eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft

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2017
Kristina Dronsch
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft Kristina Dronsch 1. Die Materialität der Schrift Kaum ein reformatorischer Identitymarker eignet sich besser, das Wohl und Wehe einer neutestamentlichen Wissenschaft zu markieren als das reformatorische sola scriptura � Jene Auffassung also, dass die Schrift in allen Fragen der Lehre als „alleinige Regel und Richtschnur“ zu gelten habe, wirkt� Und besonders in ein Jahrhundert hinein, dass die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Pluralität als ihre ureigene Aufgabe auch in den wissenschaftlichen theologischen Diskurs hineingetragen hat� Gerne wird sich auf die Schrift berufen, und zwar in einem durchaus normativen Sinn, aber jeder hat seine eigene� Deshalb scheint es nicht das Schriftprinzip zu sein, das heute zur Debatte steht, sondern die angemessene Form des Schriftgebrauchs� Dass über den angemessenen Schriftgebrauch überhaupt nachgedacht werden kann, liegt in der Materialität der Schrift begründet� Und diese Materialität ist es, der meine ersten Gedanken gewidmet sind� Es handelt sich um ein Plädoyer für eine veränderte Betrachtungsweise auf das reformatorische sola scriptura ausgehend von der Materialität der Schrift� Der hermeneutische Wettstreit um die Interpretationshoheit der Schrift, der sich in der evangelischen Theologie zwischen Systematik und vor allem der historisch-kritischen Exegese beobachten lässt, offenbart meines Erachtens von zwei unterschiedlichen Blickwinkeln aus, was der wissenschaftlichen Theologie im Allgemeinen und der Bibelwissenschaft im Besonderen als Aufgabe 78 Kristina Dronsch gestellt ist: eine Reflexion über die Grundlagen des angemessenen Gebrauchs der Schrift� Diese Aufgabe ist kein Additum, die dem reformatorischen Schriftprinzip beigeordnet wird, sondern vielmehr Grundlagenarbeit, um der Materialität der Schrift in explikativer Weise entsprechen zu können� Die These, mit der ich im Folgenden arbeiten werde und die ich als heuristisch voraussetze, lautet dabei, dass sowohl die systematische Theologie als auch die Bibelwissenschaften von einem Schriftgebrauch ausgehen, der komplementär zu verstehen ist, aber jeweils getragen ist von einer gewissen Familienähnlichkeit� In den Bibelwissenschaften - in der historisch-kritischen Zentrierung - liegt ein transitorischer Schriftgebrauch vor, der die Schrift als mediales Vehikel benutzt, um letztlich zu der ipsissima vox hinter der Schrift zu gelangen� Die Schrift wird damit zu einem zu vernachlässigenden Vehikel der eigentlichen Botschaft� Die systematische Theologie hingegen verfolgt einen Ansatz des instrumentalistischen Schriftgebrauchs, wobei die Schrift als Wort Gottes an der Erzeugung der Botschaft fundamental beteiligt ist� Hier hat die Schrift gerade keine transitorische Neutralität, sondern instrumentelle Prägekraft� Worin jedoch die Familienähnlichkeit besteht ist, dass beiden Ansätzen ein apriorischer Ansatz zugrunde liegt� Beide zehren von einem Schriftgebrauch, der eine gewisse mediale Zuspitzung im Sinne des Aprioris hat: nämlich, dass die Materialität der Schrift als ein Medium zu verstehen ist, das die unhintergehbare Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkennen liefert - einmal in transitorischer Weise und einmal in instrumenteller Weise� Doch wenn dieser - ich gebe es zu - sehr holzschnittartigen Zuspitzung des unterschiedlichen Schriftgebrauchs eine andere Sichtweise an die Seite gestellt wird, scheinen sich einige der Machtkämpfe im theologischen Disziplinenbereich in Luft aufzulösen: Ich schlage deshalb vor, eine Reflexion auf die Schrift nicht so zu vollziehen, dass die Schrift die Bedingung der Möglichkeit unseres Weltverständnisses ist, sondern auszuprobieren, was sich zeigt, sobald sich mit der Schrift auseinandergesetzt wird im Horizont der Frage, was hinter der Erscheinung der Schrift liegt� Dies