eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Theologische, kulturelle, ästhetische und politische Perspektiven im Zeichen des reformatorischen sola scriptura heute: Drei Beispiele

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2017
Stefan Alkier
Eckart Reinmuth
Manuel Vogel
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Epilog Theologische, kulturelle, ästhetische und politische Perspektiven im Zeichen des reformatorischen sola scriptura heute: Drei Beispiele Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel 1. Stefan Alkier: Die Nacht der Bibel-- sola scriptura in performance. Ein kurzer Bericht Es war als einmalige Aufführung gedacht� Im Jahr 2014 feierte die Goethe-Universität in Frankfurt am Main ihren 100� Geburtstag� Für europäische Verhältnisse ist sie eine junge Universität� Sie wurde gegründet als Bürgeruniversität, und in ihrer Gründungsphase wurde entschieden, keine theologischen Fakultäten einzurichten� 100 Jahre später sieht es anders aus: Es gibt eine evangelische und eine römisch-katholische Fakultät und auch islamische Theologie ist im Aufbau begriffen� Der Frankfurter Fachbereich für Evangelische Theologie gehört mit seinen rund 1500 Studierenden zu den größeren Fachbereichen und es wurde von der Universitätsleitung selbstverständlich erwartet, dass auch die theologischen Fachbereiche etwas zur öffentlichkeitswirksamen Gestaltung des Jubiläums beitrügen� Aus dem Fachbereich Evangelische Theologie wurden viele Beiträge vorgeschlagen und vom Festkomitee begrüßt� Theologie ist in Frankfurt nicht nur akzeptiert, sondern als interessante Partnerin inter- und transdisziplinärer Forschungs- und Lehrprojekte gefragt� Eines der vorgeschlagenen Projekte war die Nacht der Bibel� Und dank der Zusammenarbeit mit der Stiftung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau konnte diese Nacht der Bibel facettenreich mit zahlreichen Forschern, Künstlern und befreundeten Einrichtungen wie dem Frankfurter Bibelmuseum gestaltet werden� Die auf- 244 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel wendig gestaltete Nacht der Bibel fand dann auch in der Universitätsöffentlichkeit, aber auch weit darüber hinaus in den großen Zeitungen und auch in neuen Medien wie youtube ein hoch erfreuliches Echo� Im Zentrum der Veranstaltung gab es eine Aufführung meines Versuches, die Bibel als große Erzählung in Form einer Theaterlesung mit Musik zu gestalten� In dieser ersten Fassung war die Musik noch nicht in den Textverlauf eingebunden� Vielmehr gab es zwischen zwei großen Textblöcken dann etwa 30 Minuten Musik zu hören� Die Schauspieler lasen die biblischen Erzählsequenzen und auch die von mir verfassten verbindenden Texte mit einer solchen Intensität, dass wohl die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen von der Kraft der biblischen Texte ergriffen wurden� Das Echo des Publikums jedenfalls, aber auch das der Musiker - Ron Spielman Band; Echoes of Scripture - und der Schauspieler - Angela Winkler und Jürgen Holtzt vom Berliner Schauspielhaus und Constanze Becker und Peter Schröder vom Frankfurter Schauspielhaus - war so bestärkend, dass ich ihre Anregung aufgriff und aus diesem Programm eine Theaterlesung mit integrierter Musik gestaltete, die seitdem mit großem Erfolg in Deutschland - u� a� in Bochum, Düsseldorf und Gevelsberg - und im deutschsprachigen Ausland - zuletzt in Wien, Wiener Neustadt und Krems mit weit geringerem Aufwand aber nicht weniger ergreifend in Kirchenräumen und Theatersälen aufgeführt wurde� Zum 500jährigen Reformationsjubiläum wird es in der Bochumer Pauluskirche eine Aufführung geben und für das nächste Jahr sind bereits Veranstaltungen in Dortmund, Stuttgart und Bonn verabredet� Das Trio „Echoes of Scripture“, das eigens für die Nacht der Bibel gegründet wurde und einen Buchtitel von Richard B� Hays als Bandnamen aufgriff, hat mittlerweile mit ihrer CD „Reverberation“ die komplette Musik zur Nacht der Bibel aufgenommen, und die Texte