eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 22/43-44

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
2243-44 Dronsch Strecker Vogel

Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte

1201
2019
Werner H. Kelber
znt2243-440079
Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte Werner H. Kelber „Alle Medien überwältigen uns vollständig. Ihre persönlichen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Wirkungen sind so tiefgreifend, dass sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflusst oder unverändert lassen“. 1 „Die neuzeitliche Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie ist eine monosensuale Theorie. Alle ihre Leistungen und damit auch jene der beschreibenden Naturwissenschaften überhaupt erscheinen als das Resultat einer Spezialisierung auf das Sehen. Erkauft werden die unbestreitbaren Erfolge mit einer unwahrscheinlich reduktionistischen Erkenntnistheorie und der Verkümmerung anderer Sinne“. 2 1. Die typographische Gefangenschaft der historisch-kritischen Forschung „Kein anderer Informationstyp wird bis in unser Jahrhundert hinein so sehr prämiert wie der typographische“. 3 Es ist gewiss nicht üblich, das Thema der frühchristlichen Tradition mit Überlegungen über das Printmedium anzugehen, denn es geht hierbei ja um die Kommunikationskultur des ersten Jh.s und nicht um die des 15. Jh.s. Es ist jedoch aus zwei Gründen angebracht, dass wir uns zunächst mit dem Printme- 1 M. McLuhan, The Medium is the Massage: An Inventory of Effects, London 1967, 26. 2 M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1994, 653. 3 Ebd., 504. 80 Werner H. Kelber dium eingehend befassen und dabei zwischen dem oral-skriptographischen Informationssystem der Antike und der zunehmend typographischen Technisierung seit dem 15. Jh. klar unterscheiden. Zum einen hat die Bibelwissenschaft ihre Arbeit seit über fünf Jahrhunderten auf der Grundlage und zu den Bedingungen des Printmediums geleistet. Nahezu alle biblischen Texte wie auch unsere eigenen Veröffentlichungen sind vom typographischen Informationssystem geprägt und geformt. Obwohl wir durch die Kommerzialisierung des Internets seit Anfang der 1990er Jahre einen gewaltigen Schub in Richtung auf das digitale System erleben, sind wir doch bei unserer Arbeit an Texten noch immer in hohem Maße Kinder einer typographischen Kultur geblieben. Das Printmedium prägt den Alltag unserer wissenschaftlichen Arbeit. Allerdings fällt die enge Verflechtung typographischen Denkens mit der modernen Bibelwissenschaft nicht unmittelbar ins Auge. Das ist der zweite Grund für die eingangs erforderliche Besinnung auf das Printmedium. In ihrem umfassenden Werk The Printing Press as an Agent of Change hat Elizabeth Eisenstein das Einleitungskapitel mit gutem Grund „Die uneingestandene Revolution“ genannt, 4 in der Überzeugung, dass wir uns „in einem gegenwärtigen Zustand der Blindheit in Bezug auf den Einfluss des Printmediums befinden“. 5 Zweifellos hat sich seit Erscheinen des Buches medienwissenschaftlich viel verändert, 6 es ist aber insofern alles andere als überholt, als die Bibelwissenschaft bis heute eine kritische Analyse desjenigen Kommunikationssystems schuldig geblieben ist, in welchem sie fast ausnahmslos ihre Publikationen medialisiert hat. Es scheint selten oder gar nie der Fall gewesen zu sein, dass das typographische Medium als solches etwa in Einleitungen zur Bibel oder in biblischen Hermeneutiken zum Gegenstand kritischer Untersuchungen geworden ist. 7 Dies ist umso bemerkenswerter als die 42zeilige Gutenberg-Bibel nicht nur der spektakuläre Präzedenzfall und hauptsächliche Nutznießer des neuen Mediums war, sondern überhaupt das erste Buch der vom typographischen High- Tech eingeleiteten frühen Neuzeit. 8 Eine einzigartige Systematisierung der in Maschinendruck konstruierten biblischen Sprache, gekoppelt mit einer nahezu außerirdischen Ästhetik, verschaffte der Gutenberg-Bibel eine bislang nie da- 4 E. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Bd. 1, Cambridge 1979, 3-42. 5 Ebd., 17. 6 Die m. E. wichtigste deutschsprachige Monographie zum Thema ist Giesecke, Der Buchdruck. 