ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
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Dronsch Strecker VogelÜberlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien
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2019
Matthias Klinghardt
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Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Zum Thema Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien Matthias Klinghardt Den Freunden Hans-Peter Daub und Thomas Löffler 1. Die These An die Stelle einer synoptischen Theorie setze ich das Modell einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien. 1 Es bietet u. a. eine Erklärung der komplexen literarischen Beziehungen zwischen den drei ersten Evangelien, also für das klassische synoptische Problem. Allerdings unterscheidet es sich von den gängigen Theorien in einem grundlegenden Aspekt und führt über deren Erklärungsrahmen hinaus. 1 Vgl. M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien I: Untersuchung; II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60/ 1-2), Tübingen 2015. - Im Unterschied zum Titel dieses Heftes spreche ich mit Blick auf das synoptische Problem lieber von Theorien als von Hypothesen. Denn zum einen verbinden alle hier diskutierten Modelle sehr verschiedene Beobachtungen und Annahmen zu komplexen Systemen, die jeweils mehr als nur die literarischen Beziehungen zwischen drei Evangelien zu erklären beanspruchen. Zum anderen sind die Voraussetzungen für die Validierung einer wissenschaftlichen Theorie (z. B. Extension; Widerspruchsfreiheit; Falsifizierbarkeit usw.) vertrauter und leichter fassbar als bei einer Hypothese. Entgegen einem verbreiteten umgangssprachlichen Verständnis kommt einer „Theorie“ kein höheres Maß an Gewissheit zu als einer „Hypothese“; dies zu zeigen ist ja ein Ziel dieses Heftes. 40 Matthias Klinghardt Dieser Unterschied bezieht sich auf das methodische Grundproblem, das die Diskussion der synoptischen Modelle beherrscht: Lassen sich die literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern in einem reinen Benutzungs modell erklären, wie es die zuletzt wieder von Mark Goodacre in die Diskussion gebrachte „Markan Priority without Q“ (MPwQ) Hypothese vorschlägt? 2 Oder ist dafür ein gemischtes Modell notwendig, das neben der Benutzung der Evangelien untereinander auch mit der Verwendung einer zusätzlichen Vorlage rechnet, wie es die Zwei-Quellentheorie mit „Q“ tut? Diese Grundfrage wird seit 100 Jahren zwischen den Verfechtern und den Bestreitern dieser Ansätze als methodisches Problem verhandelt. Zur Debatte stehen dann Fragen wie: Ist es logisch möglich (und historisch wahrscheinlich), die Gemeinsamkeiten von je zwei Evangelien gegen das dritte in einer einfachen Abfolge zu erklären? Sind die „Minor Agreements“ für die Zwei-Quellentheorie fatal oder lassen sie sich doch irgendwie mit ihr vereinbaren? Unter welchen Voraussetzungen ist es methodisch statthaft, eine zusätzliche Quelle wie „Q“ zu postulieren? Und so weiter. Die Frage nach der Notwendigkeit einer zusätzlichen Quelle ist methodisch interessant. Aber als historische Frage ist sie überflüssig, weil neben den kanonischen Evangelien ein weiterer Text existiert, der in das Geflecht der synoptischen Beziehungen hineingehört. Das ist das Evangelium, das als Teil der von Marcion genutzten Sammlung von elf Schriften bezeugt ist (neben dem Evangelium noch zehn Paulusbriefe). Dieser Text trägt den schlichten Titel „Evangelium“; weil seine Nutzung durch Marcion und die Marcioniten gesichert ist, bezeichne ich ihn mit dem Kürzel „Mcn“. Im Unterschied zu der verbreiteten Ansicht, die von Justin, Irenäus und Tertullian bis Harnack und darüber hinaus vertreten wurde, ist dieses Evangelium keine Bearbeitung des kanonischen Lk, sondern seine wichtigste Quelle: Das redaktionelle Gefälle zwischen diesen beiden Texten verläuft nicht von Lk zu Mcn, sondern von Mcn zu Lk. Unter dieser Voraussetzung ist Mcn ein vor-lukanischer Text. Damit verändert sich die Ausgangskonstellation für die Bestimmung der literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern grundlegend: Das daraus resultierende Modell unterscheidet sich von allen anderen Annahmen, die seit dem 19. Jh. diskutiert werden. Für die Analyse der synoptischen Evangelienüberlieferung sind mit Mcn, Mk und Mt also zunächst drei Texte neben Lk zu berücksichtigen. Zur Erstellung eines diachronen Modells der Überlieferungsgeschichte müssen sie zueinander und zu 2 Vgl. M.S. Goodacre, The Case against Q: Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Das Modell selbst ist älter und wurde verschiedentlich in die Debatte eingebracht, z. B. von J.H. Ropes (1934), M.S. Enslin (1938), A.M. Farrer (1955), M.D. Goulder (1989/ 1996) u. a. Die Bezeichnung „Markan Priority without Q“ (MPwQ) beispielsweise bei J.S. Kloppenborg, On Dispensing with Q? : Goodacre on the Relation of Luke to Matthew, NTS 49 (2003), 210-236. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 41 Lk ins Verhältnis gesetzt werden. Das gelingt auch relativ leicht. Denn dazu ist es ja nur erforderlich, die literarische Abhängigkeit zwischen jeweils zwei dieser Texte zu bestimmen und dann die Verhältnisse aufeinander zu beziehen. Das wichtigste Ergebnis besagt: Mcn ist nicht nur älter als Lk, sondern auch als Mt und als Mk; damit ist es das älteste Evangelium, von dem wir Kenntnis haben. Das überlieferungsgeschichtliche Modell, das aus dem literarkritischen Vergleich folgt, umfasst jedoch nicht nur Mcn und die Synoptiker, sondern auch Joh. Angesichts des Umstands, dass sich ja schon die Verhältnisse zwischen den drei ersten (und unbestreitbar eng zusammengehörigen) Evangelien nicht ohne weiteres rekonstruieren lassen, kann man forschungsgeschichtlich zwar nachvollziehen, dass und warum das weiter entfernt scheinende Joh regelmäßig aus den überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktionen ausgeblendet wird. Aber sachlich ist diese Nichtberücksichtigung nicht zu rechtfertigen. Das überlieferungsgeschichtliche Modell, das sich unter Berücksichtigung der Mcn-Priorität ergibt, geht in vier Überlieferungsschritten von Mcn zu Mk zu Mt zu Joh zu Lk: Mcn repräsentiert die älteste, Lk die jüngste Stufe der Überlieferung. Dabei lässt sich an vielen Einzelbeobachtungen zeigen, dass jede dieser Stufen Kenntnis von allen jeweils vorausliegenden älteren Texten hatte. Im Bild: Die Überlieferung der kanonischen Evangelien ist aus einer Wurzel hervorgegangen, die für alle späteren Stadien als gemeinsamer Bezugspunkt dient, gleichsam als Baum, um den sich die weitere Überlieferung rankt. Über den zeitlichen Rahmen für diese Überlieferungsgeschichte lässt sich nur der Terminus ante quem der abschließenden Redaktion, die in unserem Lk-Evangelium vorliegt, halbwegs sicher datieren, nämlich im Umfeld der für das Jahr 144 n. Chr. bezeugten Trennung zwischen Marcion und der römischen Gemeinde. Der Anfang dieser Überlieferung ist erst seit den 90er Jahren des 1. Jh.s wahrscheinlich. Aber wie schnell und wann sich die Evangelienüberlieferung innerhalb dieser rund 50 Jahre gebildet hat, bleibt offen. 3 3 Zur Datierung vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 374 ff. Prof. Dr. Matthias Klinghardt ist Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. die Entstehung des Neuen Testaments als Sammlung, die Überlieferungsgeschichte der Evangelien und die frühe Geschichte der neutestamentlichen Textüberlieferung. 