liegen nun auch als Hörbuch vor, gelesen von Barbara Auer, Peter Lohmeyer und Peter Schröder� Um alles auf eine CD zu bekommen, wurden für das Hörbuch die Musikstücke erheblich komprimiert� (Die Hörbuch CD mit dem Titel „Nacht der Bibel - Biblische Erzählsequenzen in Wort und Klang“ wie auch die reine Musik CD mit dem Titel „Echoes of Scripture - Reverberation“ können bei dem Bochumer Buchladen „Leseinsel“ per eMail an info@leseinsel-bo�de geordert werden�) Die Nacht der Bibel fand aber zudem auch das religionspädagogische Interesse von Religionslehrerinnen und -lehrern, sowie von Pfarrern und Pfarrerinnen� Zurzeit laufen mit großem Erfolg und erfreulichen Ergebnissen Pilotversuche, die Nacht der Bibel mit Schülerinnen und Schülern zu inszenieren und aufzuführen� Ein Buch zur Nacht der Bibel mit dem vollständigen Text, sowie theologischen, hermeneutischen, ästhetischen und didaktischen Erläuterungen ist aufgrund der großen Nachfrage von Pfarrerinnen und Lehrern in Arbeit� Epilog 245 Die Nacht der Bibel ist mein Versuch, sola scriptura nicht nur theoretisch zu denken, sondern den Kern der reformatorischen Entdeckung der Bibel als Lebensbuch erlebbar zu machen� Dafür habe ich eine Reihe von biblischen Texten in unterschiedlichen Übersetzungen ausgewählt und sie mit selbst geschriebenen informierenden, kommentierenden und interpretierenden Texten verbunden� Die ebenfalls von mir komponierte Musik versucht die Stimmungen der Texte, ihren Sound, aufzugreifen und ihnen als Hallraum zu dienen� Diese Intermedialität der Aufführung will auch unterhalten, aber sie ist vor allem Ausdruck meines Verständnisses von sola scriptura. Damit ist gerade nicht die Fixierung auf ein einziges Medium - Schrift - gemeint und auch nicht auf eine bestimmte Fassung der Schrift, sei es eine griechische, hebräische, lateinische oder deutsche Version� Das reformatorische sola scriptura ist im Kern kein Buchstabenfetischismus, sondern ein theologisches Zeichenkonzept, das mit verschiedenen Medien und Versionen immer neu gestaltet und aufgeführt werden will� Das theologisch normative Schriftkonzept lautet: Die Schrift ist ein zweiteiliges Buch, deren Bücher sich gegenseitig kommentieren und auch kritisieren� Es besteht notwendig und normierend aus Schriften des Neuen Testaments, die ihren Fixpunkt in einem ihnen vorgängigen und daher entzogenen Ereignis haben - nämlich die Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth -, und den Schriften des Alten Testaments, die die Geschichte Gottes, des Schöpfers aller Welt und aller Völker erzählt, der sich in eine besondere Beziehung zum Volk Israel gesetzt hat, ohne die anderen Völker darüber zu vergessen� Dieser Gott ist es, der seiner Schöpfung und seinen Bünden die Treue hält trotz aller Gewalttaten und Rechtsbrüche, die seine Geschöpfe aus Fleisch und Blut einander aber auch damit Gott selbst antun� Dieser Gott ist es, der den Gekreuzigten vom Tode in sein eigenes ewiges Leben hinein auferweckt hat und damit einen neuen Anfang eröffnet hat, der allen verspricht, ebenso ein neues ewiges Leben zu erhalten, sofern sie Gott zutrauen, stärker als der Tod zu sein und sich glauben lassen, dass der Gott Israels Jesus, den von zwei kooperierenden Rechtssystemen Hingerichteten, bereits diese letztgültige Neuschöpfung hat zuteilwerden lassen� Diese große Geschichte von der Schöpfung, dem Sündenfall, den zahlreichen Neuanfängen durch die Treue des barmherzigen und gerechten Gottes Israels und des neuen Bundes vom Kreuz her mit der Verheißung der neuen Schöpfung lässt die ganze Welt und damit auch das eigene Leben neu sehen und ermöglicht ein Umdenken wie es Jesus in Mk 1,14 f� formuliert: „Nachdem Johannes gefangengesetzt worden war, kam Jesus nach Galiläa� Er verkündete das Evangelium, die Frohbotschaft Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen ist das Reich Gottes� Denkt um und vertraut auf die Frohbotschaft! “ (Übers� S� Alkier) 246 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Damit