ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40
Dronsch Strecker VogelDie historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip
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Matthias Konradt
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip Eine Reflexion über die Bedeutung der Exegese des Neuen Testaments in der Theologie Matthias Konradt 1. Hinführung: Die Dimensionen der „Kritik“ in der wissenschaftlichen Exegese und das Spannungsfeld von Schriftprinzip und historisch-kritischer Exegese Ziel der folgenden Ausführungen ist nicht, einen historischen Abriss der Entwicklung der historisch-kritischen Exegese 1 in ihrer Bedeutung für das im sola scriptura zusammengefasste reformatorische Schriftprinzip zu versuchen� 2 Es geht vielmehr um eine Reflexion der Konsequenzen, die sich für das reformatorische Schriftprinzip aus dem wissenschaftlichen Geltungsanspruch der historisch-kritischen Exegese und umgekehrt für die historisch-kritische Exegese aus dem Aspekt ergeben, dass sie es mit Texten zu tun hat, die nach dem reformatorischen Schriftprinzip Grundlage und Maßstab christlicher Theologie sein sollen� 1 Siehe dazu zuletzt U� Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Bd� III: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese� Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 2017� Vgl� zuvor vom selben Autor: Kritik der Bibelkritik� Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen-Vluyn 2 2014� 2 Verwiesen sei dazu auf die ausführliche Studie von J� Lauster, Prinzip und Methode� Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004� 106 Matthias Konradt Das zu vermessende Problemfeld wird grundlegend durch die drei Hauptdimensionen bestimmt, in die sich die kritische Stoßrichtung der wissenschaftlichen historischen Exegese auffalten lässt: Von ihren Anfängen an geht es bei der historisch-kritischen Exegese neutestamentlicher Texte erstens um deren kritische Beurteilung zum einen im Blick auf das Verhältnis ihres Inhalts zur historischen Realität, zum anderen hinsichtlich der Abfassungsverhältnisse der Schriften� Voraussetzung dafür ist die sich konsequent von Inspirationstheorien distanzierende Auffassung der Texte als Erzeugnisse menschlichen Geistes� Das kritische Potenzial der wissenschaftlichen historischen Exegese entfaltet sich zweitens in der Emanzipation von dogmatischen Vorgaben� 3 Die Notwendigkeit historisch-kritischer Exegese folgt konsequent aus der Einsicht, dass Texte auf der Basis ihrer eigenen Denkvoraussetzungen und im Rahmen ihrer spezifischen kommunikativen Kontexte zu lesen und zu verstehen sind� Darin ist eingeschlossen, dass die sorgfältige Analyse der Genese der Texte und ihrer Einbettung in die zeitgenössische Gedankenwelt hilft, spätere Bedeutungsanlagerungen, die durch ihr Gewicht in der Rezeptionsgeschichte die unkritische Lektüre ganz wesentlich steuern, abzutragen� Die dritte Dimension, in der wissenschaftliche Exegese einen kritischen Anspruch entfaltet, ist ihr nicht in ihre von der Aufklärung bestimmte Wiege gelegt worden, sondern hat sich erst später entfaltet; sie betrifft das erkennende Subjekt: Wissenschaftliche Exegese zeichnet sich dadurch aus, dass der Ausleger sich nicht nur gegenüber kirchlich-dogmatischen Traditionen kritisch verhält, sondern auch gegenüber den eigenen Auslegungsperspektiven und Voreinstellungen� Es bedarf heute wohl keiner Diskussion mehr, dass „Auslegung … nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegeben [ist]“ 4 , es ein vorurteilsfreies, rein „objektives“ Verstehen von Texten nicht gibt, dass vielmehr das erkennende Subjekt an der Konstituierung von Sinn immer beteiligt ist, dass jede Erkenntnis allein schon durch die Sprache, in der sie gedacht wird und sich mitteilt, historisch kontingent und relativ ist� Der frühere po- 3 Bereits Johann Philipp Gabler, dessen Altdorfer Antrittsvorlesung De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque utriusque finibus vom 30� März 1787 (in: ders., Opuscula academica, hg. v. Th. A. Gabler/ J. G. Gabler, Bd. 2, Ulm 1831, 179-198, für eine deutsche Übersetzung siehe O� Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit� Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen [MThSt 9], Marburg 1972, 273-284) einen Meilenstein für die Emanzipation der Exegese von der Dogmatik bedeutete, hielt pointiert fest: „Dogmatik muß von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen“ ( J�Ph� Gabler, Vorrede, in: J� G� Eichhorn, Urgeschichte, hg� mit Einleitung und Anmerkungen von J� Ph� Gabler, Bd� 1, Altdorf/ Nürnberg 1790, III-XXVIII, hier: XV� 4 M� Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 16 1986, 150� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 107 sitivistische Anspruch, die objektive Textinterpretation vortragen zu können, ist wissenschaftstheoretisch überholt� Dies entbindet den Exegeten aber nicht von der elementar bleibenden Aufgabe, Schritte in Richtung einer Objektivierung der Textinterpretation zu gehen: durch kritische Reflexion des eigenen theologischen Standpunkts; durch die Verwendung einer Vielzahl von bewährten konventionalisierten Fragestellungen, d� h� von in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierten Methoden als „bewährte(n) Dialogregeln“ 5 über Texte; ferner durch die prüfende Auseinandersetzung mit den Deutungen anderer, also durch die Teilnahme an einem nach den „Dialogregeln“ geführten wissenschaftlichen Diskurs� Anders gesagt: Das Ziel kritischer Exegese muss sein, die eigene Voreinstellungsstruktur soweit wie möglich auszuschalten� Zugleich muss sich jeder Ausleger eingestehen, dass die eigenen Verstehensvoraussetzungen und Plausibilitätsmuster nie vollständig überwunden werden können� Daraus folgt, dass Exegese immer ein unabgeschlossener Prozess ist: Ihre Handhabung kann „nur in einem durch Sorgfalt , Sachverstand und Lernbereitschaft qualifizierten Prozeß der Schriftauslegung erfolgen“� 6 Die zweite und die dritte Dimension des kritischen Potenzials der historischkritischen Exegese dienen beide dazu, den Text als echtes dialogisches Gegenüber zu gewinnen, um die eigene „Stimme“ des Textes zu Gehör zu bringen� 7 Es geht „um Befreiung des Textes in dem Sinne, daß er dem Zugriff des Lesenden 5 Die Wendung stammt von G� Theißen, Polyphones Verstehen� Entwürfe zur Bibelhermeneutik (Beiträge zum Verstehen der Bibel 23), Münster 2014, 200� 6 W� Härle, Dogmatik, Berlin/ New York 1995, 133 (Hervorhebungen im Original)� 7 Treffend U� Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 117 im Rahmen einer kritischen Diskussion der Entwicklung zur Auflösung des Autors: „Jede Interpretation eines Textes ist ein Dialog mit der Stimme eines anderen Menschen und dadurch mehr als ein Monolog� … Wenn wir uns nicht ernsthaft um die Alterität eines Textes bemühen, werden wir in ihm nur unsere eigene Stimme hören�“ Prof. Dr. Matthias Konradt, Jahrgang 1967, studierte Evangelische Theologie in Bochum sowie Heidelberg und wurde 1996 in Heidelberg promoviert� Nach seinem Vikariat war er von 1999 bis 2003 am Sonderforschungsbereich „Judentum - Christentum“ an der Universität Bonn tätig, wo er sich Ende 2002 habilitierte� Von 2003 bis 2009 war er Ordinarius für Neues Testament an der Universität Bern� Seit dem Wintersemester 2009 / 10 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg� Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Neutestamentliche Ethik, das Matthäusevangelium, Paulus� 108 Matthias