eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Sola scriptura

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2017
Eckart Reinmuth
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola scriptura Eine neutestamentliche Anmerkung 1 Eckart Reinmuth 1. Martin Luther hat Ende 1520, im Jahr vor seinem Auftreten vor dem Reichstag in Worms, in seiner assertio , seiner ‚Wahrheitsbekräftigung’, die grundlegende Forderung erhoben, dass allein die Schrift regieren soll - solam scripturam regnare. 2 Damit war das Zentrum reformatorischen Schriftverständnisses, wie es in der wirkkräftigen Wendung sola scriptura zum Ausdruck kommt, formuliert - eine Kampfformel, 3 gerichtet gegen die Auslegungspriorität von Tradition und Dogma, gegen hierarchisierte Deutungsmacht� 2017 stellt sich die Frage neu, welche theologische Bedeutung dieser Formel zukommt - auch aus bibelwissenschaftlicher, auch aus neutestamentlicher Sicht� Die Reformation hat um eine Unterscheidung gekämpft� Wir sprechen heute formelhaft von einer Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition und wis- 1 Ausgearbeitete Version meiner am 20� Januar 2017 in der Universitätskirche Rostock gehaltenen Abschiedsvorlesung� 2 Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X novissimam damnatorum, WA 7,91-151, hier: 7, 98; mit dt. Übersetzung und Kommentar von S. Rolf in: Martin Luther, lat�-dt� Studienausgabe (LDStA), hg� von W� Härle u� a�, Bd� 1: Der Mensch vor Gott, Leipzig 2006, 71-217. 3 Vgl� A� Beutel, Scriptura ita loquitur, cur non nos? Sprache des Glaubens bei Luther, in: A� Beutel, Protestantische Konkretionen� Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 104-123, hier: 108: „’Sola scriptura’ war der Schlachtruf der Reformation.“ Luthers Gebrauch der Wendung ist dokumentiert bei Beutel, Erfahrene Bibel� Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, im selben Band 66-103, 79 (mit Anm. 97). 160 Eckart Reinmuth sen doch, dass bei näherem Hinsehen wesentlich feiner zu differenzieren wäre, wenn die Traditionshaltigkeit des biblischen Kanons und die Vielfalt biblischer Rezeptionsgeschichten in kirchlichen Traditionen berücksichtigt würden� Dennoch: Die Unterscheidung, für die die Reformation gekämpft hat, war zugleich eine substantielle Erinnerung an die unaufgebbare Bedeutung des biblischen Kanons für die christliche Kirche: Kirche sein bedeutet, sich verbindlich auf die Entscheidung für den Kanon zu beziehen und diese Entscheidung andauernd interpretierend zu vollziehen� Der Unterscheidungsprozess zwischen Schrift und Tradition war bereits in der Alten Kirche zu einem relativen Abschluss gekommen� Mitten in einem permanenten Produktionsprozess literarischer Texte war der biblische Kanon bestimmt worden� 4 Die Erinnerungsleistung der Reformation bestand auf der Einsicht, dass die christliche Kirche sich für die biblischen Schriften als das unterscheidende Gegenüber entschieden hat� Kirche sein heißt, sich interpretierend auf den biblischen Kanon zu beziehen� 5 Kirche existiert in diesem ständigen Interpretationsprozess� Er ist ihr Kraftquell� Er ist ihre einzige gesellschaftliche Legitimation� Die Reformation hat daran erinnert, dass der Singular scriptura die Voraussetzung impliziert, die Kanonwerdung als Konstruktionsprozess inmitten einer unabgeschlossenen Literaturproduktion zu begreifen, der aus vielen Schriften die eine ‚Schrift’ werden ließ� Das reformatorische sola scriptura impliziert folglich den Umstand, dass es den Singular scriptura nie gegeben hat� Die ‚Schrift’ gibt es nur im Plural, von Anfang an� Ihr Singular ist ein Interpretament, mit dem Einheitlichkeit, Ursprünglichkeit, Maßgeblichkeit gesichert werden sollen� Von Beginn an begleitet die Kirchen und Christentümer der Plural der Worte, der Meinungen und Gruppen, der Schriften, Texte und Quellen, der argumentativen Profile und narrativen Versionen� Ebenso von Beginn an sehen wir Tendenzen und Prozesse der Sinnsicherung, die z� B� mittels Verschriftlichung, Kanonisierung, Autorisierung kirchlicher Auslegungstraditionen auf die Vereinheitlichung und 4 M� Oeming, Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes� Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, ZNT 12 (2003), 52-58; H. von Lips, Der neutestamentliche Kanon� Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004; Chr� Markschies, The Canon of the New Testament in Antiquity� Some New Horizons for Future Research, in: M� Finkelberg / G� G� Stroumsa (Hg�), Homer, the Bible, and Beyond� Literacy and Religious Canons in the Ancient World (JSRC 2), Leiden / Boston 2003, 175-194; E�-M� Becker, (Hg�), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion� Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart; ein Handbuch, Berlin [u� a�] 2012; M� Ebner, Der christliche Kanon, in: M� Ebner / St� Schreiber (Hg�), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 9-52. 