bietet diese große Geschichte einen einzigartigen Denkrahmen, wenn sie als Ganze wahrgenommen wird, oder um es mit Luther zu formulieren: „Du musst scripturam sacram nicht stueckweise ansehen, sed integram“ (WA 47; 681, 1 f�)� Alle Varianten der Schrift müssen sich daran messen lassen, ob sie das Ganze der Schrift zur Sprache bringen und insofern ist allein die Schrift die Norm aller ihrer Varianten und Interpretationen� Was dieses Ganze aber ausmacht, ist nur durch die Interpretation der Schrift als Ganzer im „Geist der Urteilsfähigkeit und der Leidenschaft“ (M� Luther, Assertio, Vorrede) zu bestimmen� Wird sie auf diese Weise erschlossen, ist sie ihr eigener Ausleger� Diese Selbstauslegung kann die Schrift erst als gelesene, interpretierte und aufgeführte Schrift bewerkstelligen� Die Aufgabe christlich-theologischer Fakultäten ist daher unterbestimmt, wenn man sich auf die historische Rekonstruktion der Genese der biblischen Schriften und des Kanons beschränkt� Wer nur und ausschließlich Historiker sein möchte ist eben kein Theologe� Die theologische Aufgabe hinsichtlich der Bibel - insbesondere, aber nicht nur für evangelische Theologie - ist es vielmehr, die Bibel als Buch des Umdenkens immer wieder in den gesellschaftlichen Diskurs als alternative Interpretation des ganzen Lebens- und Erfahrungszusammenhangs einzubringen und mit ihr individuelle und gesellschaftliche Modelle und Visionen eines liebevollen und solidarischen Miteinanders zu entwickeln, die aus der Fülle und Schönheit der Schöpfung und der Überwindung der Endgültigkeit des Todes argumentieren und gestalten wollen� Wenn die von mir gestaltete Nacht der Bibel die Kraft der biblischen Texte, ihr enormes kritisches, perspektivenreiches und prophetisches Potential erlebbar werden lässt, dann ist sie selbst eine Variante der Schrift - nicht mehr, aber auch nicht weniger: sola scriptura ! Epilog 247 2. Eckart Reinmuth: sola scriptura-- ein kurzer Bericht von vier Rostocker Projekten Verstehen wir sola scriptura nicht als ein lediglich historisches Losungswort, so wird mit diesen beiden Worten eine zumindest doppelte Herausforderung geltend gemacht: Zum einen die Aktualität der ganzen Bibel, zum anderen ihre gesellschaftliche Relevanz� Beides versuchen die von mir im Rahmen des Instituts für Text und Kultur der Universität Rostock (www�itk�uni-rostock�de) konzipierten und mit vielen Kooperationspartnern realisierten wissenschaftlichkulturellen Projekte einzulösen, die seit 2011 in der Rostocker Nikolaikirche zur Aufführung gelangen� Wir starteten mit einem Vortrags-, Ausstellungs- und Konzertprojekt zum Thema ‚Credo’ in Kooperation mit der Kunsthalle Rostock, der St�-Johannis-Kantorei und der Hochschule für Musik und Theater Rostock� Wer ‚glauben’ sagt, sagt auch ‚vertrauen’� Man kann den christlichen Glauben als Vertrauen in den Weg und die Geschichte Jesu Christi und so als Ausdruck dessen verstehen, was mit Vertrauen unter Menschen gemeint ist� Wo dieser Glaube sich zu artikulieren vermag, lädt er unterschiedslos alle Menschen ein, an seiner Praxis teilzuhaben� Die Ausstellung, in der Werke von Georges Rouault (1871-1958) sowie Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Gerhard Richter und Günther Uecker gezeigt wurden, war sehr gut besucht und wurde deshalb verlängert� Bei den Konzerten unter der musikalischen Leitung von KMD Prof� Dr� h�c� Markus Johannes Langer am 31� Oktober, 6� und 13� November konnten zwei Auftragskompositionen zu Gehör gebracht werden� Zu den Vortragenden gehörte der spätere Bundespräsident Dr� h�c� Joachim Gauck� In Anknüpfung an das Credo-Projekt wurde im Herbst 2013 ein zweites theologisch-wissenschaftlich-kulturelles Programm unter dem Titel ‚In Principio� Im Anfang - 24 Variationen’ realisiert� Mit der Wendung ‚In Principio’ verbindet sich die Frage, was es heißt, einen Anfang zu denken - eine Frage, die eine sinnvolle Perspektive für unterschiedliche Dialogsituationen ergibt� Gelingen solche