eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/42

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2018
2142 Dronsch Strecker Vogel

Das letzte Buch der Bibel als Auftakt

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2018
Manuel Vogel
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Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Das letzte Buch der Bibel als Auftakt Zur Stellung der Johannesoffenbarung in der Geschichte des frühen Christentums Manuel Vogel Einleitung Die Johannesoffenbarung ist in ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber den römischen Verhältnissen ihrer Zeit 1 „das Werk einer Gegenkultur“ und zugleich doch auch „als Stück römisch-kaiserzeitlicher Literatur zu lesen“� 2 Die These dieses Beitrages lautet, dass der fraglose Wert dieser Schrift für die Erforschung der ausgehenden frühen Kaiserzeit seine gegenkulturelle Wucht 3 gleichwohl 1 Der Beitrag ist ohne Kenntnis der Entgegnung von Stefan Alkier verfasst und nachträglich bis auf die Hinzufügung dieser Fußnote und die Literaturergänzung in Anm� 20 auch nicht verändert worden� Anzumerken ist hier nur, dass ich meine Position in Kenntnis der vielerlei Argumente meines geschätzten Kollegen, die eine intensive, gelehrte und methodisch reflektierte Befassung mit der Johannesoffenbarung eindrücklich zu erkennen geben (und übrigens auch in Kenntnis der Johannesoffenbarung als ganzer, die ich zuletzt im SoSe 2018 zweistündig gelesen habe), auch nicht ansatzwesie in Frage gestellt sehe� 2 M. Karrer, Johannesoffenbarung, Teilband 1: Offb. 1,1-5,14 (EKK XXIV / 1), Ostfildern / Göttingen 2017, 64� 3 Für P� Lampe, Die Wirklichkeit als Bild� Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 118 manifestiert sich in der Offenbarung „[e]in trotziger Ausbruch aus der Doppelwelt“ römisch-hellenistischer und frühchristlicher Lebenskontexte, und K� Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2 1995, 619 urteilt: „Nur hier im frühen Christentum wird die Auseinandersetzung mit Rom, und zwar in Gestalt politischer Apokalyptik, gesucht (…)� Nur in der ApkJoh wird das romfeindliche Potential der Apokalyptik des 1� Jh� n� Chr� (…) wirklich lebendig� Nur hier haben 76 Manuel Vogel nicht relativieren sollte� In ihr artikuliert sich vielmehr „der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt“ 4 in besonderer Schärfe� Die folgende Darstellung setzt (1�) bei einer römischen Selbstbeschreibung an (Plinius d� Ä�), um diese dann (2�) vornehmlich aus jüdischen Quellen mit kritischen Außenwahrnehmungen des römischen Imperiums zu kontrastieren� In diesen Kontext wird sodann die Johannesoffenbarung gestellt, u�zw� (3�) im Blick auf die ökonomische Romkritik in Offb 18 und (4�) in Würdigung ihrer Zeiterfahrung� Von hier aus werden (5�) Linien in das christliche 2� Jh� gezogen� Der Beitrag schließt (6�) mit einem Epilog� 1. Eine römische Innenansicht: Plinius der Ältere Caius Plinius Secundus, besser bekannt als Plinius der Ältere, hat sein opus magnum , die 37 Bücher umfassende Naturgeschichte ( Naturalis historia ), 5 im Jahr 77 / 78 n� Chr� fertig gestellt und dem Konsul und nachmaligen Kaiser Titus gewidmet� Der römische Widmungsempfänger ist im Neuen Testament nicht namentlich bekannt, aber seine in Rom mit einem Triumphzug gefeierte militärische Großtat, die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n� Chr�, hat in zahlreichen jüdischen Quellen einschließlich einiger frühchristlicher Texte ihre Spuren hinterlassen� Schon Jesus habe, so das Markusevangelium, kommen sehen, dass, wie er mit Blick auf den Tempel sagte, „hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben wird, der nicht zerbrochen werde“ (Mk 13,1)� Im zweiten Jahrzehnt des 2� Jh�s hat der Neffe des Naturforschers, Plinius der Jüngere, unter den Christengemeinden der Provinz Bithynia et Pontus im nordwestlichen Kleinasien von sich reden gemacht, wie wir aus den Quellen sicher erschließen können: Im 96� Brief im zehnten Buch seiner gesammelten Briefe begegnet er uns als Statthalter der genannten Provinz, dort seit 111 n� Chr� im Amt, als er Kaiser die Christen den Mut, sich zu dieser Seite ihrer Hoffnung zu bekennen“� Zur Apokalypse- Auslegung im Paradigma der Empire-Studies vgl� neuerdings S� J� Wood, The Alter-Imperial Paradigm� Empire-Studies & the Book of Revelation, Leiden-Boston 2016� Weitere Lit�: Th� Schmeller / M� Ebner / R� Hoppe (Hg�), Die Offenbarung des Johannes� Kommunikation im Konflikt (QD 253), Freiburg 2013� Ein von Katell Berthelot verantwortetes Forschungsprojekt befasst sich mit „Judaism and Rome� Re-thinking Judaism’s Encounter with the Roman Empire“, zugänglich unter http: / / judaism-and-rome�cnrs�fr/ (letzter Zugriff am 31� 8� 2018)� 4 H� Fuchs, Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin 1938� Materialreich auch J�-D� Gauger, Orakel und Brief: zu zwei hellenistischen Formen geistiger Auseinandersetzung mit Rom, in: Ch� Schubert / K� Brodersen (Hg�), Rom und der griechische Osten (FS H. H. Schmitt), Stuttgart 1995, 51-67. 5 Vgl� hierzu M� Vogel, Einleitung, in: L� Möller / M� Vogel (Hg�), Die Naturgeschichte des Caius Plinius Secundus� Ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Prof. Dr. G. C. Wittstein, Bd. 1, Wiesbaden 2007, 9-34. Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 77 Trajan (98-117 n. Chr.) um Rat bittet, wie er mit den „Christen“ ( Christiani ) verfahren solle� Seinen römischen Sinn für Recht und Ordnung teilt er mit dem Kaiser, der ihn in dem Bemühen unterstützt, dass die Christenprozesse künftig nach klaren Regeln ablaufen sollen� Mit dieser Maßnahme soll die aktuell noch bestehende Rechtsunsicherheit in dieser Frage behoben werden� Die römische Provinzialverwaltung befleißigt sich erkennbar der Mäßigung und begrenzt ihren Verfolgungseifer durch die Nichtzulassung anonymer Anzeigen� Wollten die römischen Behörden solchen Anzeigen nachgehen, meint Trajan in seinem Antwortschreiben, wäre das ein „schlimmes Beispiel“ ( pessimum exemplum ), das so gar nicht in „unsere Zeit“ ( saeculum nostrum ) passen würde (ep� 10,97,2)� 6 Das römische saeculum ist nach römischer Selbstauffassung eine Zeit des immer weiter um sich greifenden „Friedens“ ( pax ), den Rom den Völkern gebracht und unter ihnen und zwischen aufgerichtet hat� Dass die Unruheprovinz Judaea auf militärischem Weg befriedet wurde, ist bei Abfassung des Pliniusbriefes zu den Christenprozessen bereits 37 Jahre her, von der Erstürmung Masadas 74 n� Chr� an gerechnet, bei Fertigstellung der Naturgeschichte erst drei Jahre� Aber schon der ältere Plinius rühmt die römische pax als Geschenk an die Völker, das ihnen Zivilisation und blühenden Handel beschert hat� Im 27� Buch führt Plinius dies am Beispiel der Heilkräuter aus, die er als göttliches Geschenk von „Mutter Natur“ preist, und die nun obendrein durch die von der römischen Friedensmacht geschaffenen und gesicherten internationalen Handelswege im freien Warenverkehr überall verfügbar sind: „[D]as skythische Kraut kommt von den maeotischen Sümpfen, die Wolfsmilch (…) vom Berge Atlas und von jenseits der Säulen des Herakles und selbst von dorther, wo die Natur ihr Ende hat; auf anderer Seite von den über die Länder hinausliegenden 6 Text und Übersetzung: H� Kasten (Hg�), Gaius Plinius Caecilius Secundus, Briefe - Epistularum libri decem� Lateinisch-deutsch, München / Zürich 6 1990, 644 f� Manuel Vogel, geb� 1964 in Frankfurt / Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller- Universität Jena� Veröffentlichungen u� a� zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum� 78 Manuel Vogel Inseln des Ozeans kommt die Britannica , ebenso die Aithiopís aus der von den Gestirnen ausgebrannten Himmelsgegend, und andere außerdem von daher und dorther zum Wohle des menschlichen Geschlechts auf der ganzen Erde, und zwar unter der unermesslichen Herrlichkeit des römischen Friedens ( humanae saluti in toto orbe …, inmensa Romani pacis maiestate ), die nicht nur die Menschen untereinander verschiedener Länder und Völker bekanntgemacht, sondern auch die Berge und die in die Wolken ragenden Gipfel und ihre Erzeugnisse und Pflanzen im Austausch gezeigt hat� Möchte doch, ich bitte darum, dieses Geschenk der Götter von ewiger Dauer sein! So sehr hat es den Anschein, dass sie die Römer der Menschheit gleichsam als zweites Licht geschenkt haben“ (Nat� hist� 27,1,2 f)� 7 An anderer Stelle kommt der römische Anspruch auf die Weltherrschaft und das damit verbundene zivilisatorische Programm noch deutlicher zum Tragen: Italien ist das Land „das die Ernährerin und zugleich auch die Mutter aller Länder ist (…), das nach dem Willen der Götter ausersehen ist, sogar den Himmel glanzvoller zu machen, die zerstreuten Mächte zu vereinigen, die Sitten zu veredeln, die verschiedenartigen und rohen Sprachen so vieler Völker durch die Gemeinsamkeit der Umgangssprache zusammenzuführen, den Menschen Menschlichkeit zu verleihen ( humanitatem homini daret ), kurz, das alleinige Vaterland aller Völker auf dem ganzen Erdkreis ( una cunctarum gentium in toto orbe patria ) zu werden“ (Nat� hist� 3,6,39)� 8 Der naturkundliche Vergleich im Blick auf Klima, geographische Lage, Fruchtbarkeit der Böden, Reichhaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt wie auch der Bodenschätze bestätigt den Vorrang und die Vorherrschaft Roms, die den Völkern der Welt nur zum Vorteil gereichen kann� Für den Naturforscher Plinius ist klar: „Auf der ganzen Erde, wo nur immer sich die Wölbung des Himmels ausbreitet, ist also das schönste Land, das mit Recht in allen Dingen den ersten Rang in der Natur einnimmt, Italien, die Herrscherin und zweite Mutter der Welt ( rectrix parensque mundi altera )“ (Nat� hist� 37,77,201)� 9 7 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Bücher XXVI / XXVII, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, München / Zürich 1983, 124-127. 8 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Bücher III / IV, herausgegeben und übersetzt von Gerhard Winkler in Zusammenarbeit mit Roderich König, München / Zürich 1988, 36-38. 