Bethel; Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Gebieten, einzusehen unter: www.kihobethel.de/ lehrende/ vouga.html 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 29 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 30 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema • Jesus stellt Petrus den geliebten Jünger als die Gestalt vor, die dableibt, bis Jesus präsent ist (21,20-23), • Der Erzähler zeugt im Namen der Träger der johanneischen Tradition (»wir«, 21,24, vgl. 1,14.16; 3,11; 4,22; 9,4) von der Wahrhaftigkeit des Zeugnisses des Lieblingsjüngers, der als der Autor des Buches vorgestellt wird (21,24-25). Genauso wie die ersten Osterberichte (20,1- 31), die die Möglichkeit des Glaubens offenbaren, zu einer indirekten Aufforderung an den Leser führen, um zu glauben (20,30-31), münden die zweiten (21,1-25), die die historische Kontinuität der Erinnerung begründen, in eine Beglaubigung des johanneischen Zeugnisses (21,24-25), in der sich das »Ich« des Erzählers auf das »Wir« der Offenbarungstradition und auf den geliebten Jünger beruft, um den Lesern eine zuverlässige Basis für den zukünftigen Erinnerungsprozeß zu bieten. 1.3. Das Argument der apostolischen Tradition Das Buch der Offenbarung, das mit einem Gedicht über die universale Bedeutung der absoluten Singularität der Fleischwerdung des Logos anfängt (Joh 1,1-18), endet logischerweise mit einer Reflexion über die Autorität des hermeneutischen Prozesses der Erinnerung, der die zeitlichen Abstände überbrücken kann. Diese Reflexion ist gleichzeitig nach hinten und nach vorne gerichtet. Sie ist nach hinten gerichtet, indem die Stimme der »Wir«-Gruppe als Träger der Erinnerung die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses bezeugt, das im Buch aufgeschrieben ist (21,24): (24) Dies ist der Jünger, der über dieses zeugt und der dieses schrieb, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist. Der Lieblingsjünger, den die Abschiedsreden, die Passionsgeschichte (19,25-27) und die ersten Osterberichte als das Vorbild des Glaubens und des Verstehens darstellen, ist bekanntlich zur auktorialen Figur des Evangeliums geworden. Dadurch stellt sich das »Ich«, das sich selbst als Erzähler vorstellt, unter seine »apostolische« Autorität. Diese Strategie ist in mehrerer Hinsicht mit der Pseudepigraphie der Paulusbriefe verwandt. Auch die Verfasser des Kolosser- oder des Epheserbriefes stellen sich unter die Autorität des Paulus, um sein theologisches Denken in Form seiner Briefe fortzuführen. Der Unterschied ist jedoch ein doppelter: Die Autorschaft des Lieblingsjüngers, der »über dieses zeugt und dieses schrieb«, ist fiktional: Indem er sich als »Ich« vorstellt, unterscheidet sich der Verfasser von dem geliebten Jünger, den er in der dritten Person bezeichnet. Die Pseudepigraphie argumentiert mit der pragmatischen, impliziten und nicht-gesagten Berufung auf die Identität des Verfassers mit einer Autoritätsfigur: Sie behauptet nicht, im Namen einer Autoritätsfigur schreiben zu wollen oder zu dürfen, sondern sie schreibt unmittelbar unter ihrem Namen. Johannes verfährt anders: er stellt sich als »Ich« vor, das stellvertretend für die »Wir«-Gruppe der Zeugen schreibt und das den Wahrheitsanspruch seines Offenbarungsbuches durch den Verweis auf eine Autorität, die er selbst nicht ist, die aber das Buch durch ihn verfaßt, autorisiert. Ich stelle fest, daß das johanneische »Ich« als der Erfinder des Arguments der apostolischen Tradition betrachtet werden soll, weil es nicht nur behauptet, unter einem apostolischen Namen zu schreiben, sondern sich auf die Autorität eines Apostels argumentativ beruft, um die Wahrhaftigkeit seiner eigenen Erinnerung oder der Erinnerung der Offenbarungstradition, die es vertritt, zu begründen. Die hermeneutische Reflexion des Johannes sucht deswegen die Rückendeckung einer apostolischen Tradition, weil sie auch die Zukunft im Blick hat (21,22): (22) Jesus sagt zu ihm: »Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Du [= Petrus] folge mir nach! « (23) Da verbreitete sich unter den Brüdern das Wort, daß jener