ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40
Dronsch Strecker VogelKanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute
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2017
Günter Röhser
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute Günter Röhser 1. Die Themenstellung Aus meiner Sicht gibt es (mehrere) gute Gründe, das Thema „Schriftprinzip“ über den „Umweg“ des Themas „Kanon“ anzugehen: 1� Mit dem Kanonbegriff ist in der Fundamentaltheologie bzw� in der dogmatischen Prinzipienlehre die Frage nach der Autorität und Normativität der Schrift verbunden� Die einfachste und für unsere Zwecke grundlegende Definition des Begriffs lautet: „Kanon“ ist in der christlichen Kirche und Theologie die normative, d� h� maßgebende, richtunggebende Sammlung der heiligen Schriften, zusammengefasst zu einer Heiligen Schrift - der Bibel Alten und Neuen Testaments� Das griechische Wort kanōn (von „kanna“ = „Rohr“, einem semitischen Lehnwort) bedeutet nämlich „Maßstab, Regel, Richtschnur“ (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) - was sofort und unmittelbar an die Konkordienformel von 1577 (Epitome, Von dem summarischen Begriff, Regel und Richtschnur: „allein die Schrift ist die einzige Regel und Richtschnur“) erinnert� 1 Allerdings ist der Begriff in seiner präzisen definitorischen Verwendung erst in der modernen christlichen Theologie populär geworden� 2 1 BSLK 767,15-19; 769,22-23. - Inwiefern es sich dabei von Anfang an um ein „Prinzip“ im eigentlichen Sinne handelte, sei hier dahingestellt (zur historischen Frage siehe jetzt F� Stengel, Sola scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips [ThLZ�F 32], Leipzig 2016)� 2 Auch wenn er sich als Bezeichnung für ein Verzeichnis maßgeblicher Schriften bis zu Rufinus, Euseb und Quintilian zurückverfolgen lässt� 174 Günter Röhser 2� Mit dem Kanon ist die traditio scripta (die „geschriebene Tradition“) der Kirche bezeichnet und darauf verwiesen, dass die (mündliche) Verkündigung und Überlieferung der Kirche durch die Zeiten für die Aufrechterhaltung der Kontinuität mit Jesus und den ersten Zeuginnen und Zeugen des Glaubens (alleine) nicht genügt, sondern einer von den Wechselfällen menschlicher Überlieferung möglichst unabhängigen und für alle Gläubigen möglichst einheitlichen Grundlage bedarf� Das sind zunächst die (alleine) als maßgeblich anerkannten heiligen Schriften des Judentums in „christlicher“ Perspektive (Septuaginta bzw� Altes Testament), neben die dann (zusätzlich zur weitergehenden mündlichen Überlieferung) die Schriften des sog� Neuen Testaments treten� Zu fragen ist, welchen Stellenwert diese schriftlich-textlichen (Er)Zeugnisse innerhalb der kirchlichen Traditionsbildung und -weitergabe insgesamt besitzen� Anders gesagt: Liegt die Betonung nicht nur auf dem sola , sondern auch auf dem bzw� der scriptura (gegenüber allen anderen Formen der Traditionsvermittlung - durch Bild, Ton, mündliche Rede …)? Und lässt sich eine exklusive Beschränkung autoritativer Bedeutung auf diese scriptura (mit Betonung auf sola ) heute noch bzw� überhaupt begründen und verteidigen? 3� Die (Gesamt-)Biblische und die Kanonische Theologie sind zweifellos aus bibelwissenschaftlicher Sicht der wichtigste Beitrag zur aktuellen Hermeneutik- Diskussion� Entstanden in den 1960er Jahren als „Canonical Approach“ (Brevard S� Childs) in den USA und zunehmend bestimmend seit den 1970er Jahren als „Biblische Theologie“ auch in Deutschland stellen sie den Versuch einer Antwort auf die Krise der Schriftautorität dar, wie sie durch den Ansturm des Historismus und der liberalen Theologie bereits im 19� Jahrhundert eskaliert war� Dazwischen liegen der Neuaufbruch der Dialektischen Theologie nach 1918 und im angelsächsischen Raum die Biblische-Theologie-Bewegung (Begriffsprägung durch B� S� Childs: „Biblical Theology Movement“) von ca� 1940 bis in die 1960er Jahre� Ohne diese beiden Richtungen (von denen die Erstere die Letztere mehr oder weniger beeinflusst hat) wäre auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht möglich gewesen� Im Vordergrund steht dabei als wichtigstes Anliegen die Frage nach der Einheit der ganzen Bibel� Doch ist diese Frage (die üblicherweise in den Prolegomena der Dogmatik als Frage nach der „Offenbarung Gottes in Israel“ oder nach dem „Verhältnis von Altem und Neuem Testament“ behandelt wird) nur ein besonders deutlich ausgeprägter Aspekt des Grundproblems von Schriftautorität und Schriftprinzip: wie es nämlich auf der Basis des Kanons als einheitlicher Grundlage für alle Gläubigen (s� o� 2) auch zu einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung der einen Schrift aus all den vielen Einzelschriften und Einzelaussagen kommen kann� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 175 2. Exkurs: Zur Entstehung des Kanons Da die Frage - wie sich zeigen wird - eine gewisse Rolle in meiner Gedankenentwicklung spielt, gehe ich an dieser Stelle kurz auf sie ein, ohne sie abschließend beantworten zu können� Wir haben es dabei mit zwei unterschiedlichen Sichtweisen zu tun, deren Differenz die Forschungsdiskussion in den nächsten Jahren - hoffentlich! - zunehmend beschäftigen wird� 2.1. Die „traditionelle“ Sichtweise Sie ist vor allem dadurch charakterisiert, dass sie sich die Entstehung des Kanons als einen langen, allmählichen Prozess vorstellt, als das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Ringens darum, was als Schriftgrundlage in der Kirche gelten soll, oder auch als Prozess der „Selbstdurchsetzung“ und faktischen Rezeption bestimmter Schriften in der Kirche� Am Anfang der christlichen Kanonbildung stehen demnach kleinere Sammlungen von Paulusbriefen, die von den Mitarbeitern des Apostels und paulinischen Gemeinden veranstaltet werden und die dann allmählich in größere Sammlungen übergehen (Abschluss vielleicht mit den Pastoralbriefen)� Bis zur Mitte des 2� Jh�s treten die vier Evangelien als weitere Autorität daneben� Durch Markion wird der Prozess beschleunigt� Noch vor der Mitte des 2� Jh�s bestimmt dieser „Irrlehrer“ zur Stützung seiner Sondermeinungen einen eigenen, zweiteiligen „Kanon“: ein „revidiertes“ Lukasevangelium plus zehn „gereinigte“ Paulusbriefe (vielleicht von ihm „Neues Testament“ genannt)� Das - später so genannte - Alte Testament verwarf er ganz� Darauf musste die „orthodoxe“ kirchliche Theologie - besonders in Kleinasien und Rom - reagieren und ihr eigenes Kanonverständnis vorantreiben� 3 3 Vgl� zum Ganzen: H� von Lips, Der neutestamentliche Kanon� Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004, 43-54 (eine gute Zusammenfassung der „traditionellen“ Sicht). Prof. Dr. Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau� Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg� Pfarrer der Evang�-Luth� Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn� Homepage: www�guenter�roehser�de 176 Günter Röhser Die Aufnahme weiterer Schriften (neben Evangelien und Paulusbriefen) in den entstehenden neutestamentlichen Kanon war lange Zeit umstritten, am längsten im Falle des Hebräerbriefs, der sieben sog� Katholischen Briefe sowie insbesondere der Apokalypse des Johannes (Letztere war im Osten bis ins Mittelalter umstritten)� Man kann sagen, dass die Hauptentscheidungen über den Umfang des neutestamentlichen Kanons im 4� Jh� getroffen waren� Wichtige Daten in diesem Zusammenhang sind der 39� Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien von 367 und die Synodalbeschlüsse von Hippo Regius aus dem Jahre 393 sowie von Karthago 397 und 419 n� Chr� Athanasius nennt in seinem Brief alle 27 Schriften unseres neutestamentlichen Kanons (und 22 des hebräischen Alten Testaments) - wenn auch zum Teil in anderer Reihenfolge� Er habe sich entschlossen, „der Reihe nach die kanonisierten ( kanonizomena ), überlieferten und als göttlich geglaubten (oder: bestätigten [ pisteuthenta ]) Bücher darzulegen, damit ein jeder Getäuschte seine Verführer verwerfe und ein jeder unbefleckt Gebliebene sich freue, wenn er wieder daran erinnert wird�“ Die Aufzählung schließt mit den Worten: „Dieses sind die Quellen des Heils, auf dass der Dürstende sich an den in ihnen enthaltenen Worten übergenug labe� In ihnen allein wird die Lehre der Frömmigkeit verkündigt� Niemand soll ihnen etwas hinzufügen oder etwas von ihnen fortnehmen�“ In der Sicht des Athanasius ist der Kanon für die ganze „rechtgläubige“ Kirche definitiv abgeschlossen� Wenige weitere Schriften sind zur Lektüre zugelassen (z� T� aus dem Septuaginta-Kanon, aber auch Didache und Hirt des Hermas), alle anderen werden als „apokryph“ und „häretisch“ verworfen� Parallel zur Herausbildung des neutestamentlichen Kanons - und diese befördernd - vollzieht sich also auch die „Kanonisierung“ des sog� Alten Testaments - und zwar auf christlicher wie auch (natürlich nicht unter der Bezeichnung „Altes Testament“! ) auf jüdischer Seite� Zwar waren die heiligen Schriften des Volkes Israel bei den Christusanhängern von Anfang an anerkannt und wurden - zumindest im Gottesdienst und von den Gebildeten - auch fleißig gelesen und benutzt� Trotzdem stand der genaue Umfang des „alttestamentlichen Kanons“ noch lange nicht fest� Melito von Sardes (2� Hälfte 2� Jh�) scheint der erste gewesen zu sein, der sich um ein genaues Verzeichnis der alttestamentlichen Bücher bemüht hat� Wie beim Neuen Testament ist auch in der Frage des alttestamentlichen Kanons erst durch Synodalentscheidungen des 4� Jh�s ein gewisser Abschluss erreicht worden� 4 Trotz des zweifellos bestehenden Einflusses der Synagoge mit ihrem hebräisch-palästinischen Kanon hat sich dabei in der Kirche und bei den Christen letztlich der Septuaginta-Kanon durchgesetzt, d� h� 4 W� Schneemelcher, Art� Bibel III� Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, TRE 6 (1980), 22-48, hier: 38 f. also die Sammlung der ins Griechische übersetzten oder ursprünglich griechisch verfassten jüdischen heiligen Schriften aus zwischentestamentlicher Zeit� Zusammengefasst: „Der Kanon ist um die Wende vom 2� zum 3� Jh� grundsätzlich vorhanden� Abgeschlossen ist er aber erst sehr viel später, und zwar in der Zeit der Reichskirche, die auch auf diesem Gebiet die alte Vielfalt nicht mehr dulden konnte�“ 5 2.2. Eine neue Sichtweise: die sog. Kanonische Ausgabe David Trobisch versuchte bereits 1996, also vor mehr als zwanzig Jahren, zu zeigen, dass das Neue Testament in der Form, in der es uns heute vorliegt, „nicht das Produkt eines jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses“, sondern ein einziges und redaktionell einheitliches Buch ist, „das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde“ 6 - deshalb editio princeps mit dem Buchtitel „Das Neue Testament“� Belege dafür sind bestimmte Charakteristika der alten Handschriften: 1� Das einheitliche Abkürzungssystem der nomina sacra : In nahezu allen Handschriften werden die Begriffe Gott, Herr, Jesus und Christus (und noch einige andere) erstaunlich einheitlich abgekürzt, ohne dass es eine echte Analogie dafür in antiken Texten gäbe� 2� Das einheitliche Überschriftensystem: Da das Buch den Titel „Das Neue Testament“ trug, ist anzunehmen, dass bereits auch ein Buch mit dem Titel „Das Alte Testament“ (ähnlich der Septuaginta) zur Kanonischen Ausgabe gehörte� Die Kanonteile sind einheitlich benannt - und dabei wiederum die „Paulusbriefe“ nach den Adressaten, die „Katholischen Briefe“ und die Apokalypse des Johannes mit dem Verfassernamen im Genitiv, besonders auffällig aber die „Evangelien“ nach dem Schema euaggelion kata. Letzteres ist ganz ungewöhnlich und findet allenfalls in der Zitation von Übersetzungen des Alten Testaments („nach Aquila“, „nach Symmachus“, „nach den Siebzig“) eine gewisse Entsprechung� Die Botschaft aber ist eindeutig und klar: Der Buchteil „Evangelien“ enthält vier verschiedene Versionen ein und desselben Evangeliums von Jesus Christus� 3� Die erstaunlich gleichbleibende Reihenfolge der Schriften und Schriftengruppen: die 4 Evangelien, der Praxapostolos (= Apostelgeschichte + die Briefe der in ihr erwähnten Apostel, v� a� Jakobus, Petrus, Johannes [in dieser Reihenfolge; vgl� auch Gal 2,9]), die 14 Paulusbriefe (mit Hebr in der Mitte; ebenso wie die 5 Schneemelcher, Bibel, 46 f� 6 D� Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments� Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg Schweiz / Göttingen 1996, 11� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 177 178 Günter Röhser drei wird auch Paulus zuvor in Apg dem Leser vorgestellt) und die Apokalypse des Johannes� Von den großen Codices des 4� und 5� Jh�s bringt nur der Sinaiticus die Paulusbriefe vor dem Praxapostolos, aber auch dort ist die Verbindung zwischen Apostelgeschichte und Katholischen Briefen nicht gelöst (dies macht erst Erasmus von Rotterdam)� Die Reihenfolge der Schriftengruppen orientiert sich grundlegend an derjenigen in der Septuaginta: Grundlegung mit der Tora bzw� dem Pentateuch (Evangelien), Geschichtsbücher (Apg), Psalmen und Weisheit (v� a� Texte der in den Geschichtsbüchern erwähnten Könige David und Salomo analog zu den Briefen der in Apg erwähnten Apostel), Prophetie (Apokalypse) - was ebenfalls für eine Endredaktion der gesamten Kanonischen Ausgabe (Altes und Neues Testament) aus einer Hand sprechen könnte (zumal die Trennung von Geschichts- und prophetischen Büchern = vorderen und hinteren Propheten dem jüdischen Verständnis widerspricht, jetzt aber die Prophetie als Ausblick auf Jesus Christus erscheinen lässt)� 7 Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die Standardausgabe des griechischen Neuen Testaments (Nestle-Aland) die genannten Sachverhalte entweder falsch (Evangelienüberschriften, Reihenfolge und Zusammengehörigkeit) oder gar nicht ( nomina sacra , Buchtitel) wiedergibt� 8 4� Die Kanonische Ausgabe erscheint von Anfang an nicht in Rollenform (wie zu dieser Zeit noch mehrheitlich üblich), sondern als Kodex, d� h� als zusammengebundene Bögen aus Papyrus (später Pergament) mit festem Einband, und könnte einen entscheidenden Anstoß zur Verbreitung dieser Praxis bei den Christen gegeben haben (sei es aus Kosten- oder Praktikabilitätsgründen, sei es zur Unterscheidung der eigenen heiligen Schrift von anderen)� Zusammengefasst: Offizielle Anerkennung findet die Kanonische Ausgabe erst in der Zeit der Reichskirche (und ist dann auch erst im vollen Sinne „kanonisch“ - insofern ist der Begriff „Kanonische Ausgabe“ missverständlich und die neutrale Bezeichnung editio princeps vorzuziehen)� Entstanden ist sie aber bereits in der Mitte des 2� Jh�s - nicht als Ergebnis eines längeren Prozesses bzw� aufgrund autoritativer Entscheidung wie bei Markion (der in der Folge eine eigene Kirche gründete), sondern als literarische Antwort auf dessen herausfordernde Lehren (Ablehnung des Alten Testaments und seines heilsgeschicht- 7 Zur Darstellung der These Trobischs siehe auch M� Ebner, Der christliche Kanon, in: M� Ebner / S� Schreiber, Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 9-52, hier: 18-20. 8 In der 28� Auflage ist nunmehr mit den subscriptiones die letzte Spur Editionsgeschichte des Neuen Testaments aus unseren Ausgaben verschwunden; die Ersteren enthalten spätere Vermutungen zu Abfassungsort und Datierung neutestamentlicher Briefe (D� Trobisch, Die 28� Auflage des Nestle-Aland� Eine Einführung, Stuttgart / Atlanta 2013, 51)� lichen Zusammenhangs mit dem Neuen, Berufung ausschließlich auf Paulus) und die durch ihn ausgelösten Auseinandersetzungen (v� a� in Rom und Kleinasien)� Vor diesem Hintergrund gewinnt die Kanonische Ausgabe ihr inhaltliches Profil durch die Balance zwischen dem Heidenapostel Paulus und den anderen, am Judentum orientierten Aposteln (wobei deren Voranstellung im Praxapostolos durchaus einen nicht nur chronologischen, sondern auch sachlichen Vorrang der Katholischen Briefe signalisiert - entsprechend dem Erzählaufbau der Apg) 9 sowie durch die Abwehr markionitisch-gnostischer Schöpfungs- und Geschichtsvergessenheit (Integration des „Alten Testaments“)� Weitere Konsequenz: Die weiterbestehenden Unsicherheiten und Auseinandersetzungen bezüglich der Zugehörigkeit einzelner Schriften zum „Kanon“ in der alten Kirche sind dann nicht Zeugnisse für einen erst noch in der Entwicklung befindlichen Kanon, sondern Ausdruck einer Diskussion über eine bereits existierende „Kanonische Ausgabe“ des 2� Jh�s� 3. Fundamentaltheologische Reflexion kanontheologischer Entwürfe Ich setze die eingangs angesprochenen Fragen nach der Autorität und Einheit der Schrift in folgende konkrete Fragestellungen um: 1� Was heißt „kanonische Bedeutung der Bibel“ und wie entsteht sie? Folgt daraus ein besonderer Umgang mit diesem Buch, der es aus aller anderen Literatur in unvergleichlicher Weise heraushebt? 2� Gilt die kanonische Bedeutung unterschiedslos („einheitlich“) für die ganze Bibel in allen ihren Teilen und Aspekten oder gibt es auch Elemente, deren kanonischen Rang man in Zweifel ziehen kann oder muss? Wie kann Einheit der Schrift überhaupt darstellbar sein oder erfahrbar werden? ad 1� „Kanonische Bedeutung“ kann nicht heißen, dass für die Auslegung der Bibel andere Grundsätze gelten oder andere Methoden angewendet werden müssten als für die Auslegung von anderen Texten der Vergangenheit� Als Äußerungen und Werk von Menschen können die Aussagen und Schriften der Bibel und ihre Zusammenstellung der historischen Erforschung und Nachfrage nicht entzogen werden, und diese Arbeit darf durch den Glauben nicht eingeschränkt oder im Sinne einer philologia / hermeneutica sacra verändert werden� Wohl aber muss an einer bestimmten Stelle des Auslegungsprozesses für Menschen im 9 Vgl� Ebner, Kanon, 39 f� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 179 180 Günter Röhser Raum der Kirche, die dieses Buch als „kanonisch“ anerkennen, die Wahrheitsfrage angesichts der Texte gestellt werden: Inwiefern leiten diese Texte und ihre Zusammenstellung zu einem heutigen Glauben und Leben an und sind insofern für Menschen, die sich als Christinnen und Christen verstehen, verbindlich und normsetzend? Man kann die Frage nach der kanonischen Bedeutung aber auch andersherum ansetzen: Menschen machen mit ihren Fragen nach Glauben und Leben eine besondere Erfahrung mit diesem Buch und seinen Texten, die sie zur Anerkennung seiner unvergleichlichen Bedeutung führt, und sie erkennen in diesen Texten immer wieder von neuem ihren Glauben, indem sie Hilfe und Anstoß zu heilsamer Veränderung durch sie erfahren� „Bewahrheitung“ erfolgt durch „Bewährung“� So ergibt sich ein doppelter Zugang, gewissermaßen von zwei Seiten her, zur Frage der Verbindlichkeit und Bedeutsamkeit der Schrift: von der Seite der „Ausgangstradition“ (hier: der traditio scripta ) her und von der Seite der „Anwendungssituation“ her� Man muss beides nicht gegeneinander ausspielen, aber man muss überlegen, wo man den Schwerpunkt sehen will� Ein Grundmodell für die Entstehung kanonischer Autorität (diesseits des vollständigen bzw� des redaktionellen Kanons) bietet Gal 2,9� Dort sagt Paulus mit Blick auf die Urapostel Jakobus, Kephas (= Petrus) und Johannes: „Sie erkannten die Gnade, die mir gegeben war�“ Genau darum geht es: Ein Mensch tritt mit einem Vollmachts- und Sendungsanspruch (mündlich oder schriftlich geäußert, unter seinem eigenen Namen, pseudonym oder anonym) vor andere Menschen� Der Sendende ist im biblischen Raum traditionell der Gott Israels und Vater Jesu Christi oder Jesus Christus selbst� Diese anderen Menschen, die ebenfalls glaubwürdige Erfahrungen mit diesem Gott bzw� seinem Sohn gemacht haben, erkennen im (durchaus neuen) Handeln, Schreiben und Verkündigen des Gesandten in ihrer aktuellen Situation (hier: Frage der Heidenmission) den eigenen Glauben bzw� die „Handschrift“ ihres Gottes und Jesu Christi wieder und erkennen den Verkündiger deshalb als von Gott begnadet und gesandt an� Sie bestätigen seine prophetische oder apostolische Legitimität und damit seine „Kanonizität“; sie erkennen seine Lehre und sein Auftreten in einer bestimmten (als krisenhaft erlebten) Herausforderungssituation als authentische („wahre“), weil hilfreiche und weiterführende Interpretation und Auslegung ihres Glaubens und ihrer Ursprungstraditionen an� Die Kanonfrage ist also zutiefst und im Kern auch eine Legitimitätsfrage� Werden bestimmte Autoritäts- und Wahrheitsansprüche (Berufung oder Beauftragung durch Gott, Einsetzung durch Jesus Christus oder durch andere Autoritäten, göttlicher Schreibauftrag, Inspiration / Geistbesitz und damit verbundene Wahrheitserkenntnis, letztlich auch die Sendung Jesu selbst) zu Recht erhoben oder nicht? Und können sie durch eigene Erkenntnis und Erfahrung eingeholt werden? ad 2� Es stellt sich die Frage, wie man solche Rang- und Wertunterschiede in der Bibel bzw� wie man dann die Einheit der Bibel einvernehmlich sollte feststellen können� Die Heraushebung eines „Kanons im Kanon“ der Schrift, also einer Grundintention, an der man alle Einzelteile und -aussagen der Schrift (und somit auch deren Wertigkeit) messen kann, scheint ja nicht ohne subjektive Willkür und Gewaltsamkeiten gegenüber den Texten möglich zu sein� Natürlich kann man Namen und Begriffe wie JHWH , den Gott Israels, Jesus Christus oder auch Gnade und Gericht, Bund und Erwählung, Sühne und Versöhnung, die Gottesherrschaft, Leben o� ä� als die „Mitte der Schrift“ bezeichnen, aber diese Bestimmungen sind zunächst sehr allgemein und wenig konkret� Versucht man jedoch eine Näherbestimmung, zeigen sich sofort die Schwierigkeiten: Welchen Stellenwert haben die Bundesformel oder der Sühnegedanke im Alten und die Rechtfertigungslehre im Neuen Testament (und umgekehrt)? Welche Bedeutung hat der Name Gottes („Ich bin, der ich bin“) für das Neue und die Christologie für das Alte Testament? „Ewiges Leben“ ist zwar Heilsziel im Neuen, spielt aber in weitesten Teilen des Alten Testaments überhaupt keine Rolle - und so weiter� 10 Weiterführend ist in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung, die Ludger Schwienhorst-Schönberger vorgeschlagen hat: in eine literaturwissenschaftlichsynchrone Bedeutung von „Mitte“ einerseits, die sich auf die „Sinnmitte einer Textsammlung“ bezieht, und eine theologisch-auktoriale Bedeutung andererseits, die in Gott als dem „Urheber“ der Schrift deren „Einheit“ findet� 11 Letztere 10 Eine Möglichkeit, was die „Auswahl“ aus dem AT angeht, wäre natürlich, sich dazu an der Rezeption durch das NT zu orientieren - so H� Hübner, Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum� Die Frage nach dem Kanon des Alten Testaments aus neutestamentlicher Sicht, JBTh 3 (1988), 147-162; ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Prolegomena, Göttingen 1990, 37-76. Das grundsätzliche Problem dieses Ansatzes (Vetus Testamentum in Novo receptum) wird man darin zu erblicken haben, dass der Einfluss des Alten auf das Neue Testament nicht einfach an den Zitaten abgelesen werden kann, sondern dass Sprache und Denken des Neuen Testaments insgesamt vom Alten Testament geprägt sind� Noch weniger kann umgekehrt die Bedeutung des Alten Testaments auf diejenigen Stellen reduziert werden, die im Neuen Testament rezipiert werden� Vielmehr muss das Gesamtzeugnis des hebräischen und des griechischen Alten Testaments neben und in Verbindung mit demjenigen des Neuen Testaments gewürdigt und berücksichtigt werden� 11 L� Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit� Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments? , in: F�-L� Hossfeld (Hg�), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg [u� a�] 2001, 48-87, hier: 55-59; 70; 79 f. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 181 182 Günter Röhser kann man mit Christoph Schwöbel auch „referentielle Einheit“ nennen, 12 weil sie sich auf eine hinter den Texten (und damit außerhalb der Texte) liegende (bzw� als solche angenommene) Größe bezieht� Vergleichbar ist auch Walther Zimmerlis Vorstellung von der Mitte der Schrift als „Fluchtpunkt“ der Texte, der zwar an ihnen abzulesen ist, sich aber gleichwohl hinter ihnen befindet� 13 Für die „Sinnmitte einer Textsammlung“ nenne ich als exemplarischen Vertreter Peter Stuhlmacher� 14 Für ihn hat das Neue Testament eine klare „Mitte“: Es ist das Zeugnis von der Versöhnung Gottes mit der Welt, die er durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi am Kreuz bewirkt hat� Und diese Mitte ist in jeder Hinsicht durch das Alte Testament vorbereitet und vorweggenommen: Die Stichworte „Gerechtigkeit“, „Sühne“, „Auferstehung“, „Gesetz“ und „Evangelium“ bezeichnen entscheidende, begrifflich fixierbare Traditionslinien vom Alten ins Neue Testament, die sich historisch-exegetisch aus den Texten erweisen lassen (überlieferungsbzw� begriffsgeschichtlicher Ansatz einer gesamtbiblischen Theologie)� 15 Für das theologisch-auktoriale Verständnis kann man den bereits genannten Brevard S� Childs anführen: Er hatte zwar die Suche nach einer „Mitte der Schrift“ im Biblical Theology Movement für gescheitert erklärt, plädierte aber gerade deshalb für ein neues Ernstnehmen des in der Kirche gültigen Kanons und seines inneren Zusammenhangs - mit der Begründung, Gott selbst in seiner Offenbarung sei der Hauptgegenstand und damit der angenommene außertextliche Bezugspunkt der biblischen Schriften und letztlich Urheber ihres Zusammenhangs� Dies gilt auch, wenn Childs letztlich die Realität Jesu Christi als diesen Hauptgegenstand und Bezugspunkt bestimmt: Damit ist dann keine 12 C� Schwöbel, Erwartungen an eine Theologie des Alten Testaments aus der Sicht der Systematischen Theologie, in: B� Janowski (Hg�), Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel� Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven (SBS 200), Stuttgart 2005, 159-185, hier: 167 f; 172; 179-181. 13 Siehe W� Zimmerli, Zum Problem der „Mitte des Alten Testamentes“, EvTh 35 (1975), 97-118, und dazu die Darstellung und positive Aufnahme bei C. Tietz, Kanon und Kirche, in: B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 99-119, hier: 108-110: Der Fluchtpunkt ist ein Geschehenszusammenhang (Gottes Zuwendung zu den Menschen)� 14 Von den in meinem Beitrag genannten (und vielen weiteren) Bibeltheologen finden sich repräsentative Originalbeiträge in dem Reader: C� Dohmen / T� Söding (Hg�), Eine Bibel - zwei Testamente� Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn [u� a�] 1995 (Stuhlmacher: 275-289; Childs: 29-34; Gese [s. u.]: 35-44; Hübner [s. o. Anm. 10]: 209-223). 15 Darstellung und Kritik der Position von Stuhlmacher bei M� Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons? Studien zu gesamtbiblischen Theologien der Gegenwart, Zürich 3 2001, 140-152; 191. Bekenntnis aussage („Jesus ist der Christus“) in Texten , sondern Jesus Christus als Heils person , als Gottes Offenbarung im Vollzug gemeint� 16 Childs zur Seite könnte man Hartmut Gese stellen: Er sieht in der Entwicklungsgeschichte des biblischen Kanons einen organischen Wachstumsprozess, ein Kontinuum, das mit „logischer“ Notwendigkeit vom (dadurch entstehenden) Alten Testament über das frühe Judentum auf das Neue Testament als Ziel zuläuft� Obwohl somit ein Vertreter des überlieferungs- und begriffsgeschichtlichen Ansatzes wie Stuhlmacher, stehen bei Gese nicht zentrale inhaltliche Aussagen der Bibel im Vordergrund des theologischen Interesses, sondern der Gang der Überlieferung selbst (den es historisch nachzuzeichnen gilt)� Denn dieser hat für ihn ontologische (d� h� Wirklichkeit setzende) und offenbarende Bedeutung, da Gott in ihm am Werk ist� Mit Childs verbindet diesen Ansatz, dass es bei der gesuchten Einheit der Schrift primär nicht um Begriffe oder Texte (schon gar nicht um eine an sie herangetragene oder herausgelesene „Mitte“), sondern letztlich um ein Geschehen von Gott her geht: Gott offenbart sich durch den Kanon bzw� die Kanonsgeschichte: in und durch den Traditionsprozess, in dem dieser sich ausbildet� Offenbarung ist, was in diesem Prozess zur Wirkung kommt und das Leben trägt� Einheit der Schrift wird also - und das gilt dann damals wie heute - in einem existenziellen Geschehen erfahren und kann nicht begrifflich-allgemeingültig dargestellt werden� 17 Von daher ist es letztlich auch nicht möglich, eine konsensfähige heutige Rangfolge biblischer Aussagen und Elemente aufzustellen� 4. Neuere kanontheologische Entwürfe Es gibt zwei neuere Entwürfe kanonischer Schriftauslegung, die in bemerkenswerter Weise von den genannten Typisierungen abweichen: 1� die sog� biblische Auslegung, wie sie etwa von Thomas Hieke vorgeschlagen worden ist� Nach ihm markiert der Kanon als „ literarischer Begriff “ „den ersten und privilegierten Kontext“, „in dem ein biblischer Text verstanden wird“� Vorher 16 Wichtigste Werke: B� S� Childs, Biblical Theology in Crisis, Philadelphia 1970; Biblical Theology of the Old and New Testaments� Theological Reflection on the Christian Bible, Minneapolis 1993; siehe auch: The Church’s Guide for Reading Paul� The Canonical Shaping of the Pauline Corpus, Grand Rapids [u� a�] 2008 (Childs’ letztes Werk, eine Art Vermächtnis des „canonical approach“)� - Darstellung und Kritik der Position von Childs bei Oeming, Das Alte Testament, 197-216; S. Krauter, Brevard S. Childs’ Programm einer Biblischen Theologie� Eine Untersuchung seiner systematisch-theologischen und methodologischen Fundamente, ZThK 96 (1999), 22-48. 17 Ein Problem von Geses Ansatz ist es, wie die Nachzeichnung einer Überlieferungs- und Offenbarungsgeschichte zu einer heutigen Anrede werden kann� - Darstellung und Kritik der Position von Gese bei Oeming, Das Alte Testament, 127-140 (siehe auch 25-29). Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 183 184 Günter Röhser muss allerdings eine Entscheidung getroffen sein, „welche Kanonausprägung, also welche ‚Bibel’, der Auslegung zugrunde liegt“ (hebräische, christliche, Luther-Bibel usw�)� Deswegen wird der Ansatz „biblische Auslegung“ genannt (der Begriff geht auf Hiekes Regensburger Lehrer Christoph Dohmen zurück)� „Die Sinnkonstituierung erfolgt … im Lektürevorgang, bei dem der Autor nicht anwesend ist und der Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen zusammen mit dem Text als fester Zeichenfolge und dem jeweiligen literarischen Kontext, in dem der Text überliefert ist, ein Verständnis des Textes aufbaut�“ Methodisch geht es „vor allem darum, die im Text selbst angelegten Strukturen und Strategien zur Leserlenkung aufzudecken, d� h� zu zeigen, welche Kriterien der Text selbst für eine angemessene und ‚ökonomische’ Lektüre aufstellt�“ 18 Gegenstand der Auslegung ist der gesamte neutestamentliche bzw� der gesamte biblische Text als eine literarische Einheit� Subjekte der Sinnkonstitution sind die Leserinnen und Leser, die sich dazu an Textsignalen, Strukturen oder Querverweisen im Text orientieren (die sich laut Hieke „besonders bei Übergängen und Endpositionen“ finden 19 )� Die biblische Auslegung achtet auf Sinneffekte, die sich allein aufgrund der Zusammenstellung der Texte im jeweiligen Kanon ergeben� Ihre Beobachtungen „notieren nicht Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deutlich auf der Ebene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen steht und der offen ist für ‚die gewaltige Synoptik der Bibel’“ (Martin Buber)� 20 So kann z� B� der Abschnitt Offb 22,6-21 als „Schlussstein der christlichen Bibel“ interpretiert werden 21 - allein aufgrund von dessen faktischer Endposition am Schluss des Kanons und ohne dass der Autor der Johannesoffenbarung oder ein Kompositor des Kanons je daran gedacht hätten� Ergebnis: Auch wenn die biblische Auslegung zunächst als literaturwissenschaftlich-synchroner Zugang im Sinne der obigen Typisierung erscheint, fragt sie doch nicht nach der Sinnmitte einer Textsammlung, sondern nach der Sinnkonstituierung durch die lesenden Subjekte� Wie der theologisch-auktoriale Ansatz führt sie aus dem Text heraus, allerdings nicht hinter den Text zu dessen auktorialem Bezugspunkt, sondern vor den Text zu dessen Rezipienten� Die Rezeption erfolgt nicht rein subjektiv, sondern wird durch die Strukturen und Signale des Textes gesteuert� Es gibt aber mehr als nur eine Sinnmöglichkeit eines Textes für die Lesenden� Ein einheitliches Verständnis der ganzen Bibel wird 18 Thomas Hieke, Neue Horizonte� Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, ZNT 12 (2003), 65-76, hier: 65 f. 19 Hieke, Neue Horizonte, 70� Er wählt dazu als Beispiel den „offenen Schluss“ der Apostelgeschichte (Apg 28,16-31). 20 Ebd� 21 Hieke, Neue Horizonte, 71 f� deshalb am Ende, wenn es gelingt, nur durch eine größere Interpretations- und Auslegungsgemeinschaft zu erreichen sein, die die verschiedenen Rezeptionen am Text überprüft und eingrenzt� 22 Fasst man diese Rezipienten allerdings mit Ulrich Körtner als „inspirierte“ Leser, 23 dann landet man am Ende wieder bei der theologisch-auktorialen Einheitskonzeption� Denn die Einheit stellt sich letztlich dann doch als ein Geschehen von (dem inspirierenden) Gott her dar� 2� die kanonische Lektüre im Anschluss an David Trobisch (s� o� 2�2): Bei ihr handelt es sich zunächst um ein streng historisch orientiertes Unternehmen: Sie fragt nach dem, was die damaligen Leser der Kanonischen Ausgabe im Sinne von deren Herausgeber verstehen sollten� Deswegen betrachtet sie die Strategien zur Leserlenkung auch nicht einfach (wie die biblische Auslegung) als durch die Zusammenstellung der Texte gegeben, sondern als durch die Hand des Herausgebers gezielt gesetzt und insofern rekonstruierbar� Dem entspricht es, wenn man auf die intra textuellen Verknüpfungen in der Kanonischen Ausgabe achtet, während die biblische Auslegung häufig - und zu Recht - auch als „kanonischinter textuelle Lektüre“ bezeichnet wird� Hierin kommt zutreffend zum Ausdruck, dass es sich bei der Kanonischen Ausgabe in noch viel höherem Maße um einen Entwurf aus einer Hand und um letztlich einen einzigen Text handelt als bei der (gesamt)biblischen Auslegung unterschiedlichster Einzeltexte, die einen Autor oder Herausgeber im literaturwissenschaftlichen Sinne gar nicht kennt� Matthias Klinghardt, der Trobischs Annahmen teilt und auch in diesem ZNT- Sonderheft zu Wort kommt, hat in einem Beitrag zum Dresdner SFB „Transzendenz und Gemeinsinn“ diese Konzeption theologisch weiterentwickelt� Er betont besonders die pseudonymen Autorenzuschreibungen sowie die (teilweise fingierten) intratextuellen Querverweise und Kohärenzsignale in der Kanonischen Ausgabe und sieht daraus (nach dem Willen des im Hintergrund bleibenden Herausgebers dieser Ausgabe) ein „Transzendenznarrativ“ entstehen, dessen Bedeutung er wie folgt bestimmt: Es „bildet das innere Strukturprinzip der Kanonischen Ausgabe und entspricht darin dem, was traditionell als ‚Kanon im Kanon’ bezeichnet wird: Eine Metanorm zur Steuerung des Verständnisses der Einzeltexte�“ Diese „Geschichte hinter der Geschichte“ wird „nicht direkt erzählt und unterscheidet sich darin von den Erzählungen der einzelnen Schriften� Gleichwohl besitzt diese Metaerzählung eine narrative Struktur, da ihre 22 Zur Rolle der Interpretations- und Auslegungsgemeinschaft(en) siehe Hieke, Neue Horizonte, 66; 73 f� 23 Siehe dazu die Darstellung bei R� Sohns, Verstehen als Zwiesprache� Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik (Religionspädagogische Kontexte und Konzepte 9), Münster [u. a.] 2003, 93-101. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 185 186 Günter Röhser einzelnen Elemente eine Geschehensfolge konstituieren: Sie ist nicht Narration, sondern Narrativ�“ 24 Die Wirkung dieses Narrativs beruht neben seiner hohen Kohärenz v� a� auf der „Selbstinvisibilisierung des Herausgebers“: „Die Leser selbst sind die Urheber der von ihnen entdeckten Zusammenhänge� Aus diesem Grund ist ihre Wahrnehmung frei, zwanglos und unmittelbar� Diese Unmittelbarkeit lässt den Lesern keinen Spielraum, sich bewusst zu diesem Hintergrundnarrativ zu verhalten, seinen Anspruch zu plausibilisieren oder ihn abzuweisen: Er ist ihnen unverfügbar� So beruht die Authentifikation der christlichen Bibel als ‚Wort Gottes’ … auf der Wirkung des Transzendenznarrativs …“� 25 Inhaltlich bietet dieses Narrativ nicht nur die (nicht spannungsfreie, aber am Ende harmonische) „Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel, sondern bindet diese in das umfassende Narrativ der Heilsgeschichte ein: Die entscheidende Leistung der Kanonischen Ausgabe war die Kombination von Altem und Neuem Testament zu einer Einheit�“ 26 Damit wird die zunächst nur formale Bestimmung von Transzendenz mit dem spezifisch christlichen „Narrativ der Heilsgeschichte“ verbunden� Und die Erfahrung von Unverfügbarkeit und unmittelbarer Evidenz (von Gott her) führt so zur Wahrnehmung kanonischer Einheit� Ich variiere im Folgenden bewusst diese Formulierungen und bezeichne das Narrativ als „die Geschichte und das Leben des Gottesvolkes“� Denn damit soll die Verlängerung des einheitlichen Verstehens der Schrift (aufgrund der Metanorm hinter den Texten ) in ihre einheitliche, in sich konsistente Applikation hinein (aufgrund des Situationsbezugs im Leben ) angezeigt sein: Der Existenzvollzug des Gottesvolkes (nach innen wie nach außen) und aller seiner Glieder scheint mir das treffendste und passendste Kriterium für diese Applikation zu sein� Wir nehmen also den Ansatz beim Heils geschehen statt bei den Texten aus den vorhergehenden Konzeptionen auf, nehmen es aber dezidiert von der Seite des Menschen und der „Anwendungssituation“ im Leben her in den Blick� Wir gehen gleichzeitig über den Schwerpunkt der biblischen Auslegung beim Verstehen statt bei der Anwendung der Texte 27 hinaus zur Applikation� Ungeachtet dessen, ob sich das Modell von Trobisch / Klinghardt forschungsgeschichtlich durchsetzen wird, hat es auf jeden Fall den Charme, dass es die Aufgabe kanonischer Schriftauslegung nicht nur fundamentaltheologisch zu begründen hilft, sondern sie v� a� auch historisch-kanongeschichtlich zu demons- 24 M� Klinghardt, Inspiration und Fälschung� Die Transzendenzkonstruktion der christlichen Bibel, in: H� Vorländer (Hg�), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin / Boston 2013, 331-355, hier: 347. 25 Klinghardt, Inspiration, 348 f� 26 Klinghardt, Inspiration, 351� 27 Hieke, Neue Horizonte, 74� - Diesen Schwerpunkt teilt Hieke mit Klinghardt� trieren und zu illustrieren vermag - ein seltener Fall von unmittelbarer Konvergenz theologischer Lehre von der Heiligen Schrift und historischer Forschung! Hinzu kommt: Das Modell verbindet die strikte Notwendigkeit einer einheitlichen, kanonischen Schriftauslegung mit der Offenheit und Unverfügbarkeit der jeweiligen Wahrnehmung und Aneignung� Denn zum einen bewirkt das Transzendenznarrativ eine Erfahrung von Einheit der Schrift auf der „referentiellen“ Ebene unmittelbaren Vollzugs und existenzieller Aneignung; zum anderen lässt es sich ebendeshalb nicht begrifflich fassen und stellt auch keinen bewussten Akt theologischer Interpretation dar, sondern es bedeutet den Nachvollzug einer zeitlich strukturierten Geschichte („Heilsgeschichte“, biblische Geschichte), der keinen jemals identischen Erzähltext hervorbringen wird� Der Ort, an dem dieser Nachvollzug geschieht, ist das Leben des Gottesvolkes und aller seiner Glieder in ihrem jeweiligen Situationsbezug� Folgende Schlussfolgerungen lassen sich aus der Betrachtung der verschiedenen Entwürfe kanonischer Schriftauslegung ziehen: 1� Erfahrung von Einheit der Schrift findet dort statt, wo es einen extratextuellen archimedischen Punkt gibt, von dem her sie möglich wird� In jedem Fall handelt es sich dabei um ein Geschehen oder einen Vollzug (Gottes Offenbarung, Rezeption als Leser, Transzendenzerfahrung durch das Narrativ)� Zugleich ergaben sich Hinweise, dass existenzielle Erfahrungen wie diese nicht ohne Berücksichtigung ihres geschichtlichen Ortes (Kanongeschichte, Geschichte des Gottesvolkes) und ihrer jeweiligen Rezeptions- oder Aneignungssituation im Blick auf die Schrift angemessen erfasst und beschrieben werden können� Dies entspricht aber wieder ganz dem oben dargestellten doppelten Zugang zur Frage der Kanonizität von der Seite der „Ausgangstradition“ (hier jedoch nicht der traditio scripta , sondern der zugrundeliegenden Offenbarungs- und Glaubensgeschichte) her und von der Seite der „Anwendungssituation“ her� 2� Der archimedische Punkt macht zugleich deutlich, dass es bei unserem Thema um mehr geht als um Schriftlichkeit oder Textlichkeit als solche� Diese ist für den Kanon notwendig, aber nicht als solche normativ� 28 Letztlich geht es (wie schon Luther wusste) nicht um die scriptura , sondern um die viva vox evangelii , 28 Vgl� D� Hiller, Die Spur des Textes� Eine narrativ-kritische Programmskizze biblischer Theologie, in: C� Landmesser / A� Klein (Hg�), Der Text der Bibel� Interpretation zwischen Geist und Methode, Neukirchen-Vluyn 2013, 81-98, hier: 82, die diesen Sachverhalt sogar an einer Unterscheidung zwischen der „Schrift“ und dem Text selbst festmachen kann: „Nicht der Text, sondern das, was im Text aufgeschrieben ist, wird geglaubt“ und ist somit normativ� Ferner H� Hübner, Kanon - Geschichte - Gott, ZNT 12 (2003), 3-17, hier: 8 f. (8: „Von ihrem Anfang her, ihrem Ur -Sprung her, ist die Kirche Kirche des Wortes , nicht aber Kirche der Schrift ! “)� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 187 188 Günter Röhser die auf unterschiedliche Arten laut und vernehmbar werden kann� Auch da, wo die Schriftlichkeit einen sehr hohen Stellenwert für das Gesamtkonzept hat (wie z� B� bei Hieke und Trobisch / Klinghardt für das verstehende Lesen), entsteht der gültige und in sich konsistente Sinn der kanonischen Texte erst durch die jeweilige Rezeption bzw� die jeweilige Aneignung durch die Leserinnen und Leser und liegt nicht schon in den Texten selber� 3� Wahrnehmung von Einheit in der Schrift - auf welcher Ebene auch immer - ist die Voraussetzung für deren Gültigkeit und Autorität in der Kirche� Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden noch einmal die vorhin (s� o� 3) formulierte Frage 2 nach der einheitlichen Gültigkeit der ganzen Bibel aufgegriffen werden� Erst von da aus wird dann die Frage nach der Allein gültigkeit der Bibel gestellt werden� 5. Die Frage nach der (Allein-)Verbindlichkeit der (ganzen) Schrift in der Kirche Eine Anerkennung der gleichrangigen Gültigkeit aller Teile und Texte des Kanons (also ihrer „Kanonizität“ in einem unspezifischen, formalen Sinne) ist nur dann möglich, wenn wir gleichzeitig davon ausgehen und den Umstand anerkennen, dass alle diese „kanonischen“ Elemente und Äußerungen ursprünglich nicht direkt und unmittelbar an uns Heutige gerichtet sind, nicht primär uns Heutigen gelten, sondern zunächst einmal vergangen sind und eine antike Rezeptionssituation widerspiegeln� Das ist eine Absage an jeglichen fundamentalistischen Missbrauch von Schriftautorität, schließt aber im Umkehrschluss ein, dass alle Aussagen der Schrift jene unmittelbare Autorität einmal besessen haben - sonst stünden sie nicht in der Bibel - und auch prinzipiell wiedergewinnen können (zum Teil besitzen sie sie ja oder haben sie nie verloren)� Wie jedoch erforderlichenfalls Aussagen der Schrift (auch vermeintlich oder tatsächlich grundlegende) in die Gegenwart vermittelt werden können, bedarf allerdings in jedem Einzelfall der gesonderten Reflexion und kann nicht vorab durch eine „vereinheitlichende“ Lektüre der Schrift erledigt werden (keine „Mitte der Schrift“ im literaturwissenschaftlichen Sinn! )� Das schließt die Möglichkeit ein, dass einige Aussagen - zumindest derzeit - überhaupt nicht vermittelt werden können� Was und wie es Autorität gewinnen und verbindlich sein soll, muss jeweils in einem Prozess der hermeneutischen Urteilsbildung herausgefunden und festgelegt werden� Versucht man diesen Prozess zu systematisieren, so enthält er zunächst - wenig überraschend - zwei Faktoren: 1� den biblischen Text; 2� die heutige Situation� Ad 1� Hier hat die historische Exegese ihre unverzichtbare Funktion� Und zwar hat sie sich nicht nur mit den unteren Hierarchiestufen des biblischen Textes zu beschäftigen (allgemeine theologische Aussagen, Zusammenhänge innerhalb und zwischen den Kanonteilen und kanonischer Gesamtzusammenhang), sondern gerade auch mit den oberen und obersten, wo es um die einzelnen Schriften und Texte in ihrem Eigenprofil sowie die Intentionen ihrer Verfasser geht und ihr unverwechselbarer Beitrag im und zum Kanon erkannt und zur Geltung gebracht werden soll� Ich entlehne dieses Modell aus der Hermeneutik Klaus Bergers, nach dem solche „hierarchische Differenzierung Möglichkeiten abgestufter Bindung und Freiheit“ gegenüber den kanonischen Texten gewährt� „Die Voraussetzung ist, daß sich auf exegetischem Wege zentrale und weniger zentrale Aussagen eines Textes scheiden lassen�“ 29 Damit ist übrigens noch nicht entschieden, welche Möglichkeiten der Abstufung (innerhalb eines Textes und zwischen verschiedenen Texten) man im konkreten Verbindlichkeitsfall nutzt - nur, dass es überhaupt solche Möglichkeiten gibt! - Auch hier bringt die kanonische Lektüre nach Trobisch / Klinghardt eine interessante neue Perspektive ein; denn nach ihr stellte das Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe die oberste Rangstufe im Sinne Bergers dar, da es sich dabei um „das konkreteste, direkte Anliegen“ 30 und unmittelbare Ziel ihrer Veröffentlichung handelt� Einen Gegenstand der Exegese (und nicht nur der Kanongeschichte und der Fundamentaltheologie) stellt das Transzendenznarrativ insofern dar, als es sich an den Texten und ihren Querverbindungen ablesen und als Metaerzählung darstellen lässt� Ad 2� Die Situation muss mit derselben Sorgfalt „exegesiert“ werden wie der biblische Text, weil sie darüber entscheidet (und damit legen wir nun endgültig den Schwerpunkt in der Frage nach der Verbindlichkeit der Schrift auf den Zugang von der Seite der Situation her; s� o�), welcher (Teil-)Text auf welche Weise überhaupt zur Erhellung und Bearbeitung der Situation herangezogen werden kann und soll� Dazu ist einerseits Sachkenntnis in den Herausforderungen durch die Situation vonnöten und andererseits eine Berücksichtigung der möglichen 29 K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988, 229-236, hier: 232. Der ganze Abschnitt (§ 15 Die Hierarchie der Textfunktionen) ist leider in der Neubearbeitung des Buches (ders�, Hermeneutik des Neuen Testaments [UTB 2035], Tübingen / Basel 1999) komplett entfallen� 30 Berger, Hermeneutik, 233� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 189 190 Günter Röhser Auswirkungen und - eng damit verbunden - eine Einschätzung der möglichen Akzeptanz des Textes in der Situation� Diese In-Beziehung-Setzung von Text und Situation geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ihr Ort ist die Kirche und das kirchliche Glaubensbewusstsein (was nicht heißt, dass dieses nicht auch sehr fragil und verunsichert sein kann)� In zahllosen Fällen geschieht die Verbindung im Leben der Gläubigen ganz von selbst und ohne große hermeneutische Reflexion� Wo aber das Leben und der Existenzvollzug des Gottesvolkes nachhaltig „gestört“ ist (zu diesem Kriterium s� o� vor Anm� 27), werden Fachleute (ExegetInnen für den Text und Sachverständige für die Situation) herangezogen und um Analysen gebeten� Wichtig ist, dass diese Analysen den Charakter von ernst zu nehmenden Beiträgen haben und auch konkrete Vorschläge für die Urteilsbildung (Glaubenssätze, ethische Normen, Verhaltensänderungen) beinhalten können� Die Entscheidung über die Verbindlichkeit wird aber nicht von den Fachleuten (auch nicht denen aus der Theologie und Exegese), sondern im Gesprächsprozess der Kirche getroffen, an dem grundsätzlich die einzelnen Gemeinden und alle Christen, die Synoden, die Kirchenleitungen und die Theologischen Fakultäten beteiligt sind (dies steht in der Evangelischen Kirche an der Stelle des römisch-katholischen Lehramts)� Die Einbeziehung der Genannten erfolgt nach der Reichweite der Entscheidung� Im Fall des Gelingens kommt es zu einer einheitlichen Auslegung der Schrift im konkreten Fall durch die Gemeinde und im Lebensvollzug der Kirche von begrenzter Reichweite, was den Erstreckungsradius betrifft (in der Regel nicht die Weltchristenheit), und von begrenzter Dauer, was die „Haltbarkeit“ der Entscheidung betrifft - die also immer wieder einmal überprüft werden muss (je konkreter die Applikation, desto häufiger)� Gegebenenfalls kann die Entscheidung auch von den zuständigen kirchlichen Organen formal verbindlich gemacht, kodifiziert oder publiziert werden� Die Herausstellung der Rolle „der Kirche“ und ihres „gelingenden Lebensvollzugs“ als Kriterium der Applikation richtet sich gegen die These, die Konstitution von existenziellem Sinn und verbindlicher Erkenntnis sei letztlich der gläubigen bzw� religiösen Subjektivität zu überlassen (und auch nur für sie gültig)� Man könnte sich dafür unter Umständen sogar auf das protestantische Gewissen berufen, das für den Einzelnen die einzige Verbindlichkeit darstelle� 31 Dieser Position möchte ich mich nicht anschließen - zu oft wurde das protestantische Gewissen mit seinen Entscheidungen allein gelassen� Auf Luthers gläubiges und der Wahrheit des Evangeliums verpflichtetes Ich („Hier stehe 31 Vgl� kürzlich das leidenschaftliche Plädoyer von K� R� Ziegert, Die EKD und das neue Mittelalter� Über die Widersprüche im kirchlichen Reformationsgedenken, DtPfrBl 116 (2016) 7, 383-389. ich …“) kann man sich dafür ganz bestimmt nicht berufen� Auch der evangelische Christ - erst recht, wenn er ein Pfarr- oder Lehramt wahrnimmt - hat sich mit den öffentlichen Äußerungen seiner Kirche und ihrer Organe sorgfältig zu befassen und konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen� Er darf die Lehre seiner Kirche nicht ignorieren und sich nur im Einzelfall und dann mit sehr guten Gründen davon distanzieren� 32 Die jeweils aktuelle Applikation der Schrift ist darin eingeschlossen� Es stellt sich also heraus, dass die Schrift ihre jeweilige Autorität und Verbindlichkeit immer nur von einer bestimmten Interpretation her gewinnt, über die man sich in der Kirche immer wieder verständigen muss und die sich z� B� in Bekenntnisschriften, theologischen Erklärungen, Denkschriften oder Synodalerklärungen niederschlägt und in ihnen zum Ausdruck kommt� Und diese beinhalten immer auch Auswahlentscheidungen und Schwerpunktsetzungen („Hierarchisierungen“) oder auch neue inhaltliche Verknüpfungen mit und innerhalb der Schrift (also tatsächlich so etwas wie „kirchliche Tradition“ neben der Schrift)� Insofern entsteht verbindliche Erkenntnis und Praxis immer aus beidem: aus der singulären und unveränderlichen Vorgabe der Schrift (Kanon) und der jeweiligen Herausforderungssituation, in der die Schrift zur aktuellen und einheitlichen Anwendung kommen soll� Erst aus der Korrelation dieser beiden Pole entsteht Verbindlichkeit, Normativität, ja man kann sogar sagen: Kanonizität (im engeren, eigentlichen Sinne)� Der schriftliche Kanon ist somit nicht die einzige Quelle für Glauben, existenziellen Sinn und verbindliche Lebensführung in der Kirche; konstitutiv ist vielmehr auch die jeweilige Erschließungs- und Rezeptionssituation� 33 In der Sache entspricht dies durchaus dem „kanonischen Prozess“, wie ihn James A� Sanders in einem weiten Sinne im Rahmen seines „canonical criticism“ verstanden hat: nämlich als „jenen Vorgang, in dem die Tradition durch Relektüre und Resignifikation immer neu ihre identitätsstiftende Kraft für die Glaubensgemeinschaft(en) erweist� Dabei gewinnt die Tradition einerseits an Stabilität, andererseits aber bleibt sie kraft ihrer Multivalenz und Pluriformität offen, per ‚dynamic analogy’ an neue Lebenssituationen angepaßt“ - und ich füge hinzu: und auch verändert - „zu werden�“ Dieser Vorgang ist bis heute 32 Man kann sich dafür auch nicht auf die in K� Bergers Hermeneutik so wichtige „kritische Minorität“ in der Kirche berufen (Berger, Hermeneutik, 75-92). Denn diese ist gerade darauf ausgerichtet, Mehrheiten für verbindliche Praxis der Kirche zu gewinnen� 33 Dieser Ansatz wurde umfassend begründet und als vollständige Dogmatik ausgeführt von G. Siegwalt, Dogmatique pour la catholicité évangélique, Paris / Genf 1986-2007; siehe die kompakte Darstellung: ders�, Das Schriftprinzip auf dem Prüfstand unserer Zeit� Versuch einer systematischen Rechenschaft, DtPfrBl 114 (2014) 2, 68-72 (unter Bezugnahme auf P� Tillichs „Methode der Korrelation“)� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 191 192 Günter Röhser nicht abgeschlossen, erfordert nur seit der formalen Kanonisierung als der relativen „Stabilisierung des Kanonumfangs und des Textes neue Formen der Hermeneutik“� 34 Ich formuliere als abschließende These: Es sind letztlich nicht bestimmte formale Voraussetzungen oder inhaltliche Merkmale, die einen Text im engeren Sinne „kanonisch machen“, sondern es ist eine bestimmte Interpretation desselben, die sich im Leben des Gottesvolkes bewährt� „Bewährung“ ist hier nichts Statisches, sondern bedeutet Hilfe und Anstoß zu heilsamer Veränderung (s� o� 3 ad 1)� Es kommt darauf an, die „Störung“ (Leiden und Defizite jeglicher Art) im Existenzvollzug des Gottesvolkes zu beheben� Was also heißt sola scriptura in diesem Zusammenhang einer hermeneutischen Urteilsbildung und Interpretationsaufgabe? Es bedeutet zwar nicht, dass es überhaupt eine Schriftinterpretation jenseits der Auslegungssituation gäbe (insofern kein sola ), aber es bedeutet sehr wohl, in dieser Situation als einzige vorgegebene Instanz jeweils immer nur die Schrift zu befragen und nur aus der Beschäftigung mit ihr neue und hilfreiche Aspekte für die Bearbeitung der Herausforderungssituation zu erwarten und zu gewinnen� 35 Eine gleichrangige Berücksichtigung aller späteren kirchlichen Tradition ist damit zugleich abgewiesen� Eine nachrangige, die Vorgabe der Schrift respektierende Orientierungsfunktion solcher Tradition (z� B� Bekenntnisschriften, Konzilsentscheidungen) ist damit jedoch nicht ausgeschlossen� Es handelt sich bei ihr sozusagen um exemplarische Ergebnisse der Schriftauslegung in bestimmten (Schlüssel-)Situationen� Damit sind wir bei unserem letzten Punkt: der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition� 6. Schrift und Tradition Die Diskussion über „Schrift und Tradition“ hat im 20� Jhdt� eine interessante Modifikation erfahren und zu einer ökumenischen Annäherung geführt� Die evangelische Theologie kann heute nicht mehr wie früher eine strikte Unterscheidung, ja Entgegensetzung der beiden Größen behaupten, da die historische Forschung das partielle Recht der katholischen Sichtweise gezeigt hat: Die Schrift ist selbst ein Teil der kirchlichen Traditionsbildung und tatsächlich inner- 34 So das Referat der Position von Sanders durch J� Barthel, Die kanonhermeneutische Debatte seit Gerhard von Rad� Anmerkungen zu neueren Entwürfen, in: B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 1-26, hier: 11 f. 35 Es gilt aber auch das Umgekehrte: Aus der Beschäftigung mit der Herausforderungssituation können sich neue und hilfreiche Aspekte des biblischen Textes ergeben� halb der Kirche entstanden und kanonisiert worden - wenn auch durchaus nicht eigenmächtig durch die Kirche oder ihre Theologen, sondern in Anerkennung der von der Schrift selbst bzw� den einzelnen Autoren erhobenen Autoritäts- und Wahrheitsansprüche (z� B� 1Thess 2,13; 1Tim 2,7) 36 und in Aufnahme einer bereits vorhandenen faktischen Durchsetzungskraft� Und auch der hypothetische Herausgeber der Kanonischen Ausgabe nach Trobisch / Klinghardt veranstaltet seine Edition nicht im luftleeren Raum, sondern als Teil der kirchlichen Traditionsbildung (sonst wäre er nicht so erfolgreich gewesen)� Auf der anderen Seite vermied das 2� Vatikanische Konzil in seiner „Konstitution über die göttliche Offenbarung“ bewusst eine Wiederholung der Rede von Schrift und Tradition als zwei koordinierten Offenbarungsquellen und betonte stattdessen Christus selbst als die eine Quelle der Offenbarung sowie die fundamentale Bedeutung der Schrift� 37 Aus meinen obigen Darlegungen ergibt sich jedoch ein anderer Vorschlag für eine Neubestimmung des Verhältnisses: 38 Man kann die beschriebene Korrelation von Text und Situation selbst bzw� deren Ergebnisse als kirchliche Tradition bestimmen, die in gewissem Sinne neben die Schrift tritt und diese zeitgenössisch interpretiert� Damit gewinnt man a) durch die Berücksichtigung der Situation die nötige Freiheit, um auch stark von der Bibel abweichende Erscheinungen oder Entwicklungen im Leben des Gottesvolkes ggf� positiv würdigen zu können, b) durch die jeweilige Verbindung mit der Schrift die Möglichkeit, ihnen ggf� eine abgeleitete Orientierungsfunktion zusprechen zu können� Für unsere Ausgangsfragestellung bedeutet das: Wenn schon neben die Schrift die Situation als „Autorität“ und Quelle der Verbindlichkeit tritt, die für die Artikulation und Praxis derselben konstitutiv ist, dann wird man diesem Ergebnis eine abgeleitete „Autorität“ nicht absprechen können, zumal wenn es sich um eine Herausforderungssituation von nicht nur punktueller, sondern längerfristiger und grundsätzlicher Bedeutung handelt (wie im Falle von Kon- 36 Vgl� dazu: H�-J� Eckstein, Die implizite Kanonhermeneutik des Neuen Testaments, in: Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik, 47-68; F. W. Horn, Wollte Paulus ‚kanonisch’ wirken? , in: E�-M� Becker / S� Scholz (Hg�), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion� Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart� Ein Handbuch, Berlin / Boston 2012, 400-422. 37 Siehe weiter im Konzilsdokument „Dei Verbum“ und dazu: C� Dohmen / M� Oeming, Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg [u� a�] 1992, 108-110. 38 Anregungen bei J� Nissen, Scripture and Community in Dialogue� Hermeneutical Reflections on the Authority of the Bible, in: J�-M� Auwers / H� J� de Jonge (Hg�), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 651-658; vgl. ferner D. Ritschl, A Plea for the Maxim: Scripture and Tradition� Reflections on Hope as a Permission to Remember, in: ders�, Konzepte: Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 97-110. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 193 194 Günter Röhser zils- oder Synodalentscheidungen)� Insofern erfährt das sola scriptura im herkömmlichen Verständnis eine doppelte Modifikation: sowohl im Hinblick auf die Bedeutung der Situation als auch - davon abgeleitet - im Hinblick auf die Rolle der Tradition� Dass das Schriftprinzip dadurch aufgehoben würde, wird man nicht sagen können: Die Schrift behält eine unersetzliche kritische Funktion, da sie allen anderen Autoritäten voraus ist und im Gegensatz zu Situation und Tradition sich niemals ändert� 7. Fazit Wir stehen am Ende unseres Gedankengangs: Die (Gesamt-)Biblische und die Kanonische Theologie haben uns auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Schriftauslegung aufmerksam gemacht, wenn die Autorität der Schrift gelten soll� Man kann nicht spannungsvoll gegensätzlichen Inhalten gleichzeitig Verbindlichkeit zusprechen� Aufgrund der Entstehung und der spannungsvollen Inhalte des Kanons lässt sich diese Einheit aber nicht ohne weiteres darstellen� Am ehesten gelingt dies noch im Falle der Kanonischen Ausgabe im Sinne von Trobisch / Klinghardt, da sich deren Metanorm (das Transzendenznarrativ der Heilsgeschichte) an den Texten ablesen lässt, wenn es auch nicht direkt in ihnen enthalten ist� In jedem Falle muss man für eine Erfassung und Beschreibung der Einheit einen Bezugspunkt hinter den Texten suchen - welcher selbst kein geschriebener Text sein kann (vorzugsweise ein Geschehen)� Die Fragen von Autorität und Einheit der Schrift haben uns weiterhin auf die Bedeutung der Situation für die Gewinnung einer verbindlichen, konkreten und in diesem Sinne „einheitlichen“ Auslegung und Anwendung der Schrift aufmerksam gemacht� Die Autorität der Schrift kann nicht gelten ohne ihre Bewährung im Leben des Gottesvolkes� Und in dessen Lebenswirklichkeit spielen neben der Schrift eben auch bestimmte Traditionen, die sich bewährt haben, eine wichtige Rolle� Auch in den protestantischen Kirchen herrscht kein reines Schriftprinzip, sondern immer nur die perspektivisch interpretierte und situativ ausgelegte, manchmal auch missverstandene Schrift - insofern also „Tradition“� Über die Dauerhaftigkeit dieser Tradition ist damit natürlich - bei wechselnden und sich verändernden Situationen und Lebenswirklichkeiten - nicht entschieden� In jedem Fall bleibt das Schriftprinzip, was es immer war: eine Einweisung in den Disput und eine Herausforderung für Theologie und Hermeneutik