9 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Buch XXXVII, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp, München / Zürich 1994, 134 f� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 79 Hier präsentiert sich eine Naturkunde, die die Expansionsbestrebungen des römischen Imperiums natur- und geowissenschaftlich untermauert und legitimiert� Nach der Natur als der „Mutter und Regentin“ kommt an zweiter Stelle sogleich Rom, das von der Natur selbst begnadet und ausersehen ist, die bewohnten Weltregionen mütterlich zu versorgen und zu beherrschen� 2. Frühjüdische Außensichten Imperiale Legitimationsnarrative haben, wie man unbesehen annehmen darf, durchweg ihre hässliche Kehrseite, welche die Legitimation allererst nötig macht� Mit Blick auf späte Republik und frühe Kaiserzeit sind es namentlich jüdische Quellen, die diese Kehrseite anschaulich zur Sprache bringen� Erstmals mit der Belagerung und Einnahme des Jerusalemer Tempels durch Pompeius im Jahr 63 v� Chr� wurde der römische Anspruch auf die Region auch für Judäa handgreiflich� Waren die Römer in den internen Zwistigkeiten zwischen den um die Macht streitenden hasmonäischen Brüdern Aristobul und Hyrkan zunächst als Vermittler aufgetreten, „nutzten“ sie jedoch bald „den innenpolitischen Streit der beiden Brüder geschickt für ihre Zwecke aus“, 10 mit dem Ergebnis, dass Judäa „in einem ‚Zwischenzustand‘ zwischen einer Selbstverwaltung und der völligen Eingliederung in das römische Provinzialsystem“ 11 Rom tributpflichtig wurde� „Außenpolitisch war Judäa“ damit „ein von Rom unterworfener und abhängiger Staat“ 12 � Die römische Sicht formuliert bündig Tacitus, Hist� 5,9: „Als erster Römer bezwang die Judäer Cn� Pompeius, der nach Siegerrecht auch den Tempel betrat“� 13 Josephus, der nach 70 n� Chr� sein römisches Oberschichtpublikum anhand historischer exempla zur Mäßigung gegenüber den besiegten Judäern anhalten will, attestiert Pompeius selbst in diesem Moment noch einen Rest an Frömmigkeit (Ant� 14,72 f)� In den antihasmonäischen Psalmen Salomos (2� Hälfte 1� Jh� v� Chr�) findet das Sakrileg des Pompeius, der zum Entsetzen der Jerusalemer Bevölkerung das Allerheiligste des Tempels betreten hatte, dagegen einen unzweideutig kritischen Niederschlag: 10 P� Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike� Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, 2 2019, 94� 11 Schäfer, Geschichte, 93 f� 12 M� Sasse, Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels, Neukirchen-Vluyn 2004, 236; ausführlicher hierzu E� Schürer, G� Vermes, F� Millar, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, Bd. 1, Edinburgh 1973, 236-242. 13 Übersetzung: P� Cornelius Tacitus, Historien� Lateinisch-deutsch, herausgegeben von Joseph Borst unter Mitarbeit von Helmut Hross und Helmut Borst, München / Zürich 1984, 523 mit Änderung� 80 Manuel Vogel „In (seiner) Fremdheit übte der Feind Übermut / und sein Herz war fremd von unserem Gott / und alles, was er in Jerusalem tat, / (war so,) wie es auch die Heiden in (ihren) Städten <ihren Göttern> (tun)“ (PsSal 17,13 f�)� 14 Mit Genugtuung notiert PsSal 2,26 f das gewaltsame Todesgeschick des Pompeius, das ihn im September des Jahres 48 v� Chr� bei seiner Landung im ägyptischen Pelusion (hierzu Plutarch, Pompeius, 79) ereilt hat: „Und es dauerte nicht lange, bis Gott mir seinen Übermut zeigte, / durchbohrt auf den Bergen Ägyptens, / geringer geschätzt als der Geringste zu Wasser und zu Land; / sein Leichnam trieb auf den Wellen unter großer Schmach, / und es war keiner da, der ihn begrub, / weil er ihn in Schande geringachtete“� 15 Wird hier der aufkeimende Hass gegen Rom - auch ohne jede Namensnennung mit überdeutlichem Bezug - noch ad personam artikuliert, wenden sich andere Quellen gegen Rom insgesamt� Der mit den Psalmen Salomos etwa zeitgleiche Habakuk-Pescher aus Qumran 16 deutet mehrere Stellen des Propheten Habakuk auf die Römer, die er unter Verwendung eines Decknamens „Kittäer“ nennt: Sie sind „rasch (…) und kraftvoll im Krieg, so dass sie vi[e]le zugrunde richten“ (1QpHab II,12 f)� Es sind diejenigen, „vor denen Furcht [und S]chrecken auf allen Völkern liegt� Mit Vorsatz ist all ihr Planen (darauf aus), Böses zu tun und mit [Arg]list und Trug verfahren sie mit all den Völkerschaften“ ( III ,4 f)� Sie „zerstampfen (das Land) mit [ihren] Rossen und ihren Tieren� Von fern her kommen sie von den Inseln des Meeres, um aufzufressen [a]lle die Völkerschaften, wie ein Geier unersättlich� Mit Grimm unt[erjochen sie sie und mit Zorn]glut und Wut reden sie mit [allen Völkerschaften]“ ( III ,9-11). Von den „Herrscher(n) der Kitti'im“ gilt, dass sie im Bewusstsein ihrer militärischen Überlegenheit „die Festungen der Völkerschaften (verachten) und mit Spott über sie lachen� Mit viel Volk umzingeln sie sie, um sie einzunehmen, unter Furcht und Schrecken fallen sie in ihre Hand“ ( IV ,5-8). Diese Überlegenheit geht freilich einher mit maßloser Grausamkeit, denn sie „(vernichten) viele mit dem Schwert (…), Jünglinge, Männer und Greise, Frauen und Kinder und selbst der Frucht des Leibes erbarmen sie sich nicht“ ( VI ,10-12). Klar ist, dass die militärische Expansion der „Kittäer“ mit wachsender Prosperität einhergeht bzw� hier ihr Motiv hat: „[S]ie häufen Ihren Besitz mit all ihrer Beute auf wie Meeresfische“ ( VI ,1 f), und sie sind berüchtigt dafür, „dass sie ihr Joch verteilen und ihre Fron, ihre Speise, auf alle Völker, Jahr für Jahr, so dass sie viele Länder verheeren“ ( VI ,6-8). Aus 14 Übersetzung: S� Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV / 2), Gütersloh 1977, 100� 15 Übersetzung: Holm-Nielsen, Psalmen Salomos, 66� 16 Übersetzung hier und nachfolgend aus: J� Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1, München 1995, 158-163. Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 81 der Sicht des Verfassers spielt die Jerusalemer Priesterschaft die so bekannte wie unrühmlich Rolle der lokalen Eliten, die mit der Fremdmacht kooperiert und daraus erhebliche materielle Vorteile zieht� In IX ,4 f wendet sich der Verfasser gegen „die Priester Jerusalems, die neuesten, die, die Besitz anhäufen und Gewinn aus der Beute der Völkerschaften“� Dies wird aber, des ist sich der Ausleger des Habakuk-Buches sicher, nicht das letzte Wort der Geschichte sein, denn „zum Ende der Tage wird ihr Besitz dahingegeben samt ihrer Beute in die Hand des Heeres der Kitti'im“ ( IX ,6 f)� Dass hinter den „Kittäern“ tatsächlich die Römer stehen, verrät die Stelle VI,3-5, die von der kultischen Verehrung der römischen Feldzeichen Kenntnis hat: Es heißt dort, dass die Kittäer „ihren Feldzeichen Opfer schlachten, und ihre Kriegsgeräte, die sind (Gegenstand) ihre(r) Ehrfurcht“� Zweifelsfrei ist der Rom- Bezug gesichert durch 4QpNah Frg� 4+3 I,3, wo ausgehend von den „Könige(n) von Jawan“ ein Bogen geschlagen wird „von Antiochus bis zum Auftreten der Kitti'im“� 17 Gemeint ist damit „die Zeitspanne von Antiochus IV (175-164) bis zur römischen Eroberung mit der Entsendung aufeinander folgender Prokuratoren in Syrien (ab 65 v� Chr�)“� 18 An der Polemik des Habakuk-Pescher fällt auf, dass er bis auf die Erwähnung der als korrupt bezeichneten Jerusalemer Priesterschaft in IX ,4 f nirgends speziell um das Geschick Judäas geht� Vielmehr sind es stets „alle Völker(schaften)“, die aus Sicht des jüdischen Habakuk-Auslegers unter der militärischen Gewalt von und der Ausbeutung durch Rom zu leiden haben� Mithin teilt der Habakuk-Pescher das, was Hans G� Kippenberg den „gesamtvorderasiatischen Standpunkt im Kampf gegen Rom“ genannt hat, jedenfalls insofern, als der Text ein Bewusstsein von der Unbegrenztheit des römischen Machthungers verrät, der folgerichtig auch viele andere Ethnien und Regionen in seine Gewalt bringt� 19 Für die These einer gesamtvorderorientalischen Opposition gegen Rom verweist Kippenberg auf Texte aus den jüdischen Sibyllinen und dem persischen Hystaspesorakel� Im dritten Buch der Sibyllinischen Orakel 20 wird der Untergang Roms imaginiert als Umkehrung der Ausbeutung des vorderasiatischen Raumes durch Rom: 17 Übersetzung: J� Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd� 2, München 1995, 89� 18 H� Lichtenberger, Das Rombild in den Texten von Qumran, in: H�-J� Fabry / A� Lange / H� Lichtenberger (Hg�), Qumranstudien (SIJD4), Göttingen 1996, 221-231, 226. 19 H� G� Kippenberg, „Dann wird der Orient herrschen und der Okzident dienen“� Zur Begründung eines gesamtvorderasiatischen Standpunktes im Kampf gegen Rom, in: N� Bolz / W� Hübner (Hg�), Spiegel und Gleichnis (FS Jacob Taubes), Würzburg 1983, 40-48. 20 Zum kleinasiatischen Umfeld des dritten Buches der Sibyllinischen Orakel im 1� Jh� v� Chr� vgl� R� Buitenwerf, Book III of the Sibylline Oracles and its Social Setting, with an Introduction, Translation and Commentary (SVTP 17), Leiden 2003� 82 Manuel Vogel „Wieviel Rom an Tribut von Asien hat übernommen, / dreimal so viele Schätze wird Asien dann wiederbekommen / von Rom, den verderblichen Hochmut an ihm wird es rächen� / Wieviel aus Asien einst in den Häusern der Italer dienten, / zwanzigmal so viele werden in Asien / Knechtsdienst leisten in Armut, zehntausendfach werden sie schulden“ (Sib 3,350-355). 21 Auch im umfangreich bei Laktanz zitierten Hystaspes-Orakel wird die Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Rom und Asien angekündigt, die von Chaos und Untergang begleitet sein wird: „Der Grund dieser Verwüstung und Verwirrung wird sein, dass das Römertum, von dem jetzt die Welt beherrscht wird (…) von der Erde beseitigt werden und die Herrschaft wieder nach Asien zurückkehren und wieder der Osten herrschen und der Westen dienen wird“ (bei Laktanz, Divinae Institutiones VII 15,11)� 22 Ob diese und andere Stellen tatsächlich den Schluss auf einen über nationale Grenzen und Ethnien hinaus sich formierenden Widerstand gegen Rom zulassen, wie Kippenberg annimmt, muss hier nicht entschieden werden� Wichtig ist in unserem Zusammenhang dagegen, dass der Akzent in diesen Texten nicht auf der militärischen, sondern auf der ökonomischen Gewalt des römischen Imperiums liegt, und dass diese aus Sicht der jüdischen Sibylle alle Länder des Ostens, die sich unter das römische Joch beugen mussten, gleichermaßen hart trifft� 23 21 Übersetzung: Sibyllinische Weissagungen� Griechisch-deutsch� Auf der Grundlage der Ausgabe von Alfons Kurfeß neu übersetzt und herausgegeben von Jörg-Dieter Gauger, Düsseldorf / Zürich 1998, 85� Weitere Lit�: O� Stewart Lester, Prophetic Rivalry, Gender, and Economics. A Study in Revelation and Sibylline Oracles 4-5 (WUNT II 466), Tübingen 2018� 22 Übrsetzung: S� Freund, Laktanz� Divinae Institutiones Buch VII: De vita beata� Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar (TK 31), Berlin - New York 2008, 155� Zu den breit diskutierten Fragen nach dem Umfang der Benutzung der Quelle durch Laktanz und ihrer religionsgeschichtlichen Herkunft ausführlich ebd., 53-69. 