bringt eine mediale Perspektive mit Blick auf die Schrift ein und es scheint - zumindest auf den ersten Blick - wie ein Rückfall in einen längst überwundenen Platonismus� Meine Intention ist jedoch eine andere: Es soll gezeigt werden, wie durch die Aufnahme einer platonischen Denkfigur, wenn diese in medialer Zuspitzung auf den Schriftgebrauch bezogen wird, der Platonismus nicht restituiert, sondern unterminiert wird� Wenn das reformatorische Prinzip sola scriptura in seiner gestaltenden Funktion auf den Punkt zu bringen ist, dann dient es dazu, der Schrift den Raum zu geben, reibungslos zu arbeiten für das Wort Gottes� Die Schrift macht das Wort Gottes lesbar, hörbar und wahrnehmbar, aber all das mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten unwahrnehmbar zu Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 79 machen� Es ist gerade diese mediale Qualität der Schrift, die Luther betonte und die Klarheit der Schrift hebt nichts anderes hervor, als dass dieses Medium Schrift unsichtbar bleibt, denn es gibt keine Dysfunktion oder Störung bei dieser Übertragung des Wortes Gottes� In dieser medialen Perspektive auf die Schrift ist dann die neutestamentliche Wissenschaft vor die manifeste Aufgabe gestellt, sich der Mittelbarkeit der Schrift auszusetzen� In einer biblischen Perspektive ist dies nichts Neues, sondern spätestens mit der Vertreibung aus dem Paradies, bei der die Unmittelbarkeit unseres Weltverständnisses verloren ging, gehören Mittelbarkeit und Vermittlung zur menschlichen Spezies dazu� Das reformatorische Prinzip sola scriptura stellt diesen Aspekt der Mittelbarkeit und Vermittlung in den Fokus - exklusiv zentriert auf das Medium Schrift� Vermittlung heisst dabei nicht Transport von A nach B, sondern birgt immer auch eine Transformation des Übertragenen� Und dort, wo es um Transformationen geht, geht es immer auch um Bedeutungsprozesse� Es sind eben diese Bedeutungsprozesse, die in der medialen Perspektive auf die Schrift in den Fokus rücken� Jede Rezeption der Schrift - ob nun in einem wissenschaftlichen Kontext oder anderen Kontexten - ist eine solche Transformation des Übertragenen� Dabei ist es in dieser medialen Perspektive auf die Schrift für die neutestamentliche Wissenschaft vorrangig, sich mit der Frage der Bedeutung auseinanderzusetzen� Denn die stattfindenden Transformationen beruhen auf Bedeutungsprozessen� Die Frage nach der Bedeutung darf als die markanteste und folgenreichste Innovation des 20� Jahrhunderts angesehen werden, die sich manifestiert in der Verlagerung des bis dahin vorherrschenden Interesses an erkenntnistheoretischen Fragen hin zu einem Interesse an Bedeutungsfragen 1 � In den Mittelpunkt 1 Vgl� zu dieser These J� P� Arnarsons, Praxis und Interpretation� Sozialpsychologische Studien, Frankfurt am Main 1988, 204 f� Vgl� auch I� Hacking, Die Bedeutung der Sprache für die Philosophie, Königstein (Ts�) 1984, 51 f�, der darauf hinweist, dass die Frage der Be- Dr. Kristina Dronsch, geboren 1971, Studium der Theologie in Deutschland und der Schweiz, arbeitet als Dozentin für Neues Testament, Exegese und Ethik am Wichernkolleg in Berlin� Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Hermeneutik, Markusevangelium und Johannesevangelium� 80 Kristina Dronsch gerückt sind damit die bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichensysteme 2 , wobei gerade die Erforschung kultureller Voraussetzungen sich als äußerst gewinnbringend erwies� Wenn also kulturelle Produktivität in Form von Transformationsprozessen verstanden werden soll, geht dies nicht ohne sich mit der Frage der Bedeutung auseinanderzusetzen� Aber zugleich ist in der medialen Perspektive auf die Schrift zu betonen, dass Bedeutungen nur kraft ihrer Materialisierungen übertragbar und damit die bedeutungsgenerierenden Prozesse überhaupt ausweisbar sind� Transformationsprozesse von einem Zeichenzusammenhang in einen anderen ruhen in der Fähigkeit zu Materialisierung und Konkretisierung dessen, was