eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips

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2017
Petr Pokorný
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 1 Petr Pokorný 1. Das Problem In der Zeit der Reformation war das Schriftprinzip ein konfessioneller Streitpunkt innerhalb der Christenheit� Dies trifft für die heutige Zeit nicht mehr zu� Das 20� Jahrhundert brachte neue Herausforderungen mit sich, und die Christen begannen, ihre gemeinsamen Wurzeln ökumenisch zu erleben, sodass schon vor mehr als fünfzig Jahren galt: „Die Sola Scriptura Lehre sollte heute nicht mehr als Grund der Trennung unter Christen ins Feld geführt werden�“ 2 Es ist das Ziel des vorliegenden Aufsatzes, durch Untersuchung der biblischen Vorgeschichte des Schriftprinzips ( sola scriptura ) einen Beitrag zu seiner gegenwärtigen Deutung zu leisten� Einer kurzen Charakteristik der einzelnen Etappen der Entstehungsgeschichte des christlichen Kanons schicke ich eine Bemerkung über die zwei Dimensionen des Schriftprinzips voraus� Das Schriftprinzip, demzufolge die Schrift als Norm der Lehre und des Lebens der Kirche gilt, hat zwei Dimensionen: Für John Wyclif 3 war die Schrift nach dem Zeugnis der Apostel eine Offenbarung der Wahrheit Gottes (Gal 1,11-12) und ein Spiegel des göttlichen Wirkens (Weish 7,26)� Dies gilt auch für die Glaubensbekenntnisse der Reformation� 4 1 Die Zitate aus der Bibel sind der Lutherübersetzung in der revidierten Fassung von 1984 entnommen� 2 K� Rahner / H� Vorgrimler, Kleines theologischen Wörterbuch, Freiburg i� Br� (1961) 5 1965, 328� 3 De veritate Sacrae Scripturae I, 1378� 4 Helvetica posterior I,1-4, Confessio Bohemica 1,2-3; im Augsburger Bekenntnis fehlt ein solcher Artikel� Das Schriftprinzip hat man offensichtlich für selbstverständlich gehalten� 144 Petr Pokorný Das zweite Motiv kann durch das Schlagwort ad fontes charakterisiert werden, das die Reformation mit dem Humanismus (inbesondere des Erasmus von Rotterdam) verbunden hat� Im Unterschied zu der ersten Begründung, welche die Autorität der Schrift von Gott durch den Heiligen Geist (bildlich „von oben“) ableitet, wird hier eher das zeitliche „vor“ betont, das den Text der Bibel mit den ersten Zeugen (im Neuen Testament: mit den Aposteln) verbindet und in der Weltreformation auch die Rückkehr zur Bibel in den Ursprachen bedeutet� 2. Die Vorgeschichte der Heiligen Schrift in Israel Das Gesetz und die Propheten hielt Israel für die in menschlicher Sprache zugängliche Stimme Gottes� Einzig den Dekalog schrieb Gott selbst mit seinem „Finger“ auf die Tafeln (Ex 31,18; 32,16; vgl� Dtn 5,22)� Mose zerbrach diese allerdings im Zorn, als er sah, dass das Volk während seiner Abwesenheit begonnen hatte, einem Götzen zu dienen (Ex 32,19)� Einer anderen Tradition ist zu entnehmen, dass es Mose war, der die Worte Gottes auf die Tafeln schrieb, und nur die glänzende Haut seines Gesichts deutete an, dass es in der Nähe Gottes geschah� Demzufolge kann der Mensch den Willen Gottes nur in menschlichen Worten vernehmen� Das gilt nicht nur im Hinblick auf den Dekalog, sondern auch für den ganzen Text des Gesetzes� Das 8� Kapitel des Buches Nehemia schildert das Vorlesen des Gesetzes nach der Rückkehr aus dem Exil� In Jerusalem lesen Esra und die Leviten von der hölzernen Kanzel den Text vor (Neh 8,2-6). Da nicht alle das Vorgelesene verstehen (8,2-3), wird gleich hinzugefügt, dass das Vorlesen mit Unterweisung und Auslegung verbunden ist (8,7� 8� 11)� Dies bedeutet zunächst, dass der Gottesdienst auf der Grundlage der (Vor-) Lesung des geschriebenen Textes die Form alternativer Ausübung der Frömmigkeit Israels in einer Zeit darstellte, als der Tempel noch nicht neu errichtet oder (später) schon zerstört war, und vor allem überall außerhalb Jerusalems� Zweitens sehen wir, dass ein solcher Gottesdienst aus zwei Teilen bestand: aus (Vor-)Lesung und Deutung , aus heutiger christlicher Sicht würde man sagen: aus dem Text und aus der Predigt � Wir werden hier Zeugen eines dialektischen Prozesses: Der Text vermittelt die Autorität, die über der Gemeinde steht; aber gleichzeitig verleiht die Wirkung der Schrift einigen Vertretern der Gemeinde die Kompetenz, das Gesetz fūr die anderen zu interpretieren. 5 5 Zu diesem Problem siehe besonders P� Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P� Pokorný / J� Roskovec (Hg�), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-26, hier bes. 24-26. Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 145 3. Jesus und das Gesetz und die Propheten In neutestamentlicher Zeit war die Autorität des Gesetzes und der Propheten aus jüdischer Sicht allgemein anerkannt (Mt 5,27)� Auffällig ist deswegen, dass Jesus in einigen seiner Aussagen aus der Spruchsammlung Q (bei Matthäus als Antithesen gestaltet) die Worte der Bücher des Gesetzes radikalisiert, aber manchmal auch relativiert. So wird etwa in Mt 5,31-32par. das Wort von der Ehescheidung aus Dtn 24,1 radikalisiert, 6 aber die Tora-Vorschriften, reine und unreine Speisen voneinander zu unterscheiden (Lev 11), werden in Mk 7,18-23par. relativiert. Grundlegend kommt die gesetzeskritische Einstellung Jesu im kommentierenden Wort des Evangelisten zur Sprache: „Damit erklärte er alle Speisen für rein“ (Mk 7,19b)� Wiederholt argumentiert Jesus mit einem anderen Schriftzitat� Beispielsweise verteidigt er die Störung der Sabbatruhe in Mk 2,23-26par. mit seiner Berufung auf die Schrift (1Sam 21,2-7) und fügt eine neue Deutung des Sabbatgebots hinzu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27)� 7 Später argumentiert er in derselben Frage mit dem Liebesgebot: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten? “ (Mk 3,4)� Diese sokratische Gegenfrage führt deutlich das Problem vor Augen: Die Schrift ist auf Deutung angewiesen, sie gilt nicht an sich. Als Norm 6 Vgl� hierzu die Exegese bei H� Hübner, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Witten 2 1986, 40-112. 