ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
2243-44
Dronsch Strecker VogelBraucht Lukas Q?
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2019
Francis Watson
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Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Braucht Lukas Q? Ein Plädoyer für die L/ M-Hypothese Francis Watson Aus Sicht der sogenannten Zweiquellenhypothese haben der Matthäus- und der Lukasevangelist ihr Evangelium auf ganz ähnliche Weise konzipiert, obwohl sie unabhängig voneinander gearbeitet haben. Beide machten je für sich Gebrauch von denselben Quellen, dem MkEv und Q. Mit einigen Ausnahmen hielten sich beide eng an die Erzählfolge des MkEv, und zwar mit Worten, die sie teilweise aus dem MkEv übernahmen, teilweise aber auch selbst formulierten. Wo das MtEv und das LkEv eigenen Formulierungen gegenüber dem MkEv den Vorzug geben, wählen sie nicht oft, aber doch gelegentlich dieselben Worte, die sog. minor agreements . 1 Ansonsten haben die beiden späteren Evangelisten das MkEv aber in der Wortwahl auf je eigene Weise bearbeitet, ohne dass die Möglichkeit gegenseitiger Einflüsse in den Blick gerät. Allerdings haben sie Material in erheblicher Menge gemeinsam, hauptsächlich Spruchgut, das sie nicht aus dem MkEv übernehmen. Wenn sie unabhängig voneinander das MkEv bearbeitet haben, haben sie mutmaßlich ebenso dieses gemeinsame nichtmarkinische Material unabhängig voneinander rezipiert, das mithin aus einer zweiten Quelle stammen muss, eben aus der Logienquelle Q. 2 Die Zweiquellenhypothese erklärt 1 Beispiele für diese Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk sind: „Euch sind die Geheimnisse … gegeben“ (Mt 13,11 = Lk 8,10); „Wer ist es, der dich geschlagen hat“ (Mt 26,68 = Lk 22,64); „Und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Mt 26,75 = Lk 22,62). Auf die minor agreements hat zuerst Sir J. C. Hawkins, Horae Synopticae: Contributions to the Study of the Synoptic Problem, Oxford 2 1909, 208-212 aufmerksam gemacht. Gewichtigere Übereinstimmungen der beiden späteren Evangelisten gegen Mk kommen ans Licht, sobald man sich nicht mit der Zusatzhypothese der Mk/ Q-Doppelüberlieferungen behilft. 2 Das Sigel „Q“ wurde (wohl erstmals) von Eduard Simons in seiner bei H.J. Holtzmann gefertigten Straßburger Dissertation verwendet (vgl. E. Simons, Hat der dritte Evange- 62 Francis Watson die innersynoptischen Beziehungen auf der Grundlage von zwei voneinander unabhängigen Paaren: Das MkEv und Q auf der einen Seite und das MtEv und das LkEv auf der anderen. 3 Dreifach bezeugte Stoffe (Mk/ Mt/ Lk) werden Mk und zweifach bezeugte (Mt/ Lk) Q zugeschrieben. Allerdings gibt es andere Lösungsvorschläge für das synoptische Problem, und einer, der in den letzten Jahren an Boden gewonnen hat, lautet, dass Lukas dasjenige Material, das er mit Mt gegen Mk gemeinsam hat, nicht direkt aus Q schöpft, sondern aus dem MtEv selbst. 4 Nach diesem Modell bezieht Lk das dreifach bezeugte Material direkt von Mk (mit gelegentlichem Rückgriff auf mt. Redaktionen des Mk-Stoffs) und die zweifach bezeugten Stoffe nicht aus Q, sondern von Mt. In diesem Fall erscheint die Q-Hypothese redundant und Q hört auf zu existieren. Welche nichtmarkinischen Quellen Mt zur Verfügung standen, kann dann nicht rekonstruiert werden. Der Einfachheit halber nennen wir dieses Modell die „L/ M-Theorie“, wobei „L/ M“ Lukas als Benutzer des MtEv bezeichnet. Während die Kenntnis und Benutzung des MtEv durch den Lukas-Evangelisten weithin für praktisch unmöglich gehalten wird, argumentiere ich, dass dies im Gegenteil sogar höchst wahrscheinlich ist. Die folgende Diskussion konzentriert sich auf die mt. Bergpredigt und ihre lk. Parallelen, Material, wo sich Q-Vertreter auf besonders sicherem Boden wähnen. 5 list den kanonischen Matthäus benutzt ? , Bonn 1880, 22 f. 26 u. ö.) mit Bezug auf die von Bernhard Weiss so geannte „apostolische Quelle“ (22). Simons verwendet auch das ältere Sigel Λ (= Logia ), mit Bezug auf eine Notiz des Papias, die man früher als Hinweis auf eine vormatthäische Spruchsammlung verstanden hat. 3 Der Ausdruck „Zweiquellentheorie“ war möglicherweise eine terminologische Neuprägung von H.J. Holtzmann, Die Synoptiker, Tübingen/ Leipzig 3 1901, 15. 4 Vgl. v. a. M. Goodacre, The Case against Q: Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Goodacres Argumente wurden weiterentwickelt in F. Watson, Gospel Writing: A Canonical Perspective, Grand Rapids 2013, 117-283. Vgl. auch den Sammelband von M. Müller/ H. Omerzu (Hg.), Gospel Interpretation and the Q Hypothesis, London 2018, der in diesem Heft der ZNT ausführlich besprochen wird. Goodacre fußt auf älteren Arbeiten britischer Forscher; vgl. A. Farrer, On Dispensing with Q”, in: Studies in the Gospels: Essays in Memory of R.H. Lightfoot (ed. D.E. Nineham, Oxford: Blackwell, 1955), 55-88; H.B. Green, “The Credibility of Luke’s Transformation of Matthew”, in Synoptic Studies: The Ampleforth Conferences of 1983 and 1984 (ed. C.M. Tuckett, JSNTSup 7, Sheffield 1984), 131-156; M. Goulder, Luke: A New Paradigm ( JSNTSup 20, 2 vols., Sheffield 1989); E. Franklin, Luke: Interpreter of Paul, Critic of Matthew ( JSNTSup 92, Sheffield 1994); M.S. Goodacre, Goulder and the Gospels: An Examination of a New Paradigm ( JSNTSup 133, Sheffield 1996). 