Konradt entzogen wird“ 8 ; es geht um Achtung vor dem, was andere durch ihre Texte sagen wollten� Vorausgesetzt ist dabei, sosehr leserorientierte bzw� rezeptionsästhetische Zugänge 9 als Bereicherung des exegetischen Diskurses zu würdigen sind, das entschiedene Festhalten an der intentio auctoris � 10 Streben nach Objektivität im Auslegungsprozess, das versucht, die tatsächliche „Stimme“ eines Autors oder einer Autorin zu vernehmen, ist im Übrigen nicht zuletzt auch aus ethischen Gründen angezeigt, weil es bei diesem „Zu-Wort-Kommen-Lassen“ um ein Gebot der Liebe geht� 11 Aus diesen unterschiedlichen Dimensionen des kritischen Potenzials wissenschaftlicher Exegese ergibt sich, dass das Problemfeld des Verhältnisses von reformatorischem Schriftprinzip und historisch-kritischer Exegese durch eine grundlegende Ambivalenz oder gar Paradoxie bestimmt ist: Auf der einen Seite untergräbt die historisch-kritische Bibelwissenschaft die Annahme einer göttlichen Autorität der Schriften, da sie diese konsequent als Menschenwort in ihre Zeit einordnet� Gegenüber dem Schriftverständnis der Reformatoren bedeutet dies eine signifikante Achsenverschiebung� Auf der anderen Seite verhilft sie aber überhaupt erst dazu, die Texte in adäquater Weise als ein Gegenüber zu gewinnen, d� h� sie nicht fraglos von den eigenen Denkvoraussetzungen oder 8 D� Marguerat, Der Reichtum des fremden Textes� Ein historisch-kritischer Zugang zur Bibel, in: U. Luz (Hg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel - viele Zugänge, Zürich 1992, 18-36, hier: 23 (Hervorhebung im Original)� 9 Ich verweise exemplarisch auf die Studie von M� Mayordomo-Marín, Den Anfang hören� Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998 mit ihrer ausführlichen methodischen Grundlegung� 10 Vgl� exemplarisch Th� Söding, Wege der Schriftauslegung� Methodenbuch zum Neuen Testament, Freiburg/ Basel/ Wien 1998, 74 f� - M� Oeming, Biblische Hermeneutik� Eine Einführung, Darmstadt 1998 plädiert zwar für eine Pluralität der methodischen Zugänge, insistiert aber zugleich mit Recht darauf, dass „[d]ie historisch-kritische Exegese … ein sehr leistungsfähiges Instrument zur Erfassung der ursprünglichen Bedeutung(en) [ist], dem im komplexen Geschehen des Verstehens eine unaufgebbare kritische Kontrollfunktion zukommt“ (181, zur Zuordnung der historisch-kritischen Exegese auf die Seite des Autors im von Oeming zugrunde gelegten hermeneutischen Viereck s� a� a� O�, 176)� 11 Pointiert Theißen, Polyphones Verstehen, 209: „Jede menschliche Äußerung verdient es, um ihrer selbst willen verstanden zu werden� Denn jeder Mensch ist nie ausschließlich Mittel, sondern immer auch Selbstzweck�“ Zur Interpretationsethik s� auch a� a� O�, 225 f�, wo Theißen eine Orientierung der Interpretationsethik an den vier klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Besonnenheit und Tapferkeit entwirft und treffend festhält: „Eine solche Interpretationsethik muss gegen die immer wiederkehrende Polemik gegen das Bemühen um ‚objektive Erkenntnis’ protestieren, sofern dahinter die Ansicht steht, es sei in Wissenschaft und Exegese jede Interpretation möglich, wenn sie nur mit Intelligenz und Charme vertreten wird, und es sei alles gerechtfertigt, wenn es bestimmten außerwissenschaftlichen Interessen und Werten dient“ (226)� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 109 auch dogmatischen Traditionen her zu verstehen� 12 Dies schließt ein, dass sich wissenschaftliche Exegese ihrem eigenen Anspruch nach unabhängig von kirchlichen Vorgaben vollzieht� Sie weiß sich damit frei von Direktiven eines kirchlichen Lehramts� In dieser Hinsicht werden durch die historisch-kritische Exegese zentrale Anliegen der Reformation aufgenommen: Wissenschaftliche Exegese lässt sich nicht durch bischöfliche, päpstliche oder überhaupt kirchliche Intervention domestizieren� 13 Allerdings gewinnt diese Freiheit im Blick auf ihre Begründung insofern eine neue Dimension, als sich wissenschaftliche Exegese darauf beruft, zuvorderst der historischen Vernunft verpflichtet zu sein, also der Vernunft, wie sie sich auf dem Feld von Philologie und Geschichtswissenschaft betätigt� 14 Mit Letzterem verbindet sich eine grundlegende Problemanzeige: Ist es das Ziel der Exegese, die „Stimme“ des Textes als ein dialogisches Gegenüber zu Gehör zu bringen, so wird das sich darin im Sinne des reformatorischen Schriftprinzips bergende Potenzial für die theologische Reflexion in der exegetischen Praxis nicht selten höchstens partiell freigelegt, weil sich historisch-kritische Exegese gegenüber der Aufgabe, die Anliegen der untersuchten Texte theologisch zu bedenken und die theologischen Richtungsimpulse der Texte herauszuarbeiten, (zu) häufig spröde verhält� Die berühmte Kritik von Karl Barth: „ Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein! “ 15 setzte an diesem 12 Vgl� F� Nüssel, Schriftauslegung als Projekt der Theologie, in: dies� (Hg�), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 239-254, hier: 247, die treffend anmerkt, dass „erst in einer … historischen Analyse der geschichtliche Abstand zwischen der Aussageintention der Autoren, der von den Texten selbst ausgehenden Auslegungsdynamik und den Verstehenshorizonten und Auslegungsfragen vermessen werden [kann], die für eine gegenwärtige Rezeption der Texte bestimmend sind�“ 13 Berühmt sind die abschließenden Worte Luthers bei seiner Verteidigung auf dem Wormser Reichstag 1521: „es sei dann das ich durch gezeugnufs der schrift oder aber durch scheinlich ursachen (dann ich glaub wider dem babst noch den concilien allein, weil es am tag ist, das dieselben zu mermaln geirrt und wider sich selbs geredt haben) uberwunden werd, ich bin uberwunden durch die schriften, so von mir gefurt, und gefangen im gewissen an dem wort gottes, derhalben ich nichts mag noch will widerruffen, weil wider das gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich ist� Gott helf mir! Amen“ (Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V�, Jüngere Reihe Zweiter Band, bearbeitet von A. Wrede, Gotha 1896, 581f, lateinischer Text in WA 7, 838,2-8). Vgl. dazu M. Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 2 1983, 431-442 (dort auch 438 f� eine Wiedergabe des zitierten deutschen Textes in modernisierter Form)� 14 Eine direkte Ableitung historisch-kritischer Bibelwissenschaft aus dem reformatorischen Erbe ist, so sehr von den Reformatoren in Gestalt der Konzentration auf den Literalsinn und des kritischen Rekurses auf die Schrift gegenüber dem Lehramt grundlegende Impulse ausgegangen sind, nicht möglich� Siehe dazu H� Graf Reventlow, Wurzeln der modernen Bibelkritik, in: ders / W� Sparn / J� Woodbridge (Hg�), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, 47-63. 