42 Matthias Klinghardt Dies sind die wichtigsten Eckpunkte der These, die hier nur sehr knapp (und unvollständig) angedeutet ist. Eine wirkliche Begründung, die auch die erwartbaren Fragen beantwortet, ist in der Kürze natürlich nicht zu leisten. Aber immerhin lassen sich die wichtigen Schritte dieser Skizze doch so weit plausibilisieren, dass das Modell verständlich wird. 2. Die Mcn-Priorität vor Lk Das gesamte Modell hängt vollständig von der Mcn-Priorität vor Lk ab. Diese entscheidende Einsicht sollte also etwas genauer begründet werden, denn sie steht in Widerspruch zu einer langen Tradition, die schon im 2. Jh. bei Justin und Irenäus einsetzt und bis heute anhält. Dieser Tradition zufolge hat der „Erzketzer“ Marcion das kanonische Lk-Evangelium nach seinen theologischen Vorstellungen bearbeitet und gekürzt: Die „pontische Ratte hat das Evangelium zernagt“ (Tertullian), so dass dieses nun Löcher habe „wie ein von Motten zerfressenes Hemd“ (Epiphanius). 4 Dieses Bild Marcions, der das Lk-Evangelium nach seinen theologischen Vorstellungen redigiert und „bereinigt“ habe, ist der jüngeren Forschung vor allem durch Harnacks Marcionbuch vermittelt worden. 5 Aber dieses Bild ist unhaltbar. Man hätte seine Richtigkeit schon angesichts des entgegengesetzten Vorwurfs bezweifeln können: Dass nämlich das kanonische Lk-Evangelium eine interpolierte Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums und mit Gesetz und Propheten zu einer Einheit verbunden worden sei. Tertullian, der diese Behauptung mitteilt, stellt fest: „Ich behaupte, dass mein Evangelium wahr ist, Marcion, dass seines wahr ist; ich versichere, dass Marcions Evangelium gefälscht ist, er dagegen, dass meines gefälscht ist“ (Adv. Marc. 4,4,5). So steht Behauptung gegen Behauptung, und es gibt ein unentschiedenes Tauziehen ( funis contentio , 4,4,1) um die Frage des richtigen Bearbeitungsgefälles. Natürlich tut Tertullian alles dafür, dieses Tauziehen zu gewinnen. Dazu widerlegt er (genau wie die anderen Häresiologen) die Theologie Marcions aus dessen Evangelientext (also: aus Mcn) - und triumphiert am Ende natürlich: „Ich bemitleide dich, Marcion, du hast dich vergeblich abgemüht: Denn der Christus Jesus in deinem Evangelium ist meiner! “ (4,43,9). Aber: Wie ist es möglich, dass die Häresiologen Marcions Theologie aus seinem eigenen redaktionell bearbeiteten Evangelium widerlegen können, wenn doch das Ziel seiner ganzen Bearbeitung darin bestand hatte, die widerspruchsfreie Konformität mit 4 Die Zitate finden sich bei Tertullian, Adv. Marc. 1,1,5 bzw. bei Epiphanius, Haer. 42,11,3. 5 A. von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion, Leipzig 2 1924 = Ndr. Darmstadt 1996. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 43 ebendieser Theologie herzustellen? Dieser Widerspruch ist systembedingt und führt die Behauptung der angeblichen Bearbeitung durch Marcion ad absurdum . Tertullian hat realisiert, wie gefährlich dieser Einwand für seinen Erfolg beim „Tauziehen“ sein könnte - aber widerlegen konnte er ihn nicht: Seine Erklärung ist von entlarvender Hilflosigkeit. 6 Man kann es dahingestellt sein lassen, ob Tertullian die Brüchigkeit seiner Argumentation selbst durchschaut hat. Denn das Urteil, welcher der beiden entgegengesetzten Ansprüche berechtigt ist, darf sich natürlich nicht einfach auf die Behauptung eines der beiden Kontrahenten verlassen, sondern muss die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung an den Texten selbst ausweisen. Dies ist auch ohne große Schwierigkeiten möglich, und zwar mit überraschender Eindeutigkeit. Da der Wortlaut von Mcn erst aus den Referaten der Häresiologen (neben Tertullian sind dies vor allem Epiphanius und die Adamantiusdialoge) rekonstruiert werden muss, ist es zur Vermeidung einer zirkulären Argumentation ratsam, zunächst diejenigen Passagen des marcionitischen Evangeliums zum Vergleich heranzuziehen, deren Bezeugung eindeutig und unstrittig ist. Das prominenteste Beispiel dafür ist der vielfach bezeugte Anfang: Dem marcionitischen Evangelium fehlten im Vergleich zu Lk der Prolog (Lk 1,1-4), die sog. Geburts- oder Kindheitsgeschichten (Lk 1,5-2,52) sowie die gesamte Täuferüberlieferung mit Synchronismus, Taufe, Stammbaum und Versuchung (3,1aβ-38). Stattdessen begann es mit der Datierung (*3,1aα) und dem Exorzismus in der Synagoge von Kapernaum (*4,31-37), gefolgt von der Perikope über die Ablehnung Jesu in Nazareth, die allerdings eine andere Gestalt besaß als in Lk (nur *4,16.23f.28-30); danach ging es mit *4,42f. weiter. 7 Vergleicht man diese beiden Texte unter dem Gesichtspunkt der redaktionellen Plausibilität, dann weist alles auf die Ursprünglichkeit von Mcn hin: Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass Lk das marcionitische Evangelium redigiert und ergänzt hat, als dass Mcn eine Bearbeitung und Verkürzung von Lk ist. Besonders schlagend ist dabei die unterschiedliche Stellung der Nazarethperikope: Bei Lk besitzt sie eine grundlegende, programmatische Funktion. Er hat sie deswegen ganz an den Anfang des Wirkens Jesu gestellt und dafür dann auch die narrative Inkonsistenz in Kauf genommen, dass der anaphorische Verweis auf „das, was in 6 Tertullian legt dem Häretiker die Inkonsequenz seiner eigenen Argumentation als hinterhältiges Vertuschungsmanöver zur Last: „Marcion wollte - wie ich glaube, mit Absicht! - bestimmte Dinge, die seiner Ansicht entgegenstehen, nicht aus seinem Evangelium herausstreichen, um aufgrund dessen, was er hätte streichen können , aber gar nicht gestrichen hat , den Eindruck zu erwecken, er habe das, was er gestrichen hat, entweder gar nicht oder aber aus gutem Grund gestrichen“ (Adv. Marc. 4,43,7). Zu diesem Problem vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 117-123. 7 Vgl. dazu Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 142-162; II 457-479. Ein * vor den Vers- und Kapitelzahlen verweist immer auf das marcionitische Evangelium. 44 Matthias Klinghardt Kapernaum geschah“ (Lk 4,23), bei ihm ins Leere läuft, weil er den Exorzismus in Kapernaum erst danach erzählt (Lk 4,31-37). Es ist längst erkannt, dass Lk für diese redaktionelle Umstellung verantwortlich ist, wenn auch im Verhältnis zu Mcn, nicht gegenüber Mk. Umgekehrt ist unter der üblichen Annahme, dass Marcion das kanonische Lk bearbeitet habe, auch nicht ansatzweise erkennbar, was eine solche Bearbeitung und Umstellung der beiden Perikopen hätte veranlassen können. Denn gerade die für Lk programmatisch wichtigen Verse 4,17-22.25f. fehlen in Mcn. Nur das Beispiel des Syrers Naeman (*4,27) findet sich in Mcn, allerdings im Kontext der Heilung der zehn Aussätzigen, am wahrscheinlichsten direkt nach *17,18. Auch hier kann man dann noch einmal fragen, welche Bearbeitungsrichtung eine plausiblere Erklärung bietet, und auch hier wird das Urteil sehr eindeutig ausfallen: Lk hat Mcn redigiert, nicht umgekehrt. Dieses und einige andere Beispiele dienen zunächst dazu, die Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Lk grundlegend und unabhängig von der genaueren Rekonstruktion des Wortlauts von Mcn zu etablieren. Der detaillierte Vers-für- Vers-Vergleich zwischen beiden Texten zeigt dann: An zahlreichen Stellen ist die Mcn-Priorität zwingend oder doch wenigstens sehr deutlich. Daneben gibt es noch eine (kleinere) Gruppe von Belegen, bei denen sich die Bearbeitungsrichtung nicht klar bestimmen lässt. Was jedoch durchweg fehlt, sind Belege, die mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lk-Priorität vermuten lassen könnten. Dies ist ein Einwand, der schon früh gegen die traditionelle Lk-Priorität vor Mcn vorgebracht wurde: Marcions angebliche Bearbeitung des Lk lässt sich am Ergebnis nicht ausweisen, sie ist schiere Behauptung, oder, wie bereits Semler formulierte, „Deklamation“, keine „ehrliche Historie“. 