7 Markus begreift dies als eine feierliche Äußerung Jesu als des Menschensohnes, wie es zur Christologie der ersten nachösterlichen Zeitperiode gehört hat� Prof. Dr. Petr Pokorný, geboren 1933, studierte evang� Theologie (Dr� theol� habil�) und Geschichte der griech Literatur (DrSc) in Prag, 1957-1967 evang. Vikar und Pfarrer, dann Lehrer; seit 1972 Prof� an der evang�-theol� Fakultät in Prag (auch Aufenthalte in Bonn, Genf und Oxford)� Ab 2001 Mitarbeiter (bis 2011 Direktor) des Zentrums für biblische Studien der AW und der Karlsuniversität in Prag� - Mitarbeit an der tschechischen ökum� Bibelübersetzung� Studien zu Christentum und Gnosis, zur synoptischen Theologie und zur Jesusforschung (Princeton - Prague Jesus Research), Kommentare (Eph� Kol), „Die Entstehung der Christologie“ und (mit U� Heckel) „Einleitung in das NT�“ Seit 1967 Mitglied (1964-1965 Präsident) der Studiorum Novi Testamenti Societas. Gastdozent oder research fellow in Greifswald, Pittsburg ( PA) , Tübingen, Princeton (NJ ) � Dr� h� c� in Bonn, Budapest und St� Petersburg� 146 Petr Pokorný kann sie nur durch den Vergleich mit anderen Worten und durch Unterscheidung zwischen dem Grundanliegen und den Rändern geltend gemacht werden. Bei Jesus ist die Autorität, mit der er das Gesetz auslegt, eine Äußerung seines Selbstbewusstseins als des endzeitlichen Propheten: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes� Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt …“ (Lk 16,16)� Seit Jesus hat unter den Christen das Gesetz eine neue Rolle erhalten� 8 Jesus spricht mit Autorität ( exousia - Mk 1,22par�)� Eine seiner Neuinterpretationen ist die Universalisierung der Hoffnung� Die israelzentrierte Eschatologie der Propheten wird dadurch relativiert (Mt 8,11-12par.; Lk 4,24-27) 9 - das Reich Gottes wird zum Horizont aller Menschen� Das alles scheint der Bestätigung des Gesetzes zu widersprechen, die im Lukasevangelium neben dem Wort von der Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes steht (16,17) und ihre Parallele in Mt 5,18 hat: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht�“ Dieses Wort zirkulierte wahrscheinlich unter den jüdischen Anhängern Jesu� Matthäus löste das Problem, indem er die Aussage über die Geltung des Gesetzes dem Doppelgebot der Liebe unterordnete: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,40)� Daraus geht hervor, dass die Einhaltung des Liebesgebots die tiefste Intention jedes Buchstabens des Gesetzes erfüllt, wenn es auch wörtlich genommen widersprüchlich erscheinen mag� 10 Dies kann wirklich der Absicht Jesu entsprechen� Auch kann uns die Tatsache, dass die in seiner Gesetzesauslegung enthaltene Spannung ein Teil des Kanons geworden ist, indirekt zur Deutung der Autorität der Schrift in der Kirche verhelfen� Dass das Grundanliegen des Textes eine höhere Norm darstellt als ein einzelner Spruch, gilt auch für die Traditionen über Jesus � In 1Kor 13 (das Hohelied der Liebe) relativiert der Apostel Paulus einen der bestbezeugten Sprüche Jesu über den Glauben, der Berge versetze (Mt 17,20 / Lk 17,6/ - Q; Mk 11,22-23 / Mt 21,21; Thom� Ev� Log� 48), durch den Verweis auf das Liebesgebot (1Kor 13,2b)� 8 D� Sänger, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft (1999), zuletzt in: ders�, Von der Bestimmtheit des Anfangs, Neukirchen-Vluyn 2007, 1-32, hier: 31. 9 Sänger, Schriftauslegung, 26-28. 10 Das war das Ergebnis der Untersuchung von K� Berger, Die Gesetzauslegung Jesu (WMANT 40 / 1), Neukirchen-Vluyn 1972, 390� In Mt 7,12 hält Jesus auch die Goldene Regel für eine Zusammenfassung des Gesetzes� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 147 4. Die frühe christliche Verkündigung und die jüdische Bibel Die (frühen) Christen sahen in der jüdischen Bibel die Vorhersage der ganzen Geschichte Jesu� Praktisch kommt diese Rolle vor allem der jüdischen Bibel in Gestalt der griechischen Übersetzung der Septuaginta zu � 11 Auch die biblischen Apokryphen und Pseudepigraphen und ebenso die Qumrantexte enthalten Kommentare zur Schrift, aber die eindeutige Konzentration auf eine Gestalt, wie es für die christlichen Gruppen charakteristisch war, ist ein spezifisches Phänomen, das von der Einmaligkeit der christlichen Ostererfahrung abhängt� Beispielsweise greift schon die vorpaulinische Identifizierung Jesu mit dem davidischen König (Röm 1,3; 2Tim 2,8) über den biblischen Text hinaus (vgl. z. B. Jes 9,5-6 mit Lk 1,32), weil Jesus als Gott-Held kein weltumfassendes Friedensreich gegründet hat und nicht an die Stelle der ungerechten Herrscher getreten ist� 12 Es handelt sich dabei also um keine Deutung der Aussage des Textes, sondern um dessen Neuinterpretation aus der Sicht eines neuen Ereignisses, das außerhalb des Textes liegt. Eben dieses Ereignis ermöglichte eine neue Deutung des Gesetzes und der Propheten und war später im