ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40
Dronsch Strecker VogelSola scriptura als bibelwissenschaftliches Prinzip
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2017
Eve-Marie Becker
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola scriptura als bibelwissenschaftliches Prinzip Eve-Marie Becker 1. Ein historischer Slogan aus Luthers „Wunderjahr“ Martin Luthers Rede von der sola scriptura geht auf das Jahr 1520 zurück� Sie begegnet erstmalig in der „Assertio Omnium Articulorum M� Lutheri per Bullam Leonis X� novissimam damnatorum“ ( WA 7,94-151). 1 Luther reagiert mit seiner Assertio auf die Bannandrohungsbulle des Papstes („Exsurge Domine“) vom 15� Juni 1520� Nach Ulrich Köpfs Beschreibung verwirft diese Bulle „41 aus 17 Schriften Luthers zusammengestellte ‚Irrtümer’ ohne Begründung und mit undifferenzierter Bezeichnung ihrer Gefährlichkeit, verurteilt die Schriften, in denen sie enthalten sind, und räumt ihrem Verfasser und seinen Anhängern 60 Tage für einen Widerruf ein“� 2 Im Falle der Verweigerung dieses Widerrufs wurde Luther mit der Verurteilung als Ketzer gedroht� „Alle Schriften Luthers sollten dann vernichtet werden“� 3 In seiner schriftlichen Reaktion auf die Bulle des Papstes versucht Luther zunächst in lateinischer Sprache - im Januar 1521 dann auch auf Deutsch ( WA 7,308-457) - „eine ausführliche Begründung aller in der Bannandrohungsbulle verworfenen Artikel“� 4 Zugleich insistiert Luther darauf, dass er selbst und seine Lehre nur durch die Schrift belegt oder widerlegt werden können, und 1 Die Wendung sola scriptura findet sich vorher sonst in der lateinischen Literatur nur bei Augustinus, cat rud 4 in der Bedeutung „nur in der Schrift“ - diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Wischmeyer (Wien)� 2 U� Köpf, Martin Luther� Der Reformator und sein Werk, Stuttgart 2015, 89 f� 3 U� Köpf, Luther, 90� - Zu den weiteren entstehungsgeschichtlichen Hintergründen der „Assertio“ siehe auch die Hinweise in WA 7,91-93. 4 U� Köpf, Luther, 91� 26 Eve-Marie Becker prägt dabei die Wendung: … sed solam scripturam regnare … ( WA 7,98 f�, Zeile 40)� Biographisch und werkgeschichtlich betrachtet stammt die „Assertio“ aus „Luthers ‚Wunderjahr’“ 1520, in welchem dem Reformator - wie Thomas Kaufmann meint - die geistigen und literarischen „Schaffenskräfte zu(wuchsen), die den eigentlichen Höhepunkt seiner gesamten Lebensleistung markieren“� 5 Allerdings wird gerade die „Assertio“ den wichtigen Werken dieses Jahres oft nicht eigens zugerechnet, obwohl sie sich besonders in Hinsicht auf die Entwicklung der Bibelhermeneutik Luthers als bedeutsam erweist: So entwickelt Luther in der „Assertio“ 1520 / 1521 einen zunehmend kritischen Umgang mit den Kirchenvätern und den Paradigmen patristischer Schriftexegese 6 und stellt den traditionellen Formen der Schriftauslegung das Prinzip des eigenverantworteten und so auch (selbst-)kritischen Bibellesers gegenüber� Das sola scriptura in der „Assertio“ entspringt - wie wir der kurzen geschichtlichen Einordnung entnehmen können - also zuerst der Theologie- und Kirchenkritik und dabei auch der Selbstverteidigung Luthers� Es dient dem Schutz des einzelnen nach Wahrheit suchenden Christenmenschen vor der möglichen Willkür kirchlicher (und politischer) Autoritäten� Reinhard Schwarz spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „Befreiung des Gewissens“ durch die apostolische Predigt: Für Luther seien die „christliche Befreiung des Gewissens einerseits und seine gleichzeitige Bindung durch die Kirche andererseits … unvereinbar“� 7 Das später so genannte reformatorische