auch als immateriell und abstrakt zu denken ist� Entscheidend für jede Art kutureller Kreativität ist also nicht die Fähigkeit, Bedeutungen aus der Welt der materiellen Dinge herauszukristaliseren, sondern das Bedeutsame verkörpern zu können� Aus diesem Grund ist die vorrangige Frage, die das reformatorische sola scriptura aufgibt, wie die bedeutungsgenierenden Transformationsprozesse in einer neutestamentlichen Wissenschaft zu verorten sind� 2. Bedeutung als Fundierungskategorie Sinnvoll scheint es, die Frage der Bedeutung ist als Fundierungskategorie einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Exegese zu verstehen 3 � Dafür ist ein weideutung keineswegs als ein rein philosophisches oder linguistisches Problem angesehen werden darf: „Wir vergessen leicht, daß zur Zeit Freges Bedeutungen das theoretische Denken beherrschten� Damals verfügt fast jede Disziplin über eine Untersuchung, die auf Bedeutungen basierte, oder sogar über eine Theorie der Bedeutungen� […] Max Weber, der große Begründer der modernen Soziologie, beginnt seine Analyse mit einer Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bedeutungen einer Handlung� Freuds Psychoanalyse ist nichts anderes als eine Theorie der Bedeutung� Und so fort …“� 2 Der Begriff des „Zeichensystems“ soll an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Akt der Bedeutungskonstitution sich nicht auf das Seiende bezieht� Das bloß Seiende hat keine Bedeutung, sondern nur Zeichen haben Bedeutung� Denn nur das Zeichen mit seiner Fähigkeit, auf etwas hinzuweisen, was es selbst nicht ist, kann eine Bedeutung haben� Die Notwendigkeit im Rahmen der Bedeutungskonstitution von Zeichenprozessen zu sprechen, erlaubt die Konstituierung der Bedeutung durch die Transformation eines Zeichenzusammenhangs in einen anderen (beispielsweise die Transformation eines Bibeltextes in eine Interpretation, eine biblische Erzählung in eine Predigt, einen Zustand in eine Photographie oder ein Bild in eine Beschreibung)� 3 Damit schließen wir uns B� J� Malina, Die Welt des Neuen Testaments� Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart [u� a�] 1993,16 an, der darauf hinweist, dass Kulturen gemeinsame Bedeutungen „schaffen“, welche sich zur Gestaltung der sozialen Welt einer gegebenen Gruppe verbinden: „Wenn […] die Bedeutung von Wörtern, Sätzen oder ganzen Texten sich aus einem sozialen System ergibt - denn das gesprochene oder geschriebene Wort enthält nun einmal seine Bedeutung durch ein soziales System -, dann verlangt Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 81 ter Kulturbegriff zugrunde zu legen, der in der Lage ist, ethnozentrische Anachronismen zu überwinden, da er an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff gekoppelt ist� Dieser Kulturbegriff stimmt mit dem Kulturbegriff der Cultural Studies überein, der in den 60er Jahren an der Universität Birmingham im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsprojektes entwickelt wurde� Gerade die Koppelung des Kulturbegriffs an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff zeigt an, dass eine klare Definition von Kultur im Zusammenhang mit der Kategorie der Bedeutung nicht möglich ist: Denn Kultur definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs, trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur ist und was nicht� Aber sofern Bedeutung als nicht statisch gedacht wird, ist damit vorausgesetzt, dass sie sowohl veränderlich wie auch perspektivenabhängig ist� D� h� im Zusammenhang mit der Kategorie der Bedeutung widersetzt sich der Kulturbegriff der definitorisch eindeutigen Grenzziehung� Die Darstellung der Kultur als Zeichensystem halte ich mit Posner für angemessen, da so die sozialen, materialen und mentalen Aspekte der Kultur in einem Modell bedacht werden können, die sonst in getrennte Gegenstandsbereiche der Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Normwissenschaften aufgeteilt werden 4 � Einer der Vorzüge dieser semiotischen Analyse der sozialen, materialen