Jünger nicht sterbe. Jesus hatte ihm nicht gesagt, daß er nicht sterbe, sondern: »Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? « Die nächstliegende Interpretation des Spruches Jesu ist in der Tat, daß der geliebte Jünger nicht 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 30 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 31 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium sterben würde, bis Jesus kommen sollte. Aber der Erzähler warnt ausdrücklich vor diesem Mißverständnis: Es geht nicht um das Sterben des Jüngers, sondern um sein »Bleiben«. Der terminus ad quem seines Bleibens ist das Kommen Jesu, und das Kommen Jesu bezeichnet im Buch der Offenbarung die Präsenz des Sohnes bei seinen Jüngern (14,18-24). 2 Der Sinn scheint folglich klar zu sein: Der geliebte Jünger, der das Verständnis der Offenbarung verkörpert, soll in der Welt bleiben, bis die Erinnerung, die der Geist bewirken soll, dem Buch der Offenbarung seine Form gegeben hat. 3 Wenn die letzte Aussage Jesu diesen hermeneutischen Sinn hat, dann kann das »Ich« als der Erfinder des Arguments der apostolischen Tradition betrachtet werden, weil es den Text des Evangelium als das Buch gewordene Zeugnis des Lieblingsjüngers vorstellt. Wahr ist nicht das Buch, sondern das Zeugnis: Das Zeugnis ist wahr, weil die durch die Figur des geliebten Jüngers autorisierte Offenbarungstradition auf die absolute Singularität des fleischgewordenen Logos verweist, an der der Geist erinnern wird. 2. Der Heilige Geist und die Gegenwart des Evangeliums als »Sich-Erinnern« Die irdische Vergegenwärtigung der Offenbarung geschieht produktionsorientiert im Zeugnis der Offenbarungstradition der »Wir-Gruppe«, die durch das »Ich« des Erzählers vertreten ist (1,14.16; 3,11; 4,22; 9,4; 21,24). Diese Wir-Gruppe stellt sich sowohl als die bekennende Gruppe des Mensch gewordenen Logos (1,14.16) als auch die Stimme des Offenbarers dar, die im Buch und in den Selbsterläuterungen der Offenbarungstradition aktualisiert wird (3,11; 4,22; 9,4; 21,24). Die Vermittlung als aktuelle Annahme der Offenbarung geschieht durch das »Sich-Erinnern« der Jünger, das durch den Geist ermöglicht wird. 2.1. »Sich erinnern« als Vergegenwärtigung der Offenbarung »Sich erinnern« (2,17.22; 12,16) und »erinnern« (14,26) ist ein terminus technicus der johanneischen Hermeneutik, der auf eine diskontinuierliche Kontinuität der Jünger mit der Offenbarung des hinabgestiegenen Gottessohnes verweist. Der Gegenstand der Erinnerung ist die Geschichte des irdischen Jesus (12,16) und die Worte des Offenbarers (2,17.22; »was er gesagt hat«, 14,26). Das Subjekt vom »Erinnern« ist der Paraklet, der Heilige Geist (14,26), und die Subjekte des »Sich-Erinnern« sind die Jünger (2,17.22; 12,16). Dieses »Sich-Erinnern« der Jünger an die Worte und Taten Jesu wird aber dadurch problematisiert, daß die Erinnerung erst dann möglich sein wird, wenn Jesus von den Toten auferstanden sein wird (2,22), wenn er verherrlicht sein wird (12,18) und wenn der »Paraklet« sie belehren und daran erinnern wird (14,26). Daraus ist zu schließen, daß das johanneische »Sich-Erinnern« keine bloße Gedächtnisaufgabe ist, sondern daß es ein neues Verständnis der Vergangenheit impliziert. Die hermeneutische Reflexion der johanneischen Erinnerung ist in dieser Hinsicht nicht weit entfernt von der paulinischen Erkenntnis (2Kor 5,14-17): (14) Denn die Liebe Christi beherrscht uns, wenn wir dies urteilen, daß einer für alle starb; also starben alle; (15) und er starb für alle, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde. (16) So daß wir von jetzt an niemand nach dem Fleisch kennen; wenn wir Christus nach dem Fleisch gekannt haben, aber wir kennen ihn nicht mehr so. (17) So daß, wenn jemand in Christus ist, er neue Schöpfung ist: das Alte ist vergangen, siehe Neues ist entstanden. In der Sprache der johanneischen Offenbarungstradition formuliert: Das richtige Verständnis der »Daraus ist zu schließen, daß das johanneische ›Sich- Erinnern‹ keine bloße Gedächtnisaufgabe ist, sondern daß es ein neues Verständnis der Vergangenheit impliziert.