neutestamentlichen Kanon selbst kanonisiert worden. Dies ist die Grundlage der exegetischen Regel Luthers, wonach alle Bücher der Bibel untersucht werden sollen, „ob sie Christum treiben oder nicht�“ 13 In der Formel des mündlichen Evangeliums aus 1Kor 15,3b-5 ( euaggelion in V� 1) wird die Aussage über Jesu Tod durch die Wendung „nach den Schriften“ ergänzt� Der Zusatz macht deutlich, dass das Zeugnis der jüdischen Bibel in das Evangelium mündet (bzw� dass im Evangelium das Zeugnis der jüdischen Bibel seinen Höhepunkt erreicht), und dass es durch die Bibel unterstützt wird� Anders gesagt: Die Osterverkündigung versteht sich als die wahre Predigt biblischer Texte, die ihre Erfüllung bezeugt� Die jüdischen Christusgläubigen gebrauchten die als prophetische Vorhersage der Rolle Jesu ausgesuchten biblischen Stellen zur Unterstützung ihrer Position unter den Juden� Diese biblischen Belege sollten ihr Bekenntnis zu Jesus als dem schon gekommenen Messias angesichts der jüdischen Erwartung des künftigen Messias rechtfertigen� Bald trat jedoch ein anderes Anliegen in den Vordergrund : Im heidenchristlichen Milieu präsentierte die Kirche die jüdische Bibel als ihre Vergangenheit und als die Vorgeschichte Jesu. Sie hat die jüdische Bibel auf ihrem Weg in die heidnische Welt mitgenommen� 11 Zum Problem siehe H� Hübner, Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo, in: JBTh 3 (1988), 147-162, hier: bes. 155. 12 Vgl� hierzu B� S� Childs, Isaiah� Louisville, KT 2001, 66-67. 13 Die These stammt aus Luthers Vorrede zu den Episteln des Judas und Jakobus (WA DB 7,384)� 148 Petr Pokorný Dieser Prozess begann schon in der Zeit, als Paulus das Evangelium in 1Kor 15,3b-5 zitierte, das seine (augenscheinlich nicht selbstverständliche) Schriftgemäßheit betont� In den nachfolgenden zweihundert Jahren musste die Kirche um die jüdische Bibel und ihre Rolle in der christlichen Liturgie kämpfen� Die Lösung von Markion ist allgemein bekannt; weniger deutlich, wie weniger fassbar und weniger scharf konturiert, ist heute die gnostische Einstellung, die die (jüdische) Bibel mehr oder weniger als Negativfolie des Evangeliums betrachtete� Im zweiten Traktat des Großen Seth ( NHC VII / 2) werden die biblischen Gestalten von Adam bis zu den zwölf Propheten als lächerliche Gestalten charakterisiert (vgl. 62-63). Die Bindung des Glaubens an die Geschichte war dadurch aufgelöst, und das Kreuz Jesu - die Lehre von dem „toten Mann“ - als Lüge charakterisiert (60,22)� Hierbei handelte es sich um eine späte Polemik gegen die Großkirche; die Konsequenzen einer Unterschätzung der jüdischen Bibel werden dadurch allerdings angedeutet� In der Unterweisung an Timotheus in 2Tim 3,15-17 lesen wir: „… dass du von Kind auf die heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus� Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung und der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allen guten Werk geschickt�“ Wir werden hier Zeuge einer Zusammenfassung der Rolle der jüdischen Bibel in der dritten christlichen Generation, einige Jahrzehnte bevor sich die Idee des zweiteiligen christlichen Kanons in der Kirche durchgesetzt hat� Die jüdische Bibel ( Tenak ) wird hier (2Tim 3,15) wörtlich als „die Heiligen Schriften“ ( hiera grammata ) bezeichnet (2Tim 3,16), wie es schon bei Philo (vgl� z� B� De Vita Mosis II ,292) belegt ist� Sie wird als inspiriert, „von Gott eingegeben“ ( theopneustos ) bezeichnet, was man später als Attribut der ganzen zweiteiligen christlichen Bibel verwendet hat� Sie kann zur Rettung (zum Heil) „durch den Glauben an Christus Jesus“ belehren� Dadurch wird die Inspiration an die Person Jesu gebunden� Dieses Modell, wonach die entscheidende Autorität in den heiligen Schriften nur indirekt enthalten ist, konnte nur insoweit funktionieren, als die entscheidenden Traditionen über Jesus lebendig waren� Das ändert nichts an der Tatsache, dass eine wörtliche (buchstäbliche) Inspiration der christlichen Erfahrung widerspricht� 14 14 2Petr 1,21 bezieht sich auf die Rede der Propheten, nicht auf die Schrift� Von dem Anspruch an eine wörtliche Inspiration (Diktat) kann man nur im Koran sprechen� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 149 5. Voraussetzungen und Anfänge des christlichen Kanons Für die Entstehung des christlichen Kanons war die Entstehung des Materials, d� h� des Inhalts, die erste Voraussetzung� 15 Paulus hatte vorausgesetzt, dass seine Briefe den Adressaten - den Mitgliedern der adressierten christlichen Gemeinden - während des Gottesdienstes vorgelesen werden, aber für allgemein gültige Texte für den ständigen liturgischen Gebrauch hat er sie nicht gehalten� Dies blieb späteren Zeiten vorbehalten� Das älteste der synoptischen Evangelien ist das Evangelium nach Markus� 16 Es beginnt mit dem Satz „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus (dem Sohn Gottes)“� 17 Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts hat man diesen Satz als eine Einführung des Abschnitts über Johannes den Täufer interpretiert, des Abschnittes also, mit dem das Evangelienbuch beginnt� Dies ist allerdings nicht die ursprüngliche Bedeutung, denn „Evangelium“ bezeichnete damals noch kein Buch oder eine literarische Gattung� Diese Bedeutung ist erst mehr als siebzig Jahre später belegt� So ist in der Apologie Justins des Märtyrers (gestorben um das Jahr 165) zu lesen (1Apol 66,3), dass „die Apostelerinnerungen