eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 10/20

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2007
1020 Dronsch Strecker Vogel

Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann, stw 1557, Frankfurt a.M. 2002, S. 418; ISBN: 3518291572; Preis: 14,00 €

121
2007
Peter Busch
znt10200073
ZNT 20 (10. Jg. 2007) 73 Elena Esposito Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann, stw 1557, Frankfurt a.M. 2002, S. 418; ISBN: 3518291572; Preis: 14,00 € »Täglich kommen 3,5 Millionen Bits neuer Information in der Library of Congress in Washington an und werden in die ungeheuren Speicher des elektronischen Gedächtnisses eingespeist. Das Wort Gedächtnis hat jetzt schon einen ganz anderen Sinn. ... Meiner Ansicht nach verändern sich durch die Multimedialisierung der Welt die Grundsätze der Schrift, des Empfangs der Schrift und damit der Gebrauch der Literatur und die Vorstellungskraft.« 1 George Steiners Eindruck ist symptomatisch - mit der Potenzierung elektronischer Speichermöglichkeiten bekommt die Bedeutung des Gedächtnisses zunehmend »einen ganz anderen Sinn«. Zwar war mit der Reflexion des Erinnerns als einer grundlegenden kulturellen Tätigkeit des Menschen von Anfang an das Nachdenken über die Bedeutung des Vergessens verbunden. Es gibt kein Erinnern ohne Vergessen, wie es kein Vergessen ohne Erinnern gibt. Das Erinnerte lebt vom Vergessenen. Das gilt auch für die kollektiven Gedächtnisse unterschiedlicher Kulturen und Zeiten. Das Stichwort ›kulturelles Gedächtnis‹ und seine Geschichtlichkeit sind längst Teil unserer medialen Alltagskultur geworden. Jedoch ist die Frage zunehmend in das Interesse kulturwissenschaftlicher Forschung gerückt, wie sich das Gedächtnis mit dem geschichtlichen Wandel seiner Speichermedien und Archive ändert. Steiners Interviewäußerung ist ein Hinweis darauf, dass unser kollektives Gedächtnis Bedingungen unterliegt, die sich in rapiden Umbildungsprozessen befinden. Insofern ist die Frage nach der Materialität der Repräsentationssysteme des Vergangenen hochaktuell. Die Voraussetzung, dass Vergangenheit nicht sprachunabhängig zu erfassen ist, erfordert die Konsequenz, auch nach der Geschichtlichkeit ihrer Repräsentations-, Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten zu fragen. Der italienischen Soziologin Elena Esposito geht es um den Zusammenhang von Erinnern und Vergessen im Verhältnis zur Aufbewahrungs- und Kanonisierungspraxis unterschiedlicher Gesellschaften. Sie geht von der Beobachtung aus, dass sich von archaischen Gesellschaften bis heute eine grundlegende Veränderung der Relationen zwischen Gedächtnis, Vergangenheit und Gegenwart vollzogen habe. Zwar spielt einerseits z.B. für antike Gesellschaften das Gedächtnis eine grundlegende Rolle, andererseits war ihnen eine Vergangenheit in modernem Sinn gar nicht vorstellbar sie setzten sich mit ihrer Gegenwart in einer Weise auseinander, die von der unseren grundlegend unterschieden ist. Für Esposito besteht die Problematik des Gedächtnisses jedoch nicht in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, »sondern in seinem Verhältnis zur Gegenwart; denn nur in der Gegenwart kann man sich erinnern oder vergessen.