15 K� Barth, Der Römerbrief 1922, Zürich 13 1984, XII (Hervorhebung im Original)� 110 Matthias Konradt Punkt an: Historisch orientiertes Erklären und Einordnen eines Textes bedeutet noch nicht, ihn in seinem theologischen Anliegen verstehend durchdrungen zu haben� Eine historisch-kritische Exegese, die sich dieser Aufgabe nicht stellt, geht aber insofern an dem Charakter der Texte vorbei, als diese dezidiert eben einen theologischen Anspruch erheben� 16 Die von Exegeten häufig beklagte unterentwickelte biblische Orientierung gegenwärtiger Dogmatiken und (insbesondere) theologischer Ethiken ist daher nicht nur der Systematischen Theologie anzulasten 17 , sondern fordert die Exegeten selbst zu einer kritischen Bestimmung ihres Aufgabenspektrums heraus: Sieht sich die neutestamentliche Wissenschaft allein der religionsgeschichtlichen Aufgabe verpflichtet, die Entstehung und frühe Entwicklung des Christentums zu erhellen, oder geht es ihr im Verbund damit auch darum, die theologischen Gehalte der Texte zu analysieren und zu bedenken? Das mit dem Voranstehenden umrissene Problemfeld möchte ich in zwei Thesen entfalten: a� Die in der jüngeren Diskussion den Diskurs beherrschende Rede von der Krise des reformatorischen Schriftprinzips 18 ist eine notwendige und nicht 16 K� Schmid, Sind die Historisch-Kritischen kritischer geworden? Überlegungen zu Stellung und Potential der Bibelwissenschaften in der Theologie, JBTh 25 (2010), 63-83, hier: 74 macht in diesem Zusammenhang zu Recht darauf aufmerksam, dass auch die historische Exegese der biblischen Texte selbst theologische Kompetenz auf Seiten des Exegeten voraussetzt: „Gerade das Geschäft der historischen Kritik der Bibel bedarf eines theologischen Problembewusstseins, wenn man historisch adäquat urteilen will� Es führt zu Fehlurteilen, wenn die historisch-kritische Methode nicht der sachlichen Eigenart der Texte, auf die sie angewendet wird, Rechnung trägt“ (Hervorhebungen im Original)� Dem kann man nur emphatisch zustimmen� 17 Zu dieser Seite des Problems vgl� die selbstkritische Feststellung von J� Lauster, Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: F� Nüssel (Hg�), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 179-206, hier: 204: „Gegenwärtige Probleme der Schriftauslegung können nicht einseitig der Exegese angelastet werden� Es gilt auch, massive enzyklopädische Versäumnisse im Umgang mit der Schriftauslegung von Seiten der Systematischen und der Praktischen Theologie aufzuholen, da beide Disziplinen oftmals achtlos an den Einsichten der Exegese vorübergehen�“ Ähnlich Fr� van Oorschot, Die Krise des Schriftprinzips als Krise der theologischen Enzyklopädie, EvTh 76 (2016), 386-400, hier: 394: „Auf der Seite der Systematischen Theologie werden trotz ihrer Verwiesenheit auf die biblischen Texte die exegetischen Bemühungen um deren Auslegung selten berücksichtigt�“ Van Oorschot markiert allerdings auch das Defizit auf der Seite der Exegese: „Auf der Seite der Exegese folgt aus der Fokussierung auf historische und literarische Fragen oft eine mangelnde theologische Kontextualisierung der in den Texten rekonstruierten Inhalte“ (395)� 18 Siehe z� B� R� Leonhardt, Lutherisches Schriftprinzip und biblischer Kanon� Überlegungen zum Verhältnis von Bibel und Kirche, in: M� Petzoldt (Hg�), Autorität der Schrift und Lehrvollmacht der Kirche, Leipzig 2003, 59-90, hier: 71-79; E. Hartlieb, „Die einige Regel und Richtschnur …“� Ist das protestantische Schriftprinzip an sein Ende gekommen? , in: Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 111 revidierbare Konsequenz des historischen Paradigmas der Bibelwissenschaft, das seinerseits um der intellektuellen Redlichkeit und der Wissenschaftlichkeit der Theologie willen unhintergehbar ist� Allerdings folgt daraus in keiner Weise eine Aufgabe der - im wahrsten Sinne des Wortes - fundamentalen Bedeutung des Schriftbezugs in der Theologie, sondern allein eine Transformation der Vorstellung, auf welche Weise die Schrift die Autorität im theologischen Diskurs bildet� b� Die Massivität der Folgen der Krise des Schriftprinzips ist eine Konsequenz aus dem aktuell unterentwickelten Zusammenspiel zwischen der Systematischen Theologie und der historisch-kritischen Exegese im Verbund der theologischen Disziplinen, deutlicher gesprochen: aus ihrer - unnötigen - Entfremdung voneinander� These 1 entfalte ich in einer kritischen Sichtung der Folgen der historischkritischen Exegese für das Schriftverständnis und den Stellenwert der Schrift(en) im theologischen Diskurs (Abschnitt 2)� These 2 fordert heraus, die theologische Dimension der Aufgabe historisch-kritischer Exegese zu reflektieren (Abschnitt 3)� 2. Die Folgen der historisch-kritischen Exegese für Schriftverständnis und Schriftautorität Wer anlässlich des Reformationsjubiläums über das Schriftprinzip als wesentliches Element der reformatorischen particula exklusiva reflektiert, muss sich vorab bewusstmachen, dass sola scriptura mehr meint als allein die Überzeugung, dass alle theologische Urteilsbildung von der Schrift auszugehen hat und an dieser zu messen ist� Denn sein reformatorisches Profil gewinnt das Schriftprinzip erst durch die Überzeugung von der Klarheit der Schrift und der ihr innewohnenden Potenz, sich selbst auszulegen, wie Martin Luther dies 1520 / 21 in seiner Assertio omnium articulorum (WA 7, 94-151) in der berühmten Wendung vorgebracht hat, die Schrift sei „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres“ ( WA 7, 97,23)� 19 Das Schriftverständnis, das sich G� Baumann/ Elisabeth Hartlieb (Hg�), Fundament des Glaubens oder Kulturdenkmal? Vom Umgang mit der Bibel heute, Leipzig 2007, 59-88, zuletzt van Oorschot, Krise mit zahlreichen Literaturverweisen� 19 Zum Schriftverständnis Luthers� s� B� Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 204-213. Vgl. ferner N� Slenczka, Die Schrift als „einige Norm und Richtschnur“, in: O� Bayer u� a�, Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche, hg� v� K�-H� Kandler, Neuendettelsau 2000, 53-78. 112 Matthias Konradt durch die historisch-kritische Exegese entwickelt hat, ist deutlich anders ausgerichtet� Theologiestudierende lernen schon im Proseminar, dass man eine Passage aus dem Matthäusevangelium nicht ohne Weiteres durch Äußerungen von Paulus erhellen kann; und ein adäquates, stichhaltiges Verständnis von biblischen Texten ist nach der Überzeugung ausgebildeter Exegeten durchaus nicht immer einfach zu erlangen, sondern bedarf umfassender philologischer und historischer Kenntnisse, da, wie eingangs ausgeführt wurde, der Grundsatz gilt, dass ein Text nur dann adäquat erschlossen werden kann, wenn er aus seiner eigenen Zeit heraus verstanden wird� Damit sind zwei Hauptaspekte aufgeworfen: Historisch-kritische Exegese arbeitet zum einen die Polyphonie der biblischen Texte heraus, in der nicht wenige Dissonanzen zu vernehmen sind, und sie lässt zum anderen die Fremdheit der Texte deutlich werden� Die Erkenntnis der Polyphonie der biblischen Texte stellt das Prinzip des Kanons im Kanon bzw� die Suche nach einer Mitte der Schrift in Frage� Die Einsicht in die Fremdheit der Texte, die Dokumente einer weit zurückliegenden geistesgeschichtlichen Epoche sind, wirkt kritisch auf das Postulat ihrer dogmatischen Verbindlichkeit und wird in dieser Hinsicht noch durch einen dritten, fundamentalen Aspekt unterbaut: Historisch-kritische Exegese weist auf, dass den biblischen Erzählungen in erheblichem Umfang ein fiktionaler Charakter eignet� 2.1. Die Polyphonie der Schrift Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese bedeutet einen grandiosen Differenzierungsgewinn� Wir lesen im Neuen Testament nicht eine Jesusgeschichte in vier Ausprägungen, sondern vier unterschiedliche Jesusgeschichten mit je eigenen theologischen Konzeptionen� Die Briefe des Corpus Paulinum entstammen nicht alle dem Diktat (oder der Feder) des Apostels; vielmehr bezeugen einige von ihnen in in sich differenzierter Weise Weiterführungen des paulinischen Erbes in den folgenden Jahrzehnten� Aber auch innerhalb der Paulusbriefe kann man nicht in jedem Fall eine schwierig zu interpretierende Stelle durch eine andere erhellen, weil auch innerhalb der echten