auch euaggelia genannt werden�“ 18 Sprach man vorher, in der Zeit der Entstehung der Markus-Schrift, von „Evangelium“, so bedeutete dies das mündliche Evangelium von der Auferstehung Jesu� Was Markus (auf-)geschrieben hat, sollte deswegen der Anfang oder die Voraussetzung des Osterevangeliums von der Auferstehung Jesu, also die Geschichte Jesu, seine Biographie sein. In der ersten Zeit nach Ostern war es unnötig, einen solchen Text zu schreiben, weil die Traditionen über Jesus vorhanden waren und einige Menschen ihn noch kannten� Als allerdings neue Generationen nachfolgten und das Evangelium die Grenzen des Judentums überschritt, musste sichergestellt werden, dass man bleibend etwas über die konkrete Person wusste, zu der sich Gott durch die Auferstehung bekannt hatte� Das von Markus verfasste Buch verstand sich demnach als eine Sammlung - mehr noch - als eine Auswahl der Traditionen der Worte Jesu (etwa ein Drittel des Textes) und der Traditionen über Jesus, die 15 J. B. Souček hat in seiner Studie über die Entstehung des neutestamentlichen Kanons „Vznik novozákonního kánonu“ (Prag 1943) die Entstehung des Inhalts, der Idee des Kanons und seiner Begrenzung als die drei Etappen der Entstehung der christlichen Bibel definiert� 16 Siehe dazu P� Pokorný, „Anfang des Evangeliums“� Zum Problem des Anfangs und des Schlusses des Markusevangeliums (1978), zuletzt in: P. Pokorný / J. B. Souček (Hg.), Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 237-253; ders., From the Gospel to the Gospels (BZNW 195), Berlin / Boston, 2013, bes� Kap� 6� 17 Meine Übersetzung� 18 Die Evangelienüberschriften „Das Evangelium nach …“ könnten einige Jahre älter sein, für die Datierung haben wir allerdings wenig Stützen� Zum Thema siehe M� Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW 1984 / 3), Heidelberg 1984� 150 Petr Pokorný in diesem Rahmen als Anfang des Evangeliums präsentiert werden� Innerhalb dieser Schrift kommt das Evangelium als Zeugnis von der Auferstehung des hingerichteten und begrabenen Jesus erst in den letzten Versen vor (16,6-7, mit V� 8 endet der ursprüngliche Text)� Sonst ist an den meisten Stellen, wo von euaggelion die Rede ist, das Osterevangelium gemeint (z� B� 10,29; 13,10; 14,9)� Nur in Mk 1,14-15 handelt es sich um das Evangelium vom Reich Gottes, das Jesus verkündigt hat, und das folglich zum Anfang des Osterevangeliums gehört� Der erste Satz des Markusevangeliums gibt also seinen Inhalt kurz wieder� Hinsichtlich des Problems der Entstehung der Idee des christlichen Kanons ist von Bedeutung, dass Markus diesen Satz und gleichzeitig den Titel seines Werkes mit dem Wort archē , begonnen hat� Mit „Am Anfang“ ( en archē, hebr� bereschit ) fängt in der Septuaginta das Buch Genesis an� Dies ist kaum ein Zufall, sondern ein Versuch des Verfassers, die Geschichte Jesu als Neuanfang zu präsentieren, als die Geschichte der neuen Schöpfung und des neuen Adam, zu dem sich Gott bekennt, und der im Unterschied zum alten Adam den Versuchungen des Satans widersteht (Mk 1,13)� Den christlichen Kanon, 19 wie er sich später durchgesetzt hat, konnte der Evangelist noch nicht vor Augen haben� Doch ist der Anfang der Idee des christlichen Kanons mit dem Markusevangelium schon da� Es war ein Gedanke, den die Evangelisten nur angedeutet haben, aber das Bedürfnis, einen für das christliche Zeugnis autoritativen Text zu haben, ist im ersten Vers des Markusevangeliums schon zu spüren� Die schriftlich fixierte Tradition über Jesus war für die entstehende Kirche unentbehrlich� Dies scheint eine gewagte These zu sein, denn noch im Jahr 150 war für Justin „die Schrift“ die jüdische Bibel, die man in der Kirche später Altes Testament genannt hat� Er beruft sich oft auf die Evangelien als „Erinnerungen der Apostel“, aber er illustriert dadurch nur die Autorität von Jesus als dem Herrn� Durch Jesus und durch die Apostel, die sich an ihn erinnert haben, spricht nach Justin (Dial� 119,69) die Stimme Gottes ( phonē theou )� 20 Justin kannte auch die Briefe des Paulus, zitierte diese aber nicht als Autorität� Die Ambition des Markus begriffen jedoch die anderen Autoren kanonischer Evangelien, wenn auch das Modell eines Kanons, der mehrere Evangelien umfasste, ihnen noch fern war� Der älteste Bericht über die Evangelien, der sich augenscheinlich auf ihren liturgischen Gebrauch bezieht, geht auf Papias von Hierapolis zurück (um 130 n� Chr�, bei Eusebius, hist� eccl� III ,39,14-17). Dieser impliziert schon die 19 Das Wort Kanon (griech� kanōn ) hat bei den Kirchenvätern bis in das 4� Jh� die Tradition der Lebensweise bezeichnet, die den „Sitten Jesu“ entspricht� Erst seit der Mitte des 4� Jh� hat es die autoritative Sammlung für die liturgische Lesung bezeichnet; siehe B� Metzger, The Canon and the New Testament, Oxford 1967, 289-293. 20 R� Fialová, „Scripture“ and the „Memoirs of the Apostles“, in: J� Dušek / J� Roskovec (Hg�), The Process of Authority (DCLS 27), Berlin / Boston 2016, 165-177, hier: 174-177. Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 151 Idee einer Sammlung mit mehreren Evangelien: Papias’ Bericht über das Markusevangelium, der länger ist als der über das Matthäusevangelium, stellt das Markusevangelium in eine direkte Beziehung zu dem Apostel Petrus, wobei er die Koexistenz beider Texte (er nennt sie noch nicht Evangelien) in der Liturgie voraussetzt� Dabei hat Papias selbst immer der lebendigen mündlichen Tradition den Vorrang vor den schriftlichen Quellen eingeräumt (ebd� 39,4)� 21 6. Der Streit um die Gestalt des christlichen Kanons Das Markusevangelium ist durch die Betonung der Heilsbedeutung des Todes Jesu (Mk 10,45) mit Paulus verbunden und hat sich demnach wohl zunächst in den paulinischen Gemeinden verbreitet� Bald fand es jedoch auch in anderen Bereichen der Kirche Widerhall� Ein weiterer, größtenteils schon schriftlich verbreiteter Text, der sich auf Jesus bezieht, war die Spruchsammlung Q (Logienquelle)� An zwei verschiedenen Orten haben zwei gebildete Christen offensichtlich voneinander unabhängig die Idee gahabt, das Markusevangelium und die Logienquelle in einem Buch zusammenzufassen� Die Logienquelle hat schon zur Zeit der Entstehung des Markusevangeliums existiert, und der Verfasser des Markusevangeliums hat sie wahrscheinlich gekannt, aber nicht als Quelle gebraucht� Die Logienquelle enthält keine Passionsgeschichte, Jesu Tod und Auferstehung werden nicht erwähnt� Das Wort Evangelium kennt sie nicht, nur das Zeitwort euaggelizomai als Charakteristik der Verkündigung Jesu (Q 7,22)� Auch repräsentiert sie eine andere Christologie als die von Paulus zitierten Formeln des Osterevangeliums� Der Grund der Ablehnung der Logienquelle durch das Markusevangelium war also theologischer Natur� In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die anderen Synoptiker die Logienquelle aufgenommen, sie aber der Struktur des Markusevangeliums angepasst haben� Ihre Bücher gipfeln ebenfalls in Tod und Auferstehung Jesu� „Lukas“ und „Matthäus“ haben begriffen, dass die Idee des Markus, die Biographie von Jesus als eine Analogie des ersten Buches des Gesetzes zu präsentieren, der Autorität ihrer Schriften im gottesdienstlichen Gebrauch zugute kommt� Der Anfang des Matthäusevangeliums (Mt 1,1) ist eine direkte Anspielung auf den Anfang und die Geschichten der Bibel (des Alten Testaments): „Das Buch der Genesis Jesu Christi, des Davidsohns, des Abrahamsohns�“ Unmittelbar bezieht sich Mt 1,1 auf die darauffolgende Genealogie Jesu, aber die Analogie 21 Noch Ignatius polemisiert gegen die Autorität der Urkunden ( archeia ), denn seine Urkunde sei Jesus Christus, sein Tod und seine Auferstehung (Ign� Phil� 8,2)� Siehe auch J�A� Dus, Papers or Principles? , in: Dušek / Roskovec (siehe Anm. 18), 151-163. 152 Petr Pokorný zum Buch Genesis ist deutlich� „Das Buch der Genesis“ kann im Matthäusevangelium als das erste Wort gemeint sein, das zur Benennung des ganzen Buches dient� 22 Diese Analogie bedeutet weder, dass das Matthäusevangelium ein Ersatz des Buches Genesis, noch dessen Fortsetzung ist, sondern dass es von einem Neuanfang erzählt� Die Erweiterung der markinischen Vorlage „zurück“, bis zur Geburt Jesu, verleiht dem ersten Satz zusätzliches Gewicht: Die Geburt Jesu ist die wahre Genesis, der wahre Anfang des Osterevangeliums� 23 Matthäus hat allerdings gleichzeitig beabsichtigt, mit seinem Buch das Markusevangelium als gottesdienstliche Lektüre der Christen zu ersetzen� Er erwähnt nicht, dass es seine Quelle war� Die Ambition, einen Text für die gottesdienstliche Lesung zu schreiben, hatte auch „Lukas“� Im Unterschied zu Matthäus spricht er von seinen Vorgängern: Er erwähnt in 1,1-2 „viele“, die es schon „unternommen“ haben, von dem „unter uns“ Geschehenen zu berichten, wie sie es von denjenigen übernommen haben, die „von Anfang an“ Augenzeugen waren� „Unter uns“ deutet auf die Christen seiner Zeit, sodass der Prolog des Lukasevangeliums sich auf das ganze Doppelwerk (Lukasevangelium und Apostelgeschichte) bezieht� Der „Anfang“ referiert hier auf das Auftreten Jesu� Dass er an Markus anknüpft, verrät der Prolog der Apostelgeschichte� Dort lesen wir, dass der erste Band (erste Erzählung; logos ), also das Lukasevangelium, über alles berichtete, was Jesus „begonnen hat ( ērxato ) zu tun und zu lehren“ bis zu seiner Himmelfahrt� Das Leben Jesu, seine Werke und seine Lehre, das alles ist also der Anfang des „Wortes“, dessen Diener die ersten Zeugen (Apostel) geworden sind� Das entspricht der Absicht von Mk 1,1� Das, was folgt, und was bei Markus das eigentliche Osterevangelium war, interpretiert der Verfasser der beiden Bücher ad Theophilum als die Präsenz des „lebendigen“ Jesus „unter uns“ durch den Heiligen Geist (Apg 1,1-3). Lukas schätzt die Augenzeugen, die Diener des Wortes geworden sind, aber er unterscheidet von ihnen seine direkten Vorgänger, deren Werke er relativiert: „Unternehmen“ ( epicheireō ) kann auch mit „versuchen“ wiedergegeben werden und herabsetzend gemeint sein� Der Verfasser des Markusevangeliums, dessen Grundstruktur Lukas übernommen hat, taucht nur als einer unter „vielen“ auf, deren Arbeit jetzt in einem repräsentativen Werk - dem Lukasevangelium - zusammengefasst und interpretiert vorliegt� 22 Vgl� U� Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I / 1), Düsseldorf / Neukichen-Vluyn 5 2002, 118� 23 Viel Material zu diesem Thema hat G� N� Stanton gesammelt: Matthew, BIBΛOΣ, EYAΓΓΕΛION or BIOΣ? , in: F� van Segbroeck et alii (ed�), The Four Gospels 1992 (FS F� Neirynck), Leuven 1992, 1187-1201. Der Nachteil seines Beitrags ist allerdings, dass er von der späteren Bedeutung des euaggelion als Buch ausgeht, und ihren Anfang schon bei Matthäus sieht, wobei er den Einfluss von Mk 1,1 nicht erwähnt� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 153 „Lukas“ und „Matthäus“ haben das Markusevangelium auch am Ende erweitert� Bei „Markus“ beschränkt sich die Erzählung (das Narrativ) auf den „Anfang“ des Evangeliums (die Geschichte Jesu), während das Evangelium selbst in der letzten Szene (16,6-7) ledigilich durch ein kurzes Zeugnis vertreten ist, in dem der Leser das Evangelium erkennt, das in 1Kor 15,3b-5 zitiert wird� Im Unterschied dazu bieten die übrigen Synoptiker und das Johannesevangelium auch eine narrative Darstellung der Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus, also auch das Evangelium selbst� Im lukanischen Doppelwerk kommt noch als zweiter Band die Darstellung der ersten, idealen Reaktion auf die neue Weise der Präsenz Jesu hinzu� Dadurch war das Material vorhanden, das seiner Funktion nach etwa dem Gesetz und den „vorderen“ Propheten entsprach� Es ist bezeichnend, dass „Lukas“ und „Matthäus“, die beide den Anspruch erkennen lassen, das maßgebliche Buch für den gottesdienstlichen Gebrauch vorgelegt zu haben, neben dem Markus- und dann auch neben dem Johannesevangelium ihren Platz im christlichen Kanon gefunden haben. Die Kanonisierung der vier Evangelien ermöglicht es, besser zu verstehen, dass die Norm für die Orientierung und Wirkung des Glaubens die konkrete Geschichte Jesu ist, an welche sich die vier Evangelien aus vier verschiedenen Blickwinkeln erinnern� 7. Die entscheidende Phase Der letzte Versuch, einen einzigen autoritativen Text über Jesus für den kirchlichen Gebrauch zu etablieren, ist mit dem Diatessaron von Tatian (ca 170-180), einer Harmonie der vier Evangelien, gegeben� Dieses Werk war allerdings nur eine Reaktion auf die liturgische Koexistenz der vier Evangelien, und wenn es auch in Syrien mehr als zweihundert Jahre lang in Umlauf war, konnte es sich gegen den de facto schon existierenden christlichen Kanon nicht durchsetzen� Das Johannesevangelium kann als eine Weiterführung der geistigen Reflexion der Geschichte Jesu aus dem Markusevangelium charakterisiert werden� 24 Zum Beispiel knüpft die Erzählung über Jesus als dem Brot des Lebens in Joh 6 an die metaphorische Geschichte von Jesus als dem einzigen Brot aus Mk 8,14-21 an� Das Johannesevangelium war für einen begrenzten Kreis von Christen bestimmt, für eine Erneuerungsbewegung, und sein Verfasser hatte die Absicht, das Leben der Kirche, besonders seine Auffassung der Taufe und des Herren- 24 Die Hypothese von der Priorität das Johannesevangeliums scheitert an der Analyse der theologischen Reflexion, die bei Johannes an frühere Etappen (bes� Markus) anknüpft� Allenfalls kann man von einigen alten Traditionen sprechen, die das Johannesevangelium, allerdings in seiner Interpretation, bewahrt hat� 154 Petr Pokorný mahls, zu verinnerlichen� Die Eröffnung mit dem Satz „Im Anfang war das Wort“ ( Joh 1,1) bestätigt, dass er die ersten Sätze der synoptischen Evangelien so begriff, wie wir schon dargelegt haben, nämlich als Anspruch auf die Autorität, die die jüdische Bibel ( Tenak ) besaß� Die Analogie mit dem ersten Satz der Septuaginta ist hier eine wörtliche: en archē � Nach 140 n� Chr� hat Markion in Rom seinen Kanon, bestehend aus dem von den angeblichen Judaismen befreiten Lukasevangelium und den leicht revidierten Paulusbriefen, eingeführt� Die Kirche hat den Kanon Markions wegen seines Dualismus und seiner Ablehnung der jüdischen Bibel nicht anerkannt (im Jahr 144 verlässt Markion Rom); der Weg für den endgültigen Sieg des Kanons mit mehreren Evangelien, einschließlich des Johannesevangeliums, war damit geebnet� Die erste uns bekannte, wenn auch spekulative Begründung des vier Evangelien umfassenden Kanons geht auf Irenäus von Lyon zurück (Adv� Haer� 3,11,8): Wenn es vier Gesichter der Cheruben gibt und vier Weltrichtungen, müssen wir auch vier Evangelien haben, so seine Argumentation� Vom Ende des 2� Jahrhunderts stammt der Kanon Muratori, 25 der bereits mit vier Evangelien rechnet und sieben Paulusbriefe enthält� Dies war nicht selbstverständlich, da Markion und Valentin mit anderen Gnostikern die Briefe des Paulus für sich usurpierten (vgl� 2Petr 3,16b)� 26 Da jedoch die paulinischen Gemeinden im Heidenchristentum eine integrierende Rolle spielten - hinter 1Kor 15,3b-5 dürfte ein Verbund von Gruppen stehen, die das darin formulierte Osterevangelium übernommen haben -, erkannten weitere Gruppen die Apostolizität, oder zumindest die herausragende Missionsarbeit (Lk - Apg) des Paulus an� Besondere Bedeutung gewann er aber durch seine Einstellung zur jüdischen Bibel� In ihr hat er Voraussetzungen und Vorbilder seiner Rechtfertigungslehre gefunden: Die Christen sind wahre Nachkommen Abrahams, weil sie seinen Glauben haben (Gal 3; Röm 4)� Gleichzeitig hat Paulus dadurch für die Christen aus den Völkern die Aufnahme des jüdischen geistigen Erbes samt der jüdischen Bibel - des christlichen Alten Testaments - begründet, und zwar dadurch, dass er die Verheißungen der jüdischen Bibel auf Jesus bezogen hat� Die faktische Kanonisierung der Briefe des Paulus unterstützten auch einige seiner Schüler, die sich gegen die gnostischen Tendenzen gewandt haben (1Tim 6,20-21; 2Tim 2,18). Schon zu Beginn des 2. Jh. (also nicht erst mit Markion) ist offensichtlich eine Sammlung seiner Briefe entstanden, die indirekt in 2Petr 3,16 belegt ist� Dies war freilich kein gradliniger Prozess: Mit der Empfehlung der Paulusbriefe im 2� Petrusbrief geht auch die Erwähnung