Schriftprinzip entsteht im 16� Jahrhundert anfänglich als ein kritisches, ja auch als ein seelsorgerliches Instrument gegen mutmaßlich fehlgeleitete kirchlich-institutionelle und religiöse Autoritäts- und Machtansprüche� Der normierende Anspruch, den die lutherische bzw� die protestantische Schriftlehre später aus dem sola scriptura ableitete und auch heute noch reklamiert - wohl wissend, dass sich der Slogan, normativ verstanden, schnell in ein Oxymoron verkehrt 8 und schon in der Reformationszeit selbst zu widersprüchlichen Deutungen führen musste, wie der Streit mit den Wiedertäufern 9 und dem fundamentalisierenden Missbrauch der Schrift zeigt -, wohnt dem Prinzip selbst zuerst nicht inne. Martin Luther geht es beim sola scriptura in erster Linie nicht um die normierende Festschreibung einer theologisch-hermeneutischen Regel� Luther sucht 5 T� Kaufmann, Martin Luther, München 2006, 52 f� 6 Vgl� dazu T� Khomych, Luther’s Assertio: A Preliminary Assessment of the Reformer’s Relationship to Patristics, in: ASE 28 (2011), 351-363. 7 R� Schwarz, Martin Luther� Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 28� 8 Vgl� etwa R� W� Jenson, Systematic Theology� Vol� 1: The Triune God, Oxford 1997, 28� 9 Vgl� dazu zuletzt etwa auch L� Roper, Martin Luther� Renegade and Prophet, London 2016, 346 ff� Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 27 vielmehr nach der ,(Wieder-)Entdeckung’ der christlichen Freiheit 10 mittels Schrift-, besonders Paulusstudium, wie er in den anderen wichtigen Schriften, die in seinem „Wunderjahr“ entstehen - so im Traktat: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (vgl� etwa WA 7,24) -, darlegt. 11 Das ius Christianae libertatis ist durch die Autorität der Schrift legitimiert, welche somit eine „freedom from illegitimate human claims to authority“ schafft� 12 Im Lichte des sola scriptura kann auch die gegenwärtige neutestamentliche Exegese - in vielerlei Hinsicht - auf die ihr ursächlichen und ureigenen Aufgaben verwiesen, also gleichsam ad fontes , geleitet werden� 2. Ein mediales und medientheoretisches Prinzip frühchristlicher Kulturproduktion Denn jenseits aller kirchen- und machtpolitischen Kontroversen des 16� Jahrhunderts erscheint der Bezug auf die das theologische Denken legitimierende Kraft der biblischen Texte, wie er im sola scriptura emphatisch gefordert wird, seit jeher auch als ein mediales Prinzip christlicher Theologie� Dahinter steht nicht nur die fundamentaltheologisch wichtige Einsicht, dass die ‚Schrift’ im Laufe der Theologie- und Kirchengeschichte ein notwendiges, weil: kritisches Korrektiv zur (kirchlichen) Traditionsbildung darstellt� Skripturalität hat neben dieser ihr eigenen kritisch-korrektiven Funktion zudem auch eine mediale, ja sogar medientheoretische Signifikanz� 10 Vgl� B� Muhlhan, Being Shaped by Freedom� An Examination of Luther’s Development of Christian Liberty, 1520-1525, Eugene 2012, 42 f. 11 Vgl� dazu auch etwa B� Hamm, The Early Luther� Stages in a Reformation Reorientation, Grand Rapids / Cambridge 2010, bes. 167-171. 12 B� Hamm, Luther, 169� Prof. Dr. Eve-Marie Becker, geboren 1972; Studium der Ev� Theologie in Marburg und Erlangen-Nürnberg; 2001 Promotion zum Dr� theol�; 2004 Habilitation; seit 2006 Professorin für neutestamentliche Exegese an der Universität Aarhus, Dänemark; 2016-17 Distinguished Visiting Professor of New Testament an der Candler School of Theology, Emory University Atlanta, USA ; 2017-18 Research Fellow am Israel Institute for Advanced Studies in Jerusalem, Israel� 28 Eve-Marie Becker Sola scriptura verweist zudem darauf, dass das