8 Methodisch bestätigt dieser literarkritische Befund die These der Marcioniten, dass Lk eine interpolierte Bearbeitung des „Evangeliums“ ist. Historisch lässt sich dies gut wahrscheinlich machen. Denn der Vorwurf gegen die Marcioniten ist auch gegenüber anderen „Häretikern“ bezeugt: Sie benutzen nur das Lk-Evangelium, verändern dies aber nach ihrem Gutdünken. 9 Vermutlich steht hinter diesen Vorwürfen ganz einfach die Beobachtung, dass es seit dem ausgehenden 2. Jh. Christen gab, die nur ein (verglichen mit dem kanonischen) defizitäres Lk-Evangelium benutzten, aber nicht das kanonische Vier-Evange- 8 J.S. Semler, Vorrede, in: Thomas Townsons Abhandlungen über die vier Evangelien. Mit vielen Zusätzen und einer Vorrede über Marcions Evangelium von J.S. Semler, Leipzig 1783 (62 S., unpag.), dort S. 26 die Kritik an Tertullians Beweisführung; vgl. zum Kontext Klinghardt, ebd. (Anm. 1), I 12 f.; 118 f. 9 Vgl. Origenes, Hom. in Lc 16,5 („es gibt unzählige Häresien, die das Evangelium nach Lukas rezipieren“); 20,2 (alle Häretiker, die das Evangelium nach Lukas rezipieren, „verachten, was darin geschrieben ist“). Nach Origenes, Cels. 2,27 gehören zu diesen häretischen Lk-Rezipienten neben den Marcioniten auch die Valentinianer und die Anhänger des Lukanus; nach Irenäus 3,15,1f benutzen die Valentinianer nur Lk, nicht aber Act. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 45 lium: Häretiker ist, wer eine andere Bibel hat als die Häresiologen. Der Streit zwischen den Repräsentanten der entstehenden katholischen Kirche und den „Häretikern“ ist daher in erster Linie ein Streit um die „wahre“ Schriftgrundlage; erst von da aus kommen dann auch die Auseinandersetzungen um die richtigen theologischen Überzeugungen in den Blick. Das heißt: Tertullian hat den Anspruch der Mcn-Priorität vor Lk für Marcion und die Marcioniten direkt bezeugt; diese Bearbeitungsrichtung lässt sich auch darüber hinaus historisch plausibel machen; am wichtigsten und entscheidend ist, dass sich die Mcn-Priorität durchweg literarkritisch erweisen lässt, wogegen der Alternative jede redaktionelle Plausibilität fehlt. Alles spricht dafür, dass Lk eine Bearbeitung und Ergänzung des älteren „Evangeliums“ ist: Mcn ist älter als Lk. 10 3. Die Mcn-Priorität und die Überlieferungsgeschichte der Evangelien Der Ort von Mcn in der Evangelienüberlieferung liegt demnach vor Lk, also an der gleichen überlieferungsgeschichtlichen Position, an der die Zwei-Quellentheorie mit Mk und „Q“ rechnet bzw. die „Markan Priority without Q“-Hypothese mit Mk und Mt. Von daher empfiehlt es sich, zunächst die Verhältnisse zwischen Mcn und Mk bzw. zwischen Mcn und Mt zu bestimmen. 3.1 Das Verhältnis von Mcn und Mk Ausgangspunkt ist das Verhältnis von Mcn und Mk. Es ergibt sich ziemlich einfach aus den Beobachtungen, die aus dem literarkritischen Vergleich zwischen Mk und Lk bekannt sind: Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie mit der Mk-Priorität sind die großen Unterschiede im Textbestand zwischen beiden Evangelien als „Große Einschaltung“ und „Große Auslassung“ bekannt: Der Stoff Lk 9,51-18,14 hat keine Entsprechung in Mk und ist deswegen unter der Annahme der Mk-Priorität von Lk „eingeschaltet“ worden. Unter dieser Voraussetzung erscheint umgekehrt der Stoff von Mk 6,45-8,26 als „große Auslassung“ 10 Trotz der Unterschiede in den Konsequenzen wird diese grundlegende Einsicht geteilt z. B. von: J. BeDuhn, The First New Testament. Marcion’s Scriptural Canon, Salem, 2013; P. A. Gramaglia, Marcione e il Vangelo (di Luca). Un confronto con Matthias Klinghardt, Turin 2017; D.A. Smith, Marcion’s Gospel and the Synoptics. Proposals and Problems, in: J. Schröter u. a. (Hg.), Gospels and Gospel Traditions in the Second Century (BZNW 235), Berlin / New York 2019, 129-173; Markus Vinzent, Methodological Assumptions in the Reconstruction of Marcion’s Gospel (Mcn). The Example of the Lord’s Prayer, in: J. Heilmann / M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 183-222. 46 Matthias Klinghardt durch Lk, weil er dort keine Entsprechung hat. Die beiden Begriffe geben also sehr deutlich die angenommene Bearbeitungsrichtung von Mk zu Lk zu erkennen, die beispielsweise für die Zwei-Quellentheorie grundlegend ist. Nun entsprechen sich Mcn und Lk in den hier zu diskutierenden Passagen weitgehend: Ein großer Teil des Stoffes von Lk 9,51-18,14 ist schon für Mcn bezeugt, wogegen Mcn keinerlei Kenntnis von Mk 6,45-8,26 zeigt. Zur Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Mk ist dann zu klären: Hat Mcn das weitläufige Material *9,51-*18,14 in eine (mk) Vorlage „eingeschaltet“ oder hat Mk diesen Stoff weggelassen? Und weiter: Hat Mcn den Stoff von Mk 6,45-8,26 „ausgelassen“ oder hat Mk ihn gegenüber Mcn ergänzt? Dieser Vergleich ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Zunächst: Die Mk-Priorität vor Lk, von der die beiden großen Modelle (also: Zwei-Quellentheorie und die MPwQ-Hypothese) ja ausgehen, ist schon längst so selbstverständlich geworden, dass ihre Plausibilität an diesen beiden großen Bestandsunterschieden so gut wie gar nicht überprüft wird; hier gibt es also eine gravierende Begründungslücke. Versucht man sie zu schließen, wird zweitens sehr schnell deutlich, dass sich das Fehlen von Material nicht wirklich begründen lässt: Warum etwas nicht dasteht, kann man höchstens vermuten, aber nicht wahrscheinlich machen. 11 Für das vorliegende Problem stellt sich daher die Frage, welcher der beiden alternativen Vorgänge eine größere redaktionelle Plausibilität besitzt: Eine Einfügung von *9,51-18,14 in den Mk-Rahmen oder die Ergänzung von Mk 6,45-8,26 in den Mcn-Kontext? Diese Frage nach der größeren redaktionellen Plausibilität ist sehr eindeutig im zweiten Sinn zu beantworten: Mk hat Mcn bearbeitet und dafür (neben vielen anderen Änderungen) auch den äußerst sorgfältig komponierten Zusammenhang mit der Belehrung über rein und unrein und der zweiten Speisungserzählung neu geschaffen. 12 Für die umgekehrte Bearbeitungsrichtung (von Mk zu Mcn) ist es dagegen so gut wie unmöglich, hinter der möglichen Ergänzung von *9,51-18,14 ein redaktionelles Konzept zu entdecken. Die Bearbeitungsrichtung verläuft also von Mcn zu Mk, wie sich noch an etlichen weiteren Beispielen zeigen lässt. 13 3.2 Mcn, Mk und Mt Zu dieser Bearbeitungsrichtung von Mcn und Mk ist dann als nächstes Mt in Beziehung zu setzen. Auch dies ist ohne Schwierigkeiten möglich. Grundlegend 11 Auch der jüngste Einwand basiert i. W. auf diesem methodisch problematischen Argument, vgl. Smith, a. a. O. (Anm. 10), 145. 12 Vgl. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183- 202. 13 Vgl. ausführlicher Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 195-231. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 47 ist die Annahme, dass Mt primär eine redaktionelle Ergänzung und Bearbeitung von Mk ist; sie ist literarkritisch so gut begründet, dass sie zu Recht nie in Frage gestellt wird. 14 Unter dieser Voraussetzung der Mk-Priorität vor Mt ist der Fall klar: Mt hat Mk bearbeitet, indem er in diesen narrativen Rahmen zusätzlich Material aus Mcn eingearbeitet hat. Von der Struktur her ist dies ähnlich gedacht wie in der Zwei-Quellentheorie, die an Ergänzungen aus „Q“ denkt. Allerdings stammt ein großer Teil des Materials, das Mt in seine Hauptquelle Mk einarbeitet, nicht aus der rein hypothetischen Quelle „Q“, sondern aus dem gut bezeugten Evangelium aus Marcions Sammlung. Eine schlagende Begründung ergibt sich aus dem wichtigsten Beispiel, das zwischen den Vertretern der Zwei-Quellentheorie und der MPwQ-Hypothese strittig diskutiert wird, nämlich der Komposition der Bergpredigt. Deren Material, das in Lk auf rund ein Dutzend verschiedene Stellen verteilt ist, gehört ja zum allergrößten Teil der mt-lk Doppelüberlieferung an, wird also in der Zwei-Quellentheorie „Q“ zugerechnet. Die Zwei-Quellentheorie geht davon aus, dass Mt dieses „Q“-Material neu sortiert und redaktionell zu der großen Komposition der Bergpredigt verarbeitet habe: Lk rezipiert und bewahrt die ursprüngliche Verteilung dieses Stoffs in „Q“; Mt komponiert und organisiert die Verteilung neu. Der MPwQ-Hypothese erwächst dagegen aus der angenommenen Nachordnung von Lk nach Mk und Mt an dieser Stelle ein gravierendes Problem. Denn sie muss davon ausgehen, dass Lk die mt Bergpredigt aufgelöst und ihr Material (oft ohne erkennbaren Grund) auf ein Dutzend verschiedener Orte verteilt haben sollte. Das ist völlig unwahrscheinlich und wurde daher zu Recht wiederholt kritisiert: Ein solches Verfahren sei nur jemandem zuzutrauen, der sich auch anderweitig als literarischer Spinner („crank“) erwiesen habe 15 und sei ein Fall von „unscrambling the egg with a vengeance“. 16 Neben der Verarbeitung des Materials aus Mcn hat Mt allerdings noch eigene Ergänzungen vorgenommen. Ein instruktives Beispiel sind die sog. Kindheitserzählungen (Mt 1 f.), mit denen Mt seiner Jesusgeschichte wichtige Akzente verliehen hat. Die Zwei-Quellentheorie kann damit nicht viel anfangen. Denn obwohl Lk 1 f. in manchen Details sehr ähnlich ist und u. a. das vergleichbare 14 Das einzige Modell, das eine Mt-Priorität vor Mk annimmt, ist die sog. Two-Gospel Hypothese, die W.R. Farmer und andere in seiner Folge vertreten haben, vgl. ders., The Synoptic Problem, New York 2 1976; A.J. McNicol u. a. (Hg.), Beyond the Q Impasse, Valley Forge 1996. Dieses Modell beruht nicht auf literarkritischen Beobachtungen, sondern bewegt sich vollständig im Rahmen, der durch die Zwei-Quellentheorie vorgegeben ist, und versucht, deren Probleme durch die Umkehrung der grundlegenden Bearbeitungsrichtung zu vermeiden. 15 B.H. Streeter, The Four Gospels, London 1924, 183. 16 R.H. Fuller, The New Testament in Current Study, London 1963, 87. Vgl. dazu den Rettungsversuch von Goodacre, a. a. O. (Anm. 2), 81 f. 48 Matthias Klinghardt Ziel verfolgt, die Geburt Jesu in Bethlehem mit seiner Herkunft aus Nazareth zu vereinbaren, hat die Zwei-Quellentheorie die beiden sog. Kindheitsgeschichten einfach ignoriert, weil sie sich gegen die systemgerechte Lösung sperren: Sie sind viel zu unterschiedlich, um auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt zu werden. Andererseits sind die Entsprechungen viel zu deutlich, um sie für Zufall zu halten. Dagegen lässt sich sehr gut zeigen, dass dieses Material in Mt ursprünglich ist: Mt begründet damit die für ihn zentrale davidische Abkunft Jesu und führt das Thema seines legitimen Herrschaftsanspruchs in die Erzählung ein, mit dem er ja einen weiten redaktionellen Bogen bis zum Ende des Evangeliums schlägt. Lk ist von dieser Erzählung abhängig; er übernimmt einige wichtige Aspekte (z. B. die Verknüpfung der Geburt Jesu mit der Geschichte), korrigiert einige Angaben und wechselt für die zentralen Passagen (Verkündigung; Geburt) einfach die Erzählperspektive von Joseph zu Maria; auf diese Weise gibt es zum selben Ereignis zwei verschiedene Erzählungen. 3.3 Mcn, Joh und Lk In die Überlieferungsgeschichte gehört als nächste Station nicht Lk, sondern Joh. Die Dominanz der Zwei-Quellentheorie (vor allem in der deutschsprachigen Forschung) hat weitgehend verdeckt, dass es eine Reihe sehr wichtiger Gemeinsamkeiten zwischen Joh und Lk gegen Mk und Mt gibt, vor allem in der Passionsüberlieferung. Sie lassen sich nicht mit der Zwei-Quellentheorie vereinbaren. Der jüngste Lk-Kommentar konstatiert daher zu diesen lk-joh Entsprechungen: „Ein überlieferungsgeschichtliches Modell, das das Zustandekommen dieses Befundes so erklären könnte, dass keine offenen Fragen zurückblieben, gibt es nicht“. 17 In der Tat. Denn die Versuche, diese lk-joh Übereinstimmungen literarkritisch im Rahmen der Zwei-Quellentheorie zu erklären, postulieren bis zu fünf zusätzliche Quellen bzw. Bearbeitungsstufen: Das ist keine Lösung, sondern das Eingeständnis einer Aporie. 18 Eine naheliegende Konsequenz aus diesem Befund könnte ja darin liegen, auf das Korsett der Zwei-Quellentheorie zu verzichten und zunächst nur einfach diese lk-joh Entsprechungen ernst zu nehmen. Dieser Ansatz führt zu der Einsicht, dass Lk von Joh abhängig ist. 19 Obwohl er auf einer Reihe gewichtiger Beobachtungen beruht, hat er sich 17 M. Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 691. 18 Z.B. H. Klein, Die lukanisch-johanneische Passionstradition, ZNW 67 (1976), 155-186; zuletzt F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht (BZNW 154), Berlin u. a. 2007; vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 276-284. 19 Vgl. etwa B. Shellard, The Relationship of Luke and John: A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98; M. A. Matson, In Dialogue with Another Gospel? The Influence of the Fourth Gospel on the Passion Narrative of the Gospel of Luke (SBL.DS 178), Atlanta 2001. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 49 nicht durchsetzen können. Dies hängt vielleicht nicht nur mit der Dominanz der Zwei-Quellentheorie zusammen sondern auch mit der Heterogenität des Befundes. Denn einige der lk-joh Entsprechungen weisen sehr deutlich auf die Priorität des Lk vor Joh hin, z. B. der wunderbare Fischzug mit der Berufung bzw. Reinstallation des Petrus (Lk 5, Joh 21) oder die engen Analogien zwischen Lk 24 und Joh 20 f. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Lk und Joh komplexer, als dass es mit der Annahme einfacher Abhängigkeit erklärt werden könnte, ganz gleich in welcher Bearbeitungsrichtung. Aber weil Mcn über weite Strecken mit Lk identisch und ein „Beinahe-Lk“ ist, konstituiert die Abfolge Mcn - Joh - Lk für Joh eine überlieferungsgeschichtliche Position zwischen „Beinahe-Lk“ und Lk: Für einige der Entsprechungen lässt sich die Abhängigkeit des Joh von Mcn zeigen, für andere die Abhängigkeit des Lk von Joh. Am deutlichsten ist Lk 24,12: Der Gang des Petrus zum leeren Grab ist ein Querverweis auf Joh 20,3-10, der die Kohärenz zwischen beiden Evangelien herstellt und zeigt, dass sie die gleiche Geschichte erzählen, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. 20 Da sich an vielen Stellen auch mt Einfluss auf Joh zeigen lässt (z. B. Mt 26,52f.; Joh 18,11.36 usw.), können die literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien folgendermaßen zusammenfasst werden: Fig. 1: Die nachweisbaren Bearbeitungsrelationen zwischen den Evangelien In dieses Diagramm sind alle Bearbeitungsrelationen eingezeichnet, die sich nachweisen lassen. 21 Dies lässt das Modell komplizierter erscheinen, als es ist: Es handelt sich um eine einfache Abfolge von Mcn über Mk, Mt und Joh bis zu Lk, bei der jede spätere Überlieferungsstufe Kenntnis von allen vorangehenden Texten besitzt und sie benutzt. 20 Vgl. ausführlicher Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 272-310; das Beispiel 293 f. 21 Die einzige Relation, die sich nicht konkret zeigen lässt, ist der Einfluss von Mk auf Joh. Das heißt natürlich nicht, dass Joh Mk nicht kannte. 50 Matthias Klinghardt 3.4 Die kanonische Redaktion der Evangelien Allerdings zeigt dieses Diagramm nur die Genese der Texte auf den einzelnen Stufen der Evangelienüberlieferung mit ihren jeweiligen Quellen. Tatsächlich leistet das Modell sehr viel mehr. Denn wenn jede Überlieferungsstufe jeweils alle älteren Texte kennt und benutzt, dann wirft dieses Modell deutlicher als alle anderen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Ausgangstexten und der jeweiligen Bearbeitung auf: Will die Bearbeitung die Ausgangstexte ersetzen oder zu ihnen hinzutreten? Da es vier Bearbeitungsstufen gibt, gibt es theoretisch vier Antworten, die wir allerdings nicht alle hinreichend genau begründen können. Bei der letzten Stufe ist dies anders. Denn die lk Bearbeitung von Mcn, die den Gang der Überlieferung abschließt, hat nicht einfach ein neues (oder: neu bearbeitetes) Evangelium geschaffen, sondern eine Evangelien sammlung . Eine solche Sammlung ist schon für die zweite Bearbeitungsstufe (Mt neben Mcn und Mk) gut denkbar, für die dritte Stufe ( Joh neben Mcn, Mk und Mt) ist sie wahrscheinlich, für die letzte Stufe der vier kanonischen Evangelien lässt sie sich sehr deutlich zeigen. Denn diese sind von einer Hand bearbeitet worden, wie man beispielsweise an den Datierungen der Auferstehung Jesu in den sog. Leidensweissagungen zeigen kann: Diese vereinheitlichende Bearbeitung hat die ursprüngliche Datierung „nach drei Tagen“ durch das zum Gang der Erzählung besser passende „am dritten Tag“ ersetzt - und zwar in allen synoptischen Evangelien. 22 Diese redaktionelle Vereinheitlichung ist sinnvollerweise mit der lk Redaktion zu identifizieren. Natürlich lässt sich das nicht wirklich beweisen, sondern nur methodisch begründen. Denn wollte man hier verschiedene Bearbeiterhände am Werk sehen, müsste man zusätzliche Redaktionen postulieren. Das ist zwar grundsätzlich möglich, aber nach dem methodischen Sparsamkeitsprinzip unzulässig. Einfacher und deswegen wahrscheinlicher ist die Annahme: Die lk Redaktion hat nicht nur das marcionitische Evangelium intensiv bearbeitet, sondern auch die Vier-Evangeliensammlung in der uns bekannten Form geschaffen. 22 Die jeweils anderen Formulierungen haben sich noch in den handschriftlichen Varianten bewahrt. Zu den Einzelheiten der handschriftlichen Bezeugung und ihrer Interpretation vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 321 f. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 51 Fig. 2: Die Überlieferung der Evangelien und ihre kanonische Redaktion Aufgrund der formalen Einheitlichkeit ist es sehr wahrscheinlich, dass diese letzte, vereinheitlichende Redaktion auch für die Gestaltung der Titel mit den Verfasserangaben verantwortlich ist. Zur Unterscheidung von der kanonischen Endstufe sind die älteren Fassungen hier mit einem * markiert. Eine genaue Unterscheidung zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Fassung ist nur für Mcn/ Lk möglich. Die Gestalt der anderen vorkanonischen Evangelien (*Mk, *Mt, *Joh) lässt sich dagegen nur an einigen, wenigen Stellen aufgrund textkritischer Erwägungen zeigen; immerhin kann man mit guten Gründen vermuten, dass beispielsweise der sog. „Lange Markusschluss“ zu den redaktionellen Veränderungen gehört. 23 Die methodischen Einsichten, die diesen Überlegungen zugrunde liegen, ergeben sich aus der Mcn-Priorität und haben weitreichende Konsequenzen für die Textkritik. 24 4 Einige Schlussfolgerungen Dies ist, in aller gebotenen Knappheit, die These. Eine weitere Begründung könnte nur wiederholen, was an anderer Stelle sehr ausführlich entfaltet ist. Aus diesem Grund schließe ich einige allgemeinere Überlegungen an. Sie dienen 23 A. a. O., I 313 f. 24 Zum Zusammenhang von Überlieferungs- und Textgeschichte vgl. a. a. O. I 78-113; ders., Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, ZNT 20. Jg. (2017) Heft 39/ 40, 85-104. Zur Diskussion vgl. T.J. Bauer, Das ‚Evangelium des Markion‘ und die Vetus Latina, ZAC 21 (2017) 73-89; U.B. Schmid, Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien. Eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf von Matthias Klinghardt, ZAC 21 (2017), 90-109; sowie die Replik M. Klinghardt, Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments, ZAC 21 (2017), 110-120. 52 Matthias Klinghardt vor allem dazu, die Besonderheiten dieses Modells im Vergleich mit anderen deutlich zu machen. 4.1 Die Leistungen des Modells Der Anspruch, dass das hier skizzierte Modell den anderen synoptischen Theorien überlegen ist, beruht nicht auf deren Schwächen, 25 sondern darauf, dass es von einer anderen Konstellation ausgeht und mit dem ältesten Evangelium einen entscheidenden Faktor mitberücksichtigt, der für die anderen Modelle keine Rolle spielt. Dabei ist leicht erkennbar, dass dieses Modell alle Anforderungen erfüllt, die an eine Lösung des Synoptischen Problems zu stellen sind, nämlich die Erklärung der komplexen literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern. Dies gelingt problemlos, und zwar ohne die schwer erklärbaren Reste, die bei den anderen Modellen bleiben. Für die Zwei-Quellentheorie sind dies die „Minor Agreements“; weil sie einen literarischen Zusammenhang zwischen Mt und Lk voraussetzen, konstituieren sie einen Selbstwiderspruch zu dieser Theorie und heben ihre methodische Grundlage auf: Das ist fatal. Aber im Modell der Mcn-Priorität sind diese Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen Mk leicht erklärbar. 26 Sie haben verschiedene Ursachen: Zum einen gibt es Beispiele, in denen Mt und Lk den Text aus Mcn gemeinsam und unverändert übernehmen, wogegen Mk die Formulierung aus Mcn ändert; so lässt Mk 1,40 die kyrios -Anrede weg, die Mt 8,2 und Lk 5,12 aus Mcn übernehmen. Daneben gibt es Fälle, in denen Mk seiner Vorlage (Mcn) folgt, wogegen Mt die Formulierung ändert und Lk diese Änderung übernimmt; ein Beispiel ist die Bezeichnung der Trage des Gelähmten: Mcn und Mk bezeichnen sie mit dem seltenen Wort krabbatos , während Mt und in seiner Folge Lk das gebräuchlichere klinē bzw. klinidion verwenden. 27 Und umgekehrt: Obwohl das hier vertretene Modell ähnlich wie die MPwQ- Hypothese die Mt-Priorität vor Lk voraussetzt, löst sich auch das Problem, dass das Material der mt Bergpredigt bei Lk weniger nachvollziehbar verteilt ist, ohne die Annahme, dass Lk ein literarischer Spinner gewesen sein müsste. Denn Lk folgt eben in erster Linie nicht Mt, sondern Mcn und übernimmt dessen Ako- 25 Es ist ein auffälliges Phänomen, dass in der (ja nun schon seit vielen Jahrzehnten andauernden) Debatte dieser Modelle jeweils die Kritik am anderen Modell sehr viel überzeugender ausfällt als die eigene Lösung, vgl. M. Klinghardt, The Marcionite Gospel and the Synoptic Problem: A New Suggestion, NT 50 (2008) 1-27, hier 1-4. 26 Dass dieses Phänomen nur aus dem eklektischen Text der kritischen Ausgaben zu erheben sei, nicht aber aus den Handschriften (so A. Standhartinger, ThLZ 112 [2016], 385-388, hier 387), ist mit Sicherheit ein Irrtum. 27 Vgl. Mk 2,4.9.12; Mt 9,2.6; Lk 5,18f.24. Tatsächlich gibt es noch weitere Möglichkeiten für das Zustandekommen solcher Übereinstimmungen, vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 234-245. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 53 luthie. Auf diese Weise werden dann auch die sehr komplexen Probleme durchsichtig, wie sie etwa die Dreifachüberlieferung innerhalb der Bergpredigt aufwirft. Ein Beispiel ist das Bildwort vom Licht, das ursprünglich aus Mcn stammt (*11,33), hier in Verbindung mit dem Wort vom Auge als Licht des Körpers. Mk 4,21 hat es in den neuen Kontext der Gleichnisrede gestellt, um daran deutlich zu machen, dass alles Verborgene offenbar werden muss. Mt hat das Bildwort aber nicht in diesem mk Kontext übernommen (es hätte seinen Ort nach Mt 13,23 gehabt), sondern hat ihm in der Bergpredigt eine neue prominente Stellung gegeben: Es erläutert die Funktion der Jünger als „Licht der Welt“ (Mt 5,15). Lk rezipiert sowohl den ursprünglichen Kontext aus Mcn (Lk 11,33) als auch die mk Deutung im Kontext der Gleichnisrede (Lk 8,16) und schafft so eine Dublette. Für alle diese Fälle liegt die Erklärung in der sich steigernden Komplexität der Überlieferung. Indem das Modell sowohl mit der Benutzung der Evangelien untereinander rechnet (auch mit der von Mt durch Lk! ), als auch mit Mcn eine gemeinsame Vorlage annimmt, verbindet es Aspekte beider Erklärungstypen. Mit anderen Worten: Mit der Berücksichtigung des ältesten Evangeliums ist das Synoptische Problem gelöst. Aber das ist nicht alles: Auch Joh ist Teil dieses Modells, und zwar ein notwendiger Teil. Man kann die Fokussierung der Forschung auf das synoptische Problem zwar nachvollziehen, aber sie ist eine methodisch und sachlich nicht gerechtfertigte Engführung und hat sich als erhebliches Forschungshindernis erwiesen: Für das „Synoptische Problem“ und die sog. „Johanneische Frage“ haben sich je eigene Diskursuniversen entwickelt, deren Ergebnisse kaum aufeinander bezogen wurden; zum Nachteil für beide Bereiche. Stattdessen hat die überlieferungsgeschichtliche Position des Joh zwischen Mcn und Lk deutlich gemacht, dass Joh mitten in die synoptischen Beziehungen hineingehört. Das heißt aber: Ein Modell der literarischen Beziehungen der Evangelien, das sich aus Gründen der Komplexitätsreduktion ausschließlich auf die Synoptiker konzentriert, ist gar nicht möglich. Man kann nicht erst das „Synoptische Problem“ lösen wollen und dann sehen, ob und wie sich Joh zu dieser Lösung verhält. Aus diesem Grund sind alle synoptischen Theorien durch das weiterreichende Modell der Überlieferungsgeschichte der Evangelien zu ersetzen. Wie umfassend dieses Modell zu denken ist, ist schon angeklungen. Denn die Texte, die zunächst in der Rezeption und Bearbeitung von Mcn entstanden sind, sind (noch) nicht mit den kanonischen Evangelien identisch; vielmehr wurden sie am Ende von einer Hand bearbeitet: Ihre jetzige literarische Gestalt haben die Evangelien erst in diesem letzten Schritt der „kanonischen Redaktion“ erhalten (s. o., Fig. 2). Auch dieser Schritt ist nicht einfach eine additive Erweiterung des etwas schlichteren Modells der einzelnen Bearbeitungsstufen (wie in Fig. 1), sondern ein integraler Teil davon. Denn die lk Redaktion von 54 Matthias Klinghardt Mcn ist identisch mit dieser abschließenden kanonischen Redaktion. Diese Bezeichnung soll andeuten, dass diese Bearbeitung sehr viel mehr geleistet hat als nur eine Harmonisierung der einzelnen Evangelien. Denn der Lk-Prolog (Lk 1,1-4), der ja erst von dieser Redaktion geschaffen wurde, bildet das prominente Gegenstück zum Act-Prolog (Act 1,1-3) und konstituiert auf diese Weise die Zusammengehörigkeit und Einheit des „Doppelwerks“ Lk-Act. Damit hat die kanonische Redaktion eine Verbindung zwischen der kompletten Jesusüberlieferung und der Paulustradition im Horizont der apostolischen Geschichte hergestellt: Dies ist das narrative Rückgrat des Neuen Testaments. Daher ist dieser finale Akt der Überlieferungsgeschichte der Evangelien am einfachsten mit der Endgestalt der kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments zusammenzudenken. 28 Mit anderen Worten: Eine befriedigende Erklärung für die literarischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien ist nur im Rahmen einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien möglich, die mit dem ältesten, vorkanonischen Evangelium beginnt und ihren Abschluss in der Endredaktion des Neuen Testaments findet. 4.2 Methodisches Die methodischen Grundlagen des Modells sind überraschend schlicht: Es beruht durchweg - und das heißt: für alle einzelnen Bearbeitungsschritte - auf einer literarkritischen Analyse. Die ist seit über 150 Jahren erprobt, bewährt und unstrittig. Allerdings wird sie de facto kaum noch angewandt, weil die Diskussion sich schon seit geraumer Zeit nur noch mit der Plausibilität der Modelle beschäftigt und einzelne Phänomene kaum noch zur Kenntnis nimmt. Deswegen zur Erinnerung: Wenn zwei Texte aufgrund ihrer engen und teilweise wortwörtlichen Übereinstimmungen unstrittig literarisch miteinander zusammenhängen, dann gibt es für die Beschreibung dieses Zusammenhangs genau drei Möglichkeiten: A ist von B abhängig; B ist von A abhängig; A und B sind von C abhängig. Diese letzte Möglichkeit darf methodisch nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn zwingende Gründe die Vermittlung beider Texte über eine dritte Instanz erforderlich machen; diese Überlegung liegt bekanntlich der Zwei-Quellentheorie zugrunde. Aber für die hier besprochenen Bearbeitungsrelationen hat sie sich als überflüssig erwiesen: Sie alle lassen sich als direkte 28 Am einfachsten und überzeugendsten ist D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg 1996; zur Rezeption vgl. J. Heilmann, Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: ders. / M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh. (TANZ 61), Tübingen 2018, 21-56. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 55 literarische Abhängigkeit beschreiben. Ob A von B oder B von A abhängig ist, bestimmt sich nach dem Kriterium der größeren redaktionellen Plausibilität: Die Bearbeitungsrichtung muss sich anhand der höheren Kohärenz des bearbeiteten Textes plausibilisieren lassen. Die Frage nach der Bearbeitungsrichtung lässt sich für jede einzelne Stelle, aber auch für die Texte als ganze stellen und in aller Regel einigermaßen eindeutig beantworten: Die einzelnen Veränderungen konstituieren ein kohärentes, redaktionelles Konzept. Drei ergänzende Hinweise sind sinnvoll. Erstens kann eine eindeutige Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen zwei Texten nie ausschließlich aufgrund dieser Texte allein erhoben werden. Ihre diachrone Zuordnung erfordert also zusätzliche Informationen, in der Regel die eindeutige Wahrnehmung von Kohärenz oder eine Vorstellung von der gesamten Entwicklung; insofern ist das Verfahren nicht frei von zirkulären Elementen. Diese Zirkularität im Verhältnis von Teilrekonstruktion und Gesamtbild ist unvermeidbar und muss deshalb bewusst gehalten werden. Das gilt vor allem dann, wenn das Ergebnis einer literarkritischen Analyse nicht zu einem vertraut gewordenen Gesamtbild passt. Dies ist z. B. bei der Vorordnung von Joh vor Lk der Fall: Obwohl sich die Belege für diese Bearbeitungsrichtung aus der Passionsgeschichte kaum widerlegen lassen, konnte sie sich aber nicht durchsetzen, weil die Zwei-Quellentheorie das Gesamtbild dominiert hat. In diesem Fall könnte das Bewusstsein der unvermeidbaren Zirkularität die Neigung zur Korrektur des vorausgesetzten Gesamtbildes erhöhen. Zweitens zeigt die beginnende Diskussion, wie schwer es ist, die gewohnten Denkbahnen zu verlassen. Denn wenn man tatsächlich nicht nur einzelne Aspekte der Zwei-Quellentheorie kritisiert, sondern sie grundsätzlich in Frage stellt, dann muss man auch auf alle Argumente verzichten, die sich erst in ihrer Folge ergeben. Das gilt zuerst für den Gebrauch bestimmter Bezeichnungen (z. B. „Q“), aber auch für Beobachtungen (zu Sprache, Stil, theologische Eigentümlichkeiten), die unter einer bestimmten Perspektive gemacht wurden und sich längst verselbständigt haben: Wenn man die synoptischen Theorien hinterfragen will, muss man auch forschungsgeschichtlich hinter die Etablierung Zwei-Quellentheorie zurückgehen und zunächst einmal auf alle Argumentationsmechanismen verzichten, die erst unter ihrer Geltung entwickelt wurden. Das ist mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist, und das kann ungewohnt sein. Noch ungewohnter mag drittens die Mcn-Priorität vor Lk erscheinen, die ja die Grundlage des ganzen Modells ist. Sie steht Harnacks Position, die im 20. Jh. fast uneingeschränkt in Geltung stand, diametral entgegen und könnte deswegen Verwunderung hervorrufen. Verwunderlich ist allerdings nicht die Kritik an Harnack, sondern der Umstand, dass er die für ihn alles entscheidende Lk-Prio- 56 Matthias Klinghardt rität so völlig fraglos und unkritisch einfach behauptet hat: Er hielt sie keiner Begründung für wert! 29 Harnacks Versäumnis ist inakzeptabel und schon deshalb gravierend, weil es seiner eigenen Marcioninterpretation jede Grundlage entzieht: Sein Bild von Marcion als Reformator und Bearbeiter der Evangelien und der Paulusbriefe ist ein reines Wunsch- und Trugbild. Sehr viel gravierender sind die Folgen für das Synoptische Problem bzw. die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien, weil die Mcn-Priorität deren Voraussetzungen verändert. Diese grundlegende Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Lk beruht auf der literarkritischen Analyse und dem Kriterium der größeren redaktionellen Plausibilität. Dementsprechend wäre sie nur aus redaktionellen Gründen zu erschüttern; das ist aber schwer vorstellbar (und bislang auch nicht versucht worden). 30 4.3 Schriftlichkeit der Überlieferung Die literarkritische Analyse der Beziehungen zwischen den Evangelien zeigt ein staunenswertes Ausmaß an detaillierter Schriftlichkeit. Gerade angesichts der sich steigernden Komplexität der Quellennutzung lässt sich zeigen, dass die redaktionelle Arbeit mehrere Texte gleichzeitig verglichen und genutzt hat. Hätte es in der Antike Schreibtische gegeben, müsste man sagen: Die Ausarbeitung der Evangelienüberlieferung ist eine hoch konzentrierte Schreibtischarbeit, die es vor allem in den letzten Stadien der Überlieferung erfordert, dass mehrere Quellen synoptisch wahrgenommen und bei der redaktionellen Weiterführung auch permanent gleichzeitig im Blick behalten werden. Eine Rezensentin bemängelte, dass dieses „Modell der Evangelienentstehung […] nicht mit den Bedingungen antiker Textproduktion und Rezeption“ rechne. 31 Aber anstatt die 29 Harnack, a. a. O. (Anm. 5), 240*: „Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist[,] als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden“. Auf den über 700 Seiten taucht dieses Problem tatsächlich nicht mehr auf. Das ist deswegen bemerkenswert, weil Harnack die hitzige Auseinandersetzung über diese Frage kannte, die um 1850 die Gemüter bewegt hatte. Allerdings hat er (als 19-Jähriger) von dieser Debatte lediglich einige Aspekte für seine berühmte „Preisschrift“ zur Kenntnis genommen - und auch dies, wie er selbst bekennt, nur oberflächlich, eklektisch und aus zweiter Hand (ders., Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator; die Dorpater Preisschrift (1870), Berlin 2003, 122 f.). 30 Auf die Kritik an den textkritischen Implikationen habe ich bereits repliziert (s. dazu die Arbeiten in ZAC, o. Anm. 24); sie können die Mcn-Priorität ebenso wenig in Frage stellen wie die Einwände, die H. Scherer (Königsvolk und Gotteskinder, Göttingen 2016, 50-69) gegen die überlieferungsgeschichtlichen Implikationen dieses Modells erhoben hat. 31 A. Standhartinger, a. a. O. (s. o. Anm. 26), 387. Der Einwand (der übrigens jedes synoptische Modell träfe, das mit literarischer Abhängigkeit rechnet, also etwa die Zwei-Quellentheorie) ist leicht zu widerlegen, vgl. etwa T. Dorandi, Den Autoren über die Schulter Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 57 Evangelienüberlieferung allgemeinen Vorstellungen davon, was in der Antike möglich oder üblich ist, zu unterwerfen, wäre es sinnvoller (und wissenschaftlich angemessen), von den nachweisbaren Phänomenen der Überlieferungsgeschichte auszugehen und von da aus auf die Produktionsbedingungen zu schließen. In diesem Fall lässt sich von der Überlieferungsgeschichte der Evangelien einiges lernen, und zwar nicht nur für die Evangelien, sondern auch für die Bedingungen antiker Textproduktion. Die wichtigste Lerneinsicht bezieht sich auf die sog. „mündliche Überlieferung“: Das skizzierte Modell kommt vollständig ohne sie aus und kann alle Auffälligkeiten der Überlieferungsgeschichte von Mcn bis Lk als literarische Phänomene der Redaktion von Texten erklären. Dies bedeutet nicht, dass es so etwas wie mündliche Überlieferung nicht gegeben haben könnte; wohl aber, dass sie keinen prägenden Einfluss auf die Überlieferung genommen hat. Weil die Annahme von Mündlichkeit zur Erklärung der Überlieferung mit ihren redaktionellen Veränderungen überflüssig ist, ist es methodisch unzulässig, sie zu diesem Zweck zu postulieren. Diese Einsicht gilt im Übrigen für alle synoptischen Theorien, sofern sie an den literarischen Beziehungen zwischen Texten interessiert sind und literarkritisch arbeiten. Denn die Annahme mündlicher Überlieferung stellt für jede literarische Analyse eine metabasis eis allo genos dar und ist aus diesem Grund methodisch unzulässig, wie bei Aristoteles zu lernen ist; dies gilt gleichermaßen für die ältere Formgeschichte (Bultmann, Dibelius, Schmidt) wie für ihre modernen Nachfahren. Wenn man allerdings sieht, dass die Annahme von Mündlichkeit methodisch problematisch und zur Erklärung der Evangelienüberlieferung überflüssig ist, stellt sich unweigerlich die Frage: Welche ideologischen Bedürfnisse bedient die Erfindung von „Mündlichkeit“ eigentlich? 4.4 Kohärente Vielstimmigkeit Das hier vorgestellte Modell erfasst zugleich mit der Geschichte der Entstehung der einzelnen Evangelien auch die Geschichte ihrer Sammlung , und zwar vom Anfang bis zur letzten Stufe der Kanonischen Ausgabe. Weil dieser Aspekt weit über die Erklärungsleistungen aller anderen synoptischen Theorien (oder Hypothesen) hinausgeht, sollen seine theologischen Implikationen wenigstens angedeutet werden. Zunächst ist es gar nicht einfach, diesen komplexen Prozess einigermaßen korrekt zu erfassen: Das Verfahren lässt sich nur beschreiben, weil die Literaturwissenschaft dafür keinen Begriff hat. Der Ansatz bei dem ältesten, vorkanonischen geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern, ZPE 87 (1991), 11-33. 58 Matthias Klinghardt Evangelium gibt zu erkennen, dass die Evangelien sukzessive zu den anderen hinzugetreten sind, diese aber nicht ersetzen oder verdrängen wollten. Die erste und einzig nachweisbare Verdrängung, die einen Konkurrenzanspruch impliziert, ist die lk Bearbeitung von Mcn. Sie ist nicht geräuschlos vor sich gegangen, sondern hat in den Auseinandersetzungen zwischen der entstehenden Kirche und den „Häretikern mit der falschen Bibel“ (s. o., Anm. 9) ein noch lange vernehmliches Echo hervorgerufen. Diese Ergänzung der Sammlung ist eine Fort schreibung, aber keine Über schreibung: Auch wenn die jüngeren Evangelien „Literatur auf zweiter Stufe“ sind, sind sie doch keine Palimpseste im Sinn Genettes, in denen der Ausgangstext nur noch vage erkennbar ist: Die vorangehenden Überlieferungsstufen werden in der Sammlung (fast unverändert) präsent gehalten. 