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 31 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 32 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Geschichte des irdischen Jesus und der Worte des Offenbarers wird erst nach seiner Auferstehung, durch seine Verherrlichung und durch die Lehre des Parakleten möglich. 2.2. »Sich erinnern« als Neudeutung »von oben her«: Joh 2,13-25 Die Erzählung stellt die Reinigung des Tempels so dar, daß sie nicht als eine Reform der Institution des Tempels interpretiert wird (so Mk 11,15-18: Der Tempel soll ein Gebetshaus für alle Völker werden), sondern als eine Selbstoffenbarung Jesu als Gottessohn (»das Haus meines Vaters«). Diese Offenbarung provoziert eine Diskussion mit den »Juden«, die ein Zeichen als Legitimation verlangen. Als Zeichen gibt Jesus das Tempelwort: »Zerstört diesen Tempel, und ich werde ihn in drei Tagen auferwecken« (2,19). Der Begriff des »Zeichens« warnt den Leser vor der Doppeldeutigkeit des Wortes. »Zeichen« sind weltimmanente Handlungen und ebenso Aussagen, die auf die Transzendenz der absoluten Singularität der Offenbarung Gottes hinweisen. Sie können »von unten her«, innerweltlich, zweidimensional auf Menschenhöhe mißverstanden werden. Oder ihr Sinn eröffnet sich denen, die »von oben her neu geboren sind« und die sie als Offenbarung der dritten Dimension, die »oben« von »unten«, »Gott« und »Welt« unterscheidet, verstehen. Johannes bietet drei Auslegungen des Tempelwortes: • Die »Juden« verstehen deswegen nicht, weil sie das Tempelwort im eigentlichen Sinne, »von unten her« zweidimensional verstanden haben: »dieser Tempel«meint den Tempel in Jerusalem. Die johanneische Darstellung enthält insofern ironische Züge, als die Zerstörung des Tempels vorausgesetzt ist: Nicht die Ankündigung der Zerstörung, sondern nur die Verheißung des Wiederaufbaus des Tempels erregt Anstoß. • Der Erzähler erklärt aber ausdrücklich, daß der Tempel im übertragenen Sinn als Bezeichnung des Leibes Jesu zu verstehen ist (2,21). Damit verweist er auf eine zweite Interpretation, die an das Verständnis der synoptischen Evangelien erinnert: Die Zerstörung und der Wiederaufbau »dieses Tempels« meint den Tod und die Auferstehung Jesu (Mk 14,58). • Diese metaphorische Interpretation des Tempelwortes als Ankündigung des Todes und der Auferstehung Jesu bleibt aber zweidimensional und innerweltlich: Denn der Todes und die Auferstehung Jesu sind nur als das irdische Zeichen der himmlischen Herkunft des Sohnes, den der Vater in die Welt gesandt hat und der Gott als seinen Vater bezeichnet. Die wahre Bedeutung des Zeichens, das der Glaube »von oben her« versteht, ist die Offenbarung des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes. Sie ist deswegen erst durch eine Erinnerung möglich, die die Auferstehung Jesu von den Toten und seine Rückkehr zum Vater voraussetzt, weil der Sohn nicht aus dieser Welt ist: Er ist der Logos Gottes, der Fleisch wurde, der zu seinem himmlischen Ursprung zurückkehrt. Als solcher ist er der wahre Tempel (2,21). Das wahre, himmlische Passah ist die Erhöhung des von Gott gegebenen Lammes (2,13.23; 6,4; 11,55; 12,1; 13,1; 18,28.39; 19,14), und der Gottesdienst in Geist und in Wahrheit ist der Glaube an den Gottessohn (4,23). 2.3. »Sich erinnern« als neue Auslegung der Schrift: Joh 12,12-19 Mit der Verwendung von Ps 118,25-26 und mit dem Motiv der Akklamation des Königs Israels stellt die Erzählung den Einzug Jesu in Jerusalem als den Auftritt des Gesandten Gottes und des Messias dar. Das Zitat von Jes 40,9 und Sach 9,9 verstärkt die eschatologische Bedeutung dieser Mitteilung, die die Botschaft der synoptischen Evangelien wiederholt (Mt 21,1-11 / / Mk 11,1-11 / / Lk 19,29-38). Das Zitat der Propheten ist nicht neu. Johannes hat es in der matthäischen Fassung der Szene gefunden (Mt 21,5). Dort ist es aber als Erfüllungszitat eingeführt: »Dies geschah, damit erfüllt werde, was vom Propheten wurde, der sagte: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir ...« (Mt 21,5). Johannes schließt sich zunächst daran an, indem das Zitat die Konformität der Erzählung mit dem, was geschrieben steht, zeigen soll: (14) Jesus fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie es geschrieben steht: (15) »Fürchte dich nicht, Tochter Zion, siehe, dein König kommt, sitzend auf dem Füllen einer Eselin! « 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 32 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 33 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium Der messianische Sinn der Szene und ihrer prophetischen Deutung ist klar, bis der Erzähler erklärt, daß die Jünger das Zitat nicht verstanden haben. Das Unverständnis der Jünger offenbart den zunächst mißverständlichen Charakter der Schrift. Der Erzähler ist allerdings präziser (12,16): (16) Dies erkannten seine Jünger nicht, zunächst, aber als Jesus verherrlicht wurde, dann erinnerten sie sich, daß dies über ihn geschrieben steht, und daß sie ihm das getan hatten. Johannes setzt zwar das hermeneutische Prinzip voraus, das dem matthäischen Erfüllungszitat zugrunde lag: Die Schrift findet ihren Sinn in Christus und muß von Ostern her gelesen werden. Aber er reflektiert explizit, was bei Matthäus implizit war, und führt in die hermeneutische Diskussion die Dreidimensionalität seines Offenbarungsverständnisses ein. • Die Doppeldeutigkeit der Schrift hängt nicht am Geschriebenen, sondern an der Möglichkeit zu erkennen, was geschrieben steht. Das sachgemäße Verständnis der Schrift verlangt eine Erinnerung, die mit der Zeit und dem Ort, von woher sie gelesen wird, zusammenhängt. • Gegenübergestellt werden zwei Zeiten: zunächst konnten die Jünger den Sinn nicht begreifen, aber später, dann erinnerten sie sich. Das Offenbarungsereignis der Verherrlichung Jesu gibt den notwendigen Schlüssel, um den Zugang zu der Aussage der Schrift zu finden. »Verherrlicht werden« ist ein terminus technicus der johanneischen Christologie und Theologie, der den Tod Jesu als Erhöhung und als Rückkehr des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes zum Vater als eine doppelte Offenbarung des Vaters und des Sohnes interpretiert (7,39; 8,54; 11,4; 12,16.23.28; 13,31.32; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1.4.5.10, vgl. 21,19). • Ich stelle fest, daß die johanneische Beschreibung der hermeneutischen Frage zwei Aufgaben unterscheidet und miteinander verknüpft: • Die erste Aufgabe betrifft das Verständnis des Lebens Jesu: Dann erinnerten sie sich, ... daß sie ihm das getan hatten. Die Geschichte des irdischen Jesus ist insofern mißverständlich, weil sowohl die »Juden« als auch die Jünger und die synoptischen Evangelien sie zweidimensional als ein innerweltliches Ereignis verstehen. Die Verherrlichung Jesu, die seine Erhöhung als Offenbarung seiner göttlichen Herkunft und Identität interpretiert (8,28), hebt insofern das Mißverständnis auf, als sie ihn als den himmlischen Erlöser kennzeichnet. In diesem Zusammenhang ist die Erinnerung ein Prozeß der Wiederentdeckung, die die Geschichte des historischen Jesus als Geschichte des Herabstiegs des himmlischen Gottessohnes in die Welt und der Rückkehr der eschatologischen Erlöser zum Vater erkennt und versteht. • Die zweite Aufgabe besteht in der richtigen Auslegung der alttestamentlichen Schrift: Dann erinnerten sie sich, daß dies über ihn geschrieben steht... Erst im Augenblick der Verherrlichung Jesu, in dem die ewige Distanz zwischen Himmel und Welt offenbar wird, ist den Jüngern die Möglichkeit gegeben, sich zu »erinnern«, daß diese Stelle der Propheten auf ihn als auf den Gottessohn, der zum Vater zurückkehrt, Bezug nimmt (12,16). Der Bedeutung der Erinnerung überrascht hier: »Sich erinnern« bedeutet nicht, daß die Jünger wiederfinden, was sie vergessen hatten, und bereits Bekanntes in ihrem Gedächtnis reaktivieren. Die Erinnerung ist vielmehr eine kreative Erinnerung. Sie ist aber kreativ, weil sie durch eine Offenbarung, die »von oben her kommt« gegeben wird, und weil sie die Bedeutung der Schrift, die vertraut war, »von oben her« neu entdecken und erkennen lässt. Zusammengefaßt: Die Erinnerung ist deswegen Vergegenwärtigung des Wortes des Offenbarers und die sachgemäße Erkenntnis des Glaubens, weil das »Sich-Erinnern« den zeitlichen Abstand zwischen der Fleischwerdung des Gotteswortes und den Jüngern von zweiter Hand überbrückt und weil sie die eschatologische Distanz zwischen dem himmlischen Gottessohn und der Welt offenbart. »Die Erinnerung ist vielmehr eine kreative Erinnerung.