eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Stephen D. Moore, Yvonne Sherwood The Invention of the Biblical Scholar. A Critical Manifesto, Minneapoils Fortress Press 2011 xiii. 138 S. 22 USD

61
2014
Manuel Vogel
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Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 60 - 3. Korrektur 60 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Buchreport Stephen D. Moore, Yvonne Sherwood The Invention of the Biblical Scholar. A Critical Manifesto, Minneapoils Fortress Press 2011 xiii. 138 S. 22 USD Was heißt auf dem Feld der Bibelwissenschaft Alten und Neuen Testaments »anders lesen«? Stephen D. Moore und Yvonne Sherwood sind in besonderer Weise kompetent, hierauf zu antworten. Beide sind nicht nur in vielfältigen Lektüren, die über den historisch-kritischen Methodenkanon hinausgehen, bestens bewandert und vielfach ausgewiesen, sie überblicken auch das riesige Gebiet u. s.-amerikanischer literary studies und cultural studies, von wo die Bibelwissenschaften seit etwa dreißig Jahren immer wieder wichtige Impulse empfangen. Moore, Professor für Neues Testament an der Drew-Universität, forscht auf den Gebieten der literary studies, cultural studies, gender studies, queer studies, postcolonial studies und ecological studies. Als Kostprobe zwei seiner bisherigen Publikationen: Empire and Apocalypse: Postcolonialism and the New Testament, Sheffield, 2006. Und: God’s Beauty Parlor: And Other Queer Spaces in and around the Bible, Stanford 2001. Sherwood, seit 2013 Professor of Biblical Cultures and Politics an der Universität von Kent, notiert zu ihrem neuesten Buch Biblical Blaspheming: Trials of the Sacred for a Secular Age, Cambridge 2012, auf ihrer Internetseite: I explore the strange persistence (and mutation) of the logic of blasphemy, and bring the Bible into dialogue with a host of interlocutors including John Locke, John Donne and the 9/ 11 hijackers as well as artists such as Sarah Lucas and René Magritte. Will sagen: Moore und Sherwood haben nicht nur einen Begriff von »anders lesen«, sie betreiben es selbst mit Verve. Das von beiden gemeinsam verfasste Buch, das hier vorzustellen ist, ist aus drei Beiträgen in der Zeitschrift Biblical Interpretation aus dem Jahr 2010 hervorgegangen, die nun in bearbeiteter und erweiterter Fassung in Buchform vorliegen. Moore und Sherwood geht es indes nicht, wie man erwarten könnte, darum, einer im historisch-kritischen Einerlei befangenen Exegetenzunft die postmodernen Leviten zu lesen oder Nachhilfeunterricht in kontextuellen Bibellektüren zu erteilen. Vielmehr werden diese Lektüren in einen weiten forschungsgeschichtlichen Horizont gestellt, der auch auf diese Lektüren selbst ein kritisches Licht wirft. Insofern könnte der Untertitel des Buches auch lauten: a self-critical manifesto. Eine Hauptthese des Buches lautet: Postmoderne Bibellektüren sind ungeachtet ihrer stets werbewirksam vorgetragenen Innovationsversprechen Teil eines in Wahrheit schon sehr alten Projekts, nämlich der Bibel der Aufklärung (Enlightenment Bible). Damit ist einerseits gesagt: Diese Lektüren sind so wenig hintergehbar wie die Moderne selbst, die die Aufklärung hervorgebracht hat. Zugleich gilt aber: Sie partizipieren vollumfänglich auch an den Aporien, die einer über sich selbst aufgeklärten Moderne heute deutlich vor Augen stehen. Es ist wohl dieser forschungsgeschichtlichen Weitsicht geschuldet, dass dem Buch jede postmoderne Selbstgerechtigkeit und jegliche moralisierende Kurzatmigkeit völlig fern liegt. Sobald man das merkt, vertraut man sich ihm an und folgt ihm Seite um Seite auf Schritt und Tritt mit ständig steigender Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, wie gesagt, die für Bibelwissenschaftler ungewöhnlich gute Kenntnis der amerikanischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft. Dadurch entsteht eine Doppelperspektive, die Krisen- und Niedergangsphänomene bestimmter Forschungsdiskurse diagnostiziert, bevor diese Diskurse die Bibelwissenschaft überhaupt erreicht haben. Was nicht heißt, die Bibelwissenschaft müsse sich damit gar nicht erst