32 Weil diese Fortschreibung innerhalb der Sammlung stattfindet, sind die Vorlagen, auf die sich die jüngeren Evangelien beziehen, nicht andere Texte, sondern andere Teile desselben Textes : Die literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien konstituieren nicht Intertextualität, sondern Kohärenz zwischen einzelnen Textteilen also Intra textualität. Wenn die Bearbeitungen jeweils neben ihre Vorlagen treten und mit ihnen zusammen rezipiert werden, dann richten sie sich immer an dieselben (impliziten und realen) Leser. Die Annahme, dass die Evangelien für eng definierte Lesergruppen („Gemeinde des Matthäus“ usw.) verfasst wurden, ist schon länger und zu Recht bezweifelt worden. 33 Jetzt lässt sie sich durch das überlieferungsgeschichtliche Modell widerlegen. Genau genommen findet die Fortschreibung nicht nur innerhalb der Sammlung statt, sondern auch für die Sammlung. Abgesehen von Mcn (und vielleicht von Mk) haben die Evangelien nie als Einzeltexte existiert und sind auch nicht als solche rezipiert worden: Es „gibt“ sie nur als Teil der Sammlung, weil sie von vornherein als Ergänzung einer Sammlung konzipiert und verfasst wurden. Das verändert den gewohnten Textbegriff nicht unerheblich. Zum Beispiel: Das Lukasevangelium (oder auch das „lukanische Doppelwerk“) gibt es nicht - und gab es nie! - ohne den Kontext des gesamten Neuen Testaments. Die Annahme, dass das Lukasevangelium (oder das Doppelwerk) ursprünglich als isolierter Einzeltext existierte und irgendwann in die Sammlung des NT integriert wurde, hat nicht nur die literarkritischen Beobachtungen zur Entstehung der Evangeliensammlung gegen sich, sondern ist auch methodisch nicht haltbar: Sie verstößt gegen das Gesetz der Sparsamkeit, weil sie ohne Not eine zusätzliche Größe postuliert. Und schließlich: Die ergänzende Fortschreibung der Evangeliensammlung ist etwas anderes als ein Anhang oder ein Nachwort, das der Neuauflage eines Wer- 32 G. Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (es 1683), Frankfurt 1993. 33 R. Bauckham (Hg.), The Gospels for All Christians. Rethinking the Gospel Audiences, Edinburgh 1998. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 59 kes beigegeben wird. Vielmehr erzählt sie die gleiche Geschichte immer wieder neu. Dabei und dadurch verändert sie ihre Vorlage(n). „Dabei“ und „dadurch“ sind zu unterscheiden. Die Veränderungen an den älteren Texten, die durch den Redaktionsprozess entstanden sind, lassen sich relativ leicht beschreiben, weil die älteren Evangelien (zumindest auf der letzten Stufe) ja auch direkt redaktionell bearbeitet und verändert wurden. Zu diesen Veränderungen gehören beispielsweise die Ergänzung des „Langen Markusschlusses“, aber auch - genauso raffiniert, wichtig und aufschlussreich - die Evangelienüberschriften. Sie alle behalten den ursprünglichen Titel von Mcn bei („Evangelium“), aber sie ergänzen ihn durch die Namen der Gewährsleute: Es bleibt immer dasselbe „Evangelium“, aber die Gewährsleute, „nach“ denen dieses Evangelium mitgeteilt wird, repräsentieren verschiedene Perspektiven, die sich durch die weiteren Angaben der Kanonischen Ausgabe profilieren lassen: Matthäus war der von Jesus berufene Zöllner (Mt 9,9), Markus der „Sohn“ des Petrus und die Stütze des Paulus (1 Petr 5,13; 2 Tim 4,11 usw.), Lukas der Arzt und Paulusbegleiter (Kol 4,14 usw.), Johannes der „Jünger, den Jesus liebte“ ( Joh 21,24). Sehr viel schwieriger ist zu beschreiben, wie sich die Semantik einer Geschichte dadurch verändert, dass eine zweite (dritte, vierte) Fassung derselben Geschichte daneben gestellt wird. Auch hier geht es um Multiperspektivität und um die selbständige Kombination von Elementen verschiedener Erzählungen zu einer Einheit, die so gar nie erzählt (sondern nur durch die Leser geleistet) wird. In vielen Fällen ist das völlig problemlos. Die Krippenspieltradition zeigt, dass auch Laien ohne Schwierigkeiten die „Weisen aus dem Morgenland“ und die „Hirten auf dem Felde“ zusammenlesen und mögliche Unterschiede ausgleichen können. 34 Die meisten Differenzen zwischen den Evangelien lassen sich auf diese Weise lösen, auch wenn manchmal mehr Nachdenken erforderlich ist: Muss der Messias aus Bethlehem kommen oder nicht? Hat Jesus die Apostel zu den Heiden gesandt oder nicht? Ist er ein Davidide oder nicht? Hat Jesus die Befolgung des Gesetzes eingeschränkt oder verschärft? Wann hat er Petrus zum Menschenfischer berufen? Und so weiter. Wenn sich ein Widerspruch nicht auflösen lässt, wie im Fall des unterschiedlichen Kreuzigungstermins bei Joh und den Synoptikern, ist dies möglicherweise Absicht. Auch dies erfordert eine hohe Eigenbeteiligung der Leser bei der Sinnkonstitution: Das Lektürekonzept der Evangelien ist anspruchsvoll. 34 Z.B. das Verhältnis zwischen der Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,22-40) und der Flucht nach Ägypten (Mt 2,13-18): Die Perikopenordnung der EKD stellt am 1. Sonntag nach dem Christfest (1. Reihe) beide Texte als Evangelium und als Predigttext unmittelbar nebeneinander - und damit die Prediger vor die Aufgabe, beides miteinander zu kombinieren. Wer das Problem bemerkt, kann es widerspruchsfrei zu einem schlichten Nacheinander ordnen. Erst die Darstellung, anschließend die Flucht nach Ägypten. 60 Matthias Klinghardt Damit lässt sich das theologische Hauptproblem klären, das die Evangelien aufwerfen: Warum gibt es vier davon? Diese Vielstimmigkeit ist nicht das Resultat einer zufälligen Zusammenstellung einzelner Texte, sondern sie ist ein konstitutives Element dieser Sammlung, das bereits der Genese der Evangelien eingeschrieben ist. Daher ist die kanonische Interpretation der Evangelien nicht nur eine theologische, sondern auch eine historische Aufgabe. Diese Sammlung repräsentiert „ökumenische Weite“, auch wenn diese Weite nicht geographisch (Syrien, Rom, Alexandria usw.) oder sozial (bestimmte „Gemeinden“) zu verstehen ist, sondern literarisch: Die Vielstimmigkeit macht verschiedene semantische Angebote. Zugleich zwingt sie zur Schriftauslegung - und hebt damit die Anforderung an jede theologische Kommunikation dauerhaft auf eine neue Ebene: Was unverfügbare Geltung besitzt, steht nicht einfach unverrückbar da, sodass man es einfach ablesen könnte. Wahrheit ergibt sich vielmehr nur aus der Sinnkonstitution der Auslegung, von der sie in gleicher Weise Freiheit und Verpflichtung bezieht. 35 Der Lk-Prolog (Lk 1,1-4) begründet die Mehrstimmigkeit: Es muss mehr als ein Evangelium geben! Obwohl die Argumentation einen exklusiven Anspruch vertritt („Viele haben es versucht […] aber jetzt schreibe ich alles richtig auf “), ersetzt das Lk-Evangelium die anderen drei Evangelien nicht, sondern stellt sich neben sie. Der Joh-Epilog ( Joh 21,25) begründet diese Vielstimmigkeit inhaltlich („Jesus hat noch viele andere Dinge getan […]“) und begrenzt sie zugleich. Denn „Die Welt würde die Bücher nicht fassen […]“ will ja sagen: Vier - und zwar: diese vier! - sind genug! Der Lk-Prolog und der Joh-Epilog wurden erst von der letzten Stufe der kanonischen Redaktion geschaffen. Dass sie literarisch miteinander zusammenhängen und aufeinander verweisen, kommt allerdings im Rahmen einer (nur) synoptischen Theorie gar nicht in den Blick: Das reflektierte Konzept, das die vier Evangelien zu einer Einheit verbindet, wird nur unter der Perspektive einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien sichtbar. 35 Vgl. Klinghardt, Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin / New York 2013, 331-355.