5 Vgl. Goodacre, Case Against Q , 81-104. Braucht Lukas Q? 63 Prof. Francis Watson ist Inhaber des Research Chair in Early Christian Literature am Department of Theology and Religion, Durham University (UK). Davor lehrte er an der Universität Aberdeen (1999-2007) und am King’s College London (1984- 1999). Er wurde 1984 an der Universität Oxford promoviert. Sein anhaltendes Forschungsinteresse richtet sich auf die frühe kanonische wie außerkanonische Evangelienliteratur. Zu seinen Publikationen zählen Gospel Writing: A Canonical Perspective (2014), Paul and the Hermeneutics of Faith (2. Aufl. 2015), The Fourfold Gospel (2016) und The Garima Gospels: Early Illuminated Gospel Books from Ethiopia (2016, mit Judith McKenzie). Eine Monographie über die Epistula Apostolorum (2. Jh.) ist im Erscheinen. 1. Ein Haus auf Sand gebaut? Zu Mt 5,1 notiert Johannes Calvin, dass „Matthäus berichtet, wie Christus zu seinen Jüngern auf einem Berg gesprochen hat, während Lukas anzudeuten scheint, dass die Predigt in einer Ebene gehalten wurde“. 6 Calvin bezieht sich auf die mt. Bergpredigt und auf die wesentlich kürzere Parallele Lk 6,20-49, auch bekannt als Feldrede. Ungeachtet der Differenzen in Ort und Inhalt weist Calvin die Annahme zurück, dass die Evangelisten zwei unterschiedliche Predigten wiedergeben. Solche Leute würden „einem überaus schwachen und trivialen Argument“ folgen ( nimis levi et frivolo argumento ). 7 Vielmehr verhalte es sich so, dass die Intention beider Evangelisten darin bestand, die Hauptlehren Christi in einer einzigen Passage zusammen zu fassen ( praecipua quaeque capita doctrinae Christi ), die die Regeln eines gottesfürchtigen und heiligen Lebens betreffen […]. Für fromme und bescheidene Leser sollte es genügen, dass sie damit eine Zusammenfassung der Lehren Christi vor Augen haben, die aus zahlreichen und vielfältigen Predigten Christi zusammengestellt wurde ( collectam ex pluribus et diversibus eius concionibus ). 8 Calvin hält sich an den Differenzen zwischen beiden Evangelien gar nicht auf, in der Zuversicht, dass die Evangelisten unter der Leitung des Heiligen Geistes 6 Harmonia ex tribus evangelistis composita, Mattheo, Marco, et Luca: adiuncto seorsum Iohanne, quod pauca cum aliis communia habeat, cum Iohannis Calvini commentarius (1555), Corpus Reformatorum 73 (ed. W. Baum, E. Cunitz, and E. Reuss, Braunschweig: Schwetschke, 1891), 99. 7 Calvin, Harmonia, 99. 8 A. a. O. 64 Francis Watson editorisch tätig waren. Für Calvin enthält keine der beiden Versionen die ipsissima verba Jesu, die Jesus genauso zu einer bestimmten Gelegenheit gesagt hat. Jahrhunderte später, in der Ära der kritischen Forschung, wurden anspruchsvollere Erklärungen der Mt und Lk gegen Mk gemeinsamen Stoffe entwickelt. Hierunter fällt nahezu alles, was in der lk. Feldrede enthalten ist. Die Feldrede und die mt. Bergpredigt stehen nach Inhalt und Abfolge des Stoffs in engem Zusammenhang, angefangen von den Seligpreisungen bis hin zur Parabel von den beiden Häusern (Mt 5,3-12/ Lk 6,20-26; Mt 7,24-27/ Lk 6,47-49). Zugleich sind aber die Unterschiede zwischen beiden Reden genauso signifikant wie die Gemeinsamkeiten: Bei Mt lehrt Jesus die Jünger, nachdem er sich auf einem Berg niedergesetzt hat (Mt 5,1). Dagegen steigt er bei Lk vom Berg herab und steht „auf einem ebenen Platz“, um dort seine Lehrrede zu halten (Lk 6,17.20). Bei Mt beginnt die Bergpredigt mit einer Reihe von neun Makarismen (Mt 5,3-12). Bei Lk finden wir nur vier Makarismen, dafür aber vier korrespondierende Wehrufe, die bei Mt fehlen (Lk 6,20-26): „Selig sind die Armen“, aber „Wehe den Reichen“, usw. (Lk 6,20.24). Die Länge beider Passagen ist in etwa gleich, so als habe entweder Lk mit den Wehrufen die Lücke der fehlenden Makarismen aufgefüllt oder umgekehrt Mt die Wehrufe durch weitere Makarismen ersetzt. In der nächsten Passage, die beide Evangelisten gemeinsam haben, bietet Lk eine Spruchfolge zum Thema Feindesliebe (Lk 6,27-30). In Mt 5 ist dieses Spruchgut auf die letzten beiden der sogenannten Antithesen verteilt, die durch die Entgegensetzung von „Ihr habt gehört, dass gesagt ist“ und „Ich nun sage euch“ strukturiert sind. Die fünfte und sechste Antithese bieten Jesu Lehre über Nicht-Widerstehen und Feindesliebe (Mt 5,38-42.43-48). Die antithetische Form fehlt bei Lk, und die Worte vom Nicht-Widerstehen (Lk 6,29.30/ Mt 5,39b-40) werden nun verwendet, um das Gebot der Feindesliebe zu verstärken (Lk 6,27f.32-36/ Mt 5,44-48). Inmitten dieses Materials findet sich auch die sogenannte Goldene Regel „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch“ (Lk 6,31), die bei Mt in einem anderen Zusammenhang positioniert ist, hier nun versehen mit der Erläuterung „Dies ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Die übrige Feldrede entspricht der Abfolge von Mt 7, wenngleich mit Auslassungen und Ergänzungen: Auf die Warnung vor dem Richten (Lk 7,37-38.41-42/ Mt 7,1-5) folgen Sprüche über die gute Frucht des guten Baumes (Lk 6,43-45/ Mt 7,16-21) und die Parabel von den beiden Häusern (Lk 6,46-49/ Mt 7,24-27). Die Warnung vor dem Richten wird unterbrochen von Sprüchen über die blinden Blindenführer und die Jünger, die nicht größer sind als ihr Meister (Lk 6,39f/ Mt 