Briefe mit Entwicklungen und Positionsverschiebungen zu rechnen ist� Wie bei jedem anderen Menschen hat sich auch das Denken des Apostels durch die Herausforderungen, mit denen er sich konfrontiert sah, entwickelt� Nicht zuletzt stehen dem Corpus Paulinum die Katholischen Briefe zur Seite, die wiederum ihre eigenen theologischen Positionen entfalten� Ulrich Luz spricht treffend davon, dass „[h]istorische Kritik … die Bibel atomisiert [hat]� An die Stelle der Einheit der Bibel als vom Logos durchwirktes Wort Gottes trat eine Vielzahl von Texten sehr verschiedener Verfasser aus sehr verschiedenen Situationen� An die Stelle des lebendigen Wortes Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 113 des inkarnierten Christus trat eine Vielzahl von menschlichen Zeugnissen, die z�T� sehr Verschiedenes bezeugten�“ 20 Natürlich kann man darauf verweisen, dass schon Luther für Differenzen nicht blind war� Über den Jakobusbrief urteilte er bekanntlich, dass er „stracks widder Sanct Paulon vnnd alle ander schrifft, den wercken die rechtfertigung gibt“ ( WA , DB 7, 384,9f). Aber hier ist dieses Urteil eingebettet in die theologische Gewissheit, die der Gedanke eines Kanons im Kanon spendet, der in diesem Fall impliziert, dass der Jakobusbrief keinen Anspruch genießen kann, als eine rechte apostolische Schrift zu gelten� 21 Für Luther bedeutet sola scriptura also in keiner Weise tota scriptura � 22 Einem streng historisch arbeitenden Exegeten sind solche Urteile wie die Luthers über die mangelnde Apostolizität des Jakobusbriefes hingegen wesensmäßig fremd� Er waltet dann recht seines Amtes, wenn er das Nebeneinander der unterschiedlichen Konzeptionen differenziert herausarbeitet und nüchtern konstatiert; und er vermag auch nicht zum Gedanken einer Mitte der Schrift Zuflucht zu nehmen 23 , weil sich eine solche Mitte der Schrift aus den Texten selbst nicht ableiten lässt� 24 Der Sachverhalt ist zudem noch schärfer zu fokussieren: Gegenstand historisch-kritischer Exegese ist nicht, was theologisch als „Schrift“ bezeichnet wird� Ihr Gegenstand sind Texte, die später zu einer Schriftensammlung verbunden wurden, von denen aber keine als Teil dieser Schriftensammlung verfasst wurde� Wenn historisch-kritische Exegese dennoch den später kanonisch gewordenen Schriften im Regelfall ihr besonderes Augenmerk zukommen lässt, hat dies zunächst einmal pragmatische Gründe, die daraus resultieren, dass Exegese institutionell zumeist im Kontext von Theologie getrieben wird� Allerdings ist damit noch keine tragfähige Begründung verbunden, warum diesen Texten ein - wie auch immer genau zu definierender - autoritativer Status 20 U� Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, NTS 44 (1998), 317-339, hier: 324. 21 So explizit Luthers Urteil in seiner Vorrede zu den Briefen des Jakobus und des Judas im Septembertestament von 1522 (WA, DB 7, 384,29-32). 22 Vgl� dazu Leonhardt, Schriftprinzip, 64 f�78� 23 Für die gegenteilige Sicht sei exemplarisch verwiesen auf: O� Hofius, Neutestamentliche Exegese in systematisch-theologischer Verantwortung� Erwägungen zu den Aufgaben einer theologischen Disziplin, in: ders�, Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 267-281, bes. 270 f. 24 Treffend J� Lauster, Schriftauslegung, 204: „[D]ie viel gesuchte Mitte der Schrift … ist nichts anderes als eine von konfessionellen Interessen geleitete Komplexitätsreduktion, die letztlich die Erfahrungsvielfalt immer nur einseitig verkürzen kann�“ Siehe zur Problematik der Denkfiguren einer „Mitte der Schrift“ bzw� eines „Kanons im Kanon“ auch M� Wolter, Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons, in: J� Barton / M� Wolter (Hg�), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons� The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin/ New York 2003, 45-68, hier: 47-49. 114 Matthias Konradt zuerkannt werden soll, wenn man diesen weder aus der dogmatischen Setzung zu beziehen vermag, dass der Kanon sich selbst imponiert habe, 25 noch sich hinter die Autorität kirchlicher Entscheidungen zurückzuziehen vermag� Überdies nimmt der historisch arbeitende Exeget auch die Diskurse in den Blick, die hinter den neutestamentlichen Texten (wie z� B� dem Galaterbrief) stehen, und damit auch die Position derer, die - jedenfalls auf der Wegstrecke des kanonischen Prozesses - unterlegen waren oder deshalb keine nachhaltige Wirkung entfalten konnten, weil sie, wie sie z� B� der Herrenbruder Jakobus, Petrus oder Barnabas, selbst nichts Schriftliches hinterlassen haben� 26 Selbst dann aber, wenn sich die exegetischen Disziplinen auf die Darstellung der Positionen der biblischen Autoren beschränken, sieht sich der theologisch interessierte Rezipient exegetischer Fachliteratur mit dem Faktum konfrontiert, dass die Bibel im Ganzen, aber auch schon das Neue Testament für sich genommen, eine polyphone Bibliothek darstellt, so dass unausweichlich die Frage nach dem Wahrheitsanspruch „der“ Bibel aufgeworfen ist� Wer im strengen Sinne verbindliche Vorgaben in „der“ Schrift sucht, kann insofern nur enttäuscht werden� Mir scheint freilich, dass die Frage nach dem Wahrheitsanspruch „der“ Bibel zu modifizieren ist� Oder anders: Enttäuschung kann durch die von der historischen Exegese herausgestellte Polyphonie der biblischen Zeugnisse nur der erfahren, der sich von der Theologie den Zugang zu einer universal gültigen Welterklärungsformel verspricht� Für den hingegen, der sich von dieser Illusion gelöst hat, erweist sich die Polyphonie der Schrift als Reichtum ihrer Deutungsangebote, die dem Rezipienten nicht als papierner Papst mit direktiver Autorität entgegentreten, sondern ihn in einen Dialog verwickeln� Die Bibel birgt gerade durch die Vielfalt der theologischen Reflexion in ihr die Chance, hilfreiche Impulse für den je eigenen theologischen Erkenntnis weg zu geben� Und dem Praktischen Theologen, der es mit der Vielfalt von Lebensäußerungen zu tun hat, bietet gerade diese innere Vielfalt der Schrift das Arsenal von Anknüpfungspunkten, das es ihm ermöglicht, die in der Disziplin reflektierten Anwendungsfelder im Lichte biblischer Texte zu bedenken� Das schließt nicht aus, dass historisch-kritische Exegese, die sich als theologische Disziplin versteht und also die in den Schriften begegnenden Überzeugungswelten als Zeugnisse vom Reden und Handeln Gottes begreift, es als eine Aufgabe entdecken kann, das Verbindende zwischen den Zeugnissen herauszuarbeiten, und Dissonanzreduktion zu betreiben sucht� Man kann in diesem Sinne steuernde Basisüberzeugungen herausarbeiten, die sich zwar im 25 Siehe dazu K� Barth, Kirchliche Dogmatik I / 1, Zollikon/ Zürich 6 1952, 110, vgl� auch I / 2, Zollikon/ Zürich 4 1948, 524-532.666-673. 