« (7). In archaischen und antiken Gesellschaften stellte das Gedächtnis »diejenige Instanz dar, die dem Kosmos eine Ordnung gab und damit dem Handeln einen Sinn verlieh; es regelte das Verhältnis zwischen Kontingenz und Notwendigkeit, zwischen dem Veränderbaren und dem Ewigen, zwischen den begrenzten und ungeordneten menschlichen Angelegenheiten und den letzten Dingen der Welt. In dieser Hinsicht waren temporale Bezüge von untergeordneter Bedeutung: das Gedächtnis war Erinnerung, aber auch Vorwegnahme, Wiederbelebung der Vergangenheit, aber auch Vergessen und vorausdeutende Darstellung der Zukunft - es war vor allem die Bestätigung und Herstellung einer allgemeinen Ordnung, die von einem gegebenen Zeitpunkt und Zusammenhang ausging« (8). Esposito beginnt ihren Gedankengang mit folgender Überlegung: »Die Beschäftigung mit dem Gedächtnis entspricht nicht der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Man erinnert nicht, was gewesen ist, sondern liefert lediglich eine Rekonstruktion dessen, was man in der Vergangenheit - bereits selektiv - beobachtet hatte; nur das also, was man vor dem Hintergrund all dessen, was man vergessen hat, erinnert. Wer erinnert, hat mit anderen Worten nicht mit der Welt zu tun, sondern nur mit sich selbst und den Bedingungen seines eigenen Seins; und die Erinnerung vollzieht sich in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit« (12). Vergessen und Erinnern sind nicht dem eigenen Willen unterworfen. Was ich vergessen habe, kann ich nicht erinnern. Was sich mir als unauslöschliche Erinnerung eingebrannt hat, kann ich nicht willentlich vergessen. Das Ich ist nicht Souverän seines Gedächtnisses. Das kann man zunächst am individuellen Gedächtnis verdeutlichen: Ich erinnere nicht alles. Ich erinnere nicht das Gleichmaß der Linearität einer abgelaufenen Zeit, sondern Einzigartiges, Hervorgehobenes, Unvergleichliches - und all das konstituiert meine jetzige Identität. Mein Ich basiert auf einer solchen - narrativ verfassten - Art von Geschichte. Sie ist unverwechselbar und nicht austauschbar. Und - sie kann Erinnerungsstücke zu Hilfe nehmen: Kalender, Tagebücher, alte Briefe, Bilder. In analoger Weise verlagern Gesellschaften die Kapazitäten ihres Erinnerns nach außen, in die Medien ihres sozialen Gedächtnisses (Archive, Datenbanken, Filme etc). Dabei ist jedoch systematisch die Unterschiedenheit zwischen Individuum und Gesellschaft zu beachten. Esposito, die von der Systematik Niklas Luhmanns her denkt, geht hier von einer strikten Trennung aus; sie fokussiert soziologische Forschung nicht auf Personen, sondern auf Kommunikationen. 2 Mit dem Prozess, den Esposito historisch nachzeichnet, kann immer mehr erinnert und immer mehr vergessen werden. Vergessenes wird medial, also unter Zuhilfenahme des sozialen Gedächtnisses, erinnert. Weil im Verlauf dieses Prozesses immer mehr vergessen wird, kann immer mehr erinnert werden (man lernt nicht mehr auswendig, was man nachschlagen oder -googlen kann). Buchreport 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 73 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 74 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Buchreport Mit der Verlagerung des Erinnerns in das soziale Gedächtnis wandelt sich auch die Struktur des individuellen Gedächtnisses; sie wird komplexer (der Index nimmt zu) und ärmer (die gewussten Inhalte nehmen ab). Entsprechend lautet eine der zentralen Thesen dieser Arbeit, »dass das Gedächtnis der Gesellschaft von den verfügbaren Kommunikationstechnologien [...] der jeweiligen Gesellschaft abhängt: diese beeinflussen dessen Formen, Reichweite und Interpretation. Man könnte auch sagen [...], dass das Gedächtnis der Gesellschaft die Voraussetzung für die Durchsetzung und Verbreitung bestimmter Mittel der Kommunikation darstellt.