Dialoge, so steht tatsächlich kein abstrakter Streit um Anfänge, sei es des Lebens oder des Universums, zur Debatte, sondern die Frage, wie Leben und Wirklichkeit sinnhaft zu denken sind: Wie verstehen wir unsere Welt und ihre Rätsel in den Kontexten unseres Nichtwissens, wie interpretieren wir sie - nicht nur ‚theoretisch’, sondern mit unserer Art zu leben und zu handeln? Vortrags- und Konzerttermine in der Rostocker Nikolaikirche waren der 27�10�, 3�11� u� 10�11� Das Thema spannte einen weiten Horizont für aufschlussreiche Gastvorträge, zu denen namhafte Wissenschaftler eingeladen wurden� Wie beim Credo-Projekt sind seitens der St�-Johannis-Kantorei Kompositionsaufträge ausgesprochen worden� Eine thematische Ausstellung in der Rostocker Kunsthalle setzte erneut maßgebliche und erhellende Akzente und konnte zeigen, wie in 248 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel der Kunst mit der Thematisierung ‚des Anfangs’ zugleich Wirklichkeits‚bilder’ kommuniziert werden� Wer ‚den Anfang’ malt, sei es als Schöpfung oder Urknall, imaginiert seine (Sicht auf die) Gegenwart� 2015 folgte das Programm ‚In Aeternam - Variationen in Zeit und Ewigkeit’� Die Wendung in aeternam ist ergänzungsbedürftig; ihr fehlt mit dem grammatischen Objekt das eigentliche Zielwort� Diese Unvollständigkeit markiert eine Lücke, die zu füllen ist� Traditionell wird sie mit Worten wie vitam, pacem oder requiem , Leben, Frieden oder Ruhe ergänzt, und es geht dann um unverlierbares Leben, ewigen Frieden und endgültiges Aufgehobensein� Wir haben mit in aeternam eine unvollständige Formulierung gewählt, die zu füllen ist� Damit deutet sich an, dass es alltagssprachlich mit der Ewigkeit zunächst um ein menschliches Wünschen geht, um ‚unser’ Begehren nach Dauer und Bestand� Stets sind wir selber es, die dieses Begehren füllen� Hier zeigt sich eine unübersehbare gesellschaftliche Relevanz des Themas� Denn wir erleben ja nicht nur, wie die Zeit vergeht; wir wünschen uns auch, dass das, was wir als sinnhaft erleben, nicht ausgelöscht werde und nicht verloren geht� Das Thema, das mit in aeternam sein sprachliches Kürzel erhielt, ergab sich sinnfällig aus den vorangehenden Projekten: So, wie lebensnotwendiges Vertrauen sich auf einen Anfang bezieht, den es nicht selber schuf, baut es darauf, dass dieser Anfang sich als sicher, bleibend und zukunftsgewiss erweist� Aus dieser Logik folgte nach Credo und In Principio das dritte Großprojekt, und es lag nahe, dem auch in musikalischer Hinsicht Rechnung zu tragen� Am Anfang standen markante Psalmenvertonungen, in der Mitte eine Bearbeitung des Vater Unsers, das sich ja seiner Bitten mit dem Blick auf die jeder menschlichen Zeit überlegene Zukunft Gottes versichert, den Abschluss bildete am Ewigkeitssonntag ein Requiem, dem ja die Wendung in aeternam entnommen ist� Nach den wissenschaftlich-kulturellen Veranstaltungsreihen Credo (2011), In Principio (2013), In Aeternam (2015) soll im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 ein weiteres Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Text und Kultur der Universität Rostock und der St�-Johanniskantorei Rostock in Zusammenarbeit mit weiteren Kulturträgern in der Hansestadt Rostock folgen� Das Projekt trägt den Titel Ex Auditu - aus dem Hören ; es wird die reformatorische Grundeinsicht, dass der Glaube sich nicht eigener Überlegung, sondern dem Hören auf das biblische Wort verdankt, mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln so reflektieren, dass die gesellschaftliche Gegenwartsrelevanz dieses reformatorischen Impulses verständlich und spürbar wird� Termine: 5�, 12� und 19�11�2017 (jeweils ca. 17-22 Uhr in der Rostocker Nikolaikirche). Epilog 249 I 7.30 Uhr: Dr. h. c. Joachim G AUCK: Vertrauen, nicht aufgeben I 9.00 Uhr: Wolfgang Amadeus M OZART: Credo (Krönungsmesse) Michael B AUMGARTL: Abraham - Zweifel und Glauben (Uraufführung) - I 8.00 Uhr: Eröffnung der Ausstellung C REDO (R OUAULT/ B ASELITZ/ G RAUBNER/ R ICHTER/ U ECKER ) - K UNSTHALLE Rostock I 7.30 Uhr: Prof. Dr. Eckart R EINMUTH: Vertrauen, nicht glauben Prof. Dr. Philipp S TOELLGER: Bezeugen, nicht behaupten I 9.00 Uhr: Karl S CHARNWEBER/ Eckart R EINMUTH: Credo. Fünf Stimmen nach Johannes - N IKOLAIKIRCHE Rostock I 7.30 Uhr: Prof. Dr. Hartmut M ÖLLER: Wer singt im Credo? traditio & innovatio in Bachs musikalischer Übersetzung I 9.00 Uhr: Johann Sebastian B ACH: Symbolum Nicenum (aus der h-Moll-Messe), Orchestersuite D-Dur BWV I 068; Birger P ETERSEN: Credo/ Versteinerung für Chor a cappella (Uraufführung) - N IKOLAIKIRCHE Rostock Musikalische Gesamtleitung: KMD Prof. Markus Johannes L ANGER Eintritt: I0 € (erm. 8 €)/ Konzert; im Paket 25 € (I9 €) Vorverkauf: Schuhhaus Höppner, Musikkontor, Pressezentrum N IKOLAIKIRCHE Rostock 3. Manuel Vogel: Sola scriptura als kritisches Prinzip-- Fünf Thesen 3.1. Das Wort „im Mund und im Herzen“: Das Schriftprinzip hängt nicht am Buch Die Bibel war bereits ein Buch, als sie noch eine Rolle war� Der Kodex ist eine christliche Erfindung, zumindest eine Erfindung aus christlicher Zeit, die Bibel hingegen gab es schon vorher� Multimedialität ist mithin kein Phänomen erst des digitalen Zeitalters, so wenig das digitale Zeitalter dasjenige, worauf die Formel sola scriptura verweist, destruiert� Die Bibel, die nach dieser Formel 250 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel „allein“ gelten soll (als ein Aspekt unter mehreren im Zusammenspiel mit den anderen sola -Formeln), war immer schon multimedial präsent� Auf ’s Ganze der Rezeptionsgeschichte gesehen war möglicherweise das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch derer, die für sich selbst in der Stille lesen, eher die Ausnahme als die Regel� Die Bibel war gegenwärtig und wirksam in den liturgischen Lektionen, in den Kreuzwegbildern der Kirchenräume, bei denen, die lesen konnten, und ebenso bei den Leseunkundigen, die freilich „Ohren hatten zu hören“� Wer hier eigentlich im Vorteil ist, wäre zu diskutieren, denn wer nicht lesen kann, kann (und wird) das, was gilt, laut sich hersagen und es memorieren, es also nicht bei sich haben im Bücherschrank (auf den das auf ’s Lesen konditionierte Gehirn immer verweisen wird, wenn es sich etwas merken soll), sondern in sich wie das „Wort im Mund und im Herzen“ (Dtn 30,14)� Aus einer Vorlesung von Rudolf Bohren ist mir in Erinnerung, er habe als Konfirmand noch den ganzen Psalter auswendig lernen müssen, wie auch die anderen Bauernbuben von den Höfen an den Hängen, die auf ’s Feld mussten, wenn sie von der Schule kamen, oder in den Stall� „Bibel“ ist hier das Memorierte, Verinnerlichte, der schriftliche Anteil am Aneignungsprozess viel geringer als derjenige „im Mund und im Herzen“ (Kann man überhaupt vom Schreibtisch aus eine belastbare Antwort auf die synoptische Frage geben, wenn man die Studierzimmersituation ohne Federlesens auch für die frühchristlichen Entstehungsverhältnisse der Evangelien voraussetzt? )� 1 3.2. Das Schriftprinzip im christlich-jüdischen Dialog Es tut dem Christentum niemals gut, wenn es sich selbst als einen absoluten Anfang setzt und allenfalls von jüdischem „Erbe“ spricht - bekanntlich muss ja wer gestorben sein, bevor wer anderes das Erbe antritt -, oder von jüdischen „Quellen“ oder „Traditionen“, aus denen das frühe „Christentum“ (bei [Ps? ]Justin eine zutiefst polemische und unaufrichtige Neuprägung) „geschöpft“ habe� Eher schon verfängt die Rede von den jüdischen „Wurzeln“ des Christentums, denn dann ist wenigstens hinreichend klar, was das Christentum mit sich selbst an- 1 Vgl� hierzu folgende briefliche Mitteilung von Pfr� Tilman Krause, Jena: „Von 1998 bis 2010 war ich Tansaniasekretär des Ev�-Luth� Missionswerkes Leipzig (Leipziger Mission)� Auf einer Evangelisationsreise zu abgelegenen Nomadensiedlungen lernte ich den Evangelisten Isaya Ole Ntokote kennen, einen Laienprediger aus Kenia� Evangelist Isaya war unter den Ältesten im Norden Tansanias bekannt und genoss besondere