26 Vgl� zu Letzterem Wolter, Vielfalt, 52 f� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 115 Einzelnen unterschiedlich manifestieren können, aber mehrere Schriften auf einer Tiefenebene miteinander verbinden, und man kann solche Phänomene kanonhermeneutisch 27 fruchtbar zu machen suchen� Doch ist dies m� E� nicht der Königsweg, und es kann zumal nicht, in der Tradition der regula fidei , um die Etablierung eines neuen regulativen Kanons von Kernüberzeugungen gehen� Verheißungsvoller scheint mir vielmehr eben zu sein, unter Aufgabe des Zwangs zur systematischen Kohärenz die Vielstimmigkeit der biblischen Texte als solche in dem ihr eigenen Reichtum zu würdigen, weil sie der Polyphonie der Lebenswelt und der je eigenen Lebenslinien korrespondiert� Ich halte fest: Die Orientierung an der Schrift führt nicht von sich aus zu einem theologischen System� Wer ein solches sucht, kann sich vielmehr nur in eklektischer Weise auf die „Schrift“ berufen, ohne dass er die Kriterien der Auswahl aus der Schrift zwingend abzuleiten vermag� Es gibt entsprechend nicht die eine schriftgemäße Theologie� Die Frage ist allerdings, ob wirklich dies das Problem ist oder ob die grundlegende Einsicht in die Polyphonie der Schrift nicht zwingend eine Neujustierung des Problemfeldes aus sich heraussetzt, zu der im Blick auf den theologischen Habitus ganz wesentlich eben die Anerkenntnis gehört, dass keine Theologie mit dem Anspruch auftreten kann, die eine adäquate Entfaltung des biblischen Zeugnisses zu bieten� Für den ökumenischen Diskurs ist mit dieser Einsicht viel gewonnen: Unterschiedliche Theologien können je auf ihre Weise schriftgemäß sein� Die reformatorische Befreiung der Bibellektüre von den Vorgaben eines kirchlichen Lehramtes mündet durch die Errungenschaften der der historischen Vernunft verpflichteten wissenschaftlichen Exegese ein in die Befreiung zur ökumenischen Vielfalt� Ebenso ist allerdings zu betonen: Das Neue Testament eröffnet zwar mehrere Optionen der Anknüpfung an eine Reflexion des Christusgeschehens, aber nicht beliebige� Unterschiedliche theologische Positionen können schriftgemäß sein, aber das Kriterium der Schriftgemäßheit wird damit nicht zu einem „zahnlosen Tiger“, sondern dient nach wie vor als Prüfungsinstanz� Die Abkehr von exklusiven Geltungsansprüchen führt nicht in einen Beliebigkeitsrelativismus� Hier wiederholt sich mutatis mutandis , was innerhalb der Exegese selbst gilt: Es gibt im Regelfall mehr als eine vertretbare Textinterpretation, aber es gibt auch Deutungen, die philologisch und / oder historisch in hohem Maße unwahrscheinlich oder gar unmöglich sind� 28 Dass die biblischen Texte in einer wissen- 27 Zur neueren kanonhermeneutischen Debatte s� exemplarisch die Beiträge in B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (ThID 1), Neukirchen-Vluyn 2007� 28 Ähnlich Theißen, Polyphones Verstehen, 201: „Nicht alle, nur einige Auslegungen sind möglich� Wissenschaft kann klären, welche wahrscheinlicher und welche unwahrscheinlicher und welche gleich wahrscheinlich sind�“ Vgl� auch a� a� O�, 226� 116 Matthias Konradt schaftlich verantworteten Lektüre nicht beliebigen Deutungen offenstehen, ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Bibel nach wie vor als „autoritative“ Prüfinstanz christlicher Theologie zu dienen vermag und als solche unverzichtbar ist� 29 Kurzum: Sosehr historisch-kritische Exegese in Opposition zu fundamentalistischen Positionen steht, die in Anspruch nehmen, die eine biblisch begründete Heilswahrheit zu vertreten, so sehr opponiert sie auch gegen postmoderne Beliebigkeit� Freilich ist, wie eingangs angedeutet, noch ein anderer Aspekt aufzunehmen: Die biblischen bzw�, enger gefasst, die neutestamentlichen Texte sind Dokumente einer vergangenen und in vielem fremd gewordenen Zeit mit ihren eigenen (vorwissenschaftlichen) Denkvoraussetzungen, und zudem stellt sich bei den Geschichten, die sie erzählen, das Problem ihres fiktionalen Charakters� 2.2. Fremdheit und fiktionaler Charakter der Texte Wer im Neuen Testament zu lesen beginnt, stößt gleich zu Beginn auf einen Stammbaum Jesu (Mt 1,2-17), dem man zwar zuerkennen mag, ein theologisch durchaus gehaltvolles schriftgelehrtes Meisterstück zu sein 30 , der sich aber dem historisch prüfenden Blick als historisch wertloses, fiktionales Konstrukt zeigt� Fährt der Leser fort, begegnet ihm der Mythos der Jungfrauengeburt� Diesen Mythos kann man im Lichte anderer antiker Texte, in denen die Vorstellung von gottgewirkten Geburten begegnet, religionsgeschichtlich kontextualisie- 29 Härle, Dogmatik, 133-139 verteidigt die Idee der „Mitte der Schrift“ als Auslegungsprinzip unter anderem durch das Postulat, dass ohne sie „die Schrift ihre - aus der in ihr bezeugten Sache resultierende - auctoritas normativa verlöre und damit die theologische Urteilsbildung (in) der Kirche dem Belieben preisgegeben würde“ (136, Hervorhebung von mir)� Die obigen Ausführungen haben versucht zu zeigen, dass dies mitnichten so ist� Die Aufgabe der Idee einer Mitte der Schrift pluralisiert die Möglichkeiten schriftgemäßer Theologien, ohne sie in einen schrankenlosen Relativismus zu überführen� Umgekehrt ist ferner zu beachten, dass die Idee einer Mitte der Schrift an regulativer Orientierungspotenz verliert, je abstrakter die Mitte formuliert wird� Ein nicht näher explizierter Verweis auf das Christusgeschehen - oder lutherisch formuliert: auf das Prinzip „was Christum treibet“ - ist insofern für sich genommen, ohne inhaltliche Konkretion, wenig zielführend� So hat etwa der katholische Neutestamentler Franz Mußner - nicht ohne Recht - postuliert, dass auch der Jakobusbrief „Christum treibet“, weil seine Unterweisung in reichem Maße von Jesuslogien geprägt sei (Der Jakobusbrief [HThK 13�1], Freiburg/ Basel/ Wien 5 1987, 42-47). Im Sinne Luthers ist diese Applikation des Prinzips „was Christum treibet“ nicht (s� vielmehr WA DB 7, 384,19-32), denn für Luther wird dieses Prinzip bekanntlich zentral durch die paulinische Rechtfertigungslehre (wie Luther sie verstanden hat) bestimmt, während er den Jakobusbrief auf dieser Basis scharf kritisiert (ganz auf der Linie Luthers bewegt sich z� B� Hofius, Exegese, 274 f�)� 30 Vgl� für viele K�-H� Ostmeyer, Der Stammbaum des Verheißenen: Theologische Implikationen der Namen und Zahlen in Mt 1.1-17, NTS 46 (2000), 175-192. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 117 ren 31 , und man kann vor diesem Hintergrund seine christologische Aussagekraft hinsichtlich des Bekenntnisses zu Jesus als Sohn Gottes explizieren� Das matthäische Christologoumenon der Gottessohnschaft Jesu bedarf seinerseits der exegetischen Erörterung, welche Motive der Evangelist damit verbindet 32 und wie diese in seinem religionsgeschichtlichen Umfeld klingen� Damit ist allerdings noch nicht mit Inhalt gefüllt, was es heute - in ganz anderen Kontexten, unter den Verstehensbedingungen der Moderne - bedeuten könnte, von Jesus als Sohn Gottes zu sprechen� Matthäus geht davon aus, dass Jesus als Sohn Gottes an göttlicher Vollmacht partizipiert, so dass er Wind und Meer zu beruhigen vermag (Mt 8,23-27), über das Wasser wandeln und den sinkenden Petrus aus diesem erretten kann (14,22-33). 33 Der Gottessohn Jesus hätte es Matthäus zufolge auch vermocht, Steine in Brot zu verwandeln (4,3 f�), er hätte sich seiner Gefangennahme durch das Herbeirufen von zwölf Legionen Engel entziehen können (26,53), und es wäre ihm als Sohn Gottes auch möglich gewesen, vom Kreuz herabzusteigen (27,39-43). Dass er all dieses nicht tut, ist für den ersten Evangelisten Ausdruck seines Gehorsams gegen den Willen Gottes (vgl� 26,39�42)� Matthäus vermag auf diese Weise seine hohe Christologie mit dem Todesgeschick Jesu zu vermitteln� 34 Sehr vielen heutigen Christen, jedenfalls in den westlichen Gesellschaften, ist der Problemhorizont, in dem sich Matthäus mit seiner Christologie bewegt, fremd, und zumal der Mythos von der Jungfrauengeburt ist für sie auch befremdlich� Historisch orientierte Exegese stellt die Fremdheit vieler biblischer Texte pointiert heraus� Liest man im Matthäusevangelium weiter, folgt die Erzählung vom Kommen einer Gruppe von Magiern zum Jesuskind nach Bethlehem und vom Kindermord des Herodes� Dem historisch aufgeklärten Exegeten, der unter anderem die auffälligen Berührungen mit der Erzählung von der Gefährdung und Rettung des Mosekindes (Ex 2) und ihrer frühjüdischen Ausgestaltung (s� bes� Josephus, Ant 2,205-237) registriert 35 , ist der durch und durch legendarische Charakter des 31 Eine knappe, aber informative Übersicht über das relevante Material bietet Mayordomo- Marín, Anfang, 253-255, ferner z. B. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium, Bd. 1 (HThK 1�1), Freiburg/ Basel/ Wien 2 1988, 23-28. 32 Für eine grundlegende Übersicht siehe U� Luz, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: C� Breytenbach/ H� Paulsen (Hg�), Anfänge der Christologie (FS F� Hahn), Göttingen 1991, 221-235. 33 In Mt 14,33 bekennen die Jünger Jesus aufgrund dieser Machterweise als Sohn Gottes! 34 Vgl� zu diesem Grundzug matthäischer Christologie M� Konradt, Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13-17), in: ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg� v� A� Euler (WUNT 358), Tübingen 2016, 201-218, bes. 212-217. 35 Siehe dazu z� B� D� C� Allison, The New Moses� A Matthean Typology, Minneapolis 1993, 140-165. 118 Matthias Konradt Textes evident� Man kann zwar darauf verweisen, dass die Frage nach dem Verhältnis von erzählter Welt und historischem Geschehen an anderen Stellen eine differenziertere Beurteilung verlangt als in Mt 2, dass die Texte in den Evangelien in historischer Hinsicht zwischen einer freien narrativen Explikation des Glaubens (wie in Mt 2) und einer durch den nachösterlichen Glauben bloß ausgestalteten Repräsentation des historischen Geschehens oszillieren� Dies ändert aber nichts an dem grundlegenden Sachverhalt: Die Jesusgeschichte liegt im neutestamentlichen Kanon nicht nur in vier verschiedenen Fassungen vor, es kann vielmehr auch keine von ihnen den Anspruch erheben, Botschaft und Wirken Jesu von Nazareth in historischer Hinsicht im Ganzen authentisch abzubilden� Es gehört zur Rationalitätsverpflichtung akademischer Theologie, diesem Sachverhalt nicht auszuweichen� Für die Exegese der Evangelien schließt dies ein, dass ihr der Weg, sich - von narratologischen Theorien inspiriert - in die bloße Entfaltung der narrativen Theologien der Texte aufzulösen, verwehrt ist, denn „zum modernen Wahrheitsbewusstsein gehört es unausweichlich, den Texten einen historischen Bezugs- und Haftpunkt zuweisen zu können�“ 36 In der Geschichte der historisch-kritischen Exegese ist die von ihr erbrachte Erkenntnis des fiktionalen Charakters biblischer Texte vielfach als Erschütterung ihres Geltungsanspruchs wahrgenommen worden� 37 In der Tat wird durch diese Einsicht dezidiert unterstrichen, dass die biblischen Texte nicht anders denn als Glaubenszeugnisse von Menschen gelesen werden können� Sie können entsprechend nicht in diesem Sinne als ein autoritatives Gegenüber fungieren, dass der geneigte Leser, um christlichen Glauben zu explizieren, aus ihnen nur noch bekenntnishafte Sätze abzuleiten bräuchte, deren Geltungsanspruch mit dem Wahrheitsanspruch der biblischen Texte gesetzt wäre� Es hieße allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn aus der dargelegten Einsicht abgeleitet würde, dass die fundamentale Rolle, die der Schrift in der evangelischen Theologie traditionell zugeschrieben wurde, überhaupt aufzugeben sei� Dem ist mitnichten so! Theologie, wenn sie erstens im christlichen Kontext betrieben und zweitens nicht bloß als Religionsphilosophie verstanden wird, orientiert sich grundlegend an dem, was, um einen möglichst weiten Begriff zu verwenden, als das Christusgeschehen bezeichnet werden kann� Sie ist die Reflexion der Bedeutung dieses Geschehens� Sie ist damit bleibend darauf angewiesen, die frühen Zeugnisse über dieses Geschehen zu beden- 36 Lauster, Schriftauslegung, 194� - F� Avemarie, Historisches Arbeiten in der Exegese, ThBeitr 40 (2009), 325-337, hier: 333-335 weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass christlicher Glaube auf geschichtliche Ereignisse bezogen ist und schon deshalb historisches Arbeiten in der Theologie unverzichtbar ist� 37 Zum Problem vgl. Lauster, Schriftauslegung, 191-194. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 119 ken� 38 Die Schriften des Neuen Testaments sind gewissermaßen durch ihre „Ursprungsnähe“ 39 geadelt� In diesem Charakter der Schriften ist - unabhängig von und ohne Theorien über Verbal-, Real- oder Personalinspiration - hinreichend begründet, dass das Neue Testament das Basisdokument christlichen Glaubens und damit der grundlegende Bezugspunkt aller christlichen theologischen Reflexion ist und bleibt� 3. Historisch-kritische Exegese als theologische Aufgabe (am Beispiel von Röm 9 - 11) In der voranstehenden Skizze habe ich aufzuweisen versucht, dass sich auf der einen Seite die Autorität der Schrift im Lichte historisch-kritischer Exegese zwar in einem grundlegend anderen Gewand zeigt, auf der anderen Seite aber gerade die historisch-kritische Exegese dazu verhilft, unter den Verstehensbedingungen einer aufgeklärten Moderne die Bibel als das Grundlagendokument christlichen Glaubens zur Geltung zu bringen� Ihre grundlegende Leistung, denen, die ihre Ergebnisse - und sei es in popularisierter Form - rezipieren, zu einem reflektierten, von der Vernunft geleiteten Verständnis von heute als schwierig empfundenen Texten zu verhelfen, ist angesichts gegenwärtiger Tendenzen zu Fundamentalismus und einfachen Antworten kaum hoch genug zu schätzen� Der Claudius Verlag hat 2015 - im Zuge der Jubiläumsdekade zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 - (im Wesentlichen) Lutherzitate als Medikament stilisiert unter dem Namen „Lutherol� Breitband-Theologicum für Geist & Seele“ auf den Markt gebracht; in der „Gebrauchsinformation“ werden unter anderem „Fegefeuerfurcht“ und „Ablassprävention“ als Anwendungsgebiete genannt� In freier Anspielung daran kann man der historisch-kritischen Exegese - im Verbund mit einer ordentlich betriebenen Kirchengeschichte - im Gesamtorganismus der Theologie die Rolle eines „Breitband-Antiidiotikums“ zuweisen, denn sie schützt den Organismus der Theologie vor Gefahren wie z� B� naiver Repristination� Entscheidend ist aber, dass sie ihr kritisches historisches Potenzial in eine ihr eigene theologische Kompetenz überführt� Voraussetzung dafür ist, dass der Exeget sich nicht nur als Philologe und Historiker, sondern auch als Theologe versteht und entsprechend bei der philologisch-historischen 38 Vgl� J� Schröter, Wie theologisch ist die Bibelwissenschaft? Reflexionen über den Beitrag der Exegese zur Theologie, JBTh 25 (2010), 85-104, 97, der zu Recht anmerkt, dass es „bereits aus der geschichtlichen Begründung des Christentums im Wirken und Geschick Jesu von Nazareth“ folgt, „dass christliche Theologie ihre zentralen Themen und Inhalte aus den biblischen Texten gewinnt und immer wieder neu vor diesen verantworten muss�“ 39 Vgl� Lauster, Schriftauslegung, 195, der festhält, dass „das gute alte Argument der Ursprungsnähe seine Bedeutung [behält]“ (Hervorhebung im Original)� 120 Matthias Konradt Erschließung des Textes und seines kommunikativen Umfelds nicht stehen bleibt, sondern - ganz im Sinne des Textes, der mit seinem konstitutiven Bezug auf Gott einen Wirklichkeit erschließenden Anspruch erhebt - die theologische „Sache“ des Textes selbst zu bedenken sucht� Auch dies ist zunächst insofern eine historisch orientierte Aufgabe, als sie die vorangehende historische Arbeit nicht