7 Ich verweise an dieser Stelle auf das bahnbrechende Werk von W.J. Ong, Ramus, Method and the Decay of Dialogue: From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge 1958, das den Umbruch vom aristotelisch-thomistischen Weltbild zu der vom Aufkommen des Druckmediums beeinflussten system- und methodenorientierten Logik der frühen Neuzeit philosophisch wie historisch höchst luzide beschrieben hat. 8 Der Begriff „High Tech des 15. Jh“. stammt von Giesecke, Der Buchdruck, 67 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 81 gewesene Autorität. Genauer verwandelte die Drucktechnologie die Bibel in eine buchstabengetreue, rigoros eingegrenzte Organisationsform, die sich damit entscheidend sowohl von oralen wie von bisherigen skriptographischen Informationssystemen unterschied. Denn während mündliche Traditionsweisen im wahrsten Sinne „grenzenlos“ sind, „bewegte sich die Manuskriptkultur im Westen immer am Rande der Mündlichkeit“. 9 Vom Standpunkt des eingegrenzten, in sich verschlossenen Sprachraumes der Druckbibel ist es nur noch ein kleiner Schritt bis hin zur reformatorischen Vorstellung von der hermeneutischen Eigengesetzlichkeit oder Autarkie der Bibel. Giesecke hat das klar erkannt: „Dieser Autarkiegedanke wird dann wieder in die theologische Argumentation eingeführt, auf die Bibel angewendet, und führt zum protestantischen Schriftprinzip. Die Schrift (der Brunnen) ist an sich klar, ,sui ipsius interpres‘ . Es gibt keine weitere Instanz, die erforderlich wäre, um Weisheit zu schöpfen. Der Brunnen sprudelt von selbst, man muss nur noch trinken “ . 10 Von mediengeschichtlicher Perspektive aus betrachtet erscheint es durchaus angemessen, das reformatorische Prinzip des sola scriptura als das theologische Manifest der typographischen Apotheose der Bibel zu bezeichnen. Mit anderen Worten, man kann sola scriptura als die „kommunikative Reformation“ 11 verstehen, die aus den Erfahrungen mit der Print-Bibel hervorging. Die vorangegangenen Überlegungen über die hermeneutischen Implikationen des Printmediums werfen verstärkt die Frage auf, warum die Bibelwissenschaft das Medium der Druckbibel bisher kaum oder gar nicht reflektiert hat. Wie ist es möglich, dass „das soziale Schlüsselerlebnis des 15. Jahrhunderts“, 12 in dessen 9 W.J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, New York 1982, 119. 10 Giesecke, Der Buchdruck, 163. 11 Ebd., 25. 12 Ebd., 82. Werner H. Kelber ist Isla Carrol and Percy E. Turner -Professor Emeritus of Biblical Studies, Rice University, Houston, Texas. Geboren 1935. Studium der Theologie in München und Tübingen, mit theologischem Abschlussexamen in Erlangen (1962); Th.M. Princeton Theological Seminary (1964); M. A. (1967) und Ph.D. University of Chicago (1970). Forschungsschwerpunkte: Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Print Medium, Gedächtnisdiskurs, Erzähltextanalyse ( narrative criticism ), Mediengeschichte der Bibel, Textkritik, Rhetorik, Gattungskritik, biblische Hermeneutik. 82 Werner H. Kelber Zentrum die mittels des neuen Mediums geschaffene Bibel stand, so wenig Beachtung in der Bibelwissenschaft gefunden hat? Wir werden dieser Frage im Folgenden näher nachgehen. 13 Eine Eigenschaft des Printmediums besteht darin, dass es Produkte außerhalb von uns selbst in der raumzeitlichen Wirklichkeit schafft, sich gleichzeitig aber in unserer Innenwelt einnistet, indem es unser Wahrnehmungs- und Denkvermögen durchdringt. Genau das bringt die eingangs zitierte Äußerung von Marshall McLuhan zum Ausdruck: Könnte es sein, dass wir in dem Maße unfähig sind, den Einfluss des typographischen Kommunikationsmediums zu erkennen, wie es von uns Besitz ergriffen hat? „Es ist“, wie Eisenstein anmerkt, „schwierig, Prozesse zu beobachten, die unsere Tätigkeit des Beobachtens selbst so gänzlich durchdringen“. 