« Es geht also um einen »zirkuläre(n) Zusammenhang gegenseitiger Beeinflussung zwischen Gedächtnis und Kommunikationsmedien«, der v.a. am Grad der begrifflichen Abstraktion, der Art der Umweltauseinandersetzung und v.a. der Selbstreflexivität zu verdeutlichen ist (10; vgl. 38). Die Akte des Zugreifens auf das soziale Gedächtnis erfolgen immer im Präsens. Das aktuelle Gedächtnis führt nicht in die Vergangenheit, sondern gaukelt die Erinnerung an vergangene Ereignisse vor. Medialisierte Erinnerung wird zur individuellen »eigenen Erinnerung«. Die Erinnerung kennt folglich keinen Weg in die Vergangenheit, sondern realisiert sich als Aktualisierung. Das impliziert eine soziale Gegebenheit: Ohne soziales Gedächtnis einschließlich seines Vergessens wäre überhaupt keine Aktualisierung von Erinnerung möglich - also auch keine soziale Identität. Es gibt keine soziale Identität ohne Konstruktion von Vergangenheit. Esposito formuliert eine ihrer Grundannahmen mit einem lapidar wirkenden Satz: »Man erinnert sich an das, was man erinnert, und nicht an das, was man vergessen hat« (13); er ist vor dem Hintergrund des Sachverhalts zu lesen, dass ausschließlich die Gegenwart der (Nicht-)Ort 3 ist, an dem Vergangenheit (und Zukunft) kommuniziert, erforscht, präsentiert werden kann (Augustin sprach bekanntlich von einer ›Gegenwart von Vergangenem‹, einer ›Gegenwart von Gegenwärtigem‹ und einer ›Gegenwart von Zukünftigem‹ [Confessiones 11,XX.26: Tempora sunt tria: praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris]). Esposito stellt fest: »Alles geschieht in einer Gegenwart, die Vergangenheit als Bedingung der eigenen Operationsfähigkeit rekonstruiert« (13). Das Paradoxon lautet also: Ohne Vergangenheit und Gedächtnis kann keine Gesellschaft existieren, und doch geschieht alles in der Gegenwart. Die Frage nach Rolle, Bedeutung und Funktion des sozialen Gedächtnisses liegt auf der Hand. Der Gedächtnisbegriff wird in der Gegenwart einer Gesellschaft und ihren konkreten Bedingungen lokalisiert. Er beschreibt die Differenz von Erinnern und Vergessen. Soziales Gedächtnis speichert folglich nicht »Vergangenheit«, sondern erzeugt stets aktuell Vergangenheit für die Gegenwart einer Gesellschaft. Von diesem Prozess - und damit von der sozialen Interaktion von Bedürfnissen und Interessen - hängt ab, was als Vergangenheit erinnert und vergessen wird, und welche Bedeutung es für die Gesellschaft hat. Gespeichert, archiviert und aufbewahrt ist unermesslich viel; entscheidend ist, wovon Gebrauch gemacht wird. Letztlich ist es die mediale Präsenz des Internets und seiner Suchmaschinen, die ständig an die Gegenwartsbezogenheit des Vergangenen erinnert; schließlich ist jeder Suchvorgang das Ergebnis einer jetzt stattfindenden, einmaligen Datenverarbeitung. Entscheidend für Espositos Gedankengang ist ein weiterer Gesichtspunkt, nämlich der Umstand, dass man über Gedächtnis nur sprechen kann, wenn man imstande ist, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden, also das Gedächtnis gleichsam von außen zu beobachten, zu reflektieren. »Das Gedächtnis kann als eine Form der Selbstbeobachtung in der Gegenwart angesehen werden, das heißt als etwas Unmögliches: als unmittelbare Selbstreferenz. [...] Ein solcher Umstand ist offensichtlich paradox und der Reiz, der vom Gegenstand des Gedächtnisses ausgeht, ergibt sich daraus, dass darin das Unbeobachtbare zum Vorschein kommt: die Beobachtung der Bedingungen von Beobachtung« (12f.). Mit dieser Überlegung ist der Leitgedanke formuliert, mit dem Esposito eine diachrone Unterscheidung verschiedener Gedächtniskulturen wagt. Sie unterscheidet drei Stadien der Entwicklung, die der gegenwärtigen Internetkultur vorausgingen, und bezeichnet sie als Divination (Archaik: frühe Hochkulturen, z.T. Antike), Rhetorik (Traditionale Gesellschaften: Antike und Mittelalter), Kultur (Moderne: Neuzeit). In divinatorischen Kulturen geht es - im Gegensatz zu modernen Polaritäten wie Realität / Fiktion oder Transzendenz / Immanenz - um ein ungeteiltes Weltkonstrukt, das jedoch voraussetzt, dass