ihres Missbrauchs 25 Hg� von H� Lietzmann, Kleine Texte I, Berlin 2 1933� 26 Belege bei E� Pagels, The Gnostic Paul, Philadelphia 1976� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 155 durch die Häretiker einher� Für den Verfasser ändert das allerdings nichts an der Nützlichkeit der Paulusbriefe, da die Häretiker auch andere „Schriften“ (Bücher der Bibel) missbrauchten� 27 Dies zeugt von der Autorität der Paulusbriefe, die damals schon in mehreren christlichen Gruppen einen autoritativen Rang für den gottesdienstlichen Gebrauch innehatten - wie die „anderen“ Bücher der Bibel� Dass die Paulusbriefe auf gleicher Ebene mit der jüdischen Bibel stehen, bezeugt zugleich, dass der christliche Kanon auch die jüdische Bibel enthielt: das Gesetz, die Propheten und die Schriften� Der christliche Kanon war allerdings keine Erweiterung des Tenak� Träfe dies zu, so müssten die Evangelien etwa nach Nehemia und die Paulusbriefe nach den Propheten stehen� Der christliche Kanon ist eher zu verstehen als das Gegenüber zur jüdischen Bibel, als ihr Pendant, das aus der Sicht der neueren und „letzten“ (eschatologischen) Offenbarung Gottes in Jesus Christus gedeutet werden soll (Hebr 1,1-2). In diesem Zusammenhang ist für uns jedenfalls von Bedeutung, dass man nach 2Petr 3,16 die autoritativen und weisen Texte missdeuten kann, und für die authentische Deutung ist es nötig „in der Gnade des Herrn und Heilands zu wachsen “ (2Petr 3,18)� Es bedeutet, dass es ohne die Kenntnis des Osterevangeliums nicht möglich ist, die christliche Deutung der Schrift zu verstehen� 8. Schlussbetrachtung Das Erstaunlichste und Charakteristischste bei der Entstehung des Kanons der christlichen Bibel ist, dass er schnell und von unten, nicht durch den Beschluss eines kirchlichen Gremiums, entstand� 28 Die Gremien (von den Ortsgemeinden bis zu den Konzilen) äußerten sich erst zu den Grenzen des Kanons� „Von unten“ bedeutet praktisch, dass sich der Grundbestand des Neuen Testaments (vier Evangelien und die Briefe des Paulus) als gottesdienstliche Lesung in den meisten christlichen Gemeinden durch eigene innere Autorität durchgesetzt hat� Die Kirche hat seine Autorität anerkannt (rezipiert) und nicht dekretiert oder bestimmt� Dieser Anfang (Ursprung) des Kanons hilft uns, die Beziehung zwischen den beiden Größen „Bibel“ und „Gemeinde“ als Prozess zu begreifen� Die konfessionelle Zerteilung der Kirche wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Bibel, nämlich dergestalt, dass die Theologien der verschiedenen kanonischen Schriften und die Theologien der Konfessionen ineinandergreifen� Dies führte Ernst Käsemann vor mehr als sechzig Jahren zu dem Schluss, dass der neutestamentliche Kanon eher die Fülle verschiedener Konfessionen als die Ein- 27 Der Begriff Häresie war damals vieldeutig: W� Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, 231-240. 28 Siehe bes. J. B. Souček, Vznik … (siehe oben Anm.15), 6 f. 156 Petr Pokorný heit der Kirche begründet� 29 Wir können noch hinzufügen: Er begründet nicht nur die Vielfalt der Konfessionen, sondern kann auch die Neuinterpretationen des Osterevangeliums inspirieren� Die letzte Etappe der Kanonbildung galt der Abgrenzung der Ränder des Kanons, die bis dahin nicht einheitlich oder eindeutig waren� Allerdings sind die Unterschiede zwischen den größten Kirchen (Katholizismus, östliche Orthodoxie und Protestantismus) nicht entscheidend� 30 Die vier Evangelien konnte man als Beweis der Verlässlichkeit (mehrere Zeugnisse) verstehen und auf die Analogie im Tenak hinweisen, wo 1Sam - 2Kön eine Analogie in 1-2Chr haben� In diesen Texten läuft ein Teil des deuteronomistischen Werkes mit dem chronistischen Werk parallel� Dies ist ein sekundäres Zeugnis dessen, dass die eigentliche Autorität und Norm des Glaubens hinter dem kanonisierten Text, nämlich in den bezeugten Ereignissen liegt� Dieser Autoritätsbegriff hängt vor allem mit der hebräisch-christlichen Auffassung der Offenbarung Gottes zusammen, die sich nicht des Mediums der individuellen Vision, Ekstase oder dergleichen bedient, sondern in Gestalt konkreter Ereignisse geschieht, etwa dem Exodus, der Rückkehr aus dem Exil, dem Auftreten der Propheten und der Geschichte von Jesus� Die göttlichen Offenbarungen sind Teil der Geschichte der Menschheit� Man kann nur im Modus des Zeugnisses auf sie verweisen� Und weil sie ein Teil der Geschichte sind, ist ihr Bezeugen mit Erinnerung verbunden, die schriftlich fixiert ist� Wenn die Evangelien die Geschichte Jesu mehrfach und auf verschiedene Art bezeugen, ermöglicht dies bis heute eine aktive Erinnerung� Der Vergleich der einzelnen Versionen hilft den Lesenden / Hörenden, das Bezeugte von der Sprache des Zeugnisses zu unterscheiden und den Charakter des Geschehens durch historische Kritik besser zu verstehen� Die historische Kritik ist die heute gebräuchliche Methode, die in den biblischen Texten niedergelegte Erinnerung zu erfassen und sie auf diesem Wege von bloßer Phantasie zu unterscheiden� Und weil die Erinnerung ein unentbehrlicher Teil der Begegnung mit der Offenbarung Gottes ist, gewinnt die historische Kritik gerade als profane Methodik eine theologische Bedeutung, sie kann ein Verfahren des Glaubens werden� 31 29 E� Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? (1951) zuletzt in: ders�, Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 4 1965; J. B. Souček, Einheit des Kanons - Einheit der Kirche (1968), zuletzt in P� Pokorný / ders�, Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 99-108. 30 Zur Geschichte und Gestalt des Kanons vgl� H� von Campenhausen Die Entstehung der christlichen Bibel�, Tübingen 2 1968, B� M� Metzger, The Canon of the New Testament, Oxford 1987; P� J� Boumis, The Canons of the Church Concerning the Canon of the Holy Scripture, Theologia 67 (2007), 545-602. 31 Dies ist keine anti-wissenschaftliche Einstellung� Die reflektierte Wendung des Glaubens, die zu seiner Orientierung in der Welt gehört, kann Ausdruck der letzten, eschatologi- Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 157 Die voranstehenden Einblicke in die Vorgeschichte des christlichen Kanons haben gezeigt, dass der Kanon eine abgeleitete Norm ist� Der Glaube bezieht sich vor allem auf das lebendige Zeugnis von der Präsenz Jesu im Geist ( testimonium internum Spiritus Sancti ), der Kanon ermöglicht hauptsächlich die Orientierung des Glaubens im Leben, in der Geschichte� So kann man pointiert die Auffassung Karl Barths über die Bibel zusammenfassen� Sie ist ein menschliches Wort von der Offenbarung, 32 ein Wort, das mit den Menschen beginnt, die die „einmalige und kontingente“ Funktion der ersten Zeugen hatten� 33 Weil es aber ein menschliches Zeugnis ist, ist es grundsätzlich unabgeschlossen� 34 Nicht in der Sache, wohl aber dem Ausdruck nach� Diese Auffassung kann sich auf verschiedene Arten der Erfahrung mit der Bibel beziehen: Hierzu gehören bereits kleine Änderungen des kanonischen Textes, die in der westlichen Christenheit Gültigkeit haben, Textabweichungen, die in den kritischen Textausgaben dokumentiert sind und teilweise auch in die liturgischen Übersetzungen übernommen wurden� Auffällig ist sodann die Offenheit der Sprache und der literarischen Gattungen, Subgattungen und Tropen (bes� Metaphern) der Bibel, die die Lesenden / Hörenden zum Mitdenken einladen� 35 Entscheidend ist aber vor allem die Offenheit des Textes gegenüber der Sache, gegenüber der Offenbarung, im christlichen Kanon: gegenüber Jesus� Jesus ist nicht mit dem Text identisch, der Text spricht „über“ Jesus, er bezeugt ihn� Daraus folgt auch, dass der Kanon keine einzige, einheitliche Deutung bzw� Erklärung erfährt� Das bedeutet nicht, dass die Deutung des Textes nur vom Interpreten abhängt, wie die Texttheorie der Konstanzer Schule oder der sog� Reader-Response Criticism verstanden werden kann� Jeder Text hat seinen autonomen Kern, der gerade durch die verantwortliche Interpretation deutlich wird� Das Spektrum der Interpretation hat seine deutlichen Grenzen, es handelt sich allerdings um ein Spektrum und nicht um eine eindeutige Mitteilung� Die verschiedenen Deutungen des einen Textes sind jedoch immer grundsätzlich konvergierend oder komplementär, im Falle des neuen Testaments: komplementär in der Deutung der Person Jesu� schen Verankerung der kritischen Bewertung der Geschichte sein� Jede kritische Arbeit muss durch einen elementaren Glauben getragen werden, damit sie sinnvoll ist� 32 Kirchliche Dogmatik I / 2, 512� 33 Ebd�, 539� Die Evangelien stammen zwar nicht von den Aposteln, es handelt sich jedoch um die ältesten christlichen literarischen Zeugnisse, vgl� E� Lohse, Von einem Evangelium zu den vier Evangelien, AAWG, NF 18, Sammelband 3 (2012), 53-76. 34 Ebd�, 532� 35 P� Pokorný, Hermeneutics as a Theory of Understanding, Grand Rapids (MI) / Cambridge U� K� 2011, 37 ff� 158 Petr Pokorný Die Hermeneutik jedes alten Textes ist eine Disziplin, die sich mit dem Schweigen des geschriebenen Textes auseinandersetzt� Unmittelbarer Dialog mit dem Text ist nicht möglich, weil wir ihn nicht (be-)fragen können, wenn wir etwas nicht verstehen, 36 wie es bei einer lebendigen Person der Fall ist� Und die Verdoppelung der Information im Bericht aus verschiedenen Blickwinkeln, wie sie uns in biblischen Texten vorliegt, die geschichtliche Schichtung ihres Textes und vor allem die zauberhafte Fähigkeit der Sprache, sich selbst zu relativeren und „über“ etwas zu sprechen - das alles ist ein fragmentarischer, aber doch wirksamer Ersatz des lebendigen Dialogs� Deswegen begegnen wir in der Geschichte des Kanons der ständigen Spannung zwischen Schrift und Geist� Dies alles scheint eine Relativierung der Autorität der Schrift zu sein, eine Revision der These von Martin Luther� Und doch kann ich zum Schluss ein Wort von Luther zitieren, das kühner ist als unsere bisherigen Überlegungen: „Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam“ 37 - „Würden die Gegner die Schrift gegen Christus treiben, lasset uns Christus gegen die Schrift treiben“� Dies ist eine für Luther bezeichnende radikale Äußerung, die die Regel sola scriptura allerdings nicht aufhebt� Aus dem Zeugnis der Schrift kann nämlich der Mensch lernen, dass die Quelle des menschlichen Heils und der Hoffnung sich in der Schrift als Schrift nicht erschöpft, sondern im gegenwärtig durch das Zeugnis und Bekenntnis wirkenden Jesus (Christus) liegt, 38 der die eschatologische Zukunft hat. Für diese Erkenntnis ist die Schrift allerdings unentbehrlich. 39 36 Platon, Phaidros 274e-275e� 37 WA 39,1,47� 38 Aus systematischer Sicht behandelt dieses Problem G� Ebeling, Luther, Tübingen 1981, bes. 117-119. 39 This study is a result of the research funded by the Czech Science Foundation as the project GA ČR P401 / 12 / G168 „History and Interpretation of the Bible“