5 Vgl� E� Reinmuth, Der Kanon des Neuen Testaments und die Ethik der Interpretation, in: Neues Testament, Theologie und Gesellschaft� Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 29-42. Sola scriptura 161 Instrumentalisierung von Deutungsmacht abzielen� Dabei ist an die vielfältigen, bereits im Neuen Testament zu findenden Versuche und Formen zu erinnern, ‚den’ Sinn der Schrift zu bestimmen und zu sichern, 6 seien es die Bemühungen um eine regula fidei in der Alten Kirche, sei es die Bedeutung des Katechismus in seinen drei Hauptstücken als Zusammenfassung des Schriftinhalts, 7 sei es die Rolle der Bekenntnisschriften in den protestantischen Kirchen oder die Suche nach einer Mitte der Schrift oder gar nach einem Kanon im Kanon� Die reformatorische Wendung sola scriptura setzt mit dem Singular den biblischen Kanon in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit als kritisches Gegenüber zur gegenwärtigen Praxis von Kirche und Glaubenden voraus� Mit dem relativen Abschluss des Kanons in der Alten Kirche schuf die Kirche sich eine abgegrenzte und doch multiple Größe, deren Interpretation sie nun zu ihren wesentlichen Aufgaben zählte� Sie schuf sich damit die entscheidende Möglichkeit, sich in Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften kritisieren, erneuern, ja eigentlich immer wieder finden und begründen zu können� Die zitierte klassische Formulierung solam scripturam regnare zielt darauf ab, dass die Kirche die Bibel sich selbst wie der Gesellschaft gegenüber immer wieder kritisch in Anschlag zu bringen hat� 8 6 Vgl� den richtungsweisenden Aufsatz von W� H� Kelber, Die Fleischwerdung des Wortes in der Körperlichkeit des Textes, in: H�-U� Gumbrecht / K� L� Pfeiffer (Hg�): Materialität der Kommunikation (stw 750), Frankfurt a. M. 1988, 31-42. 7 Vgl� A� Beutel, Erfahrene Bibel, a� a� O� (Anm� 3), 69� Beutel verweist a� a� O�, 70 darauf, dass Gleiches für das christliche Credo gelte: Luther kann „selbst das Credo, das den Glauben an Christus bekennt, als ‚Bibel’ bezeichnen�“ 8 Ulrich Luz hat 1997 auf die ökumenische Dimension dieses Sachverhalts hingewiesen; vgl� ders�, Was heißt sola scriptura heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip, EvTheol 57 (1997), 28-35, hier: 35; vgl. ähnlich z. B. den Hinweis von Klaus Berger und Christiane Nord in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften� Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt am Main 1999, 13 f� Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena� Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt� Von 1995 bis 2017 lehrte er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock� 162 Eckart Reinmuth Das setzt voraus, dass keine Autorität die Interpretation der Bibel dominieren darf außer sie selbst - sacra scriptura sui ipsius interpres � 9 Keine Interpretation eines biblischen Textes darf sich auf eine Autorität berufen, die ihr die Verantwortung für das eigene Verstehen abnehmen dürfte� Keine wie auch immer geartete kirchliche Theologie darf ‚die Schrift’, d� h� die Interpretation der biblischen Schriften dominieren� Diese Interpretationsarbeit darf weder das hinter den Texten hypothetisch Erschlossene noch das interpretatorisch aus den Texten Erschlossene zur maßgeblichen Wahrheit erklären� Die akademische Theologie und mit ihr die Bibelwissenschaften dürfen sich als logische Konsequenz des reformatorischen Schriftprinzips verstehen� Deshalb ist dafür zu werben, das sola scriptura als integrierendes Moment theologischen und näherhin bibelwissenschaftlichen Selbstverständnisses und einer theologisch stetig zu leistenden Selbstaufklärung bzw� Selbstverständigung namhaft zu machen und zu beanspruchen� Programmatisch ist den beiden Bibelwissenschaften damit eine hohe Verantwortung aufgegeben� Aus diesen knappen Vorüberlegungen ergeben sich aktuelle Fragen� Ist das Prinzip des sola scriptura auch heute als kritische Instanz zu verstehen? Wie verhält sich der Singular ‚Schrift’ zur biblischen Vielstimmigkeit? Welche Bedeutung hat diese Vielstimmigkeit für die gegenwärtige Bedeutung des sola scriptura ? 2. In den apokryphen Petrusakten, einer Schrift aus der Zeit um 200, werden wir in die fiktive Situation der römischen Gemeinden im erzählerischen Anschluss an die Apostelgeschichte geführt� 10 Es wird von einem römischen Senator namens Marcellus erzählt, der Christ wurde und ein wichtiger Förderer der Gemeinde war� Er wird jedoch von Simon Magus, dem großen Zauberer, dessen literarische Karriere in der Apostelgeschichte beginnt (vgl. Apg 8,9-24), dazu gebracht, vom Glauben abzufallen� Petrus, schon in der Apostelgeschichte Simons erfolgreicher Antipode, kommt dahinter und deckt den Skandal auf� Marcellus bittet ihn um seine Fürbitte bei Christus und versucht, seinen Abfall verständlich zu 9 Vgl� dazu E� Reinmuth, Der Schlüssel� Hermeneutische Überlegungen zur Biblischen Theologie, in: Vom Menschen� Die letzte Ringvorlesung der Kirchlichen Hochschule Naumburg mit einem Rückblick auf ihre Geschichte 1949-1993, Naumburg 1993, 93-102. 10 Vgl� F� Bovon, Die kanonische Apostelgeschichte und die apokryphen Apostelakten, in: J� Frey / C� K� Rothschild / J� Schröter (Hg�), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin / New York 2009, 349-379; O. Zwierlein, Petrus und Paulus in Jerusalem und Rom� Vom Neuen Testament zu den apokryphen Apostelakten (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 109), Berlin 2013� machen� Er verweist darauf, dass er im Glauben noch keinen festen Stand gehabt habe, und erinnert Petrus an Jesu Wort vom Glauben wie ein Senfkorn (Mt 17,20) - wie auch an den Zweifel, den Petrus selbst von seinem Seewandel her kenne (Mt 14,28 ff�)� Abschließend fügt Marcellus seiner Argumentation einen merkwürdigen Satz hinzu, den Jesus gesagt habe und aus dem ja hervorgehe, dass selbst die Apostel mit Unverstand auf Jesus reagiert hätten: Qui mecum sunt, non me intellexerunt - die mit mir sind, haben mich nicht verstanden� 11 Was für ein bestürzendes Wort� Die Herkunft dieses sogenannten Agraphons 12 ist unklar� Es wirkt wie eine konzentrierte Zusammenfassung des Unverständ- 11 Actus Petri cum Simone = Actus Vercellenses, Kap� 10� Der Text findet sich in R� A� Lipsius: Acta Apostolorum Apocrypha 1, Darmstadt 1959, 45-103; eine deutsche Übersetzung in: W� Schneemelcher (Hg�), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, Die Akten des Petrus 256-289; ders., Petrusakten: ebd., 252-255 (Abschnitte 4-6) und jetzt in B. Lang, Die Taten des Petrus, Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur (Hg� Jürgen Wehnert), Göttingen 2015, 52� 12 In der traditionellen Fachsprache neutestamentlicher Wissenschaft handelt es sich bei einem Agraphon um ein Jesus zugeschriebenes Wort, das nicht Aufnahme in die kanonischen Evangelien fand und daher als „ungeschrieben“, nicht in den Evangelien verschriftlicht, galt: „Ein Agraphon ist ein dem irdischen Jesus zugeschriebener Ausspruch, der in der ältesten Fassung der vier kanonischen Evangelien nicht überliefert ist�“ (O� Hofius, Unbekannte Jesusworte, in: P� Stuhlmacher [Hg�], Das Evangelium und die Evangelien [WUNT 28], Tübingen 1983, 355-382, hier: 355). Die Probleme dieses theologischen Fachwortes sind vielfältig� Es erweckt u� a� den falschen Eindruck, als seien tendenziell die außerhalb der Evangelien überlieferten Jesusworte nicht authentisch, während dies für die Jesusworte in den Evangelien vorauszusetzen wäre� Die zitierte Definition schließt verschiedene Rubriken von Worten aus, z� B� solche, die dem präexistenten oder auferstandenen Jesus Christus zugeschrieben werden, solche, in denen er alttestamentliche Worte oder gar eigene kanonische zitiert bzw� variiert� Leitendes „Auswahlkriterium“ für die Beurteilung ist „ein Ausscheidungsverfahren …, das diejenigen Agrapha zu ermitteln sucht, die inhaltlich und überlieferungsgeschichtlich den Jesusworten der synoptischen Evangelien an die Seite gestellt werden können�“ (O� Hofius, Außerkanonische Herrenworte, in: Chr� Markschies / J� Schröter u� a� [Hg�], Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band I, Tübingen 2012, 184-208, 187). Offensichtlich soll mit einem Logienbestand gerechnet werden, der überlieferungsgeschichtlich in die Nähe eines historischen Jesus führt, so dass erwogen werden könne, ob mit einigen wenigen Logien (vgl. Hofius in: Markschies / Schröter, 188 f.: „Agrapha Nr. 5-7“) „authentische Jesusworte vorliegen�“ (ebd�; vgl� ders�, O� Hofius, Art� Agrapha, TRE 2, 1978, 103-110, 108 f. sowie ders�, Versprengte Herrenworte, in: W� Schneemelcher [Hg�], Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Band 1, Tübingen 1987, 76-79, 78). Wenn Ruben Zimmermanns Vermutung zutrifft, „je nach Forschungsinteresse und hermeneutischen Voraussetzungen (werde) die Auswahl und Wertung der Agrapha ausfallen“ (ders�, Parabeln unter den Agrapha, Einleitung, in: R� Zimmermann [Hg�], Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 935-939, 937), steht die Frage nach der wissenschaftlichen Kommunizierbarkeit und Belastbarkeit dieses Fachbegriffs im Raum� Hinsichtlich der Thematik Sola scriptura 163 164 Eckart Reinmuth nisses der Jünger, das bereits in den kanonischen Evangelien (vgl� z� B� Joh 14,9) 13 und insbesondere dem Markusevangelium (4,13; 7,18; 8,17 ff.32f; 9,19) herausgearbeitet wird� 14 Das Markusevangelium thematisiert mit dem Nichtverstehen der Jünger ein grundsätzliches theologisches Problem� Der Weg Gottes in die Tiefe, in die Verlorenheit und Rettungslosigkeit der Menschen, die unter der Macht von Feindschaft, Selbstzerstörung und Hass stehen, muss den Menschen unbegreiflich bleiben� dieses Aufsatzes ist zu fragen: Dürfen wir weiterhin die stillschweigende Voraussetzung akzeptieren, mit dem Kanonischen sei zugleich die Gewähr des Historisch-Authentischen gegeben? Legitimiert das sola scriptura die Konstruktion eines historischen Jesus? Tobias Nicklas hat zu dieser Problematik 2006 in einer ausgeführten Thesenreihe das Nötige ausgeführt (T� Nicklas, Zur Problematik der so genannten „Agrapha“: Eine Thesenreihe, Revue Biblique 113 [2006], 78-93). Er wies u. a. auf die traditionsgeschichtlichen Konsequenzen des Umstands hin, dass „im Grunde jedes Herrenwort, das sekundär Eingang in Handschriften des Neuen Testaments gefunden hat, bereits durch seinen Kontext unter dem Einfluss schriftlicher Jesustraditionen“ stehe (81)� Die Vorstellung, „es habe sich im frühen Christentum über lange Zeit hinweg so etwas wie ein reiner Strom durch schriftliche Überlieferungen unbeeinflusster Mündlichkeit halten können, dass also von zumindest einzelnen echten ‚Agrapha’ ein direkter Zugang zu den Quellen mündlicher ‚Ur-Traditionen’ bestehe,“ lasse sich so nicht mehr halten (81)� Nicklas stellt fest, dass „ jede christliche Jesusüberlieferung aus nachösterlicher Perspektive tradiert und motiviert“ worden ist (83, Kursivierung original)� 13 Otfried Hofius bezieht das Wort prominent auf Joh 14,9, weil der Autor der Petrusakten das Johannesevangelium „gekannt und benutzt hat“ (Hofius, Unbekannte Jesusworte [vgl� Anm� 12], 367), und er verweist zusätzlich auf die entsprechende Formulierung der Vulgata (367 f�), ohne dass deren argumentativer Wert ersichtlich würde� Der Autor der Petrusakten bezieht sich indessen keineswegs lediglich auf das Johannesevangelium� Im unmittelbaren Umfeld unserer Stelle wird begründend das Matthäusevangelium zitiert� Überdies gerät leicht aus dem Blick, dass dieses Logion der Petrusakten der markinischen Konzeption des Jüngerunverständnisses weit mehr entspricht� Die johanneische Konzeption des Jüngerunverständnisses läuft in aufnehmender und weiterführender Auseinandersetzung mit der markinischen Position darauf hinaus, dass sich für die Jünger mit der Erhöhung Jesu die Rätsel seines irdischen Weges klärten (vgl� Joh 2,22; 12,16; 14,26 [nachösterliche Rolle des Parakleten]; 20,9), während Markus den bleibenden Skandal des Unverständnisses der Jünger artikuliert� 14 Zu erwähnen wäre daneben das vorläufige Nichtverstehen einschließlich der literarischen Ironie und kalkulierter Missverständnisse wie z� B� im Johannesevangelium (vgl� die vorige Anm.), die Apologien des Nichtverstehens (bzw. Nichtglaubens) in Mk 16,9-14, die Rhetoriken des gescholtenen Unverstands (z� B� Hebr 5,12 f�; 1Kor 3,2: Milch vs� feste Nahrung)� Die Reflexion des Nichtverstehens reicht weit in die biblischen Schriften Israels zurück (Dtn 32,28 f�; Ps 106,7; Jes 6,9 f�)� Markus schildert das Unverständnis der Jünger so, dass die Adressaten seines Evangeliums es besser wissen können� 15 Sie werden aufgefordert, Jesu gewaltlosen Weg zu verstehen, besser, als es den Jüngern gelang� Oder hätten ihn gerade die verstanden, die ihn zu Tode brachten (vgl. z. B. Joh 19,19-22) - oder gerade nicht (vgl� z� B� 1 Kor 2,8)? - Oder die Gleichgültigen, die lieber nichts mit solchen selbstgefährdenden Ideen zu tun haben wollten? Oder die, die in Jesu Tun Blasphämie sahen und ihren Gott nicht in den Schmutz ziehen lassen wollten? Der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) hat diesem Jesuswort im Mund des Marcellus einige nachdenkliche Zeilen gewidmet� In seinem Nachlass fand sich unter den ‚Notizen zum Atheismus’ ein Text, dessen Titel auf das oben problematisierte Fachwort ‚Agraphon’ anspielt: ‚Aus dem Ungeschriebenen’� 16 Der Kern von Blumenbergs Verständnis lautet: „Wer mir zustimmt und nachfolgt, bezeugt eben dadurch, dass er mich nicht verstanden haben kann� Und das muss auch so sein� Wo der Sendling des Vaters, der Bote aus einer anderen Welt gesprochen hat, muss jede Überzeugung, seine Botschaft verstanden zu haben, ein frommes Missverständnis sein�“ Gleiches gälte schließlich für Philosophen wie Sokrates� Aber Blumenberg plädiert nicht für eine resignative Auslegung, die „eine kaltschultrige Zurückweisung verächtlicher Mitläufer“ wäre: „Es genügt, mit ihm zu sein, auch wenn man dadurch zum Zeugen wird für das Unerfüllbare� Anders gesagt: Keiner hätte jemals mit diesem Jesus aushalten können, hätte er die Zumutungen verstanden, die in seinen Worten und Forderungen enthalten waren� Man hielt es nur mit ihm aus, wenn man ihn nicht verstand und indem 15 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Verwendung von Jes 6,9 f� in Mk 4,12� Der markinische Gleichnisdiskurs soll offenbar zu verstehen geben: Eine reine Unterscheidung von Verstehenden und Nichtverstehenden ist nicht möglich (vgl� dazu zuletzt K� Dronsch, Uneins sein� Mediologische Einfälle narrativer Identität in den Evangelien, in: St� Alkier / Chr� Böttrich [Hg�], Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 110-123,120 f.). Es sei denn, man wolle meinen, die Drinnen würden alles und die Draußen nichts verstehen� Genau dieses Verständnis wird mit dem Gleichniskapitel Mk 4 aufgebrochen� Bereits 1,22 macht deutlich, dass Jesu Lehre schlicht Entsetzen auslöst� Das wiederholt sich: z� B� 4,41; 5,15�42; 6,51� Sie löst auch deshalb Entsetzen aus, weil Jesus wie jemand spricht, der dazu ermächtigt ist (1,22)� Wir können bei Markus eine doppelte Bewegung ausmachen; sie hält christliches Bekenntnis in markinischer Perspektive in Bewegung� Gemeint ist einerseits der Skandal dieses Gottes am Kreuz, und andererseits der immer wieder scheiternde Versuch, diese unausdenkbare Paradoxie sprachlich zu erfassen und zu kommunizieren� 16 H. Blumenberg, Notizen zum Atheismus, Neue Rundschau (2 / 2007), 154-160, 154 f. („Aus dem Ungeschriebenen“)� Sola scriptura 165 166 Eckart Reinmuth man sich der schönen Täuschung überließ, man habe ihn verstanden und dem Verstandenen genügt�“ 17 Das Jesus zugeschriebene Wort ist kompromisslos� Es lässt nicht die Möglichkeit zu, Jesus vielleicht doch noch richtig verstanden zu haben� 18 Es macht eine Erfahrung, eine Befürchtung und Einsicht der Späteren deutlich: Schon von Anfang an steht zur Frage, wer Jesus wirklich war, und ob die, die um ihn waren, das überhaupt verstanden haben� Es wird strittig bleiben, so war offenbar die Überlegung, wer Jesus wirklich war� Was sein Weg bedeutete� Ob er diesen Weg geplant hatte oder ihm ausgeliefert war� Ob er ein auf Erden wandelnder Gott oder ein zu Unrecht Gott beanspruchender Mensch war� Ein Prophet wie so viele� Und gescheitert wie sie� Das Wort legt den Schluss nahe: Es bleibt letztlich unentscheidbar� Oder sollte das Wort lediglich die unmittelbaren Begleiter Jesu tadeln, das Verstehen der Späteren aber gerade von ihrem Unverständnis abheben? Sind wir es, die Jesus richtig verstehen, waren es die, die ihm dies Wort zuschrieben? Als der markinische Petrus beteuert, mit Jesus durch Dick und Dünn zu gehen und sogar zu sterben, hat er offensichtlich von seinem Mut eine andere Vorstellung als Jesus (Mk 14,29-31). Petrus geht davon aus, dass es darum geht, 17 Dieser Gedanke wird dann geschichtstheoretisch transformiert: „Wir halten es nur aus, Geschichte zu haben und auf ihr zu insistieren, weil wir sie nicht verstehen�“ Eine andere Dimension des Nichtverstehens sah Franz Overbeck (1837-1905). Overbeck war der Meinung, dass die Kanonwerdung der biblischen Schriften das Ergebnis wachsenden Unverständnisses gewesen sei: Weil man die ursprünglich nur für ihre Zeitgenossen geschriebenen Texte nicht mehr verstand, kanonisierte man sie� In seiner denkwürdigen Gedankensammlung ‚Christentum und Kultur’ notierte er: „Die christliche Urliteratur ist darum für spätere Geschlechter und noch für uns so schwer verständlich, weil sie es für ihr ursprüngliches Publikum so unmittelbar war� … Indem sie … versäumte, sich den Anschluß an die Weltliteratur zu sichern, ist sie von der Kirche kanonisiert worden: das will sagen, die Nachwelt hat darauf verzichtet, sie zu verstehen, und sich vorbehalten, sie auszulegen.“ F. Overbeck: Werke und Nachlaß, Stuttgart 1994-2010; Band 6.1 (2002): Christentum und Kultur (kritische Ausgabe des 1919 von C� A� Bernoulli kompilierten Nachlassmaterials), 56� In seinem ‚Kirchenlexikon’ (F� Overbeck, a� a� O� Bd� 5 [1995], 433) vermutet Overbeck, „dass man in der Kirche den Kanon aufstellte genau in dem Moment, wo man von den Schriften, aus denen er bestand, nichts mehr verstand …“ (vgl� dazu 65�425�629)� 18 Damit ist anderes gemeint als das Unverständnis, mit dem biblischen Texten oft begegnet wird; vgl� dazu S� Luther / R� Zimmermann, Bibelauslegung als Verstehenslehre, in: dies� (Hg.), Studienbuch Hermeneutik, Gütersloh 2014, 13-72. Sie verweisen auf Schwierigkeiten des Verstehens (15) und bezeichnen den gegenwärtigen Relevanzverlust der Schrift als „Unverständnis“, das „zugleich zum Katalysator der Verstehenslehre, ja sogar der hermeneutischen Kompetenz werden“ könne (ebd�)� Ihr hermeneutischer Optimismus bezieht sich vornehmlich auf „sachlich-logische Widersprüche, Zweifel an historischer Zuverlässigkeit und Relevanzverlust“ (a� a� O� Anm� 5)� Jesus mit Waffengewalt zu verteidigen und bei diesem Kampf vielleicht den Tod zu finden� Jesus indessen weiß, dass er sich nicht verteidigen lassen wird� Und er weiß, wer ihn genau versteht� Die Dämonen schreien es heraus: Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten� Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes! 19 Jesus ließ die Geister nicht reden; denn sie kannten ihn� 20 Und wenn ihn die unreinen Geister sahen, fielen sie vor ihm nieder und schrien: Du bist Gottes Sohn! 21 Was ist aus diesen Überlegungen zu folgern? Sie markieren auf der einen Seite einen Bereich der Unentscheidbarkeit, und sie reklamieren zum anderen eine Entschiedenheit� Blicken wir auf das mit dem Jesuswort festgestellte Nichtverstehen, so bleibt fraglich, welches spätere Verstehen denn ‚richtig’ verstanden haben soll� Blicken wir auf unsere eigene Verstehensarbeit, so sehen wir, dass sie nicht bei dieser als anfänglich imaginierten Unentscheidbarkeit verbleibt, sondern bei den Entscheidungen, die sich in Überlieferungen, Reflexionen und Verstehensversuchen manifestieren� Wir beanspruchen folglich nicht, den Jesus dieses Wortes besser zu verstehen, sondern bauen auf diejenigen, die seine Geschichte zu verstehen versuchten� Sie kam ihnen immer schon in der Form von Überlieferungen, Reflexionen und Verstehensversuchen zu� Wir setzen uns also gleichsam mit einer ‚Entschiedenheit in der Unentscheidbarkeit’, mit einer entschiedenen Unentscheidbarkeit auseinander� Zugleich gerät das, was wir verstanden zu glauben haben, wiederum in die Bereiche der Unentscheidbarkeit� Es gerät in die Diskursivität 22 alternierender Interpretationen, die ihrerseits je ein zutreffendes Verstehen für sich reklamieren� Was wir an unserer Interpretationsarbeit als spannungsvoll, gar widersprüchlich erleben, gilt bereits für die Texte des Neuen Testaments� Auch sie sind sämtlich Interpretationstexte, Kommentartexte, Hinweistexte� Ihr ‚Text’ ist die Geschichte Jesu Christi� Unsere Interpretationsarbeit bezieht sich auf die Interpretationsarbeit, die wir in den neutestamentlichen Texten antreffen� Unser Verstehen oder Nichtverstehen ist in mehrfacher Weise gebrochen� Und es ist gerade in dieser Gebrochenheit auf mehrfache Interpretationsprozesse bezogen� Mit ihnen setzt sich unsere Arbeit auseinander, nicht unmittelbar mit einem 19 Ti hēmin kai soi, Iēsou Nazarēne; ēlthes apolesai hēmas; oida se tis ei, ho hagios tou theou , Mk 1,24� 20 Ouk ēphien lalein ta daimona, hoti ēdeisan auton, Mk 1,34� 21 Kai ta pneumata ta akatharta, hotan auton etheōroun, prosepipton autō kai ekrazon legontes hoti sy ei ho hyios tou theou , 3,11� 22 An dieser Stelle ist die grundsätzliche Forderung zu betonen, dass die Methodik der Textinterpretation im Rahmen wissenschaftlicher Theologie in gleicher Weise kommunizierbar sein muss wie die anderer Disziplinen; vgl� dazu E� Reinmuth / K�-M� Bull, Proseminar Neues Testament� Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006, 88� Sola scriptura 167 168 Eckart Reinmuth hinter den Texten hypothetisch erschlossenen historischen Jesus� Folglich lautet die kritische Frage an die Texte nicht, wieweit sie dem entsprechen, was in historischer Hinsicht über Jesus ausgesagt werden kann� Mit dieser Frage wurden die Texte oft gegen ihre offenkundige Absicht nach einem ihnen fremden Kriterium beurteilt� In der Annahme, mit dem historischen Jesus ein gleichsam objektives geschichtliches Faktum zu besitzen, das zutreffender sei als die in den Diskursen der frühen Gemeinden entstandenen Texte, wertete man diese gegenüber der vermeintlichen Wahrheit der Geschichte ab� 23 Dieser Weg hat sich als nicht gangbar erwiesen� Immer wieder wurde die Suche nach einem gleichsam objektiven Kriterium der Schriftinterpretation enttäuscht� Die Vielstimmigkeit des Neuen Testaments, von der eingangs die Rede war, die Konfliktivität seiner Schriften und Texte, gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen seiner Interpretation� Sie reicht von bekannten und weniger bekannten Widersprüchen in der sachlichen Referentialität - vgl� z� B� die Frage des Geburtsortes, der Eltern bzw� der Mutter, des Todesdatums Jesu - über antagonistische Positionen - vgl. z. B. Röm 13; 1Tim 2,1-6 mit Apk 13; Lk 4,6; vgl. Jak 2,14-26 mit Röm 3,20-4,25 24 - bis zu dem literaturtheoretischen Sachverhalt, dass unterschiedliche Texte nur über den Preis ihrer Literarizität, ihrer literarischen Autonomie harmonisiert, gleichsam zu einem Text gemacht werden können� Die Frage, ob und gegebenenfalls welche neutestamentlichen Schriften oder Texte Jesus ‚richtig’ verstanden haben könnten, führt vor diesem Hintergrund kaum weiter� Es reicht also nicht aus, die Vielstimmigkeit der neutestamentlichen Schriften, des neutestamentlichen Kanons hervorzuheben; nein, es geht vielmehr darum, diese Vielstimmigkeit auch in ihrer Widersprüchlichkeit, als Spannungsreichtum, zu verstehen und diese Konfliktivität als integrierendes Element des sola scriptura zu würdigen� 3. Luther kannte die contraria der Schrift zur Genüge - Widersprüchliches, das sich gerade nicht im Text der Schrift, also etwa mit Hilfe einer schlagenden Bibel- 23 A� a� O�, 87� 24 Nicht zu übersehen die Vorwürfe des Nichtverstehens oder Falschverstehens, die sich schon im Neuen Testament an diejenigen richten, die anderer Meinung sind - Juden, „Irrlehrer“ usw� Wir haben nicht nur an die Kontroversen zu denken, für die beide Meinungen aufbewahrt wurden, sondern auch an die, von denen nur die siegreiche Stimme hörbar blieb� stelle auflösen ließ� Dabei ist zu bedenken, dass Martin Luther primär von christologisch verstandenen Gegensätzen im Neuen Testament und darüber hinaus in der ganzen Bibel sprach� Er hat die zusammengehörige Polarität zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus radikal gedacht und zum Ausdruck gebracht� 25 Erst vor diesem Hintergrund wird seine Rede von den durchaus substantiellen biblischen contraria verständlich� Luther hatte als Bibelwissenschaftler den Spannungsreichtum, die Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit biblischer Aussagen und Positionen hinlänglich studiert� Diese contraria mussten jede formale Vereinheitlichung zum Scheitern verurteilen� Auch für ihn ist die Bibel als Sammelwerk unterschiedlicher Texte, Quellen, Überzeugungen, Abfassungszeiten, auf der Textoberfläche auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen� Es ging Luther vielmehr darum, die biblischen contraria so zusammenzustellen, dass sie sich in einer collatio gleichsam gegenüber stehen, so dass sie einander sachlich zugeordnet werden können� Jun Matsuura hat eindrücklich gezeigt, wie Luther diesen biblischen Widersprüchen nicht ausweicht, sie übersieht oder ausblendet, sondern sie mit Hilfe des biblischen Modells der Bundeslade würdigt und hermeneutisch fruchtbar macht� 26 Dabei war für ihn das Bild von den beiden cherubim auf der Bundeslade mit den einander entgegengesetzten Gesichtern entscheidend� Schon bei der Leipziger Disputation hatte Luther dieses Bild verwendet und daran gezeigt, wie er die collatio einander widerstreitender biblischer Aussagen methodisch versteht� Luther ging es darum, entgegengesetzte Aussagen der Bibel aufeinander zu beziehen, anstatt sie gewaltsam aufzulösen� Sie sollten vielmehr in ihrer Gleichrangigkeit erkannt und so in ihrem hermeneutischen Potential gewürdigt werden� 27 Das von Luther herangezogene Bild aus Ex 25 enthält eine gleichsam leere Mitte: Denn die Blicke der beiden einander entgegengesetzten Cherubim treffen in der Mitte aufeinander - da, wo die Präsenz Gottes gedacht wird - auf der ‚Versöhnungsplatte’, dem propitiatorium (Vulgata), dem hilastērion ( LXX ; vgl� Röm 3,25), der kapporet � Diese Mitte bietet mit der Erkenntnis der Versöhnung das Gewahrwerden Christi� Christus ist folglich nach Maßgabe dieses 25 Vgl� z� B� J� Baur, Extreme Theologie, in: ders�, Luther und seine klassischen Erben� Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 3-12. 26 J� Matsuura, Duo Cherubim adversis vultibus� Zur Herausbildung und texthermeneutischen Bedeutung des Grundsatzes Scriptura sui ipsius interpres, in: V� Leppin (Hg�), Reformatorische Theologie und Autoritäten� Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther, Tübingen 2015, 141-174. 27 Vgl� Matsuura, a� a� O�, 161: „Nicht bloß die Ausschaltung textexterner Instanzen bei der collatio ist das Entscheidende und das Unterscheidende gegenüber der Tradition, sondern die Zusammenstellung gerade der contraria mit ihrem Aufeinander- und Zusammentreffen�“ Sola scriptura 169 170 Eckart Reinmuth Bildes weder in die Widersprüche der Bibel hinein aufzulösen oder einseitig zugunsten einer Polarität innerhalb des Textes festzulegen, sondern vielmehr als in diesen Widersprüchen bezeugt zu sehen� 28 Es geht nach Matsuura also um die „Grundauffassung, Gott rede zu den Menschen in einander entgegengesetzten Worten, die in Christus zusammenfinden� Texthermeneutisch expliziert besagt dies: Die Schrift sei auf konstitutiven Gegensätzen gebaut, die nach ihrer Übereinstimmung fragen lassen, wenn sie überhaupt eine Einheit und Ganzheit sein soll, und biete diese Übereinstimmung in Christus, der so als Mitte und Botschaft des ganzen gefunden werden wolle� Die Christuserkenntnis bedeutet so zugleich die Erkenntnis der in ihm zusammenfindenden Gegensätze und umgekehrt�“ 29 Matsuura vertritt also die These, „dass der Grundsatz scriptura sui ipsius interpres in der christologisch verankerten Auslegung der contraria seinen eigentlichen konkret texthermeneutischen Kern hat und dass auch die sonstigen Aspekte der neuen Hermeneutik sachlogisch daraus ableitbar sind“ (168)� Meine neutestamentliche Anmerkung findet bei der Schrifthermeneutik Luthers einen sachlichen Anhalt� Die Vielfalt und Konfliktivität des neutestamentlichen wie biblischen Kanons führt nicht aus diesem hinaus in einen von außen, z� B� lediglich religionshistorisch zu bestimmenden Kontext - so unentbehrlich dieser für das Verständnis dieser Schriften ist� Sie führt vielmehr in die entschiedene Unentschiedenheit (s�o� S� 169), in die Vielfalt der Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte, die uns nach ihr fragen lässt� 28 In dieser Perspektive ist den Versuchen Recht zu geben, die die Mitte des Kanons extratextuell zu bestimmen suchen; vgl� z� B� I� U� Dalferth, Die Mitte ist außen� Anmerkungen zum Wirklichkeitsbezug evangelischer Schriftauslegung, in: C� Landmesser/ H�-J� Eckstein/ H� Lichtenberger (Hg�), Jesus Christus als die Mitte der Schrift� Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, FS O� Hofius (BZNW 86), Berlin / New York 1997, 173-198; H� Weder, Die Externität der Mitte� Überlegungen zum hermeneutischen Problem des Kriteriums der Sachkritik am Neuen Testament, a.a.O, 291-320; H.-J. Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments� Ein unzeitgemäßes Votum zur Theologie des Alten Testaments, a. a. O., 199-233. 29 Matsuura, a� a� O� 162� Matsuura fährt fort: „Dies also ist die konkrete, inhaltliche Füllung sowie der Kern der texthermeneutischen These, die Schrift sei ipsius interpres … Die Schrift interpretiert sich selbst durch diese ihr eigene Struktur … Von hier aus erhalten auch die ‚Selbstauslegungen’ der Schriftworte im allgemeineren Sinn - Auslegungen durch den Kontext, durch Parallelstellen oder dergleichen - ihren Ort im Gesamtverständnis von der Selbstinterpretation der Schrift, so dass diese insgesamt als Prinzip der Schriftauslegung behauptet werden kann.“ (162). Vielfältige Stellenverweise werden a. a. O., 160-169 geboten� 4. Es sind genau genommen nicht zuerst die Texte selbst, die uns in die Auseinandersetzung mit ihnen führten, sondern ihr Gebrauch, ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte� 30 Durch sie lernten wir die Texte kennen, und wir lernten genauer nach ihnen zu fragen� So schreiben wir die Geschichte ihrer Rezeptionen und in einem umfassenderen Sinn ihre Wirkungsgeschichte weiter� Wenn gilt, dass das Nichtverstehen zum Anlass des Verstehens werden kann, 31 muss das Verstehen sich dafür öffnen, wieder ins Nichtverstehen zu geraten und sich erneut ans Lesen zu machen� 32 Jedes erneute Lesen entzündet sich am allzu sicher Verstandenen, signalisiert das Fraglichwerden des Verstandenen, kommt dem Verrat auf die Spur, den ihm die Überlieferung zumutet� 33 Es geht mir in diesem Sinne um einen ‚gegenwärtigen’ Dialog mit den antiken Texten� Das schließt das Wissen darum ein, ihnen nicht gerecht werden zu können - in gleichem Sinne, wie das für ihre Wirkungsgeschichte gilt� Wir sind als heutige Leserschaft zunächst Erben dieser Wirkungsgeschichte und fragen durch sie hindurch nach den Texten selbst, die - das zeigt ihre Konfliktivität - ihrerseits ihrer Interpretationsaufgabe gerecht zu werden versuchten� Deshalb hilft es nicht allzu viel, einen angenommenen ‚Ursprungssinn’ problematisch gewordener Texte herauszuarbeiten, wiederherzustellen und mit ihm etwaige problematische Rezeptionen gleichsam zu überspringen� Ein solcher ‚Ursprungssinn’ wäre ja nicht ohne weiteres ‚unschuldiger’ als manche seiner Interpretationen� Für ihn wäre freilich ein anderes setting zu veranschlagen, das möglicherweise eine Motivation freilegen könnte, die ganz anders abgezielt war, als spätere Auslegungen das vermuten lassen� Es steht uns nicht zu, hier zu richten, wohl aber, unsere heutigen Interpretationen vor dem Horizont einer komplexen und problematischen Wirkungsgeschichte zu verantworten� 30 Vgl� dazu jetzt K�-W� Niebuhr, Außerkanonische Schriften im antiken Christentum� Das Beispiel syrischer Menander (in Anm. 15 a. a. O.), 345-366, 346 ff. 31 Vgl� dazu den einführenden Problemüberblick von Ph� Stoellger, Wo Verstehen zum Problem wird� Einleitende Überlegungen zu Fremdverstehen und Nichtverstehen in Kunst, Gestaltung und Religion, in: J� Albrecht / J� Huber u� a� (Hg�), Kultur Nicht Verstehen� Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich / New York 2005, 7-27. Stoellger stellt a� a� O�, 13 fest: „Das Ziel des Verstehens kann nicht immer sein, das Nicht- Verstehen zu überwinden oder zu beseitigen, sondern oft nur, es schärfer zu fassen� Denn die Bedingung des Verstehens kann nicht selber im Verstehen aufgehen, sonst wäre und bliebe sie nicht seine Bedingung�“ 32 Vgl� E� Reinmuth, Offenbarung als Literatur? Bibelinterpretation zwischen Geschichte und Geltung, in: ders�, Neues Testament, Theologie und Gesellschaft� Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 43-59, hier: 52 f. 33 Die Formulierung spielt auf den Doppelsinn des Wortes ‚Tradition’ an; das in ihm enthaltene tradere bedeutet sowohl ‚übergeben’ als auch ‚ausliefern’� Sola scriptura 171 172 Eckart Reinmuth Mit ihr lohnt es sich, an den Anfang zu gehen und die biblischen Texte neu zu buchstabieren� Ich möchte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen meine neutestamentliche Anmerkung formulieren: Die läuft zum einen auf eine Mahnung zur Bescheidenheit, zur Selbstbescheidung gegenüber einer allzu hochgemuten Verstehensgewissheit hinaus� Und sie läuft zum anderen auf die Bitte hinaus, dass wir die neutestamentlichen Schriften und Texte nicht gleichsam harmonistisch lesen, in dem Sinne also, dass wir ihre Widersprüche und Spannungen zu nivellieren und einzuebnen versuchen� Geben wir jeder Schrift, jedem einzelnen Text sein Eigenrecht, das ihm Eigene so unverwechselbar und unersetzbar zu sagen, wie jeder Text es auf seine konkrete und kontingente Weise tut� Und sie führt drittens zu einer Forderung an unsere Textarbeit in Theologie und Kirche: Stärken wir den Dialog mit der Schrift - kritisch wie selbstkritisch - es geht um das, wovon diese Schriften in ihren fremden Sprachen reden� Es sind Kommentartexte, Hinweistexte, Interpretationstexte� Nur, wenn wir ihren Wortlaut studieren, verstehen wir, wovon sie reden� Und das ist weder vergangen, noch tot oder starr, noch konservierbar� Eine lebendige Geschichte, die wir auch als Interpretierende weiterschreiben, unabhängig davon, welche Glaubensüberzeugungen wir teilen� Wo das gelingt, wird auch unser interpretierender Diskurs vielstimmig, spannungsvoll, widersprüchlich bleiben - in durchaus vergleichbarer Weise wie die ersten interpretierenden Diskurse dieser unglaublichen Geschichte, deren fragmentierte Relikte wir Neues Testament nennen� Gehen wir das Risiko des offenen interpretierenden Diskurses ein� Ohne Risiko kein Verstehen, keine Wahrheit, keine Stimme, kein Gehör