Wirklichkeit auch in ihren verborgenen und rätselhaften Dimensionen wahrgenommen werden soll. Das divinatorische Gedächtnis ist eine Ordnungsmacht, die für die Einheit des Weltganzen bürgt, indem sie über Bedeutung und Integrationsfähigkeit von Nachrichten, Ereignissen und Beobachtungen entscheidet. Das rhetorische Gedächtnis beruhte auf ontologischen Grundannahmen, die zu einer anderen Wahrnehmung der diskursiv verfassten Wirklichkeit führten und einen neuen Wahrheitsbegriff erforderten, für den die Unterscheidung zwischen wahr / falsch, Sein / Schein usw. konstitutiv war. Das kulturelle Gedächtnis ist z.B. dadurch gekennzeichnet, dass man von Texten nicht mehr die Wiederholung des Bekannten, Gesicherten, sondern Neues erwartete. Es geht zudem nicht mehr um »die Sammlung aller Bücher«, sondern um die »Verfügbarmachung alles Geschriebenen« (243). Mit dem Übergang zum kulturellen Gedächtnis verband sich der Wechsel vom Speichermodell zum Archivmodell: Wurde im Speicher alles ohne Medium der Verfügbarmachung gesammelt, so ist das Archiv als um ein Zugriffsmedium (Index) erweiterter Speicher zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass die Überlegungen und Analysen Espositos für die neutestamentliche Wissenschaft Bedeutung haben. Zwar problematisiert das Neue Testament die Frage nach Erinnerung und Gedächtnis nicht; es geht ganz selbstverständlich davon aus, dass nur erinnert, also im Diskurs jeweiliger Identitätsbildung nur verwendet werden kann, was nicht vergessen wurde. Zugleich wissen wir, dass mit den Erzähltexten des Neuen Testaments Auswahlprozesse verbunden waren, die zur Festschreibung der Grenzen zwischen Erinnertem und Vergessenem führten. Espositos Beitrag unterstreicht die historische und theologische Aufgabe, die Bedeutung der Präsentation des Vergangenen für die diskursiven Prozesse der Identitätsbildung im frühen Christentum zu untersuchen. Vor allem aber verweist dieses Buch eindringlich auf die Notwendigkeit, die antike Medialität der Kommunikation von Vergangenem und seine reflexiven Bedingungen genauer zu erforschen. Die Interpretationsarbeit am Neuen Testament kann so diese ganz anderen Voraussetzungen im Rahmen ihrer antiken Diskursivität berücksichtigen und vor dem 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 74 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 75 Buchreport Hintergrund unserer gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisse hermeneutisch reflektieren. Eckart Reinmuth l Anmerkungen 1 George Steiner in einem Interview aus Anlass seines 70. Geburtstages, Frankfurter Rundschau vom 17.4.99, S. ZB 2. 2 Zur Differenz zwischen dem Entwurf Espositos und den Thesen zum »kollektiven Gedächtnis« von Maurice Halbwachs, die erst in den 80er Jahren wirkungsvoll rezipiert wurden, vgl. das aufschlussreiche Nachwort von Jan Assmann, 400-414. Im Gefolge der durch Niklas Luhmann geprägten soziologischen Unterscheidung personaler und sozialer Systeme wird die Position von Halbwachs im Blick auf die individuelle Trägerschaft kollektiver Gedächtnisse nachhaltig relativiert. 3 Vgl. zur Frage der temporalen Lokalisierbarkeit von Gegenwart die erhellenden Ausführungen in: E. Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Gesellschaftliche Voraussetzungen der Mode, in: Th. Rathmann, Ereignis: Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln et al. 2003, 137-149: 138ff. Peter Lampe Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie. Neukirchener Verlag, Neukirchen 2006, 246 S.; ISBN 978-3-7887-1624-0 (broschiert); Preis: 24,90 € . Ist die neutestamentliche Wissenschaft sexy? Schon diese Frage lässt den seriösen Vertreter des Fachs ob ihrer Unwissenschaftlichkeit die Augenbrauen heben. Na gut, nennen wir es: attraktiv? Eine breite Masse einladend? Massiv ansteckend? Seien wir ehrlich: wohl kaum. Die letzten großen Neuorientierungen in der Jesus- und Paulusforschung (Third Quest, New Perspective) sind nun auch schon in die Jahre gekommen und wurden außerhalb der Szene so gut wie nicht rezipiert. Seit Bultmanns genialischer Aneignung der zeitgenössischen Existentialphilosophie - man mag heute dazu stehen wie man will - hat es keinen philosophischen Grundansatz neutestamentlicher Exegese mehr gegeben, der den Nerv der Zeit wirklich trifft und die Fragen hart am Pulsschlag eines breiten kulturellen Milieus stellt. Das vorliegende Buch des Heidelberger Ordinarius für Neues Testament Peter Lampe könnte hinsichtlich der Tuchfühlung zu einem breiten kulturellen Milieu unserer Tage ein Stück Avantgarde sein. Seinem Selbstzeugnis nach begegnet dem Leser auffallend oft das Wort »Skizze«, und tatsächlich haben manche Passagen eher den Charakter gedanklicher Anregung denn sich breit absichernder Detailargumentation. Seine Diktion changiert zwischen der Massivität fachterminologischer -Ismenhäufungen und einem lockeren akademischen Plauderton, behält aber insgesamt die Obertönung des Werbenden, Darbietenden, Leserfreundlichen. Worum geht es also in diesem Buch? Ganz einfach: um das ganz Schwierige. Die alten ungelösten Fragen zur Wirklichkeit Gottes, zur Wahrheit des biblischen Zeugnisses und zu dem, was uns Heutige das christliche Glaubenssystem eben so alles zumutet, sind Thema. Fragen, die nicht nur der christliche Insider sich in existentieller Nähe stellt, sondern gerade der Außenstehende in interessierter Distanz. Lampe benutzt hier das alte Bild von dem einen Boot, in dem »Naturwissenschaftler, Theologen, Psychologen, Alltagsmenschen, Atheisten« (S. 98) sitzen. Schon diese Reihung (der »Alltagsmensch« macht lediglich ein Fünftel aus! ) zeigt den primär akademischen Adressatenkreis. In dem für Neutestamentler zentralen und etwa ein Drittel des Textumfangs abdeckenden Kapitel VII werden diese zentralen Fragen beispielhaft an einzelnen Überlieferungen des NT festgemacht. Es reizt hier den Rezensenten, sie jenseits der eigentlichen Diktion dieses Buches auf das etwas vernachlässigte »Fünftel« der Alltagsmenschen herunterzubrechen, auf die Stimme der Konfirmanden oder der Teilnehmer am Religionsunterricht: »Was hat das mit mir zu tun, dass vor 2000 Jahren ein Mensch am Kreuz gestorben ist? Ist die Gleichheit nach Gal 3,28 nicht ein frommes Märchen? Was passiert bei der Taufe noch, außer dass man nass wird? Ist ein Christ etwa ein anderer Mensch? « Die eigentliche Wortwahl Lampes ist nüchterner, weil er für Akademiker schreibt. Statt von »Gleichheit nach Gal 3,28« etwa ist die Rede von »Irrelevanz menschlicher Unterschiede« oder von »neuer Kontext von Gal 3,28«. Doch zu den akademisch geprägten Hauptadressaten Lampes gesellt sich in unserer Zeit eben ein anderer Chor, die oben skizzierten Halbwüchsigen, die Teilnehmer an den unzähligen kirchlichen Fortbildungseinrichtungen, die Ausgetretenen, die sich dennoch in den Weihnachtsgottesdienst schleichen, die Kulturprotestanten beim Genuss der h-moll Messe oder die weltoffenen Atheisten bei der Besichtigung der Dresdner Frauenkirche. Es ist ein breites Milieu, das in seinen Fragen abgeholt wird und mit Antworten bedient werden soll. Der eigentliche »Clou« des Buches besteht darin, dass diese Fragen nicht Marke Eigenbau abgearbeitet werden. Es wird dagegen ein unserer Tage entsprechendes, allgemeines und relativ geschlossenes Sinnbildungssystem bemüht, dessen neue Anwendung auf die alten Fragen einen hohen Grad von Plausibilität verspricht, und