15,14; 10,24f). Während die lk. Feldrede weniger als ein Drittel des Umfangs der mt. Bergpredigt hat, hat viel zusätzliches mt. Material Parallelen in den Kapiteln Lk 11-16. Braucht Lukas Q? 65 Wie kann nun die Beziehung zwischen diesen ungleich langen Versionen der Rede Jesu erklärt werden? Benutzt ein Evangelist den anderen als Quelle? In diesem Fall ist entweder (1) die lk. Version eine Kürzung der mt. Bergpredigt, oder (2) die mt. Version ist eine Erweiterung der lk. Feldrede, oder aber (3) beide Evangelisten haben unabhängig voneinander von der hypothetischen Quelle, die unter dem Sigel Q bekannt ist, Gebrauch gemacht. Bisher lautete der Forschungskonsens, dass die Q-Hypothese die beste Erklärung für dieses zweifach bezeugte Material ist, ein Konsens, der so stabil war, dass diese Hypothese nicht mehr nur als Hypothese galt. Vielmehr meinte man, einen wiederentdeckten frühchristlichen Text vor sich zu haben, der als solcher rekonstruiert und erforscht werden konnte. Man geht davon aus, dass die lk. Kurzversion der Lehrrede Jesu der Struktur der Q-Fassung näher steht als die längere mt. Version, obwohl einzelne mt. Formulierungen Q treuer bewahrt zu haben scheinen. Deshalb hat es sich eingebürgert, die Kapitel- und Verszählung des LkEv auch auf Q anzuwenden, sodass Q 6,35 Lk 6,35 entspricht, und zwar auch dort, wo (wie in diesem Fall) Mt in der Wortwahl näher an Q heranreicht. Wir sind aufgerufen für unsere Verfolger zu beten, … auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,44). … und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen (Lk 6,35c). … auf dass ihr Kinder seid eures Vaters. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Q 6,35c). 9 Q kommt hier Mt sehr nahe, bis auf „im Himmel“, das die Editoren als mt. Ergänzung identifiziert und dementsprechend ausgeschieden haben, aber in der Stoffabfolge gilt doch Lk als ursprünglich, obwohl Lk den Wortlaut in Richtung einer abstrakteren Formulierung verändert hat. Wenn nun aber der lk. Wortlaut gegenüber dem mt. sekundär ist, wie für das genannte Testbeispiel angenommen wird, können wir dann hinreichend sicher sein, dass nach Abfolge und Inhalt die lk. Kurzfassung der Lehrrede Jesu Q näher steht, und dass Mt seine Version mit zusätzlichem Q-Material und anderen Stoffen erweitert hat? Können wir nicht ebenso den Schluss ziehen, dass die lk. Feldrede einfach eine verkürzte Fassung der mt. Bergpredigt ist, und dass sich die Hypothese einer 9 Die Rekonstruktion folgt The Critical Edition of Q (ed. J.M. Robinson, Paul Hoffmann, J.S. Kloppenborg, Minneapolis 2000), 58; H.T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary (Leuven 2005), 330. Athanasius Polag bietet eine leicht abweichende Rekonstruktion: „und ihr werdet Söhne Gottes sein, denn er lässt die Sonne aufgehen über die Guten und die Bösen“, so A. Polag, Fragmenta Q: Textheft zur Logienquelle (Neukirchen-Vluyn 1979), 34. 66 Francis Watson Logienquelle Q, deren Stoffabfolge bei Lk erhalten ist, als unnötig erweist? Die Plausibilität der Q-Hypothese hängt an der Annahme, dass Lk seine Kurzversion schwerlich aus der mt. Langversion gewonnen haben kann. Diese Annahme wurde im Laufe von anderthalb Jahrhunderten wieder und wieder bekräftigt. Die folgenden Beispiele illustrieren ihr erstaunliches Beharrungsvermögen. Im Jahr 1863 votierte Heinrich Julius Holtzmann für eine Frühform dessen, was sich später als Q-Hypothese durchsetzte, wie folgt: „Was ist an sich wahrscheinlicher, dass Lucas die grossen Bauten muthwillig zerschlagen und die Trümmer nach allen vier Winden auseinandergesprengt, oder dass Matthäus jene Mauern aus den Steinhaufen des Lucas erbaut habe? “ 10 Die „grossen Bauten“ sind die großen mt. Redeblöcke, v. a. die Bergpredigt. Sollte Lk seine Kurzversion auf der Basis des MtEv gewonnen haben, wobei er Teile daraus an anderen Stellen seines Evangeliums verwendete, hätte er sich, mit Holtzmann gesprochen, einer Art Vandalismus schuldig gemacht, einer schamlosen Zerstörung und Schändung nach Gutdünken. Oder aber: Die lk. Version zusammen mit dem Redenstoff des Reiseberichts Lk 9,51-18,14 geben die verhältnismäßig unstrukturierte Form der lk. Quelle (Q) wieder, während Mt dasselbe Material aus derselben Quelle schöpft und es zu einem kohärenten Ganzen formt, eben zur Bergpredigt. Damit, dass Lk die Stoffabfolge der mt. Quelle bewahrt, versetzt er uns in die Lage, die editorische Leistung des Mt zu erkennen und zu würdigen. Was ist, fragt Holtzmann, wahrscheinlicher: Mt als einen Erbauer zu sehen (Q-Hypothese), oder Lk als Zerstörer (L/ M-Hypothese, d. h. die lk. Benutzung von Mt)? 11 Für Holtzmann gibt es hier nicht den leisesten Zweifel. Im Jahr 1911 ist sich Julius Wellhausen seiner Sache ebenso sicher: Lk bewahrt die ursprüngliche Gestalt seiner Quelle, Mt gibt ihr eine neue Struktur. „Nach inneren Merkmalen erscheint die Feldpredigt bei Lukas im Ganzen originaler als die Bergpredigt bei Matthäus; seine Disposition liegt auch bei jenem zugrunde, 10 H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien: Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter (Leipzig, 1863), 130. Holtzmann verwendet das Sigel Λ (= Logia ) anstelle von Q, und er schreibt einen Teil des zweifach bezeugten Materials (Mt und Lk gegen Mk) nicht Q, sondern einem „Urmarcus“ zu, dem gegenüber das kanonische MkEv eine gekürzte Fassung darstellt. Der Kontrast zwischen dem unstrukturierten „Steinhaufen“ des Lk und der eindrucksvollen mt. Architektur findet sich auch in den späteren Werken Holtzmanns, etwa in Ders., Die Synoptiker, HCNT I,1, Tübingen/ Leipzig 1901, 13). 