Autorität in Streitfällen� Er konnte weder lesen noch schreiben und hatte doch das Neue Testament und viele Passagen des Alten Testaments in Kimaasai wortwörtlich im Kopf� Er bemerkte die Fehlstellen, wenn bei einer Schriftlesung von einem Gemeindeglied eine Zeile übersprungen wurde und er zitierte passende Textpassagen bei Bibelarbeiten und Auslegungsfragen� Er war mit dieser Gabe ergänzt durch seine Lebensweisheit ein begehrter Vermittler und Übersetzer zwischen traditionellem Leben der Viehnomaden und der Botschaft Jesu�“ Epilog 251 stellt, wenn es (wieder einmal) darauf verfallen sollte, diese Wurzeln abzuschneiden� Auch über das Schriftprinzip wäre mit Juden zu reden und über ihre Sicht auf die Tora, die Propheten und die Schriften� Viel bibelfundamentalistische Verbohrtheit und dogmatischer Starrsinn, die das Schriftprinzip als lebensferne Prinzipienreiterei in Verruf gebracht haben (etwas, das die Christenheit sich mühsam abgewöhnen muss[te] und sich, wie man leider sagen muss, gar zu leicht und gar zu gern auch wieder angewöhnt), diese wären gar nicht erst aufgekommen, hätten die Christen das Sprachspiel rabbinischer Toralektüren verstanden, das auch noch die letzte Kleinigkeit des täglichen Lebens im Pro und Contra des gelehrten Streits zwar mit aller Leidenschaft aus der Bibel begründet, die Lehrmeinungen jedoch stets nur referiert und niemals entscheidet� Dieser ernste und doch völlig spielerische Umgang mit dem biblischen Text als eines unerschöpflichen und offenen Verweiszusammenhangs bindet das biblische Wort unabdingbar an seine kontroverse und unabschließbare Interpretation� Im christlich-jüdischen Gespräch wäre dem Klischee von der buchstabentoten „Buchreligion“ vielfältig zu begegnen, etwa im Hinweis auf das Buch in der Hand derer, denen sonst nichts geblieben ist� Die syrische Baruchapokalypse, die auf die Tempelzerstörung des Jahres 70 n� Chr� zurückblickt, endet mit einem „Brief Baruchs an die neuneinhalb Stämme“ (syrBar 78-87), den der Prophet in der Erzählfiktion der Apokalypse in der Zeit des Babylonischen Exils schreibt� In 85,3 resümiert Baruch die gegenwärtige Exilssituation folgendermaßen: „Bei ihren Vätern sind versammelt jetzt aber die Gerechten, und die Propheten sind entschlafen� Auch wir verließen unser Land, und Zion ist uns weggenommen� Nichts haben wir jetzt mehr, nur den Allmächtigen noch und sein Gesetz“ (Übs� Klijn, JSHRZ V / 2, 182)� Was das Buch - hier: die Tora - wert ist, und was es leistet, sollen die sagen dürfen, die es bewohnen wie ein Haus, wenn alle anderen Häuser in Trümmern liegen� Dass „allein“ die Schrift gilt, wenn alles andere in Frage steht, ist auf andere Weise auch am Zusammenhang von Apokalyptik und Schriftauslegung ablesbar� „Apokalyptik“ bedeutet, Erfahrungen des Katastrophalen in eine postulierte transzendente Ordnung zu integrieren� Diese Orientierung an einer Ordnung bzw� in einem vor- und übergeordneten Sinnzusammenhang äußert sich nicht zuletzt darin, dass sich apokalyptisches Denken weithin als inspirierte Schriftauslegung versteht� Damit ist das Moment der radikalen Diskontinuität auf einer formalen Ebene relativiert, sofern das inhaltlich Neue apokalyptischer Erkenntnis aus der Neuinterpretation maßgeblicher Heiliger Schriften erwächst. Klar fassbar ist diese Denkfigur in Daniel 9,20-24. Dort erscheint Daniel der Engel Gabriel und enthüllt ihm den verborgenen Sinn eines Verses aus dem Buch Jeremia� Es handelt sich um die Stelle Jer 25,11 f�, wo der Prophet eine 70jährige Dauer des babylonischen Exils prophezeit� Daniel erfährt von Gabriel den wahren Sinn der Zahl siebzig: Gemeint sind eigentlich 252 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel siebzig Jahrwochen, d� h� 490 Jahre� Im Fortgang der Geschichte bleibt auch und gerade dann, wenn die Geschichte anders verläuft als erwartet, das maßgebliche Buch die orientierende Größe� 3.3. Begrenzter Textraum, entgrenzter Erzählraum: Zum Kanonbegriff Dass sich der Kanon verflüssigt