23 Der britische Militärhistoriker Adrian Goldsworthy resümiert: „For the talk of pacification, the Romans did not pretend that they carved out their empire for any reason other than to benefit Rome� Roman strength and dominance were good things in their own right, which gave them greater security and made them richer� Provinces an allies were not acquired for their own good, but for the good of Rome“ (A� Goldsworthy, Pax Romana� War, Peace and Conquest in the Roman World, London 2016, 410)� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 83 3. Der Untergang Roms und das Ende des militärisch abgesicherten Welthandels nach Offb 18 In der Johannesoffenbarung wird Rom nirgends mit Klarnamen genannt, auch nicht seine Herrscher, obwohl römische Kaiser im apokalyptischen Sprachspiel von Enthüllung und Verhüllung eine große Rolle spielen� Mit den zeitgeschichtlichen Anspielungen scheint es sich so zu verhalten, dass jede von ihnen deutlich genug auf römische Gegebenheiten hinweist, dies aber ohne eine letzte Eindeutigkeit, die eine sichere Identifikation erlaubte� Ein Beispiel hierfür ist die Vision von der Frau auf dem Tier Offb 17,1-18: Die „Hure, die an vielen Wassern thront“ (V�1) und plötzlich in der Wüste als „Frau“ auf einem „scharlachroten Tier (…) mit sieben Köpfen und zehn Hörnern“ erscheint (V�3), wird mit einem „Geheimnamen“ (V�5) benannt, der „Babylon“ lautet� Das mit diesem Namen gegebene „Geheimnis“ wird vom Engel im folgenden (17,7-18) entschlüsselt, aber doch nicht so, dass das Gesagte sich aufgrund unseres Wissens von der frühen Kaiserzeit zweifelsfrei deuten ließe� Die präzis beschriebene Herrscherfolge in V�10 f (mit der Merkwürdigkeit, dass das Tier mit den sieben Königen / Häuptern auf einmal als achter König, der „aus den sieben ist“, genannt wird) hat zu „viel Raterei“ geführt, mit dem Ergebnis, dass sich „jeder Versuch (…), die vorausgesetzte Geschichte an ihrem uns historiographisch gesichert erscheinenden Verlauf zu verifizieren,“ als „hoffnungslos“ erweist� Gleichwohl wird in der Enthüllung des Geheimnisses „fast unverhüllt“ auf Rom verwiesen, 24 nämlich dort, wo der Engels auf die „sieben Hügel“ zu sprechen kommt (V�9)� Die Rede von Rom als der „Stadt auf sieben Hügeln“ war in der Antike sprichwörtlich, 25 und sie ist auch numismatisch eindrucksvoll dokumentiert� 26 „Babylon“ ist mithin 24 T� Holtz, Die Offenbarung des Johannes (NTD 11), Göttingen 2008, 115 f� 25 Vgl� S� Ball Platner, The Septimontium and the Seven Hills, CP 1 / 1906, 69-80; C. Frateantonio, Art� Septimontium, DNP Bd� 11, 436� 26 „Eine Münze aus der Zeit Vespasians (71) bildet die Dea Roma auf sieben Hügeln sitzend ab, verbunden mit eindeutig römischen Attributen (Tiber, Romulus / Remus / Wölfin- Gruppe)� Die Ikonographie unterstützt die Identifizierung der auf sieben Hügeln sitzenden Hure (Offb 17,9) mit Rom“, so S� Schreiber, Attraktivität und Widerspruch� Die Dämonisierung der römischen Kultur als narrative Strategie in der Offenbarung des Johannes, in: Schmeller / Ebner / Hoppe, Offenbarung, 74-106, 89 Anm. 58. Zu dieser Münze verweist Schreiber auf D� Aune, Revelation 17: A Lesson in Remedial Reading, in Ders�, Apocalypticism, Prophecy and Magic in Early Christianity: Collected Essays (WUNT I 199, Tübingen 2006, 240-49, 243. Ein besonders gut erhaltenes Exemplar ist unter http: / / www�icollector�com/ Roman-Empire-Vespasian-69-79-Sestertius-71-28-39g_i9258028 (letzter Zugriff am 30� 8� 2019) in einer hochauflösenden Aufnahme abgebildet� 84 Manuel Vogel „Deckname für die gottfeindliche Macht der Welt (…), die sich in der Gegenwartserfahrung der Offb in Rom historisiert“� 27 Der Untergang von Babylon=Rom wird im anschließenden achtzehnten Kapitel so anschaulich wie drastisch geschildert und zwar in Aufnahme der Polemik gegen Rom als Wirtschaftsmacht, die uns bereits in den Sibyllinen und im Hystaspes-Orakel begegnet ist� Was in diesen Texten im Modus Weissagung ausgesprochen ist (Rom wird dem Orient dienen), wird in der Offenbarung zum Aufruf zu einer aktiven Vergeltung: „Gebt ihr zurück, wie sie euch gegeben hat; zahlt ihr das Doppelte heim von dem, was sie getan hat! Schenkt ihr in den Becher, den sie euch gemischt hat, das Doppelte ein! Was sie an Pracht und Luxus genossen hat, das gebt ihr nun an Qual und Trauer! “ (Offb 18,6 f)� Über das Gericht, das Babylon=Rom „an einem Tag“ (V�8), ja, „in einer Stunde“ (V�10�17) ereilen wird, werden all diejenigen voller Angst und Schrecken klagen, die Profiteure des militärisch bewehrten römischen Welthandels waren: Die „Könige der Erde“ (v�9 f�), die „Händler der Erde“ (V�11) und „jeder Kapitän und jeder Küstenschiffer, die Seeleute und alle, die zur See fahren“ (V�17)� Der Himmel jedoch und die Heiligen, die Apostel und Propheten sollen sich „über sie freuen“, weil Gott selbst „euer Gericht über sie vollstreckt“ hat (V�20)� Das heißt: Die Schadenfreude über den Untergang Roms wird vom Himmel her nicht nur geduldet, sondern geradezu verordnet� Die Wehklage der Händler enthält in 18,12 f eine Liste von (mehrheitlich) Luxusgütern, die, weil der Untergang Roms eben auch eine ökonomische Katastrophe ist, nicht mehr gehandelt werden können� Im Blick auf diese Liste konstatiert Richard Bauckham: „The Book of Revelation