ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2039-40
Dronsch Strecker VogelVom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift
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Peter Wick
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift Peter Wick 1. Probleme mit dem „sola scriptura“? Das reformatorische „sola scriptura“ könnte ein Leitstern für Kirche und Theologie in der heutigen Schrift vergessenen Zeit sein� Als Lehrsatz oder Prinzip hat es jedoch seine Begrenzungen� Was bedeutet es, wenn ein Prinzip in sich den Anspruch „allein“ trägt und begrenzt ist? In der Bibel erscheint es nicht in einer solchen Formel� Wie spricht die Schrift über den angemessenen Schriftgebrauch? Es wird sich zeigen, dass die Rede vom Vorrang der Schrift oder vom „Prä“ der Schrift der Schrift selbst angemessener ist� Selbstverständlich soll der Ruf zum „sola scriptura“ weiterhin hochgehalten werden, doch der bescheidenere, aber zugleich auch praktikablere Anspruch vom „Prä“ der Schrift könnte in der heutigen Zeit eine größere Wirkung entfalten� In diesem Beitrag soll zuerst das Neue Testament unter einem Gesichtspunkt nach der Bedeutung der Heiligen Schriften befragt werden� Alle Autoren des Neuen Testaments erkennen die Heiligen Schriften des Judentums an� Sie erkennen sie als heilig an� Heilig bedeutet, dass sie dem (All-)Gemeinen entzogen sind� Sie werden nicht als Teil der übrigen Schriften der Menschheit betrachtet, sondern bleiben von diesen getrennt und unterscheidbar� Diese Voraussetzung teilen alle Verfasser der neutestamentlichen Schriften mit dem Judentum� Die Verfasser des Neuen Testaments betrachten die Tora und den Kanon der Hebräischen Bibel beziehungsweise der Septuaginta, auch wenn seine Grenzen noch nicht exakt festgelegt sind, als vorgegeben� Diese Autoren sind durch Jesus Christus zu einem neuen Welt- und Lebensverständnis gekommen� Dieser Weltdeutung ordnen sie in ihren Schriften immer wieder eine neue Schriftdeutung 214 Peter Wick bei� Sie deuten die Heilige Schrift auf für sie neue Weisen und damit auch das Leben und die Welt anders als früher� Jesus Christus und die Heilige Schrift sind zwei Größen, nicht eine� Deshalb stehen schon die zwei „soli“ der Reformation, nämlich das „sola scriptura“ und das „solus Christus“ logisch gesehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander� Nur ein „allein“ kann wirklich „allein“ sein� Zwei „allein“ heben streng logisch jeweils ihr eigenes Alleinsein und das des anderen auf� Allerdings waren diese „soli“ nie dafür bestimmt, solch einer Logik unterworfen zu werden, sondern sie sollen zwei unverzichtbare Perspektiven auf den Zugang zum Heil sprachlich fassen, die mit den anderen zwei „soli“ - „sola fide“ und „sola gratia“ - insgesamt vier Aspekte des einen und einzigen Zugangs zum Heil ausdrücken� Alle diese „allein“-Formulierungen sind eng aufeinander bezogen� Sie sind relationale Formulierungen� „Sola scriptura“ bekennt somit keinen Monismus, sondern eine Relation� Doch eine Relation in diesem Sinne enthält auch eine Relativierung des „Allein-Anspruchs“� Das Neue Testament verzichtet auf die paradoxe Formulierung eines relationalen „Alleins“ und somit auf ein „sola scriptura“-Bekenntnis� Jesus Christus, die Hebräische Bibel, das Heil, der Glaube, die neue Schau der Welt und eine erneuerte Ethik stehen in unauflöslicher Beziehungsvielfalt und Beziehungsdichte zueinander� 2. Das „Prä“ der Schrift in der Schrift Drei der Evangelien fangen wörtlich mit der Heiligen Schrift an� Sie vertreten explizit kein „sola scriptura“ sondern ein „Prä“ der Schrift� Das Markusevangelium setzt mit dem Wort Anfang seinen eigenen Anfang� Damit spielt es auf den Anfang der Tora an, welche mit „im Anfang“ ( en archē ; Gen 1,1) beginnt� Dieser Anspielung auf die Genesis folgt unmittelbar ein expliziter Rückgriff auf die Bibel: „1 Anfang des Evangeliums ( archē tou euaggeliou ) von Jesus Christus [, vom Sohn Gottes], 2 wie geschrieben steht im Propheten Jesaja, siehe ich sende meinen Boten vor dir her, 4 so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf …“ Der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus beginnt, wie geschrieben steht mit einem Mischzitat aus Jesaja 40,3, Exodus 23,20 und Maleachi 3,1� Eine eigene Sinnwelt des Anfangs wird generiert: Tora und Propheten kommen zusammen, um das Evangelium anzuschieben� „Wie geschrieben steht, … so trat Johannes der Täufer auf “� 1 Mit gut bezeugten Lesarten ist sogar folgende Über- 1 In diese Richtung geht die Einheitsübersetzung: „Es begann, wie es bei dem Propheten Jesaja steht … So trat Johannes der Täufer in der Wüste auf …“ (Mk 1,2-4). Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 215 setzung möglich: „Wie geschrieben steht, … so wurde Johannes in der Wüste ein Taufender“� Auf diese Weise erzählt der Verfasser des Markusevangeliums, dass das Evangelium von Jesus Christus damit beginnt, dass sich Tora und Propheten erfüllen, beziehungsweise, dass Tora und Propheten selbst den Anfang des Evangeliums hervorrufen� Sowohl der Aufbau des Markusevangeliums als auch seine Semantik zeigen, wie die Heilige Schrift den Anfang des Evangeliums bildet� Wenn im Markusevangelium bereits nach fünf oder nach anderer Lesart nach sieben Wörtern das Schriftzitat eingeleitet wird, so beginnt das Matthäusevangelium noch expliziter mit Worten aus der Tora: biblos geneseōs Iēsou Christou hyiou David hyiou Abraam � (Mt 1,1) „Buch der Entstehung von Jesus Christus, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams�“ Dieser Anfang nimmt den Anfang des zweiten Schöpfungsberichtes in der Septuaginta wörtlich auf: hautē hē biblos geneseōs ouranou kai gēs � (Gen 2, 4) „Dies ist das Buch der Entstehung von Himmel und Erde�“ Mit der Wendung „Buch der Entstehung“ wird das Matthäusevangelium mit der Schöpfung in der Genesis verbunden, um dann Jesus mit dem aus Abraham „wachsenden“ Stammbaum (Mt 1,1-17) in der ganzen Heilsgeschichte der Bibel zu verwurzeln� Der Autor des Matthäusevangeliums zeigt, dass der Anfang seines Evangeliums außerhalb seines Textes in der Tora, den Propheten und den Schriften liegt� Das Johannesevangelium beginnt mit den beiden selben Wörtern wie die Tora in der Übersetzung der Septuaginta� „Im Anfang ( en archē ) war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ ( Joh 1,1)� Daraufhin schafft Gott in der Tora Himmel und Erde durch sein Wort: „Und Gott sprach, es werde Licht …“ Das vierte Evangelium setzt diese beiden Wörter an seinen Anfang und verbindet diese explizit mit dem Wort Gottes: Im Anfang war das Wort Gottes� Prof. Dr. Peter Wick (geboren 1965 in Basel, verheiratet, vier Kinder, wohnhaft in Hattingen an der Ruhr) studierte Evangelische Theologie in Basel und Fribourg� Promotion 1993 in Basel über Form und Inhalt des Philipperbriefes. 1994-1995 Studienaufenthalt in Jerusalem. 1999 Habilitation über die Entstehung der urchristlichen Gottesdienste im jüdischen Kontext in Basel. 2000-2003 Assistenzprofessor für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte an der Universität Basel� Seit 2003 auf dem Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments / Geschichte des Urchristentums an der Ruhr-Universität Bochum (D)� Seit 2008 im Vorstand des Käte-Hamburger Kollegs „Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa“� 216 Peter Wick Durch das An-Zitieren und eine Anspielung auf die Heilige Schrift wird so die Heilige Schrift und das Wort Gottes explizit an den Anfang gestellt� Auch andere Schriften des Neuen Testaments setzen die Heiligen Schriften an ihren Anfang� In seinem langen Brief an die Gemeinde in Rom entfaltet Paulus die Grundlage seines von ihm verkündigten Evangeliums� Gleich zu Beginn verankert er das „Evangelium Gottes“ (Röm 1,1) in den Verheißungen der Propheten in den Heiligen Schriften (Plural! Röm 1,2)� Weitere Schriften des Neuen Testaments tun dasselbe� So beginnt der Brief an die Hebräer mit dem Reden Gottes durch die Propheten in der Vergangenheit (Hebr 1,1)� Der Jakobusbrief spricht mit seinen ersten Worten wenigstens assoziativ die Geschichte Gottes mit seinem Volk in der Bibel an, wenn er seine Leser als die zwölf Stämme in der Diaspora anspricht� 2 Selbstverständlich bezeugen auch die anderen Schriften des Neuen Testaments, dass die Heiligen Schriften Voraussetzung für sie sind und eine Vorrangstellung haben� Sie argumentieren, dass sich in ihren Berichten und Argumenten die Schrift erfüllt und dass ihre Argumente schriftgemäß sind� Doch die Verfasser der oben genannten Schriften des Neuen Testaments steigern diesen „Vor-Rang“ nochmals, indem sie die Heiligen Schriften an den Anfang ihrer eigenen Schrift stellen� Das Neue Testament bezeugt auf diese Weise eindrücklich und eindringlich das „Prä“ der Schrift� 3. Das „Prä“ des Gebets in der Schrift Wenn die neutestamentlichen Schriften nicht mit ihrer Bibel anfangen, dann gibt es für sie - von wenigen kleinen Ausnahmen abgesehen - eine einzige Alternative: Sie beginnen mit einem Gebet� Beinahe alle Schreiben der paulinischen Briefliteratur, ob sie nun Paulus direkt oder Schülern von ihm zugeschrieben werden, beginnen mit Formen des Gebets� Paulus entwickelt sein Gebetsformat am Briefanfang schon in seinem frühsten Brief (1Thess)� Er hält sich an die epistolographischen Formalien des Präskripts und der brieflichen Danksagung� Letztere nutzt er, um gleich nach der Nennung der Verfasser und Absender, der Empfänger und des Segensgrußes, mit einem Gebet zu beginnen� Er richtet seinen Dank an Gott (1Thess 1,2-10). In 1Kor 1,4 f., Eph 1,15 f., Phil 1,3-8, Kol 1,3-6, 2Thess 1,3-10, 2Tim 1,3 und Phlm 4 f. eröffnet ebenfalls ein Dank an Gott an dieser Stelle den Brief. Auch im Römerbrief folgt auf das überlange Präskript (Röm 1,1-7), in dem zuerst an die