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 33 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 34 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema 2.4. »Sich erinnern« als Gabe des Parakleten: Joh 14,25-26 Wenn das Verständnis der absoluten Singularität der Offenbarung in der Welt durch die Erinnerung gegeben wird, dann stellt sich die Frage der Möglichkeit der Erinnerung. Johannes macht diese Frage zum zentralen Thema der ersten Abschiedsreden (13,1-14,31). Die hermeneutische Antwort ergibt sich konsequent aus der Dreidimensionalität der Offenbarungstheologie: Die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit mit dem Wort des Erlösers, das durch die Erinnerung verwirklicht wird, ist weder durch eine Vermittlung der Zeugen noch durch den Glauben, den die Erinnerung ermöglicht, gegeben, sondern durch den Heiligen Geist, den Johannes den »anderen Parakleten«, den anderen Herbeigerufenen, nennt (14,15-17 und 25-26): (15) Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. (16) und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Parakleten geben, damit er mit euch sei in Ewigkeit. - (17) den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr kennt ihn, weil er bei euch bleibt und er in euch sein wird. (25) Dies habe ich euch gesagt, während ich bei euch blieb. (26) Der Paraklet, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Der Geist wird von Anfang an als »der andere Paraklet« vorgestellt (14,16). Die Definition des Geistes als der andere Paraklet setzt als nicht-ausgesprochene Aussage voraus, daß Jesus der erste war. Der Heilige Geist und der herabgestiegene Gottessohn werden damit als parallele Figuren beschrieben. Dem entspricht, daß der Heilige Geist parallel zum Sohn vom Vater zu den Jüngern gesandt wird (14,16 und 26), und daß das Verhältnis des Parakleten zu den Jüngern das gleiche ist wie das Verhältnis des Erlösers zu den Seinen, die er in die Wahrheit führt. Die Aufgabe, die der Geist erfüllen wird, ist nämlich eine doppelte: • Er wird die Jünger alles lehren, wie Jesus es in der Welt getan hat (6,59; 7,14.28.35; 8,20.28, vgl. 7,16.17; 18,19). • Seine Lehre besteht präzise darin, daß er die Jünger an alles, was Jesus ihnen gesagt hat, erinnern wird. Die Erinnerung ist aber weder als eine Auffrischung des Gedächtnisses noch als die Aufrechterhaltung einer zeitlichen Kontinuität zu verstehen: Auch im Bereich der Pneumatologie denkt Johannes dreidimensional: Der Paraklet wird die Offenbarung des Sohnes, der das ewige Leben gibt, als das Kommen des Logos in die Welt vergegenwärtigen. Die Tätigkeit des Parakleten besteht darin, daß er den Jüngern die Gleichzeitigkeit mit dem Wort des Erlösers, den Glauben und das ewige Leben vermitteln wird. Die Erinnerung kann deswegen Vergegenwärtigung des Wortes des Offenbarers und Möglichkeit des Glaubens sein, weil sie Gabe Gottes ist, die vom Parakleten, vom Geist der Wahrheit, den der Vater gesandt hat, geschenkt wird. 4 3. Der Paraklet als Subjekt der Erinnerung In der johanneischen Sprache bezeichnet der Geist das Leben (19,30) und das Verständnis Jesu (11,33; 13,21), aber auch die göttliche Bestimmung der neuen Existenz, die in der neuen Geburt von oben gegeben ist und lebendig macht (3,5.6.8.34; 4,23.24; 6,63), und den Heiligen Geist, der vom Himmel her herunterkommt, um mit Jesus zu bleiben (1,32.33), und den die Glaubenden empfangen werden, wenn er erhöht werden wird (7,39; 14,17; 15,26; 16,13). Die beiden letzten Bedeutungen müssen deswegen unterschieden werden, weil der Heilige Geist erst dann gesandt werden kann, wenn Jesus verherrlicht (7,39) und zum Vater zurückgekehrt ist »Der Paraklet ist der Anwalt, der Fürsprecher oder der Helfer, den der Vater mit der hermeneutischen Aufgabe der Erinnerung beauftragt.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 34 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 35 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium (16,7): Nach der Erhöhung Jesu bekommt der Geist, der »von oben her neu geboren sein läßt« und das ewige Leben von Gott her verleiht, eine neue Funktion, die mit der Abwesenheit Jesu von seinen Jüngern verbunden ist, die in den Abschiedsreden angekündigt (7,39; 14,17.26; 15,26; 16,13) und an Ostern aktuell wird (20,22). Obwohl Johannes den Begriff des Heiligen Geistes kennt (15,26; 20,22), um den Geist der Wahrheit zu bezeichnen, der bei den Jüngern präsent bleiben wird (14,17; 16,13), verwendet er in den Abschiedsreden quasi als ein Äquivalent die Bezeichnung des »Parakleten« (14,16.26; 15,26; 16,7). Das Substantiv, das sich in 1Joh 2,1 auf Jesus selbst als den Fürsprecher der Gläubigen beim Vater bezieht, ist im klassisch-griechischen Sprachgebrauch ein juristischer Begriff. Es ist von einem Verb abgeleitet, das ein umfangreiches semantisches Feld deckt: einladen, herbeirufen, zur Hilfe rufen, aufrufen, auffordern, anrufen, bitten, ersuchen, ermuntern, zusprechen, ermahnen, trösten. Der Paraklet ist der Anwalt, der Fürsprecher oder der Helfer, den der Vater mit der hermeneutischen Aufgabe der Erinnerung beauftragt. 3.1. Das Zeitalter des Geistes als Zeit der Erinnerung Das trinitarische Modell der johanneischen Offenbarung ist der Ausgangspunkt der Periodisierung der Weltgeschichte in die drei Reiche des Vaters, des Sohnes und des Geistes, die der süditalienische Apokalyptiker Joachim von Fiora (ca. 1130-1202) in das europäische 12. Jh. und in die philosophischen und politischen Vorstellungen des Abendlandes eingeführt hat: Die Zeit des Vaters ist durch die Zeit des Sohnes, die Zeit der institutionellen Kirche, abgelöst worden, und die Zeit des Parakleten hebt nun die beiden auf. Voraussetzung dieses Denkmodells ist die Verbindung der johanneischen Pneumatologie mit den tausend Jahren der Apokalypse (Offb 20,1-6). Seine Rezeptionsgeschichte setzt sich bis zur Geschichtsphilosophie von G.W.F. Hegel und bis ins 20. Jh. fort. 5 Sowohl die trinitarische Zeiteinteilung der drei Epochen, die sich ablösen, als auch das Bewußtsein, in einer letzten Zeit des Geistes zu leben, die angefangen hat und die Vergangenheit überholt, sind der johanneischen Hermeneutik nicht fremd. Die Fleischwerdung des Logos war zwar der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6), an die der Paraklet die Jünger erinnert, aber der Rückbezug auf die vergangene Zeit des Sohnes schließt eine Weiterentwicklung zur Wahrheit hin nicht aus (16,12-13): (12) Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. (13) Wenn er kommen wird, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit hinführen. Denn er redet nicht von sich aus, sondern er wird euch verkündigen, was kommt. Die Verheißung, der Paraklet werde in die ganze Wahrheit hineinführen, die jetzt noch nicht verständlich sein kann, und die er den Jüngern in der für sie vorbereiteten Zukunft offenbaren wird, setzt eine prospektive Kraft der Erinnerung voraus. Der Heilige Geist wird nicht nur an die Vergangenheit und an die Jesusgeschichte erinnern, sondern die Erinnerung des Parakleten ist die Offenbarung einer Zeit, die für die Jünger noch nicht denkbar ist. In der Reflexion der johanneischen Offenbarungstradition zeigt sich wieder eine fiktionale Dimension, in der sich die Erfahrung der Erinnerung im hermeneutischen Rückblick widerspiegelt. Der Erzähler weiß, daß sich die Zeiten geändert haben und daß die Geschichte des johanneischen Zeugnisses eine Kontinuität bildet, die sich nur auf dem Hintergrund der Diskontinuität entwickeln konnte. Diese Spannung zwischen der Identität der Offenbarung mit sich selbst (das Zeugnis ist dasselbe geblieben) und den historischen Veränderungen (das Zeugnis kann aber nicht mehr das gleiche geblieben sein) wird im dialektischen Verhältnis des Parakleten zum Sohn thematisiert. • Zum einen hat der Paraklet ein einziges Thema, das mit Variationen und unter verschiedenen Formen wiederholt wird: Der Paraklet wird die Jünger erinnern, was Jesus ihnen gesagt hat (14,26), er wird auch von ihm zeugen (15,26), ihn verherrlichen und den Inhalt seiner Verkündigung von Jesus nehmen (16,14-15): (14) Er wird mich verherrlichen, weil er aus dem Meinigen nehmen wird und euch verkündigen. (15) Alles, was der Vater hat, ist mein. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 35 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 36 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Deshalb sagte ich euch, daß er aus dem Meinigen nimmt und euch verkündigen wird. • Zum anderen ist der Paraklet Jesus dadurch verbunden, daß er entweder wie der Sohn aufgrund der Bitte des Sohnes (14,16) oder im Namen des Sohnes (14,26) vom Vater oder direkt vom Sohn selbst gesandt worden ist (15,26; 16,7; 20,22): Er verherrlicht deshalb Jesus, weil er von der Einheit des Vaters und des Sohnes herkommt, weil er von sich aus nicht redet (16,13) und weil er alles, was er sagt, vom Sohn nimmt (16,14-15). Der Paraklet hat seinen Ursprung und sein Ziel in der Einheit des Vaters und des Sohnes, die den Jüngern im Laufe der Weltgeschichte extraterritorial geoffenbart wird. Entsprechend besteht die Erinnerung darin, daß Jesus den Parakleten, den Heiligen Geist vom Vater hat senden lassen oder selbst gesandt hat, damit er bei seinen Jüngern in der sich verändernden Geschichte durch die Erinnerung, die er ermöglicht, gegenwärtig bleibt. 3.2. Die Erinnerung als Gericht Weil die Erinnerung, die der Paraklet ermöglicht, die Offenbarung des Sohnes vergegenwärtigt, nimmt sie die beiden Formen des Evangeliums an: nämlich das Leben geben und das Gericht bringen. Die ungläubige Welt, die den himmlischen Gottessohn nicht empfangen hat (vgl. Joh 15,18- 16,4a ) und weder sieht noch glaubt, wird den Parakleten auch nicht empfangen können (Joh 14,17 ). Der Paraklet wird deshalb das Werk des Offenbarers insofern aktualisieren, als er die Sünde der Welt, ihren Unglauben und ihre Ungerechtigkeit offenbart, da sie die Wahrheit und das Leben, das der vom Himmel hinabgestiegene Gesandte bringt, nicht anerkannt hat: (8) Und, wenn er kommt, wird er die Welt überführen in bezug auf die Sünde - und in bezug auf die Gerechtigkeit - und in bezug auf das Gericht. - (9) In bezug auf die Sünde, weil sie an mich nicht glauben. - (10) In bezug auf die Gerechtigkeit, weil ich zum Vater hingehe und ihr werdet mich nicht mehr sehen. - (11) In bezug auf das Gericht, weil der Herrscher dieser Welt gerichtet ist. Die Erinnerung des Parakleten offenbart in der Weltgeschichte, daß das, was die Welt für das Leben hält, das Leben nicht ist. 3.4. Die Erinnerung als (Johannes-)Evangelium Wer die Stimme des Vaters hören will, höre die Stimme des Sohnes, den er aus seiner Liebe in die Welt gesandt hat, und wer sich an seine Worte erinnern will, die der Paraklet vergegenwärtigt, lese das Johannesevangelium! Die Wir-Gruppe, die in der Dichtung des ersten Teils des Evangeliums bekennt, die Herrlichkeit des fleischgewordenen Logos Gottes gesehen zu haben (1,16) und alles von ihrer Fülle bekommen zu haben (1,18), erzählt im zweiten Teil (Joh 1,19-21,24), was sie mit Jesus »von oben her« weiß und gesehen hat (3,11; 4,22), obwohl die Welt es nicht erkennen kann. Sie arbeitet mit ihm, solange das Licht in die Finsternis leuchtet (9,4), und bezeugt für den Leser, daß das Zeugnis des Lieblingsjüngers, aufgrund dessen sie ihn auffordert, zu glauben (20,30-31), um das Leben zu haben, wahr ist (21,24). Literarisch setzt das Evangelium die Verheißung um, die mit der Figur des Parakleten und dem Verweis auf den geliebten Jünger (21,24) gegeben ist. (Johannes-)Evangelium, Paraklet und Leser bilden ein System der paradoxen Kommunikation, 6 das im Evangelium selbst explizit und hermeneutisch reflektiert ist: Das Evangelium des geliebten Jüngers und der Wir-Gruppe kann deshalb das wahre Zeugnis geworden sein, weil die bekennenden Stimmen, die die Herrlichkeit des Logos Gottes sahen (1,16) und die den Text des Evangeliums unterschrieben haben (21,24), vom Paraklet, den ihnen der Vater und der Sohn gesandt haben, in die ganze Wahrheit hingeführt worden sind (16,13). Das Evangelium ist aber kein toter Buchstabe, denn für den Leser gilt die Verheißung des Parakleten, die die schriftliche Erinnerung des (Johannes-)Evangeliums in die lebendige Erinnerung der Vergegenwärtigung des Logos Gottes verwandeln wird (16,14-15). Die johanneische Inspirationslehre des Parakleten ist eine doppelte: Produktionsorientiert ist sie Inspiration des Erinnert-Seins im Evangelium, rezeptionsorientiert ist sie Inspiration des Sich-Erinnerns des Lesers. Daraus folgt, daß die johanneische Erinnerung nicht als ein innerweltlicher Vorgang des konservativen und kreativen Ge- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 36 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 37 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium dächtnisses mißverstanden werden darf, sondern als eine Gabe des Geistes, der den Menschen von oben her neu geboren sein lässt, gedacht werden muß. Durch die Erinnerung, die der Paraklet allein ermöglicht, weil er der Geist der Wahrheit ist, den der Vater gibt und den die Welt nicht erkennen kann, werden alle Menschen zum Vater erhöht (12,32). Die Freiheit der Jünger, die von oben her neu geboren sind, ist Freiheit von dieser Welt - und deshalb auch Freiheit von sich selbst -, denn die sind zwar noch vorläufig in dieser Welt, aber nicht mehr von dieser Welt (17,9-19). Als Buch der Offenbarung gibt es der Präsenz des herabgestiegenen Gottessohnes in der Welt die Form einer hermeneutischen Erinnerung an, die ihn bei seinen Jüngern vergegenwärtigt und ihre Einheit mit dem Vater und dem Sohn vor der Welt bezeugt (13,24-25). So ist die johanneische Erinnerung keine Rekonstruktion einer vergangenen Wirklichkeit. Als einziges Lehramt hat sie die entscheidende Funktion, die Torheit der Worte Jesu in der christlichen Gemeinde zu aktualisieren und die Sache Gottes in der Welt zu vertreten: die Menschen in Kinder, die vom Vater gezeugt und geliebt sind, zu verwandeln. 7 l Anmerkungen 1 Das literargeschichtliche und hermeneutische Verhältnis dieser sieben Szenen (21,1-25) zu den neun ersten (20,1-31) ist parallel zum Verhältnis der zweiten Abschiedsreden (15,1-16,33) zu den ersten (13,1- 14,31): Die gleichen Themen werden unter einem neuen Aspekt wiederaufgenommen. Die Hypothese, die A. Loisy, Le quatrième évangile, Deuxième édition refondue, Paris 1921, 514, exemplarisch vertritt und die das Kapitel 21 für »un supplément ajouté, par lequel est dérangée l’économie de l’oeuvre« hält, setzt einen logischen Bruch zwischen der Entstehungsgeschichte der Abschiedsreden und derjenige der Oster-Erzählungen voraus. 2 Ausführliche exegetische Diskussion bei: R. Fabris, Giovanni, Rom 1992, 1087-1099. 3 H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 791. L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 396, ist noch konsequenter: Die Erklärung der Wir-Gruppe (21,24) gehört nicht zum Buchschluss (21,25), sondern schließt sich unmittelbar an den Dialog mit Petrus an: Jesus hat nicht gemeint, daß der geliebte Jünger nicht sterben, sondern daß er im Buch Zeugnis ablegen würde. 4 Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung des trinitarischen Denkmodells des Johannesevangeliums s. P.-A. Stucki / F. Vouga, La trinité au musée? , EThR 61 (1986), 195-212; J. Becker, Johanneisches Christentum. Seine Geschichte und Theologie im Überblick, Tübingen 2004, 131-135. Zum Parakleten im Rahmen der johanneischen Christologie s. immer noch G. Bornkamm, Der Paraklet im Johannes-Evangelium, in: Glauben und Geschichte I, Gesammelte Aufsätze III (BevTh 48), München 1968, 68-89. 5 G. Bornkamm, Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte, in: Glauben und Geschichte I, Gesammelte Aufsätze III (BevTh 48), München 1968, 90-103. 6 G. Bateson, Steps to an Ecology of Mind I / II, New York 1971 / 1972. 7 Vgl. P. Ricca, Evangelo di Giovanni, a cura di Gabriella Caramore, Uomini et Profeti 15, Brescia 2005, 279- 280. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 37 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100%