Christentum schon seit frühester Zeit eine (eigene) Schriftkultur entwickelt hat und diese fortlaufend bewahrt und ausarbeitet� Besonders die neutestamentliche Forschung ist im Rahmen der antiken Literaturgeschichte damit befasst, die strukturellen Prozesse, literarischen Formen und geschichtlichen Kontexte zu beschreiben, in denen sich die Kulturproduktion im frühesten Christentum wesentlich als eine solche Schriftkultur etabliert und entwickelt� Wir dürfen dabei nicht nur erst die rasante Entstehung vielfältiger textlicher und literarischer Dokumente im 2� Jahrhundert n� Chr�, also in weitgehend nach -neutestamentlicher Zeit, im Zeichen der entstehenden ‚christlichen Buchkultur’ sehen� 13 ‚Literaturbetrieb’ im Sinne einer strategisch organisierten literarischen Infrastuktur, die durch die Faktoren von Textproduktion und -rezeption in ihrer Einwirkung auf das literarisch genre definiert wird, setzt vielmehr bereits um 49 / 50 n� Chr� ein 14 - in dem Augenblick nämlich, als Paulus mit dem 1� Thessalonicherbrief erstmals ein an Christus- Glaubende adressiertes literarisches Produkt auf den Weg bringt� Jenseits jeder Alltagskommunikation, wie wir sie aus den zeitgenössischen Papyrus-Briefen kennen, 15 bietet schon das früheste paulinische Schreiben nicht nur epistolare Belehrung und Ermahnung (1Thess 4 f�), sondern auch die narrative Konstruktion einer missionsgeschichtlichen literary memory (1Thess 1,2-10) 16 , die von allen Gemeindegliedern gelesen und gehört, also öffentlich gemacht und 13 Vgl� dazu J� S� Kloppenborg, Literate Media in Early Christ Groups: The Creation of a Christian Book Culture, in: Journal of Early Christian Studies 22 (2014), 21-59. 14 Vgl� dazu E�-M� Becker, Earliest Christian Literary Activity: Investigating Authors, Genres and Audiences in Paul and Mark, in: Mark and Paul, Comparative Essays Part II� For and Against Pauline Influence on Mark� Edited by E�-M� Becker et al�, Berlin/ Boston 2014/ 2017 (BZNW 199), 87-105, wiederabgedruckt in: E.-M. Becker, Der früheste Evangelist� Studien zum Markusevangelium, Tübingen 2017 (WUNT 380), 35-52� - Die Frage nach den literatur- und kulturgeschichtlichen Bedingungen und Kontexten, unter / in denen die frühchristlichen Texte entstanden sind, hat in der neutestamentlichen Forschung in den vergangenen Jahren - zu Recht - erneut an Bedeutung gewonnen, vgl� dazu etwa: C� Keith, Early Christian Book Culture and the Emergence of the First Written Gospel, in: ders�/ D� T� Roth (eds�), Mark, Manuscripts, and Monotheism� Essays in Honor of L� W� Hurtado, London etc� 2015 (LNTS 528), 22-39; L. W. Hurtado, Oral Fixation and New Testament Sudies? ’Orality’, ’Performance’ and Reading Texts in Early Christianity, in: NTS 60 (2014), 321-340; U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, in: NTS 61 (2015), 113-143; M. R. Hauge / A. W. Pitts (eds.), Ancient Education and Early Christianity, London / New York 2016 (LNTS 533)� 15 Vgl� dazu etwa P� Arzt-Grabner, Neues zu Paulus aus den Papyri des römischen Alltags, in: Early Christianity 1 (2010), 131-157. Besonders wichtig ist die Beobachtung, dass das paulinische Briefeschreiben zwar in einigen Aspekten mit der brieflichen Alltagskultur vergleichbar ist, darin aber nicht aufgeht, wie Arzt-Grabner hier etwa am Beispiel der Empfehlungsbriefe aufzeigt (a� a� O�, 137 ff�)� 16 Vgl� dazu z� B� E�-M� Becker, The Birth of Christian History� Memory and Time from Mark to Luke-Acts, New Haven 2017 (Anchor Yale Bible Reference Library), bes� 12 ff� rezipiert werden soll (1Thess 5,27)� Nicht erst Lukas in den Acta , sondern schon Paulus in seinem