dieses ist der Konstruktivismus. Vielleicht ist hier ein Wort zum konstruktivistischen Ansatz angebracht, obwohl dieser schon seit längerer Zeit aus seinem Urquell des philosophischen bzw. soziologischen Diskurses in die Nachbarwissenschaften, auch in die Theologie und die Pädagogik, eingeflossen ist. P. Lampe kennt die Diskussion gründlich, wie letztendlich seine mit »k« gekennzeichneten Literaturreferenzen im Literaturverzeichnis und auch seine früheren Veröffentlichungen zum Thema gut zeigen. Für den Konstruktivisten entsteht die Welt im Kopf. Sicherlich gibt es so etwas wie eine »ontische Realität«, die sich uns aber, radikal gesagt, nur als »ontologische Schranken« zeigt: Wenn ich an einen Baum stoße oder vom Auto überfahren werde, dann bin ich an etwas gestoßen, das mir Schranken weist. Die Interpretation als »Baum« oder als »Auto« habe ich als Teil mei- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 75 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 76 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Buchreport nes Kommunikationsmilieus dagegen selbst konstruiert. Und auf diese Weise gewinnen nicht nur die Gegenstände und Personen um mich Konturen durch die Kommunikation meines Milieus, sondern die gesamte Sinngebung und Bewertung der Dinge funktioniert so. Etwas ist nicht rot, weil es rot ist, sondern weil es als rot kommuniziert und konstruiert wird. Trotz der vom Objekt absehenden, subjektiven und rezeptionsorientierten Stoßrichtung dieses Ansatzes ist der Konstruktivismus alles andere als ein Ausbund an solipsistischer Beliebigkeit. Denn die Interpretation ist stets an das jeweilige Kommunikationsmilieu gebunden und damit intersubjektiv. Wichtig ist nur, dass diesem Milieu die jeweiligen Konstruktionen evident sind, und die Analyse der Evidenz in emotionaler, kognitiver, sozialer und empirischer Hinsicht macht den zentralen Teil konstruktivistischer Diskussion aus. Auf das Neue Testament übertragen, kann Lampe nicht von »urchristlichen Theologen«, sondern von »urchristlichen Konstrukteuren« reden. Diese konstruierten die Gesamtheit der urchristlichen Sinnzusammenhänge von Jungfrauengeburt bis Auferstehung in ihrem Kommunikationsmilieu und erweiterten dies durch die Verschriftlichung zum NT zu dem Milieu, an dem wir heute noch teilhaben. Beispielsweise das »Urkerygma«, aus den vorpaulinischen Formeln Röm 4,24; 8,11 oder Gal 1,1 rekonstruiert: »Gott erweckte Jesus von den Toten«. Lampe schlägt folgende Entstehungsgeschichte dieses Kerygmas durch die »urchristlichen Konstrukteure« vor: Die frühen Christen hatten Wissenselemente (1.: Der Gekreuzigte ist eine Elendsgestalt, 2.: Das Gottesbild des historischen Jesus: Gott, der sich gerade den Elenden zuwendet; 3.: die Verkündigung Jesu: Gott errichtet seine Gottesherrschaft gerade jetzt und zunächst unsichtbar auf; 4.: die jüdische Tradition, etwa Dan 12; Shemone Esre: Es gibt eine allgemeine Totenauferstehung am jüngsten Tag). Diese Wissenselemente waren Grundlage für die Konstruktion dieses Kerygmas, das der Referenzgruppe der frühen Christen in vierfacher Weise evident war: empirisch durch die Visionen, kognitiv durch innere Stimmigkeit der Wissenselemente mit dem Urkerygma, sozial durch die scheinbare Wiederholbarkeit und Intersubjektivität der Visionen (500 Brüder nach 1Kor 15) und emotional durch ihre enge Bindung an Jesus. Was die »urchristlichen Konstrukteure« also machten, konstruiert seinerseits Lampe wie folgt (S. 180): »Ein toter Jesus stand zum Leben auf, weil Gott ihn erweckte. Er konnte sich deshalb nach Ostern den Hinterbliebenen in Selbstoffenbarungen, in mehreren Visionen innerhalb eines begrenzten Zeitraums, zeigen. Mit seiner Auferweckung nahm er einen Ort der Herrlichkeit an der Seite Gottes ein. Als Kyrios ist er im Gebet anrufbar.