befassen. Sondern: Sie tue es mit Neugier, aber ohne überzogene Heilserwartungen an neue Methoden-- though we ourselves, admittedly, have delighted in spinning such soteriological stories in the past (x). Anliegen des Buches ist nicht, der Bibelwissenschaft neue Methoden zu verkaufen. Our intent, rather, is diagnostic and analytic. We want to look at what has happened, what has failed to happen, and what might yet happen in biblical studies under the heading of »Theory« (14). »Theory«, im Buch stets groß geschrieben, ist Sammelbegriff für eine Vielzahl von Ansätzen, die in der amerikanischen Literaturwissenschaft mehr oder weniger breit rezipiert wurden: Russian formalism, French structuralism, semiotics, poststructuralism, deconstruction, Lacanian and post-Lacanian psychoanalytic theory, assorted Marxisms and neo-Marxisms, reader-response criticism and Rezeptionsästhetik, »French feminist theory« (more precisely, écriture féminine), »thirdwave« feminist theory, gender studies, queer theory, New Historicism, cultural materialism, cultural studies, postcolonial studies, and (academic) postmodernism tout court, along with carefully selected slices of what is known (often polemically) as »continental philosophy« (3f ). Aus Sicht der Bibelwissenschaft nimmt man interessiert und vielleicht auch ein wenig schadenfroh zur Kenntnis, dass dieser evidente Theorieüberhang innerhalb der literary studies bereits zu deutlichen Ermüdungserscheinungen geführt hat, wie an Schlagworten wie »Post-Theory«, »After Theory«, »Reading after Theory« und »What’s left of Theory? « (4f ) hinreichend deutlich wird. Theory hat, das ist eines ihrer manifesten Probleme, auf dem Feld der literary studies die Spezies der unlettered students hervorgebracht, die, aus zweiter Hand theoriegesättigt, schlicht keine Literatur mehr kennen. Und: Theory, einst mit der Aura von Aufbruch und Abenteuer umgeben und mit großen Namen verbunden, wird Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 61 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 61 zum gelangweilt konsumierten Lernstoff, just waiting for the lecture to be over (14), dessen revolutionäres Pathos-- wir reden von deconstruction, gender-theory und postcolonialism! -- zugleich seine Antiquiertheit ausmacht: Theory atmet den Geist der 68er, und die sind nun einmal vorbei (13f ), jedenfalls einstweilen. Dass die Bibelwissenschaft von diesen Problemen weitgehend unberührt ist, gereicht ihr freilich nicht zur Ehre: Der Grund ist einfach, dass sie an diesen Diskursen bisher schlicht nur am Rande oder gar nicht teilgenommen hat. Der inhaltliche Zuschnitt der jährlichen Programmhefte nicht nur der SNTS sondern auch der SBL (die 2002 das Erscheinen der Zeitschrift Semeia eingestellt hat) spricht eine deutliche Sprache (10f ). Leitmotive der Theory-Kritik innerhalb der literary studies sind: die verlorene Liebe zur Literatur, die Banalisierung der Forschungsfelder, die Auflösung jedes Autor-Begriffs in bloße Textualität, die ästhetisch armselige politische Instrumentalisierung der Literatur und der Verlust des Humanen durch anti-humanistische Theoriekonzepte (19-27). Auf die (ohnehin marginale) Theory-Rezeption innerhalb der Bibelwissenschaft hat diese Kritik kaum durchgeschlagen, denn innerhalb dieser scientific community ist der Habitus historisch-philologischer Unterkühltheit gerade das Signum der Professionalität: lt is hard to imagine biblical scholars uniting around a critique of the coldblooded, since warm-bloodedness is not a criterion for membership in our discipline (27). Die Textkritik beider biblischer Disziplinen jenseits des Urtext-Paradigmas versteht sich gut auf einen autorlosen Textbegriff, und die ins Detail sich verlierende Kommentarphilologie ist dem poststrukturalistischen Spiel mit dem Partikularen nicht unähnlich (28- 30). Freilich gilt [i]n a final twist of irony (30) auch das Gegenteil: Mit der bibelwissenschaftlichen Theory-Rezeption war und ist auch die Hoffnung auf eine Humanisierung dieser Disziplin verbunden. Bevor hiervon zu handeln ist, bedarf aber die methodolatry and methodone-addiction (31) der