11 Der Ausdurck „L/ M-Hypothese“ ist mein eigener. Die Gründe für diese Neubildung habe ich dargelegt in F. Watson, “Q as Hypothesis: A Study in Methodology” ( NTS 55 [2009], 397-415), 398-399 (Anm.). Braucht Lukas Q? 67 sein Ton und seine Sprache ist durchweg frischer, gedrungener und volkstümlicher, weniger geistlich und biblisch“. 12 Ungewöhnlich ist, dass Wellhausen der lk. Kurzversion gegenüber der mt. Bergpredigt aus ästhetischen Gründen den Vorzug gibt. Dies ist ein Echo der Quellenkritik des Pentateuch, die untrennbar mit dem Namen Wellhausen verbunden ist: Lk (oder Q Lk ) verhält sich zu Mt wie der Jahwist zur Priesterschrift („durchweg frischer, gedrungener und volkstümlicher“). Anders als Holtzmann stellt Wellhausen die Lesenden nicht vor die Wahl einer rationalen Theorie (der mt. Gebrauch der Logienquelle, wie sie bei Lk erhalten ist) und einer angeblich irrationalen (Benutzung des MtEv durch Lk). Für die meisten anderen Vertreter der Q-Hypothese ist die behauptete Unwahrscheinlichkeit einer Auflösung der mt. Komposition durch Lk dagegen ein unverzichtbares Argument für die Stichhaltigkeit der Annahme von Q. So schreibt etwa B. H. Streeter im selben Jahr: „Es ist völlig nachvollziehbar, dass ein Verfasser die Absicht verfolgt hat, die charakteristischsten Lehren zu einer allgemeinen christlichen Ethik zusammenzustellen, wie dies in Mt 5-7 der Fall ist […], und zu diesem Zweck das zu sammeln, was er verstreut in seiner Quelle fand. Es ist aber keineswegs nachvollziehbar, dass ein Autor diese Lehren in einer Ordnung wie der matthäischen vorgefunden und ohne erkennbaren Plan völlig durcheinander gebracht haben sollte, so, wie sie uns bei Lk begegnen“. 13 Streeter hat wohl recht mit der Annahme, dass die Bergpredigt vom Mt-Evangelisten aus dem Material komponiert wurde, das er zur Verfügung hatte, eine Sicht, die wir schon bei Calvin finden. Die Frage lautet aber, ob dieses Quellenmaterial bei Lk in so etwas wie seiner ursprünglichen Form erhalten ist, oder ob dieses vormatthäische Material sich der Möglichkeit einer Rekonstruktion entzieht, was dann der Fall ist, wenn Lk von Mt abhängig ist. In einer etwas vereinfachten Form können die zweifach überlieferten Stoffe wie folgt hergeleitet werden: entweder Q Lk →Mt/ Lk oder x→Mt→Lk, wobei x das bei Mt erhaltene nichtmarkinische Material bezeichnet, dessen Herkunft wir nicht kennen, und über das wir auch nichts Näheres in Erfahrung bringen können. Streeters Modell setzt Mt und Lk im Hinblick auf Q in ein paralleles Verhältnis zueinander, genauso, wie sie in ihrem Verhältnis zu Mk parallel zueinander stehen. Ein lineares Modell des Typs Mk+Mt→Lk wird mit dem Argument ausgeschlossen, dass „kein erkennbarer Plan“ für die Relation Mt→Lk spricht. Die Existenz von Q beruht auf der - wie zu zeigen ist: unbegründeten! - Behauptung, dass Mt→Lk (=L/ M) unvorstellbar ist. Diese Behauptung muss 12 J. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien (Berlin 2 1911), 59. 13 B.H. Streeter, “On the Original Order of Q”, in: Oxford Studies in the Synoptic Problem (ed. W. Sanday, Oxford 1911, 141-164), 147. 68 Francis Watson immerzu wiederholt werden, wenn Q glaubwürdig bleiben soll. Dementsprechend hat Werner Georg Kümmel im Jahr 1973 die Rhetorik Holzmanns treu wiedergegeben: „Was hätte Lukas z.B. dazu bewegen können, die Bergpredigt des Mt zu zerschlagen und teils in seine Feldrede aufzunehmen, teils über verschiedene Kapitel seines Ev. zu verteilen, teils wegzulassen? “ 14 Ergänzend hierzu hat David Catchpole im Jahr 1993 auf mt. Material hingewiesen, das Lk im Falle von Mt→Lk weggelassen hätte, obwohl es seinen eigenen Präferenzen entsprochen hätte: „Wenn Lk das MtEv benutzt hat, müssen wir außerordentlich drastische Kürzungen für wahrscheinlich halten, und die Weglassung etlicher Themen, von denen man annehmen sollte, dass sie dem Lk-Evangelisten zusagten“. 15 Catchpoles „wir müssen […] für wahrscheinlich halten“ suggeriert dieselbe Abwegigkeit wie Kümmels „Was hätte Lukas […] dazu bewegen können“ oder Streeters „Es ist […] keineswegs nachvollziehbar“. Dagegen nimmt John Kloppenborg im Jahr 2008 die Existenz der von ihm so genannten Mk-ohne-Q-Hypothese (d. h. die Benutzung von Mk und Mt durch Lk) ernst und konzediert, dass man sie grundsätzlich vertreten kann. Gleichwohl hält er dieses Unterfangen für wenig aussichtsreich: „Solange man kein plausibles editorisches Szenario für das lk Verfahren vorweisen kann, die mt. Arrangements zu zerlegen und mt. Spruchgut in andere Kontexte zu verpflanzen, kann die Mk-ohne-Q-Hypothese nicht als eine gute Hypothese angesehen werden“. 16 Kloppenborg und seine Vorläufer sind sich darin einig, dass „ein plausibles editorisches Szenario“ für die Benutzung des MtEv durch Lk nicht vorstellbar ist, und dass die einzig zufriedenstellende Erklärung der Mt und Lk gegen Mk gemeinsamen Stoffe die sogenannte Zweiquellentheorie ist (Mk+Q→Mt, Lk). Vertreter der Q-Hypothese wiederholen dieses Argument, wie gesagt, seit mehr als 150 Jahren, mit dem Ergebnis, dass Q nicht als Hypothese, sondern als valide Quelle für den historischen Jesus und die frühe Kirche angesehen wird. 17 Nach wie vor gilt aber, 14 W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 1973, hier zitiert nach der 21. Aufl. 1983, 37. 15 D. Catchpole, The Quest for Q (Edinburgh 1993), 16-17. 16 J. Kloppenborg, Q The Earliest Gospel: An Introduction to the Original Stories and Sayings of Jesus (Louisville/ London 2008), 31. 17 Vgl. z. B. S. Schulz, Q: Die Spruchquelle der Evangelisten (Zürich 1972); J.D. Crossan, The Birth of Christianity: Discovering What Happened in the Years Immediately after the Execution of Jesus (New York 1998), 237-361. Braucht Lukas Q? 69 dass die Existenz dieses Dokuments an dem Argument hängt, dass Lk das MtEv keinesfalls für die Komposition seines Evangeliums verwendet haben kann, da seine Version der Bergpredigt sonst völlig anders ausgesehen hätte. Q hängt an der Spekulation, dass, wenn Lk das MtEv gekannt hätte, er sich genauso eng an Wortlaut und Abfolge der Bergpredigt hätte halten müssen, wie er sich im Großen und Ganzen an die Darstellung des galiläischen Wirkens Jesu im MkEv gehalten hat. Doch dies ist eine fragile Basis für die Rekonstruktion einer eigenständigen antiken Quelle, und es darf mit Fug und Recht versucht werden, für den lk. Umgang mit der mt. Bergpredigt „ein plausibles editorisches Szenario“ zu entwerfen. 2. Lukas bearbeitet die matthäische Bergpredigt Jeder Evangelist, der sich anschickt, ein neues Evangelium zu verfassen, ist darin frei, Bestandteile seines Quellenmaterials wegzulassen, diese neu zu positionieren oder sie umzuschreiben. Die Gründe für diese editorischen Entscheidungen müssen nicht alle gleichermaßen klar zutage liegen, aber das übergreifende Prinzip für all dies ist schlicht die Intention des Evangelisten, ein neues Evangelium zu verfassen, anstatt von einem vorhandenen eine weitere Abschrift anzufertigen. Zumal Lk ist ein ambitionierter Autor (vgl. Lk 1,1-4), und wir dürfen zumal bei ihm ein großes Maß an editorischer Freiheit annehmen. Gemäß der L/ M-Hypothese (Mt→Lk) hat sich Lk entschieden, folgende Stoffe der Bergpredigt auszulassen : (1) Fünf der neun mt. Makarismen (Mt 5,3-12). Bei Lk gibt es mithin keine Seligpreisung der Sanftmütigen, der Barmherzigen, derer, die reinen Herzens sind, der Friedensstifter und der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. (2) Das meiste wenn nicht sämtliches mt. Gut zum Thema Gesetzestreue (Mt 5,17-20). Ausnahme: Mt 5,18/ Lk 16,17. (3) Den überwiegenden Teil des in der ersten, zweiten und vierten der sechs mt. Antithesen enthaltenen Stoffs (Mord, Ehebruch, Schwören: Mt 5,21-30.33- 37). Ausnahme: Mt 5,25/ Lk 12,58f. (4) Die mt. Anweisungen zu Almosengeben, Gebet und Fasten (Mt 6,1-18). Ausnahme: Das Vaterunser in Mt 6,9-13/ Lk 11,2-4. (5) Der Spruch „nicht Perlen vor die Säue“ (Mt 7,6). (6) die Warnung vor den falschen Propheten (Mt 7,15). 70 Francis Watson Bis hierher hat unsere Analyse nichts zutage gefördert, was die traditionell behauptete Unverständlichkeit der lk. Redaktionstätigkeit bei angenommener lk. Benutzung der Bergpredigt stützen würde: Bei (2), (3), (4) und (6) besagen die Auslassungen nicht mehr als dies, dass Lk die Rolle des Gesetzes, sowie die jüdische Almosen- und Fastenpraxis weniger wichtig findet als Mt. Die Auslassung von (5) ist nachvollziehbar wegen des potentiellen Konflikts mit der apostolischen Mission, das Evangelium unter den Heiden zu verkündigen (vgl. Lk 24,45-49; Apg 1,8). Auf die Seligpreisungen kommen wir gleich nochmals zu sprechen. Weiterer mt. Stoff findet sich bei Lk an anderer Stelle wieder. Technisch kann man sich dies z. B. ganz einfach so vorstellen, dass Lk das mt. Spruchgut in eine Art Notizbuch exzerpiert hat, um es an späterer Stelle in sein eigenes Evangelium einzufügen. 18 Hierzu gehören insgesamt 13 Sprüche oder Spruchgruppen: (1) Salz Mt 5,13 → Lk 14,34f. (2) Einen Leuchter Anzünden Mt 5,15→Lk11,33. (3) Nicht ein Jota Mt 5,17; Lk 16,17. (4) Umgang mit dem Gegner Mt 5,25f→Lk 12,58f. (5) Ehescheidung Mt 5,32→ Lk 16,18. (6) Vaterunser Mt 6,9-13→Lk 11,2-4. (7) Schatz im Himmel Mt 6,19-21→Lk 12,33f. (8) Auge als Licht des Leibes Mt 6,22f→Lk 11,33-36. (9) Nicht zwei Herren Dienen Mt 6,24→Lk 16,13. (10) Nicht Sorgen Mt 6,25-32→Lk 12,22-31. (11) Bitten und Suchen Mt 7,7-11→Lk 11,9-13. (12) Enge Pforte Mt 7,13f→Lk 13,23f. (13) Ablehnung im Gericht Mt 7,21f→Lk 13,25-27. 18 Zum antiken Gebrauch von Wachstafeln für die vorläufige Niederschrift von Texten bis zu ihrer endgültigen Verwendung in einem bestimmten literarischen Zusammenhang vgl. Quintilian, Inst. or. x.3.31-33, und die Diskussion bei C.H. Roberts and T.C. Skeat, The Birth of the Codex (London 1987), 15-23. In großer Zahl wurden solche Tafeln bei den Vindolanda-Ausgrabungen nächst des Hadrians-Walls gefunden, von denen viele „Reste von eingeritzten Texten enthalten, oft Palimpseste, die die Zeit überdauert haben, weil die Metallfeder durch das Wachs hindurch die hölzerne Trägerplatte geritzt hat“ (A.K. Bowman, Life and Letters on the Roman Frontier: Vindolanda and its People , London 3 2003, 8). Notizbücher aus mehreren Wachstafeln waren in der griechisch-römischen Welt ein verbreitetes Hilfsmittel für die Abfassung von Texten. Braucht Lukas Q? 71 Wenn wir diese Stellen in ihrer lk. Reihenfolge auflisten, ergibt sich folgendes Resultat: (1a) Lk 11,2-4 6 Vaterunser (1b) Lk 11,9,13 11 Bitten und Suchen (2a) Lk 11,33 2 Einen Leuchter Anzünden (2b) Lk 11,34f 8 Auge als Licht des Leibes (3a) Lk 12,22-31 10 Nicht Sorgen (3b) Lk 12,33f 7 Schatz im Himmel (4) Lk 12,57-59 4 Umgang mit dem Gegner (5a) Lk 13,23f 12 Enge Pforte (5b) Lk 13,25-27 13 Ablehnung im Gericht (6) Lk 14,34-35 1 Salz (7a) Lk 16,13 9 Nicht zwei Herren Dienen (7b) Lk 16,7 3 Nicht ein Jota (7c) Lk 16,18 5 Ehescheidung In vier dieser sieben Fälle hat Lk das exzerpierte mt. Spruchgut in thematisch verwandten Paaren zusammengestellt und sie dabei umformuliert. Daraus ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten für diese Sprüche, die über ihre mt. Kontexte weit hinausgehen. 19 Lk positioniert dieses und anderes Material im Zusammenhang von Jesu Reise nach Jerusalem, ein Motiv, das in seinem Evangelium eine herausragende Rolle spielt: Auf dem Berg der Verklärung sprechen Mose und Elia mit Jesus „von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte“ (Lk 9,31). Kurz darauf, „als die Zeit erfüllt war, dass er in den Himmel aufgenommen werden sollte, da wandte er das Angesicht, entschlossen, nach Jerusalem zu wandern“ (Lk 9,51). Als er später vor der ihm drohenden Gefahr gewarnt wird, antwortet er: „Ich muss heute und morgen und am Tag danach wandern, denn es geht nicht an, dass ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem“ (Lk 13,33). Er begeg- 19 Zu diesen Passagen vgl. ausführlich F. Watson, Gospel Writing: A Canonical Perspective (Grand Rapids 2013), 168-210. 72 Francis Watson net einer Gruppe von zehn Aussätzigen im Grenzgebiet zwischen Samaria und Galiläa „auf dem Weg nach Jerusalem“ (Lk 17,11). Alle drei Synoptiker sehen Jerusalem als den Zielpunkt von Jesu Wirken, von der ersten Ankündigung seines Leidens, die Jesus im Anschluss an das Bekenntnis des Petrus in Cäsarea Philippi ausspricht (Mk 8,31; Mt 16,21; Lk 9,22), doch erfolgt diese Hinwendung nach Jerusalem bei Lk zu einem verhältnismäßig viel früheren Punkt der Erzählung als in den anderen beiden Evangelien. Das wird deutlich, wenn wir die synoptische Erzählung vom Auftreten des Täufers bis zum Einzug Jesu in Jerusalem in den Blick nehmen, die durch das Petrusbekenntnis in zwei ungleiche Teile geteilt wird, in jedem Evangelien in unterschiedlichen Anteilen. 20 Bei Mk umfasst der erste Teil ungefähr 75 %, der zweite 25 %. Bei Mt ist dieses Mengenverhältnis etwa gleich (78 % und 22 %). Bei Lk fallen die Proportionen dagegen ganz anders aus, mit nur 40 % des Evangelienstoffs aus Lk 3,1-19,28 vor dem Petrusbekenntnis, nämlich 3,1-9,17 und 60 % von hier an bis zum Einzug in Jerusalem (9,18-19,28). Indem Lukas wesentliche Teile der Bergpredigt in seinem Reisebericht verwendet, gibt er zu verstehen, dass Jesu Lehre Teil seines vorgezeichneten Weges hin zur Kreuzigung, seiner Auferweckung und Erhöhung ist, und dass seine Lehre innerhalb dieser Bezüge verstanden werden sollte. Die Diskussion über die (hier vorausgesetzten) lk. Auslassungen und Neu-Arrangements mt. Materials aus der Bergpredigt führt nicht zu den verkehrten und unplausiblen Resultaten, die von Vertretern der Q-Hypothese unterstellt werden. Vielmehr erscheint die lk. Redaktionstätigkeit gänzlich rational und nachvollziehbar. Eine weitere Aufgabe besteht nun darin, die lk. Kurzversion der Bergpredigt selbst zu untersuchen. Gemäß der L/ M-Hypothese ist diese von der längeren mt. Version direkt literarisch abhängig. Wir haben es also nicht mit zwei voneinander unabhängigen Kompositionen zu tun (Q→Mt, Q→Lk), sondern mit einer einzigen, linearen Entwicklung (x→Mt→Lk). Der erste Schritt besteht darin zu zeigen, dass Mt und Lk dieselbe Stelle innerhalb des mk. Erzählverlaufs gewählt haben, um Jesu Lehrrede in einen narrativen Kontext einzubetten. In den Eingangskapiteln des MkEv beruft Jesus seine ersten vier Jünger (Mk 1,16-20), exorziert und heilt (1,21-45) und bestreitet eine Reihe von Kontroversen mit Gegnern (2,1-3,6). Danach, heißt es, „entwich Jesus an das Meer“ (3,7). Die darauffolgende Passage erwähnt (1) eine große Menge, die ihm folgte, (2) Heilungen und Exorzismen und (3) einen Berg, wo er die Zwölf beruft (Mk 3,7-19). Mt lokalisiert seine Predigt auf dem Berg innerhalb der mk. Erzählfolge sehr früh, kurz nach der Berufung der ersten Jünger (Mt 4,18-22/ Mk 1,16-20), übernimmt 20 Nämlich Mk 1,1-8,26 und 8,27-10,52; Mt 3,1-16,12 und 16,13-20,34; Lk 3,1-9,17 und 9,18-19,28. Braucht Lukas Q? 73 aber aus der späteren Passage die Notizen über die Volksmenge, die Heilungen und den Berg (Mt 4,23-25/ Mk 3,7-13). Der Berg, auf dem die mt. Version der Lehrrede Jesu stattfindet, stammt aus dem MkEv (s. Tabelle 1). Bei Mk beruft Jesus auf dem Berg die Zwölf (Mk 3,13-19), bei Mt predigt er dort (Mt 5,1f), es ist aber in beiden Fällen derselbe Berg. Lk folgt Mk darin, dass die Berufung der Zwölf auf einem Berg stattfindet (Lk 6,12-16), zeigt aber auch mt. Einfluss, wenn er zur narrativen Ausstattung der Lehrrede auf dasselbe mk. Material zurückgreift, sowie darin, dass er die mt. Hinzufügungen zu diesem Material dadurch aufgreift , dass er sie abändert : Der mt. Jesus hält seine Predigt sitzend , während er sich auf einem Berg befindet. Bei Lk steigt Jesus vom Berg herunter und predigt stehend und in einer Ebene . Bei Mt „öffnet“ Jesus „seinen Mund“, bei Lk „hebt er seine Augen auf “. In diesem mk. Kontext hat Lk erkennbar das MtEv im Blick. Darin, dass er die Predigt in den mk. Rahmen einfügt, folgt er dem mt. Vorbild. Das ergibt unter Voraussetzung der L/ M-Hypothese einen guten Sinn, bereitet der Q-Hypothese jedoch Schwierigkeiten, denn Q kann nur existieren, wenn Mt und Lk voneinander unabhängig sind. Mt 4,23-5,3 Mk 3,7-14 Lk 6,17-19.<12-13>.20 4,23f [Predigen, Heilen, Exorzismen] 4,25 Und es folgte ihm eine große Menge aus Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des Jordans. 3,7 Aber Jesus entwich mit seinen Jüngern an das Meer, und eine große Menge aus Galiläa folgte ihm; auch aus Judäa 8 und Jerusalem, aus Idumäa und von jenseits des Jordans und aus der Umgebung von Tyrus und Sidon … 6,17 Und er ging mit ihnen hinab und trat auf ein ebenes Feld, er und eine große Schar seiner Jünger und eine große Menge des Volkes aus dem ganzen judäischen Land und Jerusalem und aus dem Küstenland von Tyrus und Sidon 3,9-12 [Bereitstellung eines Bootes, Heilen, Exorzismen] 6,18f [Heilen, Exorzismen] 74 Francis Watson 5,1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg. Und er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. 3,13 Und er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche er wollte, und die gingen hin zu ihm. 14 Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete zu predigen … < 6,12 Es begab sich aber zu der Zeit, dass er auf einen Berg ging, um zu beten; und er blieb über Nacht im Gebet zu Gott. 13 Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger und erwählte zwölf von ihnen, die er auch Apostel nannte > 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Selig sind die Armen im Geist 20 Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen Tabelle 1: Die Volksmenge, der Berg, die Predigt Bei Mk steigt Jesus, wie gesagt, auf einen Berg und beruft die Zwölf, während der mt. Jesus auf einen Berg steigt, um dort zu predigen. Die Berufung der Zwölf wird aufgeschoben bis Mt 10,1-4. Lk kombiniert beides, die Berufung der Zwölf auf dem Berg (wie Mk) und die Lehrrede (wie Mt), wenngleich die Predigt nun nach dem Abstieg Jesu vom Berg stattfindet. Das stellt nicht nur die Q-Hypothese vor Probleme, sondern auch diejenige Hypothese, die mit einer Abhängigkeit des Mt von Lk rechnet (M/ L-Hypothese). 21 Weitere Hinweise der sekundären Stellung des Lk gegenüber Mk liegen in der Predigt selbst vor, nämlich in den Seligpreisungen und dem hieran anschließenden Stoff. 21 Die Lukaspriorität gegenüber Mt wird vertreten von M. Hengel, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008, obwohl sich Hengel für eine gemeinsame Quelle mit logia Jesu ausspricht, wie sie von Papias bezeugt wird. Zur These der Abhängigkeit der mt. Bergpredigt von der lk. Feldrede vgl. R.K. MacEwen, Matthean Posteriority: An Exploration of Matthew’s Use of Mark and Luke as a Solution to the Synoptic Problem (London 2015), 145-164. Braucht Lukas Q? 75 Mt 5,3-12 Lk 6,20-23 Lk 6,24-26 lk. Parallelen 3 Selig sind die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich. 20 Selig sind die Armen; denn euch gehört das Reich Gottes. 24 Aber wehe euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. 4,18 Er hat mich gesalbt, zu verkündigen das Evangelium den Armen 1,53b … und er lässt die Reichen leer ausgehen 4 Selig sind, die Leid tragen denn sie sollen getröstet werden. < 21b Selig sind, die jetzt weinen, denn ihr werdet lachen.> < 25b Weh denen, die jetzt lachen; denn ihr werdet trauern und weinen> 16,25 Du hast dein Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. 6 Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden 21a Selig sind, die jetzt hungen, denn ihr sollt satt werden. 25a Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern 1,53a Die Hungrigen füllt er mit Gütern … 11 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. 12 Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind. 22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. 23 Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan. 26 Wehe, wenn jedermann gut über euch redet; denn das Gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan 1,44 Das Kind ,hüpfte‘ (tanzte) vor Freude in meinem Leibe. Tabelle 2: Die Seligpreisungen Moderne Rekonstruktionen der Q-Makarismen finden den originalen Q-Text in dem Material, das Mt und Lk gemeinsam haben, mit der Tendenz, dem LkEv in Wortlaut Abfolge den Vorzug zu geben (d. h. Lk 6,20-23 = Q 6,20-23). 22 Es gibt also keine Q-Fassung von den mt. Makarismen, die nicht bei Lk enthalten sind, und ebenso wenig von den lk. Wehrufen (Lk 6,24-26). Ex hypothesi werden die mt. und lk. Passagen nur über den Umweg Q zu einander in Beziehung gesetzt. Es gibt kategorisch keine Möglichkeit eines direkten Einflusses in die eine oder andere Richtung (M→L oder L→M). Und doch drängt sich die Möglichkeit M→L (nicht aber L→M) auf, wie Abb. 2 zeigt. Die ersten acht mt. Makarismen sind in der 3. Pers. Pl. formuliert: „Selig die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich“, usw. Es gibt bei Mt aber noch zwei Fassungen der Seligpreisung der Verfolgten, eine in der 3. Pers. Pl. und eine längere, die in die 2. Pers. Pl. wechselt: Statt „Selig, die verfolgt sind um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen gehört das Himmelreich“. (Mt 5,10) heißt es „Selig seid ihr , wenn sie euch schmähen und verfolgen und euch das Ärgste nachsagen um meinetwillen“ (Mt 5,11). Möglicherweise kombiniert der Evangelist hier Traditionsvarianten aus unterschiedlichen Quellen, und seine Präferenz der unpersönlichen 3. Pers. Pl. reflektiert den relativen Abstand der Bergpredigt von ihrer narrativen Einkleidung. Lk verwendet größere Sorgfalt darauf, die Predigt in einen spezifischen narrativen Kontext einzubetten, weshalb die Makarismen Jesu in der 2. Pers. Pl. an „eine große Schar seiner Jünger“ gerichtet sind, einschließlich der Zwölf, die er gerade berufen hat (vgl. Lk 6,12f). Allerdings bleiben in den ersten drei lk. Makarismen Spuren der 3. Person aus dem MtEv erhalten: Es heißt nicht „Selig seid ihr Armen“ (wie in vielen modernen Übersetzungen), sondern „Selig sind die Armen“, „Selig sind, die jetzt hungern“, „Selig sind, die jetzt weinen“ (Lk 6,20f). Die 2. Pers. Pl. findet sich nur jeweils in der zweiten Hälfte dieser Makarismen: „… denn euch gehört das Himmelreich“, „denn ihr sollt satt werden“, „… denn ihr sollt lachen“. In den korrespondierenden Wehrufen komponiert Lk dagegen frei, ohne Vorgaben einer Quelle. Dementsprechend findet sich die 2. Person in zwei der drei Makarismen in beiden Spruchhälften: „Wehe euch Reichen …“, „Weh euch , die ihr jetzt satt seid …“, wogegen „Weh denen , die jetzt lachen“ wiederum in der 3. Person formuliert ist (6,24f). Dieser Befund ist ab besten damit zu erklären, dass Lk unter dem Einfluss des Wortlautes des MtEv formuliert hat. Es gibt aber auch noch andere Hinweise darauf, dass Lk bei den Makarismen den mt. Wortlaut kannte. Im zweiten Makarismus preist Jesus „die Trauernden [οἱ πενθοῦντες]“ selig, „denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). Die lk. Version unterscheidet sich davon signifikant: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, 22 Critical Edition , 46-53. 76 Francis Watson Braucht Lukas Q? 77 denn ihr werdet lachen“ (Lk 6,21b). Allerdings warnt der korrespondierende Wehruf die jetzt Lachenden: „Ihr werdet trauern und weinen [πενθήσετε καὶ κλαύσετε]“ (Lk 6,25b), was den Schluss nahelegt, dass der spätere Evangelist die mt. Version dieser Seligpreisungen im Sinn hat. Das wird deutlich durch den unerwarteten Transfer des Trost-Motivs von den mt. Trauernden („denn sie werden getröstet werden [παρακληθήσονται]“) zu den lk Reichen: „ihr habt euren Trost [τὴν παράκλησιν ὑμῶν] schon empfangen“ (Lk 6,24). Nach den Wehrufen wendet sich Jesus nach der lk. Erzählfolge dem Thema der Feindesliebe zu: „Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde! “ (Lk 6,27). Das initiale „aber“ ist auffällig: Jesus hat bereits zu denen gesprochen, „die hören“: Die „große Menge“ aus Jüngern und dem Volk ist zu Jesus gekommen, „um ihn zu hören“ (Lk 6,18). Bei Lk leitet Jesus seine Reden gewöhnlich mit einer λέγω ὑμῖν-Formulierung ein, die die Tatsache unterstreicht, dass er derjenige ist, der das Wort führt. Das adversative ἀλλὰ ὑμῖν λέγω ist aber bei Lk sonst nicht mehr belegt. 23 Die beste Erklärung ist, dass hier ein Echo der antithetischen Struktur von Mt 5,43f vorliegt, wo „ich aber sage euch“ (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν) einen pointierten Gegensatz zu „ihr habt gehört, dass gesagt ist“ (ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη) markiert. Wenn Lk das Feindesliebegebot aus dem MtEv übernimmt, übernimmt er es nicht aus Q, ebenso wie er die Makarismen nicht aus Q übernimmt. Nun hängt aber nicht weniger als die Existenz von Q an der Unabhängigkeit des LkEv vom MtEv bei den zweifach bezeugten Stoffen. Deswegen müssen ihre Verteidiger so hartnäckig darauf beharren, dass das Modell M→L extrem unwahrscheinlich sei. Uns wird gesagt, dass der sich Lukasevangelist innerhalb dieses Modells des Vandalismus schuldig macht, weil er die majestätische Architektur des MtEv in einen Steinhaufen verwandelt (Holtzmann), und dass ein solches editorisches Vorgehen schlechterdings unverständlich ist (Streeter). Diese schlecht oder gar nicht begründete Behauptung wird bis auf den heutigen Tag ständig wiederholt. Es ist gewiss verständlich, dass aus Sicht einer Forschung, die sich seit langem an Q gewöhnt hat, eine Welt ohne Q nicht vorstellbar ist. Und doch ist eine kritische Überprüfung dieses Dogmas der kritischen Orthodoxie längt überfällig. 23 λέγω ὑμῖν (7,9.28; 10,12; 11,8; 13,24; 15,7; 17,34; 18,6.14; 19,26.40); λέγω γὰρ ὑμῖν (3,8 [Johannes der Täufer], 10,24; 14,24; 22,16.18; 22,37); κἀγὼ λέγω ὑμῖν (11,9); λέγω δὲ ὑμῖν (12,4.8.27; 13,35); λέγω δὲ ὑμῖν ἀληθῶς (9,27); ἀληθῶς λέγω ὑμῖν (12,44; 21,3); ἀμὴν λέγω ὑμῖν (4,24; 12,37; 18,17.29; 21,32); ναὶ λέγω ὑμῖν (7,26; 11,51; 12,5); ἐπ’ ἀληθείας δὲ λέγω ὐμῖν (4,25); διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν (12,22); οὐχὶ λέγω ὑμῖν (12,51; 13,3.5); οὐδὲ ἐγὼ λέγω ὑμῖν (20,8); οὕτως λέγω ὑμῖν (15,10); ἐγὼ ὑμῖν λέγω (16,9); σοὶ λέγω (5,24; 7,14); λέγω σοί (12,59; 22,34).