is one of the fiercest attacks on Rome and one of the most effective pieces of political resistance literature from the period of the early empire� Its thoroughgoing criticism of the whole system of Roman power includes an important element of economic critique� This condemnation of Rome’s economic exploitation of her empire is the most unusual aspect of the opposition to Rome in Revelation, by comparison with other Jewish and Christian apocalyptic attacks on Rome“� 28 27 Holtz, Offenbarung, 114; ähnlich Karrer, Johannesoffenbarung, 50� Zur Verwendung der Babylon-Chiffre in 1Petr 5,13 vgl� Euseb, h� e� II,15,2: „Petrus gedenkt des Markus in seinem ersten Brief, den er in Rom verfasst haben soll, was er selbst andeutet, indem er diese Stadt bildlich Babylon nennt, wenn er sagt: ‚Es grüßt Euch die miterlesene Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn‘�“ (Text: Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte� Herausgegeben und eingeleitet von H� Kraft, Darmstadt 1984, 132)� 28 R� Bauckham, The Economic Critique of Rome in Revelation 18, in: ders�, The Climax of Prophecy� Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 2 1998, 338-383, 383. Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 85 Die kritischen Implikationen dessen, was sich zunächst als reine Aufzählung liest, treten am Schluss der Liste zutage, wenn sie nach Rindern, Schafen, Pferden und Wagen abschließend auch „Sklavenleiber, das heißt: Menschenseelen“ nennt� Der griechische Text wirft wegen des nicht leicht nachvollziehbaren Wechsels zwischen Akkusativ- und Genitiv-Verbindungen einige Probleme auf� Charles hat die Auffassung vertreten, dass die Wortfolge „und von Pferden, Wagen und [Sklaven-]Leibern“ in v�13 eine Interpolation darstellt, nicht nur wegen der sperrigen Konstruktion des vorliegenden Textes, sondern auch weil „[Sklaven-]Leiber“ (griech� sōmata ) und „Menschenseelen“ (griech� psychai anthrōpōn ) synonym seien, d� h� eine Doppelung darstellen� 29 Aber gerade die Doppelung ist von Gewicht, dann nämlich, wenn man das „und“ (griech� kai ) zwischen „[Sklaven-]Leibern“ und „Menschenseelen“ wie in der hier gewählten Übersetzung, Bauckham folgend, epexegetisch, d� h� erläuternd auffasst und mit „das heißt“ wiedergibt� 30 Dann ist gesagt: Bei dem, was als Handelsgut technisch unter „Leiber“ geführt wird, handelt es sich um leidensfähige Seelen von Menschen� Die für den antiken Sklavenhandel charakteristische Entmenschlichung und Neutralisierung von Menschen als bloße Handelsware wird dann mit einem kurzen erläuternden Zusatz aktenkundig� 31 4. „Was in Bälde geschehen soll“: Die Zeiterfahrung der Johannesoffenbarung als historischer Index Die Johannesoffenbarung lässt einen intensiven Bezug zu ihrer eigenen Gegenwart erkennen, d� h� zu der Zeit, in der sie entstanden ist: Die Rahmenstücke prägen dem ganzen Buch eine Zeiterfahrung auf, die die eigene Gegenwart nicht anders verstehen kann als auf die Spitze getriebene Geschichte� Das Buch führt sich ein als „Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Bälde geschehen soll ( ha dei genesthai en tachei )“ (1,1)� Gewiss, die Schriftlichkeit des vorzutragenden und zu hörenden Textes, der lesend und hörend „zu bewahren“ ist (1,3), setzt einen retardierenden Akzent: Offenkundig ist noch Zeit zum Niederschreiben und zum Memorieren des Geschriebenen� 29 R� H� Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St� John (ICC), Bd� 2, Edinburgh 1920, 104� 30 Bauckham, Critique, 370� 31 So auch Bauckham, a� a� O�: „John (…) intends a comment on the slave trade� He is pointing out that slaves are not mere animal carcasses to be bought and sold as property, but are human beings� But in this emphatic position at the end of th list, this is more than just a comment on the slave trade� It is a comment on the whole list of cargoes� It suggests the inhuman brutality, the contempt for human life, on which the whole of Rome’s prosperity and luxury rests�“ Weitere Lit�: J� N� Kraybill, Imperial Cult and Commerce in John’s Apokalypse (JSNT�S 132), Sheffield 1996� 86 Manuel Vogel Auch das, was im Jargon der Exegese „Naherwartung“ heißt, hat mithin ein Bewusstsein vom Fortgang von Geschichte selbst dort, wo die Geschichte längst auf die Spitze getrieben ist� Was aber Schreiben, Vorlesen, Hören und Bewahren dringlich macht, ist nicht der Fortgang der Geschichte, sondern ihre baldige Erfüllung: „Die Zeit ist nahe ( ho kairos engys )“ (1,3)� Die Zeitansage der Eingangsverse wird im Schlusskapitel aufgenommen� Die in 22,6 bekräftigte Zuverlässigkeit des Geschriebenen verdankt sich der Beauftragung des Engels durch Gott, „zu zeigen seinen Knechten, was in Bälde geschehen soll“� Es folgt die Zusage des Auferstandenen: „Siehe, ich komme bald ( idou erchomai tachy )“ und wie schon in 1,3 die Seligpreisung derer, die bewahren, was aufgeschrieben wurde� Dass das Buch nicht versiegelt werden soll, erfährt in 22,10 dieselbe Begründung wie die Notwendigkeit das Geschriebene zu bewahren: „Die Zeit ist nahe“ (22,10)� Noch zweimal erklingt nach 22,10 das „Siehe, ich komme bald“ (22,12�20), und am Schluss respondiert die Gemeinde: „Amen, ja, komm, Herr Jesus! “ (22,20)� Nirgends sonst in den neutestamentlichen Schriften wird frühchristliche Zeiterfahrung so eindringlich formuliert� Diese Zeiterfahrung besteht darin, dass die je eigene Gegenwart so erlebt wird, dass die Geschichte so nicht mehr weitergehen kann und so nicht mehr weitergehen wird � Zeit wird mithin erfahren als auf der Kippe stehend� Steigerungen von Unrecht und Leid werden dann als nicht mehr weiter steigerbar wahrgenommen und die sich anbahnende Katastrophe als unmittelbar bevorstehend aufgefasst� Naherwartung ist deshalb ein Modus authentischer Zeiterfahrung, der die Gegenwart auf den Leib rückt in einem Zustand gesteigerter Wachheit� Naherwartung kann sich phasenweise abschwächen, auch enttäuscht werden, für beides gibt es im frühchristlichen Schrifttum genügend Belege� Sie erschöpft oder erledigt sich aber nicht, sondern kann jederzeit neu auftreten� Auch hierfür gibt es Belege, etwa den Montanismus im 2� Jh� Im Rückblick auf Szenarien intensiver Naherwartung kann man fraglos sagen, dass ihre Akteure sich in einem historischen Sinn „getäuscht“ haben - der Seher Johannes stünde dann an erster Stelle, noch vor Jesus -, aber man kann auch unterschiedliche Qualitäten von Zeiterfahrung vergleichen und umgekehrt fragen, welche (in der Regel: materiellen) Faktoren eine Zufriedenheit mit dem status quo erzeugen, die es allererst erlaubt, die Geschichte als ruhigen Zeitfluss zu verstehen und sich selbst darin mit Zins und Zinseszins für Kind und Kindeskind einzurichten� Die Johannesoffenbarung forciert authentische Zeiterfahrung durch eine Deutung ihrer eigenen Gegenwart als unmittelbar bevorstehende ultimative Konfrontation des Unrechts mit dem Recht und der Gewalt mit der Vergeltung� Für unser Thema heißt das: Die römischen Verhältnisse haben die Geschichte nach Auffassung des Sehers auf die Spitze getrieben und die Zeit fast schon zum Kippen gebracht� Die Johannesoffenbarung ist insofern radikal und radikal Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 87 feindselig antirömisch, als sie in den römischen Verhältnissen ihrer unmittelbaren Gegenwart eine nicht mehr steigerbare Steigerung dessen erblickt, was frühere Großreiche und Zentren politischer und ökonomischer Macht an Gewalttat aufgeboten haben: Rom ist Babylon in Potenz, Rom ist Tyrus in unerträglichem Ausmaß� Die Typologie, die hier zum Tragen kommt, relativiert nicht die Gegenwart im Blick auf eine schon immer schlimme Vergangenheit, sondern sie kulminiert Vergangenheit im Jetzt� Rom ist nicht „überall“, und Rom war nicht „immer schon“, sondern was überall und immer schon die Menschen gequält hat, das quält die Menschen unter reichsrömischen Bedingungen in einer Maßlosigkeit, die für den Seher gar keinen anderen Schluss zulässt, als dass es so nicht weitergehen kann und nicht weitergehen wird � Die Naherwartung der Johannesapokalypse fordert also ihre Auslegung auf die reichsrömischen Verhältnisse der Jahrzehnte nach Nero� 5. „Was habt ihr da in eurem Kasten? “: Die Pauluslektüre der Märtyrer von Scilly Die antirömische Position der Johannesoffenbarung liest sich gerade in der kanonischen Schlussstellung des Buches wie eine Anspielung auf die weitere Entwicklung des frühen Christentums in der Zeit nach der Entstehung der im neutestamentlichen Teil des Bibelkanons zusammengefassten Schriften� Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch eine bis zur konstantinischen Wende - nicht kontinuierlich und auch nicht überall in gleichem Maße, stellenweise dafür umso schärfer - sich zuspitzende Konfrontation der frühen Kirche mit dem römischen Kaiser und seinen Akteuren� Insofern markiert die Johannesoffenbarung am Ende des Kanons den Auftakt zu einem Konflikt, der zwar bereits im hellenistischen Judentum eine Vorgeschichte und bereits in den neutestamentlichen Schriften seine Spuren hinterlassen hat, der aber erst in nachneutestamentlicher Zeit voll zum Ausbruch gekommen ist� Zeichnet man die Johannesoffenbarung in dieser Weise in den weiteren Verlauf der Kirchengeschichte des zweiten, dritten und beginnenden vierten Jhs� ein, erhält die antirömische Lektüre des Buches zusätzliche Plausibilität� Die ist umso wichtiger, als die Johannesoffenbarung im binnenneutstamentlichen Vergleich mit Ihrer kategorischen Unduldsamkeit im Blick auf die politische Großwetterlage ihrer Zeit nicht nur allein dasteht, sondern auch Seite an Seite mit anderen frühchristlichen Positionen steht, die auf die römischen Verhältnisse mit Überanpassung reagiert haben� 32 Der apokalyptischen Fundamentalopposition stehen innerhalb 32 Vgl� hierzu M� Vogel, Römer 13 als Lobrede auf die Verfolger, in: S� Alkier / C� Böttrich / M� Rydryk (Hg�), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwor- 88 Manuel Vogel des Neuen Testaments Strategien der Konformität gegenüber, die bereits im hellenistischen Judentum ein gangbarer Weg waren, um eine oft als willkürlich, bedrohlich und gewaltsam erfahrene Obrigkeit gleichwohl als Teil einer von Gott gegebenen Ordnung zu akzeptieren und sich entsprechend mit ihr zu arrangieren. Der prominenteste Text, Röm 13,1-7, steht in einem handgreiflichen Gegensatz zu Offb 13, so wahr man von einem Imperium, das im Bildgewand eines widergöttlichen Tieres auftritt, nicht sagen kann, es sei als Obrigkeit von Gott eingesetzt� 33 Zwei weitere Texte auf der