überspringt, sondern auf diese angewiesen bleibt� Dies schließt ein, dass es nicht um eine Art „Verschmelzung“ des Auslegers mit der „Stimme“ des biblischen Autors geht, wie Karl Barth dies im Vorwort zur zweiten Auflage seines berühmten Römerbriefkommentars anvisiert hat� 40 Die mittels der Exegese des Textes zum Klingen gebrachte „Stimme“ des Autors bleibt ein Gegenüber� Es geht nicht an erster Stelle um ein Mit- und Nachsprechen der theologischen „Stimme“ des Textes, sondern um ein sorgfältiges Hören und Bedenken, das schon wegen der grundsätzlich überholten Denkwelt der Autoren als Kinder der antiken Welt auch Raum für Widerspruch einschließt 41 - hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm 42 , um nur ein Stichwort zu nennen, gibt es kein Zurück� Aber ebenso ist darauf zu insistieren, dass es zur genuinen Aufgabe der Exegese gehört, die theologische Dimension der Texte und ihren theologischen Geltungsanspruch zu reflektieren� Die Aufgabe, die theologisch leitenden Gedanken herauszuarbeiten, mag - je nach Charakter des Textes - im Einzelfall durch eine sorgfältige Analyse des Argumentationsgangs oder der narrativen Linienführung in im Grundsatz suffizienter Weise zu erledigen sein� In anderen Fällen aber wird man für eine theologisch-hermeneutisch adäquate Reflexion des Textes die Oberflächenstruktur der Argumentation durchstoßen müssen, um gewissermaßen dessen 40 Barth, Römerbrief 1922, XII: „Bis zu dem Punkt muß ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache , nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, daß ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden kann“ (Hervorhebungen im Original)� 41 Treffend M� Theobald, Exegese als theologische Basiswissenschaft� Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese, JBTh 25 (2010), 105-139, 126 f�: „Nicht ‚Horizontverschmelzung’ ist das Ideal des Verstehens, sondern eine dialogische und darin auch kritische Begegnung mit dem Text und seiner ‚Sache’, die ihm, aber auch dem ‚Leser’ sein je spezifisches Recht einräumt� Einerseits soll der Text sagen können, was er in seiner Fremdheit und Andersartigkeit zu sagen hat … Andererseits besitzt der ‚Leser’ als Rezipient des Textes auch sein Recht und muss gegen die Zumutung geschützt werden, die Darstellung der ‚Sache’ durch die Texte einfach nur nachsprechen zu sollen�“ 42 Siehe R� Bultmann, Neues Testament und Mythologie� Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941) (BEvTh 96), München 1985; ders�, Jesus Christus und die Mythologie� Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik, Gütersloh 6 1984� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 121 theologische Tiefengrammatik zu heben� Ich versuche dies knapp anhand von Paulus’ Reflexion der Israelfrage in Röm 9-11 zu illustrieren. Der Argumentationsgang ist zweifelsohne in sich komplex und anspruchsvoll und stellt zudem an manchen Stellen vor exegetisch schwierige Probleme; überdies müsste die Exegese der drei Kapitel die Ausführungen des Apostels in die Pragmatik des Römerbriefes einordnen und damit auch von seiner biographischen Situation zur Zeit der Briefabfassung her beleuchten, doch ist hier nicht der Ort, das eine oder das andere im Einzelnen zu diskutieren� Ich beschränke mich auf grundlegende theologisch-hermeneutische Aspekte� Im Blick auf diese ist die These, dass man die Argumentation von hinten, d. h. von der in 11,11-24 vorbereiteten und in 11,25-32 dargebotenen Lösung her lesen muss, im Ansatz sicher richtig, aber auch simplifizierend; jedenfalls gewährleistet sie für sich noch nicht, dass die den Text bestimmende theologische Problematik adäquat in den Blick kommt� Sich für die theologische Aktualisierung allein einzelne Spitzensätze aus der Argumentation herauszugreifen - wie „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor erwählt hat“ (11,2) oder „so wird ganz Israel gerettet werden“ (11,26) -, ohne diese in ihrem Kontext zu betrachten und ihre Bedeutung in diesem zu beachten, wäre hermeneutisch mehr als fragwürdig und würde das theologische Problem, vor das Paulus sich in diesen Kapiteln gestellt sieht, gänzlich ignorieren� Entsprechend kann man auch nicht ohne Kautelen auf die Denkfigur in 11,16 („Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige“) rekurrieren, ohne zu beachten, dass in der nachfolgenden Explikation des zweiten Bildes die nicht-christusgläubigen Israeliten zunächst als ausgerissene Ölzweige außerhalb der Heilsgemeinde verortet werden - eine solche Rezeption des Textes wäre eklektisch und damit anfechtbar� Entscheidend ist es m� E� zu beachten, dass die gesamte Argumentation von zwei theologischen Grundüberzeugungen des Apostels gesteuert ist, die im Blick auf Israel in aporetischer Weise miteinander konfligieren� Auf der einen Seite geht es um den im engeren Sinne theo-logischen Grundsatz von der Treue Gottes, der in der Komposition des Röm bereits in der Problemexposition (3,1-4) in 3,3 eingeführt („Wenn einige untreu waren, wird etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben? “), der Argumentation in 9,6a in variierter Gestalt programmatisch vorangestellt („Es ist aber nicht so, dass das Wort Gottes hinfällig geworden wäre! “) und schließlich am Ende durch 11,29 als Begründung der vorangehenden Heilsaussage abgesichert wird: „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar�“ Auf der anderen Seite ist für Paulus der christologisch-soteriologische Grundsatz maßgeblich, dass Gott allen Menschen in Christus Heil erschlossen hat und dieses Heil allen allein durch Glauben an Christus zugänglich wird� Aus diesem zweiten Grundsatz ergibt sich 122 Matthias Konradt folgerichtig, dass die nicht-christusgläubigen Juden gegenwärtig in der Rolle der ausgerissenen Ölzweige begegnen (11,17)� Man kann zwar textpragmatisch darauf hinweisen, dass das Ölbaumgleichnis gegen heidenchristliche Hybris gerichtet ist 43 , doch kann dieser Hinweis die sachliche Problematik, die für die Rezeption dieses Textes im Rahmen der Neubestimmung des Verhältnisses des Christentums zum Judentum gravierend ist, nicht entschärfen� Paulus’ Lösung der dargestellten Aporie ist eschatologisch ausgerichtet: Er thematisiert die Israelfrage in Röm 9-11 unter dem Leitaspekt der Teilhabe am endzeitlichen Heil - mit dem eschatologischen Ergebnis, dass auch die nicht-christusgläubigen Juden gerettet werden (11,26)� Paulus’ unter diesem Leitaspekt gefundenes Lösungsmodell ist des Näheren in Erwartung der nahen Parusie formuliert (s. Röm 13,11f! ). In diesem Horizont steht nicht die Frage einer präzisen Definition der gegenwärtigen soteriologischen Differenz zwischen dem „nicht-christusgläubigen Israel“ und der „Heilsgemeinde“ im Vordergrund, sondern die baldige Einebnung des Unterschieds: Gott wird die gegenwärtig ausgerissenen Ölzweige wieder einpropfen (11,24), und zwar in allernächster Zukunft� Unabhängig davon, ob man das paulinische Lösungsmodell in seiner Zeit für überzeugend erachtet oder nicht, ist im Blick auf heutige theologische Reflexion grundlegend zu bedenken, dass sich unsere Situation - selbst dann, wenn man ausklammert, dass auch die Verselbständigung der heidenchristlich gewordenen Kirche gegenüber dem Judentum eine gegenüber Paulus völlig neue Situation darstellt - ganz offenkundig von der paulinischen grundlegend unterscheidet� Denn mit dem Faktum der inzwischen über knapp 2000 Jahre weitergegangenen Geschichte stellt sich massiv die Frage, ob dem theo-logischen Grundsatz