Heiligen Schriften angeknüpft wird, das Dankgebet am für die 2 In 1Joh 1 ist Jesus Christus zum vorausgehenden Wort des Lebens geworden, das der Verfasser gleich mit dem Briefanfang bezeugt (1Joh 1,1), und der Titusbrief beginnt mit einem Bezug auf das bereits durch die Predigt verkündete, offenbarte Wort Gottes� Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 217 briefliche Danksagung vorgesehenen Ort (Röm 1,8)� In diesem Dank erwähnt Paulus oft seine regelmäßige Gebetspraxis (Röm 1,10; Eph 1,16 f�; Phil 1,3 f�; Kol 1,3�9; 1Thess 1,2 f�; 2Thess 2,3; 2Tim 1,3; Phlm 4)� Neben seinem Dankgebet erwähnt er hier auch mitunter sein Flehen� Öfters mündet der Dank in ein Fürbittengebet (Eph 1,17-19; Phil 1,9-11; 2Thess 1,11-12; Phlm 6). Dank und Fürbitte münden im Philipperbrief in eine Doxologie (Phil 1,11)� Im Kolosserbrief schließt an den Dank und die Fürbitte sogar eine ausführliche hymnische Doxologie an (Kol 1,12-20). In 2Thess 1,12 erscheint die Doxa als Ziel von Dank und Fürbitte. Der Galaterbrief beginnt weder mit Dank noch mit Fürbitte, doch das Präskript endet in einer Doxologie (Gal 1,5)� Der zweite Brief an die Korinther beginnt anstelle der brieflichen Danksagung mit einer Eulogie (Lobpreis Gottes; 2Kor 1,3 f�) und der Epheserbrief stellt dem Dank und der Fürbitte eine längere Eulogie voraus� Paulus beginnt seine Schriften wie gezeigt in der Regel mit einem Gebet� Ein Blick auf die übrigen Schriften des Neuen Testaments zeigt, dass auch der erste Petrusbrief mit einer Eulogie beginnt (1Petr 1,3-5) und zum Auftakt der Offenbarung des Johannes ebenfalls eine Doxologie gehört (Offb 1,5 f�)� Nur der erste Timotheusbrief, der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Johannesbrief und der Judasbrief wählen weder die Schrift noch das Gebet als Anfang� Welchen Weg beschreitet in dieser Hinsicht der Auctor ad Theophilum ? Nach kurzer Einführung eröffnet er sein Evangelium mit einer Geschichte, in der das gemeinsame Gebet eine grundlegende Rolle spielt� Der Priester Zacharias bringt im Tempel das Weihrauchopfer dar� Parallel dazu betet „die ganze Menge des Volkes“ draußen� Der zu Gott aufsteigende Weihrauch und die an Gott gerichteten Gebete des Volkes sollen sich nach einer in verschiedenen Religionen weitverbreiteten Vorstellung miteinander verbinden� Der Weihrauch kann - wenigstens in der Volksfrömmigkeit - als Vehikel für die Gebete, die zu Gott aufsteigen sollen, verstanden werden� Der Priester übt beim Räuchern eine Mittlerrolle 3 zwischen Gott und dem Volk aus� Ein Engel erscheint Zacharias im Tempel und spricht ihn auf sein Gebet an: „Fürchte dich nicht, Zacharias, denn dein Flehen ist erhört worden“ (Lk 1,13)� Mit dem Bericht von der Himmelfahrt überlappen sich das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte� Der Auferstandene verheißt ihnen den Heiligen Geist (Apg 1,4�8)� Nachdem er sie verlassen hat, versammeln sie sich zuerst in Jerusalem zum Gebet (Apg 1,14)� Es sieht so aus, als ob die Verfasser der neutestamentlichen Schriften zwischen den beiden Alternativen gewählt haben� Entweder sie fangen mit einer expliziten Rückkopplung an ihre Heiligen Schriften an, oder sie beginnen mit ei- 3 F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 1. Teilband Lk 1,1-9,50 (EKK III / 1), Zürich [u� a�] 1989, 53� 218 Peter Wick nem Gebet oder einer Geschichte über das Gebet� Das „Prä“ der Heiligen Schrift in den Schriften des Neuen Testaments ermutigt zu einem sola scriptura, doch die vielen Schriften, die mit dem Gebet ihren Anfang setzen, würden ein solches „sola scriptura“ relativieren� Die Signifikanz dieser beiden Anfangsmöglichkeiten lässt nach dem Verhältnis der scriptura zur oratio fragen� Wie verhält sich eine Vorordnung des Gebets zu einer Vorordnung der Schrift? Doch wenn die Anfänge der neutestamentlichen Schriften danach verlangen, scriptura und oratio in ein Verhältnis zu setzen, dann ist damit schon ausgesagt, dass „sola scriptura“ von der Schrift her ein relationaler Begriff sein muss� Als relationaler Begriff wird aber das „allein“ des „sola scriptura“ relativiert� Dies gilt nicht für das „Prä“ der Schrift� Denn die Frage nach dem Verhältnis von Heiliger Schrift und Gebet stellt sich ja erst dadurch, dass auch das Neue Testament zur Heiligen Schrift gezählt wird� Erst so wird diese Beobachtung der Anfänge der neutestamentlichen Schriften zu einer Beobachtung, womit diese biblischen Schriften (Neues Testament) ihren Anfang machen, mit ihrer Bibel oder mit dem Gebet� So wird durch diese Fragestellung das „Prä“ der Schrift nicht relativiert, sondern hervorgehoben� Erst das „Prä“ der Schrift lässt die alternative Vorordnung der Schrift oder des Gebets zu einer wichtigen Frage werden� 4. Martin Luther und das „Prä“ der Schrift An der großen Tagung der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Dresden im Jahr 1990 zum Thema „sola scriptura“ entfaltet Jörg Baur Martin Luthers differenziertes Verständnis von „scriptura“� Im Gegensatz dazu ist für Jörg Baur das „sola“ kein Problem� Dieses gelte für Luther immer, wenn er von „sciptura“ spricht� „Das ‚sola’ ist keine beiläufige Überspitzung� Wenn Luther ‚scriptura’ sagt, dann meint er allemal: sola scriptura, und zwar so energisch und so bestimmt, wie es zuvor - … - niemand zu sagen wagte oder auch nur sagen konnte�“ 4 Vom Neuen Testament herkommend soll hier nur eine kurze, aber grundlegende Schrift Luthers nach dem „sola“ befragt werden� In der „Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der Deutschen Schriften“ von 1539 5 schreibt Martin Luther programmatisch über die Stellung und Bedeutung der Heiligen Schrift und über den Umgang mit ihr� Luther hatte große Bedenken gegenüber der Publikation seiner gesammelten Schriften� Er befürchtete, 4 J� Bauer, Sola Scriptura - historisches Erbe und bleibende Bedeutung, in: H� H� Schmid / J� Mehlhausen (Hg�), Sola Scriptura: das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, Gütersloh 1991, 19-43, hier: 20. 5 WA 50, (654) 657-661. Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 219 dass diese in Konkurrenz zur Heiligen Schrift geraten könnten� „Gern hätte ich es gesehen, dass meine Bücher allesamt im Hintergrund geblieben und untergegangen wären“(661,1 f�)� 6 Denn diese erweitern die zahllosen Bücher, die seit der Entstehung der Kirche geschrieben worden sind und allein schon von ihrer Fülle her daran hindern, das Wort Gottes zu studieren� „Damit wird nicht allein die edle Zeit und das Studieren in der Schrift versäumt, sondern damit ist schließlich auch die reine Erkenntnis des göttlichen Worts verloren gegangen …“ (661,7-10). Luther gesteht gewissen Büchern neben der Bibel eine Existenzberechtigung als „Zeugen und Geschichtsbeweise“ (661,13) zu� Eine gute nichtbiblische Schrift müsse „auf Christus weisen“ (661,14)� Luther stellt in dieser Vorrede die Existenz seiner Schriften von der Bibel her immer wieder in Frage, weil die Bibel durch diese konkurrenziert werden könnte� Der Schrift kommt eine Superiorität zu� Sie macht es besser als die Konzilien, die Kirchenväter und er selbst (661,27-29). Wenn die Bibel alle anderen Schriften überragt, so steht sie doch in Beziehung zu diesen� Sie allein kann zum Heil führen, doch diese Schriften können ihr dabei helfen� Doch auch wenn sie in Relation zu den anderen Schriften allein zum Heil führen kann, so braucht der Mensch für sein Heil noch anderes als die Schrift allein: „… obwohl wir auch den Heiligen Geist, Glauben, göttliche Rede 7 und Werke haben müssen, wenn wir selig werden sollen, die wir die Propheten und Apostel auf ihrem Pult sitzen lassen müssen und hier unten zu ihren Füßen hören, was sie sagen, und nicht wir sagen, was sie hören müssen“ (661,29-33). Mit dieser Aussage relativiert er das „sola scriptura“ hinsichtlich des Heils� Wer zum Heil gelangen will, braucht mehr als die Schrift� Er braucht auch den Heiligen Geist, den Glauben, göttliche Rede und Werke (! )� Doch er braucht neben der Schrift nicht unbedingt eine andere Schrift� Luther setzt den Nutzen seiner Schriften gegenüber der Bibel gezielt herunter� „Wer meine Bücher zu dieser Zeit unbedingt haben will, der lasse sie sich beileibe nicht ein Hindernis sein, die Schrift selbst zu studieren, sondern behandle sie so, wie ich des Papstes Dreckete und Drecketalien und der Sophisten Bücher behandle, das heißt: dass ich da und dort hineinsehe, was sie gemacht haben oder auch die Geschichte früherer Zeit verstehe� Nicht dass ich darin studieren müsste oder genau das tun sollte, was ihnen richtig schien - nicht viel anders halte ich es mit den Büchern der Väter und Konzilien auch“ (663,9-16). 6 Zitiert nach der Übersetzung in Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe, Band 1, Glauben und Leben, hg� von Dietrich Korsch, Leipzig 2012� In den Klammern die entsprechenden Seiten und Zeilenangaben� 7 In der Deutsch-Deutschen Studienausgabe wird hier „göttliche Rede“ mit „Wort Gottes“ übersetzt� 220 Peter Wick Offensichtlich achtet Luther seine Schriften als Gefahr für das Studium der Heiligen Schrift� Sie könnten davon ablenken� Das „allein“ der Schrift wird durch sie herausgefordert� Luther kann diese Gefahr der Schriften neben der Bibel nicht aufheben, sondern er mahnt dazu, ihnen keine große Bedeutung zuzumessen� Er sieht sich durch die Publikation seiner Schriften gezwungen, diese in Relation zur Bibel zu stellen� Er wertet sie und ihren Gebrauch stark ab� Aber dennoch bringt er so auf semantischer Ebene auch die Bibel in Relation zu seinen Schriften� Das beunruhigt ihn sehr� Denn damit stellt er fest, dass kein „sola scriptura“ davor schützt, dass die Bibel immer auch in Beziehung zu anderen Büchern steht� Durch diese Gegebenheit wird aber auch ihre alleinige Stellung als Heilsweiserin herausgefordert� Vor dieser Gefahr warnt Luther und will sie einschränken, indem er zu einem äußerst zurückhaltenden Gebrauch seiner Schriften aufruft� Nach diesem kurzen Rat zum Gebrauch seiner Schriften rät er zu einem umso intensiveren Umgang mit der Heiligen Schrift� Er stellt drei Regeln auf� Indem er konsequent das „Prä“ der Schrift beachtet, gewinnt er diese Regeln aus Psalm 119 und damit aus der Schrift selbst� „Darin wirst du drei Regeln finden, die durch den ganzen Psalm hindurch ausführlich angewandt werden� Sie heißen: Oratio, Meditation, Tentatio - Gebet, Meditation, Anfechtung“ (663,37-39). Im Gebet soll vor allem um den Heiligen Geist gebetet werden� „Sondern knie nieder in deinem Kämmerlein und bete mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn seinen Heiligen Geist geben wolle, der dich erleuchte, leite und dir Verstand gebe“ (665,5-8). Durch die Meditation soll man sich die Schrift innerlich und gerade auch äußerlich aneignen� „Zweitens sollst du meditieren, das heißt, nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und die geschriebenen Worte im Buch immer drehen und wenden, wieder und wieder lesen, unter fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint“ (665,20-24). „Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußere Wort, danach richte dich“ (665,31-32). Auch bei der Meditation der Schrift geht es um den Empfang des Heiligen Geistes� Als dritte Regel ist die Anfechtung notwendig� Denn diese lehrt „die Erfahrung, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig wie tröstlich Gottes Wort ist - Weisheit über alle Weisheit“ (665,37-39). Für Luther müssen sich zur Schrift drei Praktiken gesellen� Der Besitz der Schrift allein genügt nicht für den Leser, auch nicht das Bekenntnis zum „sola scriptura“� Er muss sie sich aneignen und er soll dies auf dreifache Weise tun� Das „Prä“ der Schrift verlangt so nach einer unermüdlichen Beschäftigung mit ihr, die der Beschäftigung mit allen anderen Büchern vorgeordnet bleibt� Die Beschäftigung muss weit über die bloße Lektüre hinausgehen� Sie äußert sich in Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 221 der Meditation der Schrift, zu der sich das Gebet und die Anfechtung gesellen� Die Anfechtung führt zur existentiellen Erfahrung mit der Schrift� 8 Beinahe 20 Jahre früher schreibt Luther in seiner „Assertio omnium articulorum M� Lutheri per bullam Leonis X� novissimam damnatorum“ 9 : „Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare nec eam meo spiritu aut ullorum hominum interpretari, sed per se ipsam et suo spiritu intellegi, volo�“ (Ich will mich nicht als derjenige rühmen, der gelehrter ist als alle, sondern ich will, dass die Schrift allein regiere und dass sie nicht ausgelegt werde durch meinen Geist oder den anderer Menschen, sondern verstanden werde durch sich selbst und ihren eigenen Geist�) Luther will, „dass die Schrift allein regiere“ (solam scripturam regnare) und durch sich selbst ausgelegt werde� 10 Für ihn ist die Schrift allein die Königin� Offensichtlich gibt es für ihn keinen anderen König oder andere Königin neben der Schrift� Allein die Schrift herrscht, aber die Schrift regiert nicht allein, sondern hat zahlreiche Unterstützer in ihrem Gefolge� Zu diesen gehören gemäß der Vorrede zu den deutschen Schriften vor allem der Heilige Geist, aber auch der Glaube, Werke, das Gebet, die Schriftmeditation und die Erfahrung� Weit darunter gesetzt kann Luther auch andere Schriften inklusive seine eigenen als Unterstützer dieser Königin zulassen� Allerdings bleiben diese schriftlichen Unterstützer besonders gefährlich, denn die Menschen tendieren über kurz oder lang dazu, mit ihnen der eigentlichen Königin die Herrschaft streitig zu machen� Durch das „Prä“ der Schrift findet Luther in Psalm 119 das Gebet, die Schriftmeditation und die durch die Anfechtung bewirkte Erfahrung mit der Schrift den rechten Umgang mit der Bibel� Ein Blick auf die Anfänge der neutestamentlichen Schriften, der nur durch ein Bekenntnis zum „Prä“ der Schrift einen normativen Anspruch erheben kann, hat gezeigt, dass diese selbst mit einem „Prä“ der Schrift oder einer Voranstellung des Gebets beginnen� Hier wie dort wird ein „Prä“ der Schrift postuliert� Hier wie dort kann höchstens von einem relativen „sola scriptura“-Prinzip gesprochen werden� Immer wieder betont Lu- 8 Siehe dazu den weiterführenden Beitrag von Ralf Stolina, der von dieser Schrift im Gefolge Luthers eine „theologia experimentalis“ skizziert: R� Stolina, Gebet - Meditation - Anfechtung� Wegmarken einer theologia experimentalis, Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), 81-100, 97-100. 9 WA 7; 98,40-99,2. 