frühesten brieflichen Schreiben gestaltet und ‚veröffentlicht’ kollektive Erinnerung als Konstruktion frühchristlicher Geschichte� So sind die Literalität und Literarizität neutestamentlicher Texte von Beginn an mehr als nur Verschriftlichung und Konservierung ursprünglich mündlicher Traditionen� Sie haben ihrerseits einen produktiven, weil: transformativen Wert� Literarisierte Texte transformieren die proklamativen oder narrativen Formen und Inhalte der Evangelienkommunikation und ermöglichen so die kreative Entwicklung theologischen Denkens und Argumentierens (Briefe) wie auch geschichtlichen Erzählens (Evangelien und Acta )� Zwei Beispiele dazu: Paulus gibt in 1Kor 15,3bff� nicht nur den kerygmatischen Inhalt der Evangeliumsverkündigung in Korinth - und nun in verschriftlichter Form - wieder, sondern greift die paradosis so auf und formuliert sie eigenständig, dass sie in den aktuellen Diskussionen über den Realitätsgehalt der frühchristlichen Auferstehungsbotschaft (1Kor 15,12) zu einer vergewissernden gemeinschaftlichen Erinnerung wird (1Kor 15,1)� Zugleich wählt Paulus die paradosis als Einleitung in einen ausführlichen Traktat über die Auferstehung (1Kor 15,1-58), in welchem er die Wirklichkeit der anastasis nekrōn einerseits darlegt (1Kor 15,12 ff�) und andererseits in einem apokalyptischen Narrativ antizipiert (1Kor 15,51 ff�), um sie so im Blick auf den geschichtlichen Rückbezug wie auch die Zukunftserwartung der Christus-Glaubenden argumentativ zu verifizieren� Auch Markus gibt die mutmaßliche Verkündigung Jesu von der basileia tou theou nicht einfach in verschriftlichter Form wieder (Mk 1,14 f�), sondern platziert sie im Gesamtaufriss seiner Evangelienerzählung so, dass sie die erzählte Zeit, die Zeit des Erzählers und die Zeit der Leser programmatisch miteinander verzahnt� So reflektiert und transportiert das Verkündigungs-Summarium das Wirken Jesu aus der retrospektiven Sicht des Erzählers - des Evangelisten - im Blick auf die glaubende Adaption durch den jeweiligen Rezipienten� Indem das Markusevangelium besonders in Kapitel 1 permanent zwischen Narration und Proklamation oszilliert, wie nicht zuletzt die polyvalente Bedeutung des Begriffs euaggelion zeigt, produziert der literarische Text einen noetischen Mehrwert: Leser aller Zeiten werden durch erklärendes Erzählen nun selbst zum Adressaten der Evangeliums-Verkündigung und der darin enthaltenen Zeitansage Jesu� Der Verfasser des Johannesevangeliums wird das literarische Konzept des Markusevangeliums aufgreifen und seinerseits transformieren: Johannes macht die literarische Erzählung vom Wirken des inkarnierten Logos nun zu einem reflektierten schriftlichen Zeugnis, das - sogar noch lange nach dem Tod der Christus-Zeugen ( Joh 21,24-25) - Glauben an den Gottessohn wecken und so Teilhabe am (ewigen) Leben ermöglichen soll ( Joh 20,30-31). Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 29 30 Eve-Marie Becker 3. Ein hermeneutischer Faktor (früh)christlicher Identitätsbildung Von Beginn an entsteht die frühchristliche Schriftkultur in explizitem Rückbezug auf die Schriften Israels und in Schriftauslegung� Die in den Evangelien erzählte Geschichte von den Anfängen der Evangeliumsverkündigung (Mk 1,1) wird so retrospektiv im Lichte prophetischer Zukunftsansage gedeutet (z� B� Mk 1,2 f�; 9,12; Mt 2,5; 11,10; Lk 7,27)� Zwischen dem geschriebenen (z� B� Mk 12,24) und dem gesprochenen (z� B� Hebr 1,1) Wort des Mose oder der Propheten kann, aber muss nicht zwingend unterschieden werden (z� B� Röm 1,2; 3,19)� Für die frühchristlichen Autoren in neutestamentlicher Zeit ist vielmehr