biblical studies weiterer Betrachtung. Die Diagnose lautet: Die Bibelwissenschaft verwandelt alles, was sie in die Finger bekommt, in Methode, selbst solch offene Theoriekonzepte wie »Dekonstruktion« und »Intertextualität« (31-36). Der Grund: Methodenkompetenz ist in der Bibelwissenschaft als Distinktionsmerkmal in Abgrenzung zu jeglicher »nichtwissenschaftlicher« Bibellektüre, mit der man unter keinen Umständen verwechselt werden will, schlechterdings unerlässlich. Methodology is what is meant to keep our discourse on the Bible from being subjective, personal, private, pietistic, pastoral, devotional, or homiletical. Methodologie ist eine Chiffre for »objectivity«, »neutrality«, »disinterestedness« and all of the other related and foundational values of biblical studies as an academic discipline (40). Die Folge: -a mountainous excess of dull and dreary books, essays, and articles-(41f ). Wie ist aber nun die Bibelwissenschaft zu dem geworden, was sie heute ist? Zur Beantwortung dieser Frage holen Moore und Sherwood weit aus bis in die Zeit der Frühaufklärung. Ihre These lautet erstens: Die frühe Kritik der Aufklärung an der Bibel bezog sich nicht in erster Linie auf ihre historische Zuverlässigkeit, sondern zuerst und vor allem auf ihre moralische Integrität. Bestimmte Episoden der Bibel, etwa die erst im letzten Moment verhinderte Opferung Isaaks aus Gen 22, können historisch so nicht stattgefunden haben, weil sie ein Handeln Gottes beinhalten, das gegen das moralische Gesetz verstoßen würde. Gegenüber dem möglichen Verstoß der Bibel gegen das Moralgesetz war ihre historische Glaubwürdigkeit, etwa in der Wunderfrage, nachrangig. [M]iracles and immoral action waren twin branches of the one problem: exceptions to the universal law (55). Erhellend ist, wie sich etwa bei Thomas Morgan (1740) am Beispiel von Gen 22 historische und moralische Kritik zu einander verhalten: »It may be probable enough, that either Abraham had such a belief or conceit, or that Moses mistook this case; but that God, in this, or any other case, should dissolve the law of nature and make it a man’s duty … to act contrary to all the principles and passions or the human constitution, is absolutely incredible« 1 . Die Unterscheidung eines (möglichen) Irrtums des Mose oder Abrahams und dem (unmöglichen) moralischen Irrtum Gottes eröffnete den Freiraum zur sachkritischen Sichtung der biblischen Stoffe und zu historischen und philologischen Kritik. Hier kommt nun der zweite Teil der These von Moore und Sherwood zum Tragen: Die moralische Frage sei gegen Ende des 18. Jh. unbeantwortet zu den Akten gelegt worden zugunsten einer nunmehr rein historischen Bibelkritik. Die Frage »Kann etwas so geschehen sein? « wurde nun als rein historische Frage gestellt, while closing the question down in its moral or philosophical sense (58f ). In einem Akt strategischen Vergessens (strategic forgetting, 59) kaprizierte man sich auf Probleme des historisch Möglichen, während early interrogations of the Bible’s morality … collapsed back into affirmations or assumptions of its morality (59). Moralische und theologische Gültigkeit werden nun einfach vorausgesetzt, während auf historischem Gebiet die Skepsis sich austoben kann (Die daraus resultierende eigentümliche Verhältnislosigkeit von Historie und Ethik/ Theologie tritt am deutlichsten in der Johannesforschung zu Tage: Historisch behandelte man das vierte Evangelium mit dem Vorschlaghammer, theologisch mit dem Staubwedel, 63). Das moralische apriori der Frühaufklärung bleibt freilich in der weiteren Forschungsgeschichte präsent, und die vorgeblich interesselose historische Kritik ist jederzeit auf dem Sprung, das Projekt der Moral Bible zu ihrer Sache zu machen. Liberale Jesusforschung und third quest fragen nicht nach dem historischen, sondern nach dem moralischen Jesus (64), wobei die Sachkritik der Literarkritik Kriterien vorgibt, die alles andere als historisch sind. Die Arbeitsweise des Jesus Seminar hat in Thomas Jeffersons The Life and Morals of Jesus von Nazareth von 1904 einen bizarren Vorläufer: Jefferson hat seine King-James-Bibel buchstäblich »Die Diagnose lautet: Die Bibelwissenschaft verwandelt alles, was sie in die Finger bekommt, in Methode, selbst solch offene Theoriekonzepte wie ›Dekonstruktion‹ und ›Intertextualität‹ Der Grund: Methodenkompetenz ist in der Bibelwissenschaft als Distinktionsmerkmal in Abgrenzung zu jeglicher ›nichtwissenschaftlicher« Bibellektüre, mit der man unter keinen Umständen verwechselt werden will, schlechterdings unerlässlich.