und seine Ränder sich auflösen, erschließt sich schon dem oberflächlichen historischen Blick� Diachron und in ökumenischer Differenzierung stoßen wir auf unterschiedliche Sammlungen Heiliger Schriften� Auch in den beiden angeführten Textbeispielen hat der Rekurs auf maßgebliche Schriften unterschiedliche Referenten: Die syrische Baruchapokalypse bezieht sich auf die Tora, der Verfasser des Danielbuches auf das Jeremiabuch� Dass aber die Schriftensammlungen historisch gewachsen sind und untereinander variieren, ändert nichts an der Grundidee einer orientierenden textuellen Größe� Ihre doppelte Pointe ist die Begrenztheit ihres textuellen Raumes und die Entgrenzung ihres Erzählraumes� Der Kanon ignoriert nicht die Existenz unzähliger anderer Schriften oder verbietet gar ihre Benutzung� Vielmehr bietet er sich an als orientierende Mitte innerhalb einer Vielzahl von Text- und Weltbezügen, als einen umgrenzten textuellen Ort, an den man immer wieder zurückkehrt, immer ausschnitthaft, immer zu den Bedingungen sämtlicher multimedialer Möglichkeiten seiner Rezeption� Seine Erzählung ist zugleich ent grenzt, weil sie einerseits im Schöpfungsnarrativ vor den geschichtlichen Anfang zurückgreift und andererseits die Zukunft in den Möglichkeitsraum des Gotteshandelns einbezieht� Der Kanon ist ein textuelles Zuhause, das aber unbegrenzte Deutungsmöglichkeiten von Welt und Geschichte zulässt� So verstehe ich das jüdisch-christliche Schriftprinzip im Sinne des immerzu Anfänglichen jüdischchristlicher Weltorientierung� Der und die Einzelne wird als Subjekt der eigenen Bibellektüre Subjekt der eigenen Selbst- und Weltdeutung� Gleiches gilt für Gruppen, Kirchen, Gemeinschaften, etc� 3.4. Das reformatorische Schriftprinzip als kritische Instanz gegen den Autoritätsanspruch von Tradition Das reformatorische sola scriptura untersteht sich, eine Instanz gegen die Tradition aufzubieten und damit die Autorität ihrer Sachwalter herauszufordern� Die Machthaber der normativen Traditionsbestände werden damit auf eine übergeordnete Größe verpflichtet, die der Interpretation auch der Nichteliten und Nichtexperten zugänglich ist� Der Satz „Beweise mir aus der Bibel, die auch ich lese und interpretiere, dass du im Recht bist“, stellt eine radikale Infragestellung der Autoritätsansprüche der Machthaber und elitären Sachwalter der Tradition dar� Expertenmilieus werden auskunftspflichtig gegenüber den Nichtexperten, mit welchen Zielen und aufgrund welcher Legitimation sie warum woran ar- Epilog 253 beiten� An anderer Stelle habe ich dies so formuliert: „Formal betrachtet stellt das reformatorische Schriftprinzip bereits eine fundamental kritische Figur dar� Indem die Reformation die ,Schrift’ (gemeint ist die Bibel) normativ über die ,Tradition’ stellte (d� h� über die gesamte Jahrhunderte alte Lehrbildung der katholischen Kirche), behauptete sie die Notwendigkeit und das Vorhandensein einer kritischen Instanz gegenüber dem gesamten römisch-katholischen Apparat� Die Bibel, die historisch betrachtet von der christlichen Tradition gar nicht zu trennen ist, sondern ihren Anfang bildet, wurde damit zu einem kritischen Widerpart zur gesamten folgenden Geschichte des Christentums, die ja recht bald auch eine Geschichte des Wider- und Miteinanders von Kirche und Staat, von geistlicher und weltlicher Macht war� Die protestantische Auffassung, dass die Schrift über der Tradition steht, besagt insofern, dass das christliche Verhältnis zur Geschichte der eigenen Religion nur ein kritisches Verhältnis sein kann, und dass diese Geschichte von der Bibel her immer schon und immer wieder kritisiert werden darf und kritisiert werden muss� Das Schriftprinzip stellt durch sein bloßes Vorhandensein eine ganze Religion unter den Generalverdacht, sie könne ihre eigenen Anfänge je und je verfehlen� Jeder Anspruch auf Unfehlbarkeit wird damit bestritten� In Gestalt des Neuen Testaments als eines Schriftenkanons aus der Anfangszeit tritt der Beginn der Geschichte