Linie von Röm 13 finden sich im Gefolge paulinischen Denkens: 1 Tim 1,2 f und Tit 3,1-3. Hinzu kommt 1 Petr 2,13-17. Gemeinsam ist diesen Texten, die in der Tradition hellenistisch-jüdischer Loyalitätsparänese stehen, ein subversives und ein in einem weiteren Sinne ironisches Moment: hellenistische Juden und frühe Christen waren „der Obrigkeit treu im Namen des einen Gottes, der als Allherrscher eine Leerstelle markierte, die von keinem menschlichen Herrscher besetzt werden durfte“� Und: „[H]ellenistisch-jüdische und frühchristliche Loyalität gegenüber der Obrigkeit [war] immer schon konflikterprobt und kritikfähig“� 34 Insofern ist Römer 13, wo diese Loylität eingefordert wird, von Offb 13, wo sie nicht in Frage kommt, nicht gar so weit weg, wie es auf den ersten Blick scheinen will� Hierzu passt, dass in einer der ältesten altkirchlichen Märtyrerakten die mutigen Christen nicht mit der Johannesoffenbarung vor dem römischen Statthalter stehen, sondern ausgerechnet mit den Paulusbriefen� In den Akten der Märtyrer von Scilly, die als Prozessprotokoll stilisiert sind, 35 fragt der römische Proconsul die angeklagten Christen: „Quae sunt res in capsa vestra? “, worauf der Christ Speratus antwortet: „ Libri et epistulae Pauli viri iusti “� 36 Der demonstrative Verweis auf Paulus soll deutlich machen, dass die im Römerbrief und in späteren Texten geforderte Loyalität gegenüber der römischen Obrigkeit einschließlich eines moralisch tadelloses Lebens die Ablehnung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs nicht ausschließt, ja, dass die Christen sich darauf gefasst machen müssen, dass ihr untadeliger Wandel nicht konfliktmindernd, sondern im Gegenteil konfliktverschärfend wirkt, denn je deutlicher Versuche der Kriminalisierung einer politischen Fundamentalopposition von Leuten, die sich ansonsten nichts zuschulden kommen lassen, von vornherein als aussichtslos erscheinen, desto gefährlicher muss diese Opposition für das Imperium werden� Dass die Johannesoffenbarung in ihrer Stellung am Schluss des Kanons zugleich tung (FS R. Reinmuth), Leipzig 2017, 221-252. 33 Zum Vergleich beider Texte vgl� auch Berger, Theologiegeschichte, 587 f� 34 Vogel, Römer 13, 248� 35 Vgl� hierzu: R� Seeliger / W� Wischmeyer (Hg�), Märtyrerliteratur (TU 172), Berlin u� a� 2015, 96-100. 36 Text: Seeliger / Wischmeyer, Märtyrerliteratur, 94� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 89 ein Auftakt ist im erst noch bevorstehenden Konflikt der Christen mit Rom, hat mithin auch einen innerneutestamentlichen Bezug: Die Johannesoffenbarung setzt das Böse jenes Systems mythologisch ins Bild, das gerade diejenigen zu spüren bekommen, die sich mit größtmöglicher Konformität und gutem Willen darin zu bewegen versuchen� 6. Epilog: Der Onkel, der Neffe und der Dom Der ältere wie der jüngere Plinius stammten aus dem oberitalienischen Como� Bis heute sind beide, der Onkel und der Neffe, die berühmtesten Söhne der Stadt� Bereits Ende des 15� Jh� wurden sie an prominenter Stelle mit zwei Statuen geehrt, nämlich an der Fassade des Comeser Doms� 37 Wer informiert oder kundig geführt dieses Gotteshaus besichtigt, stellt verwundert fest, dass zwei Römer, die weder Heilige noch überhaupt Christen waren, ja, deren einer die Christen bekanntermaßen scharf verfolgt hat, einen Ehrenplatz in einer christlichen Kirche erhalten haben� Offenbar hat sich in jener Zeit, da die Figuren in Auftrag gegeben, gefertigt und aufgestellt wurden, der Comeser Klerus so sehr mit der Stadt und ihrer Geschichte identifiziert, in welcher die beiden Plinii einen solch herausragenden Platz einnahmen, dass man sich nicht daran störte, einen Christenverfolger vollplastisch an einer Kirchenfassade zu verewigen� Hier hat nicht nur der (Lokal-)Patriotismus dem Christlichen den Rang abgelaufen, hier firmiert außerdem Rom längst als Größe der Kulturgeschichte, in die man sich mit der eigenen Kultur und Geschichte bis auf den heutigen Tag gern einreiht� Im kulturellen Paradigma des bürgerlichen Bildungsideals, das das antike Griechenland und Rom als seine maßgeblichen Referenzepochen beansprucht, sind römische Kultur und Geschichte hoch geschätzt, seit der Aufklärung außerdem auch als Widerpart zum klerikalen Dogmatismus, der aus aufgeklärter Sicht allzu bald in Rom Einzug hielt� „Das neue Rom, das gottlose aber konsequente“, schrieb Schleiermacher in seiner zweiten Rede, und meinte damit das katholische Rom, „schleudert Bannstrahlen und stößt Ketzer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Stil, war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll“� 38 Dass sich die römische Gastfreiheit an die Götter der von Rom eroberten Länder richtete, die mit dem auferlegten Tribut den römischen Wohlstand sicherten, spielt für Schleiermacher keine Rolle� Es ist eben immer die Frage, wer wem was aus welchen Gründen verzeiht� Für die Johannesoffen- 37 Näheres bei M� Giebel, Treffpunkt Tusculum� Literarischer Reiseführer durch das römische Italien, Stuttgart 1995, 162� 38 F� D� E� Schleiermacher, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (PhB 255), Hamburg 1958, 36� 90 Manuel Vogel barung steht Rom für das schlechthin Unverzeihliche, und das sollte man ihr lassen, auch wenn man sie selbst anders liest