‹« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 62 - 3. Korrektur 62 ZNT 33 (17. Jg. 2014) mit der Schere zerschnitten und die Schnipsel mit »echtem Jesusgut« in ein Notizbuch geklebt (65). Wie ist nun die Theory-Rezeption innerhalb der Bibelwissenschaft in diesen forschungsgeschichtlichen Bogen einzuzeichnen? Hier geht, so Moore und Sherwood, nichts Geringeres vonstatten als eine Rückkehr zu den Anfängen der Aufklärung, insofern nämlich als die moralische Frage nun neu gestellt wird, und zwar in einer Radikalität, die die venerable gentlemen der Frühaufklärung sich nicht hätten träumen lassen-- except in a nightmare (69). Feministische, postkoloniale und andere ideologiekritische Ansätze reopened the interrogation of biblical morality (69), nun aber so, dass auch die Aufklärung selbst ins Visier der Kritik gerät. Der Totalanspruch ihrer Universalbegriffe wird im Namen der moral minorities kritisiert, die sich in zahlreichen kontextuellen Bibellektüren mannigfaltig zu Wort melden (70-75). An die Stelle aufgeklärter Toleranz auf der Grundlage eines universalen Menschenbildes tritt die Toleranz des Partikularen und der Diversität (72f ). Es sind namentlich die leidenden und unterdrückten Minderheiten, die Theory-geleiteter Kritik an der Bibel ihren gültigen Ort zuweisen: Such critique is often made in the name of pain, victimization, and injustice. We hear and must hear the voices of those who have been damaged by a Bible that has repeatedly lent itself to racist, sexist, homophobic, colonizing, and other dehumanizing agendas (74). Dieser Abschnitt enthält einen der ganz wenigen normativen Sätze des Buches: We hear and must hear. Doch es bleibt ein Vorbehalt: Keinesfalls darf sich diese Kritik der Aufklärung als ihre Vollendung stilisieren. Und: Je weiter man in der Parteinahme für moral minorities die Universalbegriffe wegwirft, desto weiter muss man gehen, wenn man sie (wofür es ja Gründe geben könnte) wiederhaben will (71). Moore und Sherwood kommen am Ende des Buches hierauf zurück. Zuvor ist noch weiteres Terrain der biblical studies zu vermessen, wieder im instruktiven Vergleich mit den literary studies: Im New Criticism, der in der Zeit seiner Hochblüte von den biblischen Fächern praktisch keines Blickes gewürdigt wurde, haben diese ihr Gegenbild: Im New Criticism wurde die akademische Literaturwissenschaft zu einer affair of »unmediated« and intimate engagement with the literary artifact that set all previously distracting concern for »background« aside (77). Die damit gegebene Affinität des New Criticism zur vorkritischen Exegese ließ die Bibelwissenschaft einen weiten Bogen um diesen Ansatz schlagen, for biblical scholars have always regarded the pre-critical interpreter as their constitutive other (76). Ergebnis ist ein Expertentum, das sich nicht nur nicht um ein breites außerakademisches Publikum schert, sondern auch darum nicht, dass dieses Publikum seinerseits jedes Interesse an den Einsichten der Bibelwissenschaft zu verlieren im Begriff ist (78). Forschungsgeschichtlich lassen sich Linien zurück in die Gegenreformation ziehen, die sich darüber empörte, dass der gemeine Mann sich auf einmal unterstand, die Bibel zu lesen (78), sowie in den »Deismus« 2 , der jedes Interesse an einer »komplizierten« Bibel hatte (80). Im akademischen Diskurs ist die Bibel bis heute ein Buch der Probleme, deren endlose Diskussion die Fortdauer eines ganzen Berufsstandes sichert (80f ). Dieser Berufsstand kultiviert den Typus des biblical sub-sub-sub-specialist, der beispielsweise innerhalb des »weiten Feldes der Markusforschung« die Position des »Markan literary critic« vertritt und als subspecialist in a subdiscipline of a subdiscipline mit zwanzig Seiten Evangelientext möglicherweise ein ganzen Forscherleben zubringt (84). Es versteht sich von selbst, dass der Methodenüberhang der Theory der Bibelwissenschaft höchst willkommen ist, ist so doch gesichert, dass die zu diskutierenden Probleme absehbar für alle reichen (85). Fraglos ein Gegengewicht zu solcher Weltenthobenheit ist die Öffnung von Teilen der Bibelwissenschaft für das Politische. Die SBL presidential adress von Elisabeth Schüssler-Fiorenza von 1987 war ein Meilenstein. Auch hier folgen kritische Reflexionen: to claim the term »political« for one’s work is implicitly to claim the moral high ground and a nimbus of virtue …, while failiure on the part of others to claim that term and terrain is just as regularly construed as the mark of a (possibly moral) lack (89). Und: Theoretische Radikalität steht nicht selten in einem surrealen Gegensatz zu den gehobenen Tagungshotels, in denen die einschlägigen Vorträge gehalten werden (89f ). Schließlich und vor allem: Die Ausdifferenzierung und Pluralisierung der hermeneutischen Kontexte der moral minorities befördert einen Relativismus, mit dem der globale Neoliberalismus bestens auskommt. [A]cademic themes of plurality, difference, and even transgression dovetail all too seamlessly with Western capitalism (90). Auch auf dem Gebiet der culture ist die Bibelwissenschaft um den Nachweis ihrer Nützlichkeit nicht verlegen, und dies in besonderer Nähe zum Projekt der Aufklärung, die Bibel als Grundlage der westlichen Kultur auszuweisen (92-98). Dabei wird die Autorität des Kanons durch seine Wirkungsgeschichte noch verstärkt (im Gegensatz zu den literary studies, denen ein klar umrissenes Gegenstandsfeld im Paradigma der cultural studies völlig abhanden zu kommen droht). »Anspielungen an das äthiopische Henochbuch in Reden von George W. Bush« wären, wie jeder sofort einsieht, eine unsinnige Fragestellung (98). Theory, on entering biblical studies, this time under the rubric of cultural studies, is once again pulled into orbit around the Enlightenment Bible (94). Im Übrigen verhilft Theory einer Wissenschaft, die sich gar zu lange ungestört in den Gefilden des historisch-kritischen Positivismus bewegt hat, zu revolutionary old discoveries (99), zu der Entdeckung etwa, dass die Erkenntnis des Objekts nur über das Subjekt vermittelt ist, und dergleichen mehr, was man schon bei old man Kant (100) nachlesen kann. Einmal mehr werden Innovationsversprechen (oder -projektionen! ) forschungsgeschichtlich ins Verhältnis gesetzt. Für die Anverwandlung von Theory an die ureigenen Interessen der biblical studies bietet namentlich die Rezeption des reader-response-criticism ein anschauliches Beispiel. Dieser in den biblical studies in Gestalt der Arbeiten Wolfgang Isers ungewöhnlich breit rezipierte Ansatz could be assimilated suprisingly easily to the historicist ethos of the discipline (101). Auch hier bildet die Aufklärung den Epochenbruch: Während die Frühaufklärung einen Begriff von der Freiheit des Lesers entwickelte-- nach Anthony Earl of Shaftesbury (1711) gebührte dem Leser »the upper Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 63 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 63 hand and place of honour« (102)-- verwarf die Enlightenment Bible das Ideal einer Vielzahl von Bedeutungen zugunsten des einen Ursprungssinns, der nur einer Expertenkaste zugänglich war und von dieser kontrolliert wurde (102f ). Nach Moore und Sherwood besteht die Attraktivität des reader-response-criticism darin, dass er scheindemokratisch dem Leser neue Freiheiten einräumt, diesen aber tatsächlich doch wieder nur an der kurzen Leine des Autors hält. Mit dem von Iser beschworenen »Picknick«, zu dem der Autor die Worte und der Leser die Bedeutung mitbringt, verhalte es sich in Wahrheit so, dass der Leser allenfalls den Korkenzieher beisteuern darf (105f ). Hier bilden sich Strukturen heutiger Inszenierungen von Demokratie ebenso ab wie Tiefenstrukturen des sorgsamen Ausgleichs von Prädestination und freiem Willen, immer mit der Sorge, nicht durch ein Übermaß an Freiheit dem Pelagianismus anheim zu fallen (107). Überhaupt herrscht in den biblical studies vielerorts die Mentalität von Staatsbeamten, die es mit der Theory-Rezeption nur ja nicht »zu weit zu treiben« wollen (107f ). Neue Ansätze, deren Reiz in ihrer Radikalität läge, werden weichgezeichnet und auf längst Bekanntes herunter gebrochen. Narrative criticism etwa ist am Ende dann eigentlich doch dasselbe ist wie Redaktionskritik (108-110). Die Farblosigkeit bibelwissenschaftlicher Prosa ist symptomatisch (111), zugleich ist sie gewollt, denn fachwissenschaftliche credibility and authority hängen an maßvollem Ausdruck und stilistischer Zurückhaltung (112f ). An der Wissenschaftsprosa der literary studies könnte man lernen, dass es auch anders geht, doch mag sich der Exeget als »bescheidener Diener des Wortes« solche Freiheiten nicht herausnehmen (113f ). Dass auch die Exegeten an einem babylonischen Turm bauen, intent on making a name for themselves (114), ist unbenommen. Nach wie vor stabil ist der aus Aufklärung und liberaler Theologie ererbte Konsens über die moralische Integrität der Bibel (116f ). Feministische Exegese und postcolonial criticism, die noch am ehesten geeignet wären, die moralische Frage (als eine echte Frage! ) aus ihrem Jahrhunderte währenden Schlaf zu wecken, sind in dem Maße ihrer Kraft beraubt, wie sie sich in den bunten Reigen kontextueller Lektüren einordnen lassen (117f ), denn die zahllosen Lektüren from the margins irritieren den mainstream umso weniger, je zahlreicher sie werden (118f ). Die von Moore und Sherwood beobachtete grassierende Ausdifferenzierung und Fragmentierung dieses Feldes-- was früher einfach Indian tribal theology war, ist längst zerfallen in Ao, Khasi, Mizo theologies (R.S. Sugirtharajah, 120)-- macht die Verständigung auf gemeinsame Werte wie soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte zunehmend schwierig. An dieser Stelle beobachten Moore und Sherwood Anzeichen für eine Gegenbewegung, die sie Theory in the second wave (115-131) nennen. Während sich die biblical studies noch immer in emphatischer Distanz zu ihrem Gegenstand üben (so als gälte es, die fachfremden Kollegen davon zu überzeugen, dass der theologische Hörsaal nicht der Ort für Zeugnisgeben, Zungenreden und Bekehrungspredigt ist, 123), macht sich innerhalb der Theory ein vermehrtes Interesse an Religion bemerkbar. Derrida und Badoiu sind nur zwei Namen aus einer Liste, die sich wie das Who’s Who of High Theory liest (124). Diese Gegenbewegung ist allemal bemerkenswert: Während die Bibelwissenschaft ihren Gegenstand säkularisiert, fragt Theory nach Religion (126) und entwickelt zugleich ein neues Interesse an big bad oldfashioned words, among them universalism, democracy, humanism…, faith, belief, Christianity, the messianic, Saint Paul, truth, justice, forgiveness, friendship, the kingdom, the neighbour, hospitality, and even, for God’s sake, evil (127). Nicht nur Religion im Allgemeinen, sondern auch die Bibel im Besonderen is now being used as a resource for philosophers to think beyond the limits of empiricism, ontology, and metaphysics (129). Welche Perspektiven sich daraus für die biblical studies künftig ergeben, ist offen. Es gilt aber Ausschau zu halten nach modes of biblical analysis that cannot at present easily be envisioned (131). Unerlässlich ist dabei die ständige Bereitschaft, sich auf eine Reflexion der eigenen Denkgewohnheiten einzulassen: Welches system of exclusions konstituiert unsere disziplinäre Identität? Und in welchem Verhältnis steht dieses System zu den Denkweisen, die wir »modern« nennen (130)? Dass das Buch mit einer offenen Frage endet, erhöht nur die Glaubwürdigkeit der darin vorgetragenen Kritik und die Dringlichkeit des Appells, der seinen Schlusssatz bildet: We need to find religion. Manuel Vogel Anmerkungen 1 Thomas Morgan, The Moral Philosopher in a Diologue between Philalethes, a Christian Deist, and Theophanes, a Christian Jew, Vol.3, London, 1740, 134-35 (Zitat im Buch S. 56). 2 Da »Deismus« eine polemische Fremdzuschreibung ist, gebrauchen Moore und Sherwood diese nur in Anführungszeichen. »We need to find religion.«