entscheidend, dass die Evangelienbotschaft Jesu in eine direkte Kontinuität zur Geschichte Israels gestellt wird� Dahinter steht eine theologische Grundprämisse: Der Vater Jesu Christi ist identisch mit dem Gott Israels (z. B. 2Kor 1,3-11). Die für (nahezu) alle neutestamentlichen Schriften charakteristische Suche nach der Kontinuität des Evangeliums von Jesus Christus zur Heils- und Glaubensgeschichte Israels führt beim hermeneutischen Umgang mit der Schrift, also der Septuaginta, im Einzelnen zu sehr unterschiedlichen theologischen und hermeneutischen Lösungen: 17 So behält die graphē (Schrift) Israels ihre grundlegende Bedeutung (z� B� Mk 12,24), sie ist aber mit dem Wirken Jesu erfüllt (z� B� Lk 4,21), d� h�, an ihr Ziel gekommen� Nach diesem Verständnis ist Jesus von Nazaret der vollmächtige und endgültige Lehrer der Tora (Mt 7,28 f�)� So dient der schriftauslegende Bezug auf die Septuaginta teils der sachlichen Legitimierung und Autorisierung der Evangeliumsbotschaft (z� B� 1Kor 15,3) - neutestamentliche Autoren geben dabei zu erkennen, dass sie die „Schrift“ kennen und deren Auslegung beherrschen (z� B� Apg 1,20; Phil 3,5)� Teils soll die „Schrift“ Israels in den neutestamentlichen Texten - besonders im Zusammenhang der Lehre und Verkündigung Jesu - sachlich (z� B� Mt 5,21 ff�), vielleicht auch literarisch (z� B� Apg 7,2 ff�) überboten, im Blick auf nomistisch engführende Deutungen sogar außer Kraft gesetzt, besser: auf die ihr eigenen (Glaubens-)Grundlagen zurückgeführt (z� B� Röm 4,3) werden� Paulus bietet sich als ein von Gott selbst berufener (Gal 1,15 f�) Apostel an, diese Grundlagen vor dem Hintergrund der „erfüllten Zeit“ (Gal 4,4) heilsgeschichtlich offenzulegen (Gal 4,21 ff�), für alle Christus-Glaubenden transparent zu machen (2Kor 3) und in ihren zukünftigen Konsequenzen für den Heilsanspruch Israels konkret zu bedenken (Röm 9-11). Bei allen schriftstellerischen und konzeptionellen Unterschieden gilt die Schrift Israels den neutestamentlichen Autoren übereinstimmend als zeugnisgebendes, geschichtliches Dokument von Gottesrede und zugleich als sprachlicher, immer 17 Vgl� etwa die verschiedenen Beiträge in: C� A� Evans / D� H� Zacharias (eds�), What does the Scripture say? Studies in the function of Scripture in early Judaism and Christianity, London / New York 2012 (LNTS 469 / 470)� noch sprechender Ausdruck des göttlichen Heilswillens� Im Rückbezug auf wie in kritischer Auseinandersetzung mit der „Schrift“ ist das entstehende Christentum gefordert, nicht nur Schriftauslegung zu praktizieren, sondern auch den kerygmatischen Gegenstand des Christus-Glaubens - das Evangelium - entsprechend dem Modell von Sprache, Wort und Schrift zu konfigurieren� Der neutestamentlichen Forschung fällt die Aufgabe zu zu untersuchen, mit welchem Autoritätsverständnis und -anspruch die neutestamentlichen Autoren diese Konfigurierung vornehmen und ihrerseits Schriftauslegung betreiben� Zu fragen bleibt: Wieweit begründet der von den neutestamentlichen Autoren selbst gewählte Umgang mit der „Schrift“ im Ergebnis ein christlich-theologisches Paradigma von Schriftauslegung, das - durchaus im Sinne Luthers - einen literatur- und theologiekritischen Umgang mit der Schrift, Alten und Neuen Testaments, eröffnet? 4. Ein globales Paradigma intra- und interkonfessioneller (Wissenschafts-)Kommunikation Das sola scriptura Luthers verweist die neutestamentliche Forschung auf den Faktor der Textualität und Schriftlichkeit ihres primären Untersuchungsgegenstands: nämlich des Neuen Testaments� Führende internationale wissenschaftliche Gesellschaften zur Erforschung der biblischen Literatur („Society of Biblical Literature“) oder des Neuen Testaments („Studiorum Novi Testamenti Societas“) geben schon in ihrem Namen zu erkennen, dass sie ihre Aufgabe wesentlich in ebendieser Untersuchung der textlichen und literarischen, also der skripturalen Traditionen Israels und der frühchristlichen Welt sehen� Wir treffen dabei nicht auf eine veraltete akademische Selbstverpflichtung, sondern auf die - früher wie heute - grundlegende Annahme, dass die Bibel als eminentes Schriftencorpus, das wie sonst keine Textsammlung der Weltliteratur auch kulturgeschichtlich wirkungsvoll war und ist, in methodischer und hermeneutischer Hinsicht eine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Anstrengung verdient und erfordert� Diese Annahme wird grundsätzlich von allen Exegeten und Exegetinnen weltweit geteilt, und zwar unabhängig von ihren kulturellen und konfessionellen Prägungen und weitgehend unabhängig von methodischen Präferenzen bei der Textauslegung und -interpretation� Der Diskurs über das lutherische sola scriptura und seine theologie- und dogmengeschichtlichen Folgen kann dazu anregen, diese zumeist unausgesprochen geteilten Annahmen auszusprechen und vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass die neutestamentliche Wissenschaft - so wie jede andere (Teil-)Disziplin in den Geistes- und Kulturwissenschaften - in ihrem jeweiligen akademischen setting konkurrenztüchtig, gesellschaftsrelevant, zukunftsorientiert und exzellent Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 31 32 Eve-Marie Becker agieren muss, um ihren akademischen Ort nicht nur zu behalten, sondern auch zu profilieren� So ermöglicht das sola scriptura - jenseits konfessioneller Traditionen und Interessen - letztlich eine wissenschaftsstrategische Diskussion über die Geschichte und die Zukunft der neutestamentlichen Exegese� Daneben hat das sola scriptura auch eine intra-konfessionelle Bindekraft� Auf der gemeinsamen Suche nach dem gegenwärtigen Umgang mit dem lutherischen Schriftprinzip haben Lutheranerinnen und Lutheraner von allen Erdteilen in den vergangenen Jahren auf vier gemeinsamen Konsultationen des „Lutherischen Weltbundes“ in Nairobi, Eisenach, Chicago und Aarhus diskutiert, was ein lutherisches reading des Johannesevangeliums, der Psalmen, des Matthäusevangeliums und der Paulusbriefe 18 hermeneutisch impliziert und bedeutet� Die politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialethischen Bedingungen, unter denen lutherische Christen weltweit biblische Texte lesen, variieren so stark, dass der Faktor der Kontextualität, bedingt durch die verschiedenen Lesewelten, immer wieder anstelle des Strebens nach einem gemeinsamen branding lutherischer Kirchen zu treten droht� Er bleibt ein wichtiger Faktor, ja muss es bleiben� Gleichwohl hat das fortlaufende Bemühen, miteinander die biblischen Texte zu lesen und einander dabei die unterschiedlichen Verstehenshorizonte zu eröffnen - getragen durch die stetige Erfahrung, dass die biblischen Texte fortlaufend Deutung provozieren und stimulieren - gezeigt, dass nicht in allen Fragen der Auslegung, wohl aber im geteilten Willen zur Auseinandersetzung mit dem Text - also im Dass der exegetischen und hermeneutischen Arbeit - das sola scriptura ein unerschöpfliches Potential an Gemeinschaftsgeist generiert� Es wirkt so als meta-ethisches Prinzip der Sorge für Kircheneinheit in Vielfalt 19 � 5. Luthers sola scriptura-- ein Meta-Konzept? Für Luther ist die Bibel kein sakrosankter Text� Sie ist vielmehr - wie Heiko A� Oberman es einmal vereinfachend beschrieben hat - ein „notwendiges Übel …, wenn sie als papierner Papst in Heiligkeit erstarrt“� Nach Luthers Verständnis ist das Evangelium wohl „vergilbten Seiten anvertraut, doch es will mit frischen Worten frohe Botschaft werden“ (vgl� auch WA 5,537,16 ff�)� 20 So ist das sola scriptura der eigentliche Ermöglichungsgrund bibelwissenschaftlich 18 Vgl� dazu zuletzt: E�-M� Becker/ K� Mtata (eds�), Pauline Hermeneutics� Exploring the „Power of the Gospel“, Leipzig 2017 (LWF Studies 2016/ 3)� 19 Vgl� dazu die Schlusserklärung: „In the beginning was the word“: The Bible in the Life of the Lutheran Communion - A Study Document on Lutheran Hermeneutics, 2016 - s�: https: / / www�lutheranworld�org/ sites/ default/ files/ dtpw-hermeneutics_statement_en�pdf 20 H� A� Oberman, Luther� Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, 184� geleiteter theologischer Argumentation, die aber auslegenden, nicht spekulativkonstruierenden Charakter hat� Aus den Tischreden Luthers ist entsprechend der Satz überliefert: „Wer ein ϑεολογος will werden, der hatt erstlich ein grossen vortheil: Er hatt die bibel“ ( WA Tr 5,204,16 f�)� 21 Denn das Bibelstudium ermöglicht die eigenverantwortete theologische Urteilsbildung� Nach Luther ist Theologie demnach in erster Linie, zuerst und zuletzt eine Bibelwissenschaft � Wir können Luthers Bibel- und Theologieverständnis heute für problematisch oder insuffizient halten - allerdings folgt eine solche Kritik dann in Wirklichkeit wohl aus einem grundlegenden Zweifel an und Misstrauen gegenüber der Behauptung der sachlichen Suffizienz der biblischen Texte� Luther würde einer solchen Beurteilung sicher entschieden widersprechen� Er würde die Aufgabe der christlichen Theologie so bestimmen, dass sie wesentlich in der Auslegung des Evangeliums, wie es in den biblischen Texten zu finden ist, aufgeht� Wir dagegen haben gelernt, Wahrheitsansprüche zu kontextualisieren und zu relativieren� So hat sich die Aufgabenbestimmung der neutestamentlichen Exegese verselbständigt und vom Anspruch, christliche Theologie als Verkündigung der Evangeliumsbotschaft zu verstehen, längst gelöst� Zwischen uns und Luther liegt die Aufklärungszeit� Wir meinen, im Sinne Kants verstanden zu haben, dass die Relativierung des Wahrheitsanspruches notwendig daraus folgen müsse , dass wir Mündigkeit - auch und gerade gegenüber den biblischen Texten - eingefordert haben� Doch würde Luther dieses Bestreben nach Mündigkeit ablehnen? Dem Reformator fehlte es wohl kaum an Entschließung oder Mut, als er das sola scriptura in der „Assertio“ 1520 zu Papier brachte� Er kämpfte ja gerade für die Mündigkeit des Christenmenschen als Bibelleser und wollte dessen Ausgang aus der durch kirchliche Doktrin, also fremd verschuldeten Unmündigkeit ermöglichen� Was uns von Luther trennt, ist daher weniger der aufklärerische Weckruf zur Mündigkeit als vielmehr Luthers unerschütterlicher Optimismus, dass die biblischen, besonders die neutestamentlichen Texte so reich und vielfältig sind, dass sie eine in sich suffiziente Quelle zu den Anfängen und Grundlagen des Christentums sind und bleiben� So wie Luther im „sola scriptura“ keine normierende Ausschließlichkeit, wohl aber die sachliche Unbedingtheit und Überlegenheit des Bibelstudiums zum Ausdruck bringen wollte, könnte dieser Optimismus Luthers der neutestamentlichen Forschung in unseren Tagen nicht nur Mut zur Entschließung einflößen, sondern auch neue Orientierung geben im Blick auf das, was heute - und morgen noch - in der Wissenschaft zu tun ist� 21 Angeführt auch bei H� A� Oberman, Luther, 178� Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 33