und mentalen Kultur ist, dass sie diese Gegenstandsbereiche in einen theoretisch fundierten, systematischen Zusammenhang stellt: „Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern, eine Zivilisation als Menge von Texten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind jedes angemessene Verstehen der Bibel ein gewisses Vor-Verständnis jenes sozialen Systems, das in den Wörtern zum Ausdruck kommt, aus denen unsere Heilige Schrift besteht“� 4 Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen „Kultur“ sieht Roland Posner drei relativ unverbundene Wissenschaftstraditionen, die sich jeweils mit einem besonderen Aspekt von Kultur beschäftigen� So konzentrieren sich die Sozialwissenschaften vor allem auf die soziale Seite der Kultur - die Gesellschaft� - auf ihre Institutionen, Formen und Rituale� Die Geisteswissenschaften in erster Linie vor allem auf die materiale Seite der Kultur - die Zivilisation - wobei sich beispielsweise die Kunstgeschichte mit Bildern, die Literaturwissenschaften mit literarischen Texten, die Architektur mit Gebäuden beschäftigt� In jeden Fall stehen sogenannte Artefakte mit ihren Herstellungs- und Verwendungsweisen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses� Die dritte Wissenschaftstradition, die sich mit einem Aspekt von Kultur befasst, wird von Posner Normwissenschaft genannt� Sie untersucht die mentale Seite der Kultur, genannt Mentalität� Zur Mentalität gehören die in einer Kultur entwickelten Ideen und Werte sowie die Konventionen ihrer Darstellung und Verwendung� Als prototypische Normwissenschaft nennt Posner die Linguistik, daneben gelten auch die Logik, die Ästhetik, Mathematik und Informatik als Beispiele für Normwissenschaften (Vgl� R� Posner, Kultur als Zeichensystem� Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, in: A� Assmann / D. Harth (Hgg.), Kultur als Lebenswelt und als Monument, Frankfurt 1991, 37-74, hier: 38)� 82 Kristina Dronsch diese drei Bereiche notwendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen� Die Semiotik kann somit die Einheit der kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände nachweisen“ 5 � Da die bisherigen Disziplinen sich jeweils vornehmlich mit nur einem Aspekt der Kultur beschäftigten, ist also ein Konzept gefordert, dem es gelingt, alle drei Dimensionen - die soziale, materiale und mentale - in einem einzigen Theorierahmen zu integrieren� Hierfür liefert die Semiotik eine geeignete Ausgangsbasis, denn „Kulturen sind Zeichensysteme“ 6 � Der Begriff der Kultur wird somit zu einem einheitlichen theoretischen Konzept, in welchem die soziale, materiale und mentale Kultur auf Zeichenprozesse zurückgeführt wird� Kultur ist zwar als Kultur nicht denkbar ohne die Kategorie der Bedeutung, so dass gesagt werden kann, dass Bedeutung jeder kulturellen Ausprägung vorgegeben ist, aber vorgegeben nur als Kategorie nicht als bestimmter Inhalt� Dieses angesprochene Apriori der Bedeutung ist somit nicht zu verstehen, als ob eine bestimmte (und damit statische) Bedeutung in einer Kultur vorgegeben sei, die sich dann in verschiedenen Zeichensystemen artikuliert, sondern der Akt der Bedeutungskonstitution ist zu verstehen als die Transformation eines Zeichens in einen anderen Zeichenzusammenhang� In diesen entstandenen Zeichenzusammenhängen konstituiert sich Bedeutung nicht als zeittranszendente Vorgegebenheit, sondern als im Rahmen kultureller Aktivitäten konstituierte, die somit die Zeichensysteme als historisch bedingte ausweist 7 � Verbunden mit dem reformatorischen sola scriptura gilt also festzuhalten, dass sich nicht in der Schrift Bedeutung materialisiert hat, sondern dass diese im Rahmen der Transformationsprozesse durch die Rezeption der Schrift kulturell konstituierte Bedeutung materialisiert� Da diese Transformationen im Rahmen der Geschichte der Kultur stattfinden, wird die Generierung unter dieser Berücksichtigung zu einem per definitionem unendlichen Prozess der Konstitution von Bedeutung, allerdings