der Verheißungs- und Bundestreue Gottes gegenüber Israel Genüge getan wird, wenn man das sich im Ölbaumgleichnis darstellende Lösungsmodell über die Zeiten hinweg für unsere Gegenwart einfach „kopieren“ wollte - mit der Folge, dass Generationen von Juden im Bild der ausgerissenen Ölzweige begegneten� Diese Frage ist offenkundig zu verneinen� Die Spannung in der Argumentation von Röm 9-11, dass (nicht-christusgläubige) Juden weiterhin als Israeliten (9,4) Geliebte Gottes sind (11,28), aber gegenwärtig nicht zur „Heilsgemeinde“ Israel gehören (11,17-23), stellt sich heute ganz anders dar als im Rahmen paulinischer Naherwartung� Dies heißt zugleich: Eine bloße Repristination des Textes würde der paulinischen Intention, die Treue Gottes gegenüber seinem ersterwählten Volk zur Geltung zu bringen, gerade nicht zu entsprechen vermögen� Ein Zweites kommt hinzu: Wer als Christ ökumenisch denkt und die Perspektivität des eigenen Wahrheitsbewusstseins vor Augen hat, 43 Vgl� exemplarisch K� Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk! “� Israel und die Völker als Thema des Paulus - ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 365-367. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 123 wird auch Paulus’ Urteil, dass die nicht-christusgläubigen Juden zwar „Eifer“, aber keine „Erkenntnis“ haben (Röm 10,2) und ihr Nein zu Jesus Ausdruck von Untreue ist (3,3, vgl� die Rede von „Gottlosigkeiten“ in 11,26), nicht einfach repetieren können� Eine der wesentlichen Erkenntnisse der historischen Exegese besteht darin, dass sich die Semantik eines Textes gravierend verändern kann, wenn er aus seiner eigenen in eine andere Kommunikationssituation transferiert wird� Die Aufgabe historischer Exegese lässt sich in diesem Zusammenhang so beschreiben, dass sie durch Einbettung eines Textes in seinen situativen Zusammenhang den Weg bereitet, angesichts einer veränderten Kommunikationssituation zu einer zum Text analogen Aussage zu kommen. Im Falle von Röm 9-11 konkretisiert sich diese Aufgabe in der Weise, dass eine hermeneutisch reflektierte Rezeption von Röm 9-11 für eine Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden heute sich nicht darin erschöpfen kann, die paulinischen Gedankengänge exegetisch nachzuzeichnen� Es ist vielmehr zwischen den theologischen Grundsätzen, die die Argumentation in Röm 9-11 steuern, und dem von Paulus in seiner Situation entworfenen Lösungsmodell zu unterscheiden� Erstere müssen für eine biblisch-theologisch fundierte Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden heute, die Röm 9-11 als Ausgangspunkt oder zumindest als einen wichtigen biblischen Referenzpunkt nimmt, als leitende Kriterien fungieren� Eine historisch-kritische Exegese, die auf diese Weise theologisch engagiert ist, schafft Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog mit der Systematischen Theologie� Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass Exegeten sich in ihrer Rolle auch bescheiden und ihre biblisch-theologische Kompetenz nicht schon für das Ganze der Theologie erachten� Michael Theobald hat in einer Reflexion über die Exegese als theologische Basiswissenschaft ihre Rolle mit Recht gegen zwei Extreme abgegrenzt und ihre Aufgabe in der Mitte lokalisiert: „Das eine Extrem ist ihre Unterforderung im Sinne einer philologisch-historischen Disziplin, die lediglich Befunde klärt und bereitstellt, welche dann vor allem die Dogmatik als Entfaltung kirchlicher Lehre zu verarbeiten habe … Das andere Extrem läuft auf ihre Selbstüberforderung im Sinne einer theologisch-hermeneutischen Disziplin hinaus, welche die Übersetzungsvorgänge ins heutige Denken hinein (in welches? ) in eigener Kompetenz selbst bewältigen zu können meint“ 44 � Ersteres würde wohl darauf hinauslaufen, dass der eingangs beklagte Zustand eines aktuell unterentwickelten Dialogs zwischen den Disziplinen im Hause der Theologie fortgeschrieben wird� Letzteres wäre Hybris� Im Bild gesprochen: Dass die Exegese der biblischen Texte als theologische Basiswissenschaft im 44 Theobald, Exegese, 107 (Hervorhebungen im Original)� 124 Matthias Konradt Verbund der theologischen Disziplinen die Eckdaten für das Fundament vorgibt und Bausteine für die Geschosse im Haus der Theologie liefert, ist eine große Verantwortung und Herausforderung; sie sollte aber anderen Disziplinen nicht auch noch bis ins Detail vorschreiben wollen, wo jedes einzelne Fenster zu setzen ist� Die im Voranstehenden skizzierte Rolle der Exegese im Verbund der theologischen Disziplinen gilt, dies sei abschließend angefügt, auch in umgekehrter Richtung, also bei der Beurteilung von theologischen Entwürfen aus exegetischer Perspektive� Aus dem im Voranstehenden vorgetragenen Einspruch gegen „naive Repristination“ folgt zwingend, dass dem Exegeten die Robe eines beckmesserischen Richters nicht steht� Ich illustriere dies anhand der reformatorischen Rechtfertigungslehre� Dieser bzw� in Sonderheit Luther ist in der neueren Paulusforschung - mit unterschiedlicher Emphase - häufig der Vorwurf gemacht worden, dass die paulinische Rechtfertigungslehre hier (grundlegend) missverstanden sei� 45 Es ist völlig richtig, dass die Rechtfertigungslehre bei Paulus, anders als bei Luther, Antwort auf eine ekklesiologische Problematik zu geben sucht 46 und Luther die Rede von der Rechtfertigung durch Glauben ohne Werke des Gesetzes auf einen anderen Problemhorizont bezogen hat, womit eine ganze Reihe von unterschiedlichen Akzentsetzungen verbunden ist� 47 Mit dieser Feststellung ist aber keineswegs bereits ein theologisches Verdikt gegen Luthers Rechtfertigungslehre gesprochen� Es ist schon aus intellektueller Redlichkeit geboten, die Differenzen zwischen Paulus und Luther nicht zu verschleiern, sondern als solche zu benennen� Aber theologisch ist die entscheidende Frage, ob die lutherische Rechtfertigungslehre als eine in ihrem christentumsgeschichtlichen Kontext legitime Transformation der paulinischen Theologie gewürdigt werden kann� Diese Frage ist m� E� dezidiert zu bejahen� Diese Bejahung bedeutet, wenn man das reformatorische Schriftprinzip ernst nimmt, nicht, dass nun umgekehrt die lutherische Rechtfertigungslehre die Rolle einer normativen Auslegungsgestalt der paulinischen Theologie gewinnt� 45 Dezidiert z� B� E� P� Sanders, Paulus� Eine Einführung (Reclam Universal-Bibliothek 9365), Stuttgart 1995, nach dem Luther Paulus’ Aussagen zur Gerechtigkeit aus dem Glauben „in den Mittelpunkt seiner eigenen gänzlich anderen Theologie“ gestellt habe (63), und F� Watson, Paul, Judaism and the Gentiles� A Sociological Approach (MSSNTS 56), Cambridge [u� a�] 1986, 1: „the Reformation tradition’s approach to Paul is fundamentally wrong�“ 46 Siehe dazu exemplarisch M� Wolter, Paulus� Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen- Vluyn 2011, 339-411. 47 Ich habe meine Sicht anderorts ausführlicher dargelegt und wiederhole dies hier nicht� Siehe M� Konradt, Luthers reformatorische Entdeckung - eine Relektüre aus exegetischer Sicht, in: M� Heimbucher (Hg�), Reformation erinnern� Eine theologische Vertiefung im Horizont der Ökumene (Evangelische Impulse 4), Neukirchen-Vluyn 2013, 13-41. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 125 Vielmehr gilt es, heute neu zu fragen, wie Paulus’ theologisches Anliegen in heutige Problemzusammenhänge hinein buchstabiert werden kann� Dass dazu Luthers Paulusdeutung auch gegenwärtig noch einen wertvollen Beitrag leisten kann, ist davon unbenommen�
