eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 22/43-44

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
2243-44 Dronsch Strecker Vogel

Editorial

1201
2019
Kristina Dronsch
Christian Strecker
Manuel Vogel
znt2243-440003
Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Thema dieses neuesten Heftes der ZNT „Synoptische Hypothesen“ war, wie den Herausgebenden schnell klar wurde, nicht in einem Einzelheft unterzubringen. Wir haben deshalb die beiden Hefte des Jahrgangs 2019 wie seinerzeit schon bei „Sola Scriptura“ (ZNT 39/ 40) zu einem Doppelheft verbunden. Das Schwergewicht des Themas wird anhand der folgenden Äußerungen aus der Forschungsliteratur des 20. Jh.s greifbar: Im Jahr 1904 erschien „Das Marcusevangelium und seine Quellen. Ein Beitrag zur Lösung der Urmarcusfrage“ des Königsberger und Wiener Neutestamentlers Richard Adolf Hoffmann. Zur synoptischen Frage erklärt Hoffmann: „Ein gewisses Gefühl von Behaglichkeit pflegt den Theologen zu überkommen, wenn er der synoptischen Frage gedenkt. Endlich einmal ein gelöstes Problem nach den mannigfachen Irrgängen theologischer Forschung, ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht“. 1 So urteilte auch Albert Schweitzer in seiner erstmals 1906 erschienenen „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mit Bezug auf Heinrich Julius Holtzmann: Die Markushypothese mitsamt der Zweiquellentheorie „ist durch Holtzmann auf einen solchen Grad der Evidenz gebracht, dass sie nicht mehr eine Hypothese genannt werden kann“. 2 In das Jahr 1968 datiert die Einschätzung von Willi Marxsen: 1 R. A. Hoffmann, Das Marcusevangelium und seine Quellen. Ein Beitrag zur Lösung der Urmarcusfrage, Königsberg 1904, 1. 2 A. Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984 (zuerst 1906), 227. „Diese Zwei-Quellentheorie hat sich in der Forschung so sehr bewährt, dass man geneigt ist, die Bezeichnung ‚Theorie‘ (im Sinn von Hypothese) dafür aufzugeben. Man kann sie in der Tat als ein gesichertes Ergebnis ansehen“. 3 Wenn demgegenüber im Hefttitel sehr zurückhaltend von „synoptischen Hypothesen“ die Rede ist, ist damit bereits angedeutet, dass die von Hoffmann, Schweitzer und Marxsen geteilte Gewissheit inzwischen in ihren Grundfesten erschüttert ist. Die Zweiquellen-Hypothese, die das 20. Jh. hindurch als gesichert galt und abseits der Spezialdiskurse auch heute noch zumeist unhinterfragt angewendet wird, sieht sich seit einiger Zeit von unterschiedlicher Seite tiefgreifend und fundiert in Frage gestellt. Wer diese Diskussionslage zum Anlass nimmt, sich ein wenig in die Probleme der synoptischen Frage einzuarbeiten, wird sich nicht nur recht bald in den Debatten 19. Jh.s wiederfinden, die den Siegeszug der Zweiquellen-Hypothese angebahnt haben, sondern überhaupt feststellen, dass das Thema eine außergewöhnliche forschungsgeschichtliche Tiefe aufweist. Folgerichtig setzen wir den primär forschungsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von Stefan Alkier unter der Rubrik „NT aktuell“ an den Anfang des Heftes. Alkier versteht es, ein Thema von fragloser Brisanz und Aktualität so zu erschließen, dass die Ära der historisch-kritischen Exegese in einen weiten, bis in die Zeit der Alten Kirche reichenden forschungsgeschichtlichen Horizont eingebettet wird. Die drei Beiträge unter der Rubrik „Zum Thema“ machen durch ihre bloße Zusammenstellung die eklatante Disparatheit der gegenwärtigen Diskussionslage deutlich: Mit Matthias Klinghardt kommt der wichtigste Vertreter der Markion-Priorität zu Wort. Auf deren Grundlage hat er ein höchst anspruchsvolles Überlieferungsmodell entwickelt, das nicht nur das synoptische Problem einer neuen Lösung zuführt, sondern zugleich eine überlieferungsgeschichtliche Gesamtsicht auf das Phänomen des neutestamentlichen Kanons eröffnet. Wenn demgegenüber Francis Watson die Frage stellt „Braucht Lukas Q? “, um diese Frage von der Warte der Farrer-Goulder-Hypothese zu verneinen, bewegt er sich in den engeren Grenzen des synoptischen Problems, die abseits der Markion-Priorität bis heute die Diskussion weitestgehend fokussieren. Der ausführliche Beitrag von Werner Kelber unterscheidet sich von den beiden anderen darin, dass er nicht nur nicht von rein literarischen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Evangelien ausgeht, sondern diese Abhängigkeitsverhältnisse unter Berufung auf eine inzwischen umfangreiche Mündlichkeitsforschung im Grundsatz bestreitet. Folgt man Kelber und den von ihm reichhaltig referierten früheren Arbeiten v. a. aus Frankreich und Amerika, von denen die deutsch- 3 W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 1963, 106. Die drei Hinweise verdanken wir Matthias Klinghardt. 4 Editorial Editorial 5 sprachige Forschung bisher weitgehend unberührt geblieben ist, erscheinen die synoptischen Evangelien als mehr oder weniger zufällige Momente in einem von Mündlichkeit und Erinnerung geprägten und auch in den frühen Stadien der Verschriftlichung noch unkontrollierbar fluiden Traditionsstrom, der der literarischen Denkweise der Synoptikerforschung überhaupt nicht zugänglich ist. Die Kontroverse dieses Heftes stellt die Frage „Wie sicher ist die Q-Hypothese? “. Mit Werner Kahl, der wie Francis Watson die Farrer-Goulder-Hypothese vertritt, und Markus Tiwald, der jüngst einen Kommentar zu Logienquelle vorgelegt hat, wird diese Kontroverse von zwei ausgewiesenen Vertretern ihrer jeweiligen Positionen bestritten, die ihre Sicht auf dem aktuellen Stand der Forschung darzustellen und gegen Kritik zu verteidigen in der Lage sind. Hanna Roose untersucht unter der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“, wie die Zweiquellen-Hypothese in Schulbüchern zur Geltung kommt. Der Beitrag macht deutlich, welche besonderen pädagogischen und didaktischen Herausforderungen hier auf dem Spiele stehen, und wie die untersuchten Lehrwerke diesen Herausforderungen gerecht werden oder dahinter zurückbleiben. Der von Manuel Vogel verfasste Buchreport stellt einen Sammelband vor, der aus einer Konferenz im dänischen Roskilde im Jahr 2015 hervorgegangen ist und den gegenwärtigen Stand der Diskussion des synoptischen Problems gut abbildet. Jeder Beitrag wird in einer Ausführlichkeit referiert, die es erlaubt, die einzelnen Positionen und Argumente detailliert nachzuvollziehen und damit die eigene Meinungs- und Urteilsbildung ergänzend zu den Beiträgen des Heftes zusätzlich zu befördern. Nun wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und dem aktuellen Heft der ZNT interessierte Leserinnen und Leser. Kristina Dronsch Christian Strecker Manuel Vogel 5