14 Ist es denkbar, dass die typographische Revolution gerade deswegen in der biblischen Disziplin weithin unbeachtet geblieben ist, weil diese, ähnlich wie die klassische Philologie, zu denjenigen akademischen Feldern gehört, die zutiefst in der Buchkultur verwurzelt sind? So sehr sind unser täglicher Umgang mit Büchern und Manuskripten, unsere Lese- und Schreibgewohnheiten und unser ständiges Arbeiten in einem typographisch bestimmten und eingegrenzten Wissensraum ein Teil unser selbst geworden, dass es uns an der nötigen kognitiven und psychologischen Distanz mangelt, um den tiefgehenden Einfluss des Printmediums auf uns wahrzunehmen. Wir sind uns am allerwenigsten dessen bewusst, was uns am tiefsten geprägt hat. Was nötig wäre, sind intensive selbstreflexive Anstrengungen. Die Ironie hat ein schlaues Spiel mit uns getrieben: Was uns täglich vor Augen liegt, ist uns weithin verborgen geblieben. Auf ideelle und inhaltliche Begrifflichkeit fokussiert, haben wir uns das typographische Medium - wenn wir ihm überhaupt Beachtung schenken - als neutralen Träger von Ideen vorgestellt. Im Grunde genommen ist es unserer Wissenschaft nie gelungen, das Medium als Katalysator, als einen an der Wissensproduktion aktiv mitwirkenden co-participant in unser hermeneutisches Denken mit einzubeziehen. Eine der folgenschwersten, durch die neue Informationstechnik verursachten kulturellen Revolutionen fand ihren offenkundigen Ausdruck in einer bislang nie dagewesenen Technisierung von Sprache und Textgestaltung. Gutenbergs Erfindung implizierte die Konstruktion eines voll und ganz technologisierten Sprachraumes, des typographic space . 15 Jede Druckseite war systematisch formatiert, in akribisch-linearer Anordnung arrangiert, mit abstandsgleichen Zeilen 13 Für nähere Ausführungen über das Druckmedium und dessen Einwirkung auf die Bibelwissenschaft vgl. W.H. Kelber, The ‚Gutenberg Galaxy‘ and the historical Study of the New Testament, Oral History Journal of South Africa (2017), 1-16. 14 Eisenstein, The Printing Press, 8. 15 Der Begriff „typographic space“ stammt von Ong, Orality and Literacy, 128 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 83 von unveränderbaren Rändern eingegrenzt und mit identischen Raumabständen zum jeweiligen Zeilenrand versehen, links und rechts, oben und unten. „Man sieht, ohne eine geradezu zwanghafte Genauigkeit ließ sich die Gutenberg’sche Idee nicht verwirklichen“. 16 Die Seitengestaltung von Gutenbergs Bibel projiziert den Eindruck höchster technischer Vollkommenheit, makelloser Proportionen, geradliniger Unveränderbarkeit, skriptographischer Stabilität, und man darf sagen: effektiver Endgültigkeit. In dem Maße, wie sich die High-Tech -Produkte des 15. Jh.s mit ungeahnter Geschwindigkeit über Europa verbreiteten, begann deren streng systematisch organisierte Logik das menschliche Denk- und Wahrnehmungsvermögen sukzessive zu beeinflussen. Abgesehen von einer völlig durchrationalisierten und ästhetisch harmonisierenden Textgestaltung zeichnete sich die Print-Produktion der Bibel durch eine skriptographische Gleichschaltung aus. Indem sämtliche Lettern und Satzzeichen in gleichmäßiger Form und Schrifthöhe produziert wurden, waren die Voraussetzungen für eine totale alphabetische Regelmäßigkeit eines jeden Druckbogens gegeben. 17 Außerdem wurden auf der Makroebene technische Mechanismen geschaffen, welche die Vervielfältigung der gedruckten Texte ermöglichten. Der Replikationsapparat machte den Weg zur Produktion einer unübersehbaren Zahl von identischen Kopien frei, ein außerordentliches Ereignis, das der Bibel eine nie dagewesene Autorität verlieh. Dazu bemerkt David Parker: „Die Fähigkeit, eine riesige Anzahl identischer Kopien des griechischen Neuen Testaments zu produzieren, hatte ein neues Konzept der textlichen Autorität zur Folge“. 18 Das technische Replikationsvermögen ist in der Tat eine beispiellose, an ein Wunder grenzende Entwicklung, deren Tragweite bisher noch kaum beachtet wurde. Denn vor der Einführung des Buchdrucks war das Phänomen ausnahmsloser Gleichheit in der Kommunikationskultur unbekannt. Völlige Identität ist überdies ein der Natur fremdes Phänomen und gewiss kein Wesenszug der menschlichen Spezies. Keine Pflanze, kein Tier, keine Person gleichen einander in allen Einzelheiten. Vielmehr ist alles Leben sowohl identisch als auch andersartig. Typischerweise hat sich die Philosophie seit alters her mit dem Problem von Identität und Unterschiedenheit und weniger mit dem der absoluten Identität herumgeschlagen. Mediengeschichtlich betrachtet bezeichnet „Mündlichkeit“ eine Pluralität gleicher und verschiedener Stimmen, und ebenso gelang es dem skriptographischen Medium niemals, uneingeschränkt identische 16 Giesecke, Der Buchdruck, 82. 17 Könnte man hier nicht einen Zusammenhang zwischen buchstabengetreuer Technisierung und einer Hermeneutik des literalen Wortsinnes vermuten? Mögliche Verbindungen zwischen modernem Bibelfundamentalismus und neuzeitlicher Drucktechnik wären einer eingehenden Untersuchung wert. 18 D.C. Parker, The living Text of the Gospels, Cambridge 1997, 189. 84 Werner H. Kelber Manuskripte zu generieren. Die Produktion vollends identischer Kopien war ein unerreichbares Ziel. Erst dem Printmedium war es vorbehalten, das Wunder exakter Vervielfältigung zu vollbringen. Ein bislang unbekanntes Identitätsideal war damit in die Mediengeschichte eingetreten. Eine Folge der Vervielfältigungstechnologie war, dass mehr und mehr identische Kopien den Markt überfluteten. Humanisten und Theologen vielerorts in Europa sahen sich dadurch imstande, mit identischen Textformen zu arbeiten. Ihre Diskussionen konnten zunehmend auf der Basis eines einheitlichen Textes geführt werden. Allmählich wurde diese sich rasch ausbreitende Textidentität zu einer neuen Realität. Da nun die Vielzahl völlig identischer Kopien ein und dieselbe Textform garantierte, begann sich die Überzeugung durchzusetzen, dass es so etwas wie einen Standardtext gibt, 19 und der einheitlich standardisierte Text wurde zur neuen Normalität des typographischen Mediums. Die Erfahrung lehrte, dass die vielen Texte genau genommen der eine Text waren. Die epistemologische Tragweite der neuen Technologie sieht auch Eisenstein: „Standardisierung war eine Folge der Drucktechnik, die in ihrer Bedeutung noch immer unterschätzt werden dürfte“. 20 Noch deutlicher formuliert Giesecke: „Die Standardbibel ist erst das Produkt der frühen Neuzeit“. 21 Es bedurfte nur eines kleinen aber folgenreichen Schrittes, um den Schluss zu ziehen, dass dem Standardtext auch normative Gültigkeit zukommt. Das besagte, dass ein Standardtext nicht nur technisch realisierbar, sondern zugleich auch theologisch maßgebend war. Von der Standardisierung über die Normierung bedurfte es wiederum nur eines kleinen und nur scheinbar harmlosen Schrittes, um zur Vorstellung einer skriptographischen Ursprünglichkeit zu gelangen. Spätestens seit Westcotts und Horts einflussreichem Werk The New Testament in the Original Greek 22 hatte sich die Vorstellung eingebürgert, dass die Textkritik mit der Suche nach dem „ursprünglichen Text“ befasst ist. Zwar hat der Begriff der „Ursprünglichkeit“ in jüngster Zeit Modifikationen, Qualifikationen und sogar Kritik erfahren, und die Textkritik ist mittlerweile im Begriff, von der Vorstellung eines ursprünglichen Textes abzurücken. Doch spielt nach wie vor das Ideal der Originalität in der Bibelwissenschaft eine bedeutende und zugleich vielfach uneingestandene Rolle. So haben typographische Stabilisierung, 19 Ich behaupte keineswegs, dass nicht schon in der Antike Anstrengungen unternommen wurden, der skriptographischen Pluralität durch einen Standardtext entgegenzutreten. Allerdings scheint mir die Bibelwissenschaft das Phänomen der textuellen Stabilität überbetont und dasjenige der textuellen Variabilität unterbelichtet zu haben. Was im 15. Jh. geschah, war der Beginn einer Entwicklung, in der der Standardtext zunehmend zu einem universal gültigen, idealen Texttypus wurde. 20 Eisenstein, The Printing Press, 8. 21 Giesecke, Der Buchdruck, 244. 22 B.F. Westcott / F.J.A. Hort, The New Testament in the Original Greek, New York 1881. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 85 Standardisierung, Normierung und nicht zuletzt das Wunschbild der Ursprünglichkeit zur Prämisse des Urtextes entscheidend beigetragen. Durch die vom Printmedium entwickelten Vervielfältigungsprozesse wurde die akademische, juristische, diplomatische, theologische und kulturelle Welt von Druckerzeugnissen geradezu überschwemmt, anfänglich in Europa und bald auch über Europa hinaus. Autoren konnten auf ein sich rapide vergrößerndes typographisches Archiv zurückgreifen. Das schiere Ausmaß, die unaufhaltsame Proliferation und die augenfällige Allgegenwart von Büchern und anderen Druckerzeugnissen hatte zur Folge, dass man, meist unwissentlich, Methodik, Informationsverarbeitung und Denkgewohnheiten der Gutenberg-Ära auf die Zeit vor Gutenberg zurückprojizierte. Dabei liefen die Geisteswissenschaften Gefahr, von der Macht des neuen Mediums hypnotisiert, die Welt einschließlich der Antike auf der Basis des Gutenberg’schen Kommunikationsmodells zu verstehen. Nach der Einschätzung Walter Ongs haben sich uns „die Kommunikationsmedien unserer eigenen Kultur unbemerkt als absoluter Wertmaßstab aufgedrängt, mit dem Effekt einer Lähmung“. 23 In dem Maße, wie die neutestamentliche Wissenschaft sich bis heute noch vorwiegend in den Bahnen der Buchkultur bewegt, sieht sie in der frühchristlichen Kommunikationsgeschichte ein vorwiegend skriptographisches Phänomen. Unser täglicher Umgang mit dem Printmedium, die Lektüre und Abfassung nahezu sämtlicher Publikationen, einschließlich der alten Quellen, kurzum alles, wovon wir vor der digitalen Wende stets im Druckformat Gebrauch machten, hat uns zu einer unreflektierten Verabsolutierung dieses Mediums verleitet. Wie in der westlichen Kultur überhaupt, so ging auch in der Bibelwissenschaft der Aufstieg des Printmediums Hand in Hand mit dem Verfall oraler und memorialer Sinneswahrnehmungen. Die Verkümmerung der sensorischen Informationsquellen, d. h. der Verlust derjenigen Sinneswahrnehmungen, die in der Antike und bis weit in das Mittelalter hinein vorrangig wichtig waren, war ein Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte, und der mit der Entwicklung der Gutenberg’schen Erfindung einem Höhepunkt zusteuerte. Marshall McLuhan, einer der Begründer der modernen Medienwissenschaft, vertrat die Ansicht, dass bereits die Erfindung des Alphabets „einen störenden Einfluss“ auf die bis dahin vorherrschende orale Kommunikation ausgeübt hat. Etwas vorsichtiger äußerte sich Joanna Dewey hinsichtlich der Durchsetzungskraft des chirographischen Mediums: „Geschriebene Texte triumphierten zu gegebener Zeit über die lebendige Tradition“. 24 In bildhafter Sprache hat Stephen 23 Ong, The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven 1967, 20 f. 24 J. Dewey, The Oral Ethos of the Early Church. Speaking, Writing and the Gospel of Mark, Eugene 2013, 127. 86 Werner H. Kelber Moore eine ähnliche Beobachtung in Bezug auf das typographische Medium angestellt: „Seit Gutenberg haben wir einen Ur-Ozean mit dem trockenen Land vertauscht“, wobei der Ur-Ozean die lebendige mündliche Tradition und das trockene Land das Printmedium repräsentieren. 25 Vom Standpunkt typographischer Errungenschaften aus gesehen ist man darauf verfallen, die universale Bedeutung des Printmediums zu überschätzen, und zugleich mündliche Kulturen als ungebildet, weil des Lesens und Schreibens unkundig abzustempeln. Es darf als ein Symptom der Abwertung des menschlichen Sensoriums angesehen werden, dass die formgeschichtliche Methode für das Phänomen des Gedächtnisses kein angemessenes Verständnis entwickeln konnte. In Rudolf Bultmanns klassischem Werk Die Geschichte der Synoptischen Tradition 26 sucht man den Begriff des Gedächtnisses vergeblich. Die für die Erforschung der synoptischen Tradition im deutschsprachigen Raum seit den 20er Jahren des 20. Jh.s prägende Formgeschichte hat es fertiggebracht, die tief in einer mündlichen Kultur wurzelnde Jesustradition ohne Rekurs auf den Faktor des Gedächtnisses zu konzeptualisieren. Diese Tatsache ist fast noch erstaunlicher als die mangelnde Einsicht in die hermeneutische Bedeutung von Mündlichkeit. Memoria/ Mnemosyne , die Mutter der neun Musen, Göttin des Gedächtnisses und der Imagination, eine der fünf Kategorien der Redekunst, nach Augustinus neben Wille und Vernunft eine der drei geistigen Kräfte der Seele, Schatzhaus der Beredsamkeit, verehrte Wächterin der Rhetorik und tiefer