des Christentums der Gesamtheit dieser Geschichte als kritisches Prinzip gegenüber� Ob und wodurch dieser Rekurs gerechtfertigt ist, und ob er überhaupt funktioniert, spielt für diese formale Seite der Geltung der Bibel in den Kirchen der Reformation überhaupt keine Rolle� Selbst dann, wenn er sich als undurchführbar erweisen sollte, etwa wegen der kulturellen Differenz zwischen der Entstehungszeit der biblischen Schriften und der Gegenwart, oder weil sich herausstellen könnte, dass die im Neuen Testament dokumentierten frühchristlichen Diskurse für die Diskurse der Gegenwart nichts austragen, selbst dann bleibt der kritische Grundgedanke des Schriftprinzips gültig� Er ermächtigt zu einer mündigen und kritischen Haltung gegenüber jeder Form von Herrschaft (…)� Evangelischer Glaube umfasst“ mithin „auch die evangelische Freiheit zum zivilen Ungehorsam� Damit wird nicht einem politischen oder gar sachfremd politisierten Verständnis des Christlichen das Wort geredet� Vielmehr ist das reformatorische Schriftprinzip strukturell und aus sich heraus machtkritisch (…)� Dass evangelischer Glaube ,auf dem Boden der Schrift’ steht, bedeutet, dass er dem Terrain der ,Tradition’ exterritorial ist� Evangelischer Glaube steht nicht auf dem Boden des Staates, der Nation, des Volkes etc� Er hält sich dort auf, ist dort jedoch nicht zuhause� Sein Verhältnis zu alldem ist pragmatisch, distanziert und kritisch�“ 2 2 M� Vogel, Was hat ein Pfarrer auf einer Demonstration verloren? Thesen zu Bibel, Theologie und Kirche aus gegebenem Anlass, in: J� Eisenberg / L� Voigt / M� Vogel (Hg�), Anti- 254 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel 3.5. Lazarus, Mose und die Propheten: Zur Parteilichkeit der biblischen Hermeneutik Auch Rechtspopulisten und Kleriko-Faschisten beziehen und berufen sich auf die Bibel� Auch diese Lektüren verorten ihre Welt- und Geschichtsdeutung im biblischen Narrativ� Sie teilen freilich die gemeinsame Grundannahme, dass es statthaft und im Einklang mit einer behaupteten Natur-, Geschichts- und Weltordnung ist, Lebensrechte zu definieren� Man kann das Definieren von Lebensrechten als Kennzeichen des Faschismus ansehen, findet dasselbe Axiom aber etwa auch im globalen Neoliberalismus wieder� Stets geht es um das behauptete Lebensrecht der Stärkeren, und um den angeblich naturgegebenen, notwendigen Untergang der Schwachen, die als die angeblich Vielzuvielen in bestimmten geschichtlichen Zyklen zugunsten derjenigen, die zu überleben verdienen, das Feld räumen müssen� Aber der Messias wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen� Deshalb sind solche Lektüren nicht christlich, sondern antichristlich� Was hier bibelhermeneutisch zur Debatte steht, wird im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31) anschaulich: Die Bitte des Reichen aus der Unterwelt, Abraham möge Lazarus zu seinen fünf Brüdern senden, um sie zu warnen, wird von Abraham mit dem Hinweis auf „Mose und die Propheten“ abgelehnt� Dass etwas nicht stimmt, wenn vor der Tür des Reichen ein Armer im Elend lebt und elend stirbt, hätte der Reiche, so muss man Abraham wohl verstehen, mühelos aus „Mose und den Propheten“ lernen können, offenbar als ein Art Gesamtsinn der Bibel, der so offen zutage liegt, dass man ihn eigentlich nicht übersehen kann� Allem Anschein nach haben aber der Reiche und seine Brüder „Mose und die Propheten“ niemals so gelesen� Das Gleichnis formuliert hierzu eine klare Position: Es expediert eben diese Bibellektüren, die das Elend des Lazarus als gegeben hinnehmen, geradewegs in die Hölle� Zur formalen Bestimmtheit des Schriftprinzips (Thesen 1-4) kommt mithin eine materiale (These 5), die parteiliche Lektüren im Sinne des Gleichnisses nicht nur zulässt, sondern zwingend fordert� Mit konträren Lektüren befindet sich reformatorisches Schriftverständnis im ständigen und unabschließbaren Streit� faschismus als Feindbild� Der Prozess gegen den Pfarrer Lothar König, Hamburg 2014, 179-198; 181; 183.