nicht verstanden als eine Reihe immer anderer Artikulationen einer immer doch gleich bleibenden Bedeutung� 5 Posner, Kultur, 53� 6 Posner, Kultur, 39� Diese Formulierung weist eine große Ähnlichkeit zur Konzeption von Umberto Eco auf, der darauf hinweist, dass Kulturen sich als Zeichensysteme besser verstehen lassen� Vgl� U� Eco, Einführung in die Semiotik, München 9 2002, 36 u� ö� 7 In diesem Sinn lassen sich auch die Erwägungen von J� Assmann, Das kulturelle Gedächtnis� Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2 1997,17 u� ö� integrieren, der im Kulturbegriff drei Themenkomplexe verbunden sieht: den Komplex der Erinnerung, den Komplex der Identität und den Komplex der kulturellen Kontinuität: „Jede Kultur bildet etwas aus, daß man ihre konnektive Struktur nennen könnte� Sie wirkt verknüpfend und verbindend, und zwar in zwei Dimensionen: der Sozialdimension und der Zeitdimension“� Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 83 Indem die Kultur als unabschließbarer Prozess der Bedeutungskonstituierung beschrieben wird, wird gleichzeitig die Kategorie der Bedeutung als Fundierungskategorie einer Kulturwissenschaft verstanden: „kulturelle Prozesse lassen sich nicht anders denn als Prozesse der Konstitution von Bedeutung, die als Prozesse der Transformation von Zeichenzusammenhängen in andere Zeichenzusammenhänge vollzogen werden, adäquat bestimmen und beschreiben“ 8 � Eine kulturwissenschaftlich fundierte Exegese negiert somit das Vorhandensein einer „reinen Bedeutung“ der Schrift, der sich universal approximativ angenähert werden kann durch jede Zeit und durch alle Umstände� Somit ist ein statischer Bedeutungsbegriff zu verabschieden und vielmehr Bedeutung als sich dynamisch entwickelnd vorzustellen� Eine kulturwissenschaftliche Exegese negiert keineswegs die geschichtliche Gewordenheit der biblischen Texte, erweitert diese aber um eine multikulturelle Perspektive, die die Objektivierbarkeit von Bedeutung als feststellbare statische Vorgegebenheit zurückweist� Dabei erfüllt eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese auch eine ideologiekritische Funktion in eben dieser multikulturellen Perspektive: „it recognizes that the cultural ideology of the contemporary text reader is as influential as the ideological concerns of the author’s and / or the intended reader’s classical culture“ 9 � Eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese ist nicht allein auf Texte spezialisiert, sondern umfasst, wie Posner dargelegt hat, alle Aspekte der Materialität zu denen neben Texten auch Artefakte und Instrumente zählen, darüber hinaus auch die soziale Kultur wie die mentale 10 � Kultur stellt somit einen kollektiven Mechanismus der Informationsspeicherung dar� Diese Informationsspeicherung geschieht nun aber nicht zentral, sondern ist sowohl durch die Institutionen einer Gesellschaft, durch die Artefakte und Texte der Zivilisation als auch durch die Mentefakte der Kodes gewährleistet� D� h� dass die kollektive Informationsspeicherung auf der Herstellung von Artefakten und Texten sowie deren Rezeption mit Hilfe von kulturellen Kodes beruht� Deshalb muss eine kulturwissenschaftliche Exegese sich besonders an 8 E� Fischer-Lichte, Bedeutung� Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979, S� 13� 9 Blount, Introducing Cultural Exegesis, 85� Allerdings ist Blount in seinen weitergehenden Ausführungen nicht zuzustimmen, wenn er darlegt, dass diese kulturellen Prozesse der Bedeutungskonstitution als „MY meaning“ ihre Ausprägung finden� Denn gerade die kulturelle Sichtweise ist geprägt durch ein dynamisches Kulturverständnis, welches bewusst verzichtet auf einen subjektivistisch übergeordneten Begründungszusammenhang� 10 R� Posner, Kultur als Zeichensystem� Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, in: A� Assmann / D� Harth (Hg�), Kultur als Lebenswelt und als Monument, Frankfurt 1991, 37-74, hier: 42 ff. 84 Kristina Dronsch der Arbeit mit Texten als geeignet erweisen, da Texte zu den grundlegenden Trägern eines kollektiven Gedächtnisses zählen� Deshalb ist es die Aufgabe einer so verstandenen kulturwissenschaftlichen Exegese a�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Zeichensysteme, b�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Transformationsprozesse, in denen ein Zeichenzusammenhang in einen anderen transformiert wird 11 sowie c�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Zeichenzusammenhänge, die Ausgangspunkt bzw� Resultat derartiger Transformationsprozesse sind� Eingebunden im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese ist damit die Angewiesenheit der Zeichen(prozesse) auf Interpretation 12 � Nachdem auf der Grundlage des reformatorischen sola scriptura als Fundierungskategorie einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese die Kategorie der Bedeutung herausgearbeitet wurde, soll in einem nächsten Schritt gezeigt werden, dass in einer medialen Perspektive das so verstandene reformatorische sola scriptura aufgrund der Transformationsprozesse auch eine Relevanz für jede Auslegungsgemeinschaft hat, eben auch eine Auslegungsgemeinschaft in einem universitären Kontext� Hier zeigt sich eine unaufgebbare theologische Qualität reformatorischen Selbstverständnisses� 3. Bedeutungsfragen im Horizont einer Auslegungsgemeinschaft Mit dem reformatorischen sola scriptura einher geht die reformatorische Grundüberzeugung, dass jeder Mensch unmittelbar vor Gott steht� Dieses unmittelbare Verhältnis zu Gott und seinem Wort schließt ein, dass jede und jeder befähigt und gehalten ist, in den lebensbestimmenden Bezügen davon auf der Grundlage der Schrift auch Zeugnis zu geben� Es sind in dieser Perspektive die Rezipientinnen und Rezipienten, die eine Verantwortung dafür tragen, dass die bedeutungsgenerierenden Transformationsprozesse vermittelt durch die Schrift auf fruchtbaren Boden fallen� Dies ist mit Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft in zweierlei Weise zu bedenken: 11 Diese Aufgabenstellung ist im weitesten Sinn als eine rezeptionsorientierte zu verstehen� Es geht also bei dieser Fragestellung im Zusammenhang mit biblischen Texten um den Vorgang der Rezeption als Prozess der Konstitution einer „Text“-Bedeutung� 12 Mit diesem Hinweis auf die Angewiesenheit der Zeichen auf Interpretation haben wir noch nichts über die Art und Weise der Interpretation gesagt� Aber an dieser Stelle kann schon darauf hingewiesen werden, dass im Rahmen dieser vorgestellten Exegese Zeichen offen sind für verschiedene Interpretationen, sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive, dennoch gibt es Grenzen der Interpretation, die durch die speziellen kulturellen Signifikationssysteme gesetzt sind� Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 85 Zum einen: Wenn die Schrift als der mediale Kreuzungspunkt, von dem aus die bedeutungsrelevanten Transformationsprozesse in den Blick kommen, aufgefasst wird, impliziert dies eine Aufwertung eines Wissenskonzeptes, das in den Wissenschaften bzw� in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft - man kann sagen - auf seine Entdeckung wartet� Wissenschaft - und gerade auch die theologische Wissenschaft - tendiert dazu, als Erkenntnisquelle nur die Wahrnehmung und Erfahrung sowie das eigene Schlussfolgern als vertrauenswürdig anzusehen� Doch kommt in der medialen Perspektive auf das sola scriptura noch eine andere Erkenntnisquelle in den Blick: Wenn wir beispielsweise eine Sprache lernen, wenn wir Kenntnis davon haben, wann und wo wir geboren wurden, wenn wir uns durch die Nachrichten von Tagesereignissen informieren lassen, wenn wir ein Lexikon aufschlagen, um zu verstehen, was „Reformation“ heißt, wenn wir überhaupt irgendetwas erfahren oder erlernen durch mündliche oder schriftliche Unterrichtung, dann erwerben wir immer ein Wissen durch die Worte anderer� Ja, die Frage ist mehr als berechtigt: Können wir uns überhaupt Kenntnisse vorstellen, die auskommen ohne die Mitteilungen anderer? Was wüssten wir über die „Reformation“ ohne die Mitteilungen anderer? Wieviel von dem, was wir für Erfahrungstatsachen halten, haben wir tatsächlich erfahren - und nicht etwa „nur“ gehört oder gelesen ? Deshalb kann gesagt werden: Sich auf Informationen, Wissen und Annahmen zu verlassen, die nicht von uns ermittelt, sondern uns übermittelt wurden, bildet die Grundlage unserer Weltorientierung: das gilt für unseren Alltag nicht weniger als für unsere Glaubensüberzeugungen� Es handelt sich dabei um ein Wissen, welches wir durch das Zeugnisgeben durch andere erhalten� Das Wissen durch Zeugnis anderer ist ein ubiquitäres Phänomen� Doch merkwürdiger Weise: Dieses Wissen gilt gar nicht als Wissen - vor allem nicht in einem universitären Kontext und so gibt gerade das sola scriptura Prinzip auf, über diese Wissensform nachzudenken� Statt Wissen auf Erfahrungstatsachen oder eigenes schlussfolgerndes Denken einzugrenzen, hat eine neutestamentliche Wissenschaft viel mehr sich als eine Auslegungsgemeinschaft zu verstehen, die von einer Wissensform lebt, bei der Wissen vermittelt wird� Und so gibt das sola scriptura Prinzip auch die Wiederentdeckung dieser Wissensform auf� Zum anderen ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass der Erfolg der Reformation sich daran entschied, dass Menschen in den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie lebten, etwas mit der von Luther und seinen Kollegen formulierten Botschaft des sola scriptura ‚anfangen’ konnten� Die theologische Ermöglichungs- und Ermächtigungsgrundlage, die religiöse Lizenz dieses ‚Anfangs’, bestand in dem Theologumenon des Priestertums aller Getauften, das allerdings schon in seinem Wittenberger Entstehungskontext, bei Luther und Karlstadt, sehr unterschiedlich ausgebildet wurde� Gleichwohl stellt das 86 Kristina Dronsch Priestertum aller Getauften die Basis durchaus unterschiedlicher, der jeweiligen sozialen Lebenswelt der entsprechenden Akteurinnen und Akteure gemäße kommunikationsrelevante Pointe aller bedeutungsgenerierender Transformationsprozesse vermittelt durch die Schrift dar� Wer Zeugnis gibt, unterrichtet, bekräftigt oder widerlegt nicht nur, sondern bildet mit dem Wissen, das durch das Zeugnisgeben ermöglicht wird, zugleich auch eine Grundlage von Gemeinschaft� Dieser Gemeinschaftsgedanke findet sich in der reformatorischen Grundüberzeugung vom Priestertum aller Getauften ausgedrückt� Der Gedanke vom Priestertum aller Getauften begründet eine spezifische Grammatik der Zeugenschaft� Gerade weil es nicht der priesterlichen Weihe bedarf, um die Welt im Lichte des Glaubens zu deuten und zu verstehen, sind alle Christinnen und Christen geradezu aufgefordert vom Wort Gottes Zeugnis zu geben� Die zentrale reformatorische Grundüberzeugung des durch die Taufe begründeten Priestertums aller Glaubenden ist der Ermöglichungsgrund und auch der Auftrag durch Akte des Bezeugens an den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit zu partizipieren� Was sich hier zeigt ist vor allem eine soziale Dimension die im Zusammenhang von sola scriptura mit der Rede vom Priestertum aller Getauften aufscheint� Darin steckt ein für die neutestamentliche Wissenschaft, wenn sie die bedeutungsgenerierenden Transformationsprozesse der Schrift in den Fokus ihres Selbstverständnisses stellt, unaufgebbarer gemeinschaftskonstitutiver Gedanke: wir sind in unserem Wissen unentrinnbar auf andere angewiesen� Nur indem wir das Wissen, über das wir verfügen, dem anderen dienst- und nutzbar machen, ist Gemeinschaft möglich� Neutestamentliche Wissenschaft hat somit das Wissen zu den bedeutungsgenerierenden Prozessen vermittelt durch die Schrift immer in einen Raum von Gemeinschaft zu stellen� Daher gilt, wer sola scriptura in einem wissenschaftlichen Kontext ernst nimmt, nimmt den Gedanken einer Auslegungsgemeinschaft ebenso ernst und wird sich immer daran messen lassen, ob es ihr gelingt, ein Raum zu sein, wo nicht einer vordenkt, sondern alle mitdenken