« Er kontrastiert dies mit seiner konstruktivistischen Konstruktion, die wie folgt lautet (S. 184f.): »Jesus von Nazareth starb und wurde begraben. Wenig später sah Petrus in einer Vision einen lebendigen Jesus. Auch andere Kulturen kennen solche Erscheinungen von Toten. Diese Gesichte werden von der Psyche des Visionärs generiert; ihnen korrespondiert nichts außerhalb der Psyche. Petrus' Psyche war von Schuldkomplexen geplagt (dreimaliges Verleugnen), vom Wunsch, den Zusammenbruch der Jesusbewegung rückgängig zu machen. So generierte die Psyche einen Ausweg: Sie produzierte ein visuelles Erleben. Petrus interpretierte das Gesicht nicht als Gespenstererscheinung, sondern deutete es mittels der in der jüdischen Religion vorgegebenen Kategorie der Auferstehung: Der Tote geistert nicht als Gespenst, sondern ist lebendig. Einmal intersubjektiv vermittelt, ließ sich das visionäre Erleben aufgrund der suggestiven Kraft des Petrus im Kreise mehrerer Jünger wiederholen, sogar in einer Massensuggestion von etwa fünfhundert Jesusanhängern. Der als wieder lebendig begriffene Jesus wurde schließlich mit Hoheitsprädikaten ausgestattet: Sein neuer Status wurde im Lichte alttestamentlicher Texte (z.B. Ps 110,1: ›Setze dich mir zur Rechten‹) definiert. Und so fort.« Im Sinnsystem Lampes haben beide Aussagen über die Auferstehung Jesu, die (rekonstruierte) urchristliche und die des modernen Konstruktivisten, den gleichen Stellenwert. Welche der beiden die »ontische Realität« besser abbildet, ist nicht aussagbar - und dies ist der Grund, warum der Konstruktivist nach Lampe sich mit einem breiten Publikum verständigen kann: Man unterhält sich über Konstruktionen und Sätze, weder der Atheist noch der Theologe können dabei Aussagen über die ontische Realität jenseits dieser Sätze treffen. Diese hier freilich nur in aller Grobheit referierte Sicht der Dinge bietet Lampe also als konsensfähiges Interpretament für die oben paraphrasierten schwierigen Fragen der christlichen Tradition an. Wer sich freilich in postmoderner Zersplittertheit aller Sinngebungsversuche kismethaft verstrickt fühlt, mag ein derartiges Vorhaben belächeln: Konsensfähigkeit im Sinngebungsgeschäft! - ist solches heutigentags überhaupt möglich? Man kann diese Frage unterschiedlich beantworten, doch Peter Lampes Antwort ist positiv. Er stellt den Konstruktivismus als einen Ansatz vor, der in unterschiedlichen Denksystemen konsensfähig ist. Konkret: Was wir unter »Wahrheit« und »Wirklichkeit« und »Realität« verstehen, wird im Blick auf mehrere voneinander scharf getrennte Fachdisziplinen durchdekliniert und die konstruktivistische Sicht der wirklichkeitsproduzierenden anstelle der wirklichkeitsabbildenden Denk- und Sprechvorgänge wird als kleinster gemeinsamer Nenner angeboten. Dabei steht ein Durchmarsch durch die Philosophiegeschichte an erster Stelle, zudem mutige Ausflüge in die Neurologie und die Physik nach-Heisenbergscher Prägung, alles mit dem Ziel, dass unsere Welt eben im Kopf entsteht und nicht eine außersubjektive Welt (getreu) abbildet. Damit liegt ein Vorschlag für eine Gesprächsbasis vor, auf der sich viele Menschen unterschiedlicher Prägung mit dem frühen Christentum und der Botschaft des NT auseinandersetzen können. Eine Basis, die eine Auseinandersetzung über die christlichen Inhalte vielleicht nicht unbedingt sexy, aber auf jeden Fall ungezwungen und attraktiv macht. Schon deswegen ist dieses Buch der Lektüre zu empfehlen. Peter Busch 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 76 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100%