10 WA 7; 98,40-99,2. Textkritisch zu bemerken ist: Statt doctior ist auch doctor ohne i zu finden� Aufgrund der Mehrdeutigkeit von iactari könnte dann auch folgende Übersetzung sinnvoll sein: „Ich will nicht, dass ein jeder Lehrer verworfen werde, aber ich will, dass allein die Schrift regiert …“ (Übersetzung von Dennis Surau für diesen Beitrag)� 222 Peter Wick ther die absolute Vorordnung der Heiligen Schrift als Gottes Wort� Die Formel „sola scriptura“ verwendet er jedoch nur zehnmal in seinem ganzen Werk� 11 5. Krise des „sola scriptura“-Prinzips-- Krise der Schrift heute Das „sola scriptura“-Prinzip ist im Protestantismus schon lange in der Krise� Für Ulrich Luz scheint die Geschichte des Protestantismus „eine einzige Widerlegungsgeschichte des protestantischen Schriftprinzips zu sein“� Das Schriftprinzip sei gescheitert durch „die Betrachtung der Einzigartigkeit geschichtlicher Situationen und die Entdeckung der Vielfalt der Bibel durch die historische Exegese, die Neuentdeckung der Allmacht der Tradition als Mutter und Auslegerin der Bibel durch den Protestantismus, die Entdeckung der prägenden Kraft einer vielfältigen Wirkungsgeschichte und die Entdeckung des Lesers für die Texthermeneutik …“� „Wir [Bibelausleger] haben uns … durch unser Tun als Wegbereiter dieser modernen, religiösen oder postreligiösen Gesellschaft erwiesen …“ 12 � Auch Friedemann Stengel betont, wie sehr das Schriftprinzip in der Krise ist� Es sei eher ein Bestandteil des protestantischen Diskurses als die Grundlage des Protestantismus� 13 Theologen deuten dieses Schriftprinzip vielfach um, stellen seine Funktion als einheitsstiftende Normquelle zur Zeit der Reformation in Frage oder bestreiten seine Bedeutung für die Moderne� 14 Luthers Position ist sehr stark an seinen Kontext gebunden� 15 Als reformatorisches Schriftprinzip ist es erst im 19� Jahrhundert konstruiert worden� Es ist fraglich, ob es als solches eine treffende Bezeichnung für die Reformationszeit ist, in der „die Autorität und die argumentative Rolle der Heiligen Schrift stets zur Debatte standen und diesen Debatten kein irgendwie klar formuliertes und konzeptionell ausgearbeitetes Prinzip vorausging�“ Die Rede von der „‚Krise des Schriftprinzips’ bezieht sich also im Grunde auf eine Debatte des 20� Jahrhunderts�“ 16 Auch Jörg Lauster konstatiert eine Krise des Schriftprinzips� Er findet den Grund dazu bereits vor dem 19� Jahrhundert� „Luthers Erben im Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie haben aus dem reformatorischen Schriftprinzip einen fundamentaltheologischen Artikel von barocker Wucht geformt 11 F� Stengel, Sola scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips, Leipzig 2016, 24 (Anm� 46 mit allen Belegen)� 12 U� Luz, Was heißt „Sola scriptura“ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip, in: EvTh 57 (1997), 28-35, hier: 28; 29 f. 13 Vgl� Stengel, Sola scriptura im Kontext, 9� 14 Dazu Stengel, Sola scriptura im Kontext, 11-18. 15 Stengel, Sola scriptura im Kontext, 41-110. 16 Stengel, Sola scriptura im Kontext, 26-39. Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 223 und paradoxerweise gerade damit die neuzeitliche Krise des Schriftprinzips heraufbeschworen�“ 17 Als Leitstern hat das Schriftprinzip weiterhin seinen dogmatischen Nutzen� Es gibt schnell eine erste Orientierung um theologische Konstrukte einordnen und das eigene Denken überprüfen zu können� Doch ein „Leitstern“ blinkt am Himmel fern vom theologischen und kirchlichen Alltag� Als Kampfformel wider die Schriftvergessenheit unserer Zeit ist dieses Prinzip anscheinend zu schwach� Es gibt eine große Krise der Heiligen Schrift in unserer Zeit� Man kann in Deutschland (und anderswo) nicht sicher sein, an jedem Sonntag in einer zufällig ausgewählten Gemeinde auf eine Predigt über einen Bibeltext zu stoßen� Besondere Sonntagsgottesdienste wie z� B� Kindergottesdienste werden gerne zum Anlass genommen, auf ein biblisches Wort zu verzichten� Im Gegensatz zu den evangelischen Kirchen, in denen die Liturgie garantiert, dass auf jeden Fall Bibeltexte vorgelesen werden sollten, gibt es manche freikirchlichen Gottesdienste, in denen kaum mehr aus der Bibel vorgelesen wird� Das Problem der Bibelvergessenheit wird auf übergemeindlichen Ebenen eher noch drängender� Im Jahr 2016 habe ich an einer großen Jubiläumsfeier einer der zahlreichen deutschen Bibelgesellschaften teilgenommen� In den zahlreichen Festvorträgen wurde zwar die Bibel und ihre Verbreitung hoch gelobt, doch kein Wort aus der Schrift zitiert� Im Gottesdienst an einer Synode wurde in der Predigt das große Lob Luthers und seines Evangeliums von der Freiheit angestimmt, doch einen Bibeltext gab es in der Predigt nicht� Solche Dinge „passieren“ überall� Ja, sie können sogar dort beobachtet werden, wo das Bekenntnis zum „sola scriptura“- Prinzip hochgehalten wird� Das Postulat des „Prä“ der Schrift wäre viel praktikabler� Ist die Schrift dieser oder jener kirchlichen Praxis vorgeordnet? Ist sie der Predigt oder der kirchlichen Verlautbarung vorgeordnet? Ist ihr „Prä“ in einer theologischen Debatte zu beobachten? Solche Fragen sind sehr einfach und von vielen Menschen zu stellen und zu überprüfen� Ein „Prä“ der Schrift provoziert auch nicht solche subversiven Fragen gegenüber der Schrift wie das Schriftprinzip, da es auf einen „allein“-Anspruch verzichtet� Wenn die Schrift allein den Weg zum Heil weist, was ist dann mit anderen Schriften? Was ist mit dem Gebet? Was mit dem Heiligen Geist? Was mit der Erfahrung? Was mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften? Je stärker dieses Prinzip betont wird, desto schneller kommt man zu aporetischen Gegenüberstellungen und muss sich entweder für oder gegen die Schrift entscheiden� Das „Prä“ der Schrift als Postulat gibt hingegen einen bestimmten 17 J� Lauster, Systematische Theologie, in: F� Nüssel (Hg�), Schriftauslegung, Tübingen 2014, 179-206, 181 f. 224 Peter Wick Standpunkt an, der die Schrift priorisiert� Von diesem Standpunkt her ist der Dialog, die Rezeption von Neuem, die gegenseitige kritische Durchdringung und viele Lernprozesse ohne weiteres möglich: Die Schrift im kritischen Gespräch mit der Wissenschaft; die Schrift, die das Gebet prägt und das Gebet, das zur Schrift führt; die Schrift, die dem Heiligen Geist Gestalt gibt und der Heilige Geist, der die Schrift dynamisiert; die Schrift, die neue Erfahrungen eröffnet und Erfahrungen, die sich durch die Schrift verstehen lassen� Dieser Standpunkt wäre im besten Sinn des Wortes evangelisch: Er könnte die von Luz beklagte innerevangelische Heterogenität bejahen und zugleich auf eine gemeinsame positive Basis stellen, und wäre zugleich in ökumenischer Hinsicht nicht automatisch abgrenzend� 6. Das „Prä“ der Schrift: Ohne Maß und doch bescheiden Paulus eröffnet im Brief an die Römer das Briefkorpus mit einer kurzen Inhaltsangabe zum ganzen Brief (Röm 1,16 f�)� Er stellt dem Briefkorpus die Verkündigung des Evangeliums voran� „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft ( dynamis ) Gottes zur Rettung jedem Glaubenden, zuerst dem Juden und dann dem Griechen�“ (Röm 1,16) Das Evangelium ist Botschaft, Inhalt und Wort zugleich� Paulus stellt also das ihm anvertraute Wort an den Anfang, wie er das mit dem Bibelwort in diesem Brief bereits gemacht hat (vgl� 1,2)� Dieses Wort ist für ihn nicht zuerst eine Lehre und auch kein Prinzip, sondern eine Dynamis� Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die das bewirkt, für das sie bestimmt ist, nämlich die Rettung der Menschen� Dieses „Prä“ des Wortes führt also nicht zuerst zu einem bestimmten Konzept, sondern zu einer Kraftwirkung� Diese Kraft ist ohne Maß� Sie erhebt jedoch keinen „allein“ Anspruch� Es gibt viele andere Kräfte und Gewalten (vgl� z� B� Röm 13,1 f�) neben ihr� Doch das Evangelium ist viel kraftvoller als alle anderen Gewalten und Kräfte� Offensichtlich geht Paulus davon aus, dass dies auch für das von ihm geschriebene Evangelium gilt� Dieses ist machtvoller als ein Schriftprinzip und wird mit diesem Brief auch in Rom seine Kraft entfalten� Viel bescheidener als das Schriftprinzip formuliert der zweite Timotheusbrief� „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes allen Anforderungen gewachsen sei, ausgerüstet für jedes gute Werk�“ (2Tim 3,16 f�) Die Heiligen Schriften machen den Menschen, der vor Gott steht, bereit zu jeder guten Tat� Die göttliche Inspiration der Schriften wird nicht bekannt, sondern vorausgesetzt und dann funktional ausgewertet� Weil sie Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 225 von Gott eingegeben sind, erfüllen sie einen ganz bestimmten Nutzen� Sie sind nützlich zur Weisung� Offensichtlich befähigen sie den Menschen, der vor Gott ist beziehungsweise zu Gott gehört, zum Handeln� Durch ihren Gebrauch wirkt eine große Kraft� Genaueres schreibt er nicht� Diese beiden Aussagen spiegeln keine dogmatische Fixierung von irgendeinem Schriftprinzip wider� Sie verzichten auch auf eine Überhöhung der Schrift durch ein Bekenntnis seiner „Allein-Stellung“� Doch sie verweisen auf ihre durch kein Maß zu beschreibende Kraft und ihre funktionale Wirksamkeit� So können auch diese Stellen nicht zur Verteidigung des Schriftprinzips herangezogen werden, sondern ermutigen dazu, das Schriftprinzip in den Hintergrund zu stellen� Dort kann es weiterhin aus der Ferne als Leitstern für das theologische Denken dienen� Im Vordergrund aber soll viel bescheidener, aber auch praktischer und umso mehr davon gesprochen werden, dass wir die Schrift allem anderen vorordnen sollen, dass die funktionalen Konsequenzen aus ihrer Vorrangstellung in den Fokus geraten sollen und dass das „Prä“ der Schrift zum Gebet, zum Heiligen Geist, zur Tat und zur Anfechtung führen will, um so Schrift und Erfahrung im Menschen, der Theologie und der Kirche immer wieder und immer tiefer zu verbinden� „Sola scriptura“ war ein Kampfbegriff für Luther und die Reformation� Danach ist dieser zum Dogma und zum Prinzip (Schriftprinzip) verabsolutiert worden, was weder bei den Befürwortern noch den Gegnern zu einem lebendigen Gebrauch der Schrift führen musste� In der heutigen Zeit taugt „sola scriptura“ nicht zum Kampfbegriff� Es kann viel zu leicht in aporetische Diskussionen hinein gelotst und so paralysiert werden� Wenn „sola scriptura“ gefordert wird, stellt sich sofort die Frage nach der Bedeutung der Naturwissenschaften und der Humanwissenschaften, nach dem interreligiösen Dialog und nach vielem anderen mehr, was Menschen heute als wesentlich für ihren Weg zum individuellen Heil verstehen� Wenn hingegen der Schrift der Vorrang gegeben wird, dann soll sie durch ihre vielfältige Auslegung selber mit den Herausforderungen unserer Zeit ringen, mit dem Denken, mit der Wissenschaft und mit den Nöten der Menschen� Denn dieser Vorrang soll auch ein Vorrang in Bezug auf die Kraft sein, die von ihr erwartet wird� Als neuer Kampfbegriff kann der Aufruf zu einem „Prä“ der Schrift dienen� Denn das die Schrift vorangestellt wird und ihr der Vorrang zukommt, das kann von Theologen und Laien eingefordert und überprüft werden� Der Ruf, die Schrift voranzustellen, schärft das Profil der Protestanten in der heutigen Zeit, ohne sie von anderen Kirchen prinzipiell zu trennen� Dieser Ruf verpflichtet, den Buchstaben, die Wörter und die Strukturen, die einen Text zum Text machen, wieder und immer wieder staunend wahrzunehmen� Zugleich ermutigt er, die im Text angelegte Sinnvielheit zu entdecken und eine Interpretation neben 226 Peter Wick die andere zu stellen, ohne sich für die eine wahre entscheiden zu müssen� Gerade wenn dem Text viel zugetraut wird und er zuerst als Kraft und Wirkung und erst dann als fixierte Lehre betrachtet wird, dann verlangt der Text selbst danach, dass Menschen und Kirchen ihn vielfältig verstehen und mannigfache Erfahrungen mit ihm machen� 18 Dies soll zum Abschluss kurz mit einer zugleich an den Text gebundenen und freien Interpretation einer Perikope des Matthäusevangeliums demonstriert werden� Die Weisen aus dem Morgenland haben in ihrer Heimat den Stern des neugeborenen Königs der Juden gesehen� Sie waren Astronomen und zugleich Astrologen und haben sich aufgrund eines Zeichens auf die Suche nach einer Erfahrung des Heils (Mt 2,1-2) gemacht. Sie vermuten den Säugling in Jerusalem, der Hauptstadt der Juden und einer der Residenzorte des jüdischen Königs Herodes� Doch weiter kommen sie durch ihren Leitstern nicht� Dennoch sind sie am richtigen Ort, denn Jerusalem ist auch ein Ort der Schriftgelehrsamkeit� Hohepriester und Schriftgelehrte konsultieren als Fachleute die Heilige Schrift und verweisen sie auf Bethlehem� Sie hören auf das Wort Gottes und brechen nach Bethlehem auf� Diesem „Prä“ des Wortes folgt die Tat� Über diese Zu- und Nachordnung der Tat zum Wort ließe sich viel schreiben (vgl� nur Jak 1,22 f�)� Pikanterweise führt das Wort in dieser Geschichte bei den Schriftgelehrten gerade nicht zur Tat� Nachdem die Weisen der Weisung der Heiligen Schrift Folge geleistet haben, geschieht das Wunder: Auch der Stern fügt sich in dieses Wort und ihren Gehorsam ein und fängt an, ihnen voranzuziehen bis zum Haus des Kindes (Mt 2,3-10). Das „sola scriptura“-Prinzip ist wie dieser Leitstern, der die Weisen auf den richtigen Weg bringt� Doch auf diesem Weg müssen sie lernen, dass den Heiligen Schriften selbst der Vorrang zukommt� Nur dank diesen finden sie nach Bethlehem� Auch ihr Leitstern beugt sich dieser Vorrangstellung und kraft der Schrift beginnt er, sich auf den richtigen Ort hin zuzubewegen� Der Verfasser des Matthäusevangeliums lässt ihn über dem Haus mit dem Kind stehen bleiben� Wenn das Schriftprinzip der Schrift nicht mehr vorgeordnet, sondern diesem 18 Zu einer Schrifthermeneutik für die heutige Zeit, die das Gewicht des Buchstabens, die Multiperspektivität der Bibel und die Freiheit der Interpretation herausarbeitet und sich damit in den Kontext rabbinischer Auslegungsziele und postmoderner Wirklichkeitswahrnehmungen stellt, siehe meine Aufsätze: Ein Text, viele Auslegungen� Zukunftsperspektiven für den kirchlichen Umgang mit den Heiligen Schriften, in: A� Grözinger / E� Stegemann (Hg�), Das Christentum an der Schwelle zum 3� Jahrtausend, Stuttgart [u� a�] 2002, 77-90; Exegese und Realität. Über das Wirklichkeitsverständnis eines multimethodischen Ansatzes, in: G. Gelardini (Hg.), Festschrift für E. Stegemann, Stuttgart 2005, 267-281; Wie beeinflussen traditionelle (mentale) Bilder die Lektüre biblischer Texte? Überlegungen aus exegetischer Sicht, Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an Heft 1 / 2017 (unveröffentlicht)� Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 227 mit vielem weiteren nachgeordnet wird, kann es aus seiner Erstarrung befreit werden und wieder zum lebendigen Gebrauch der Schrift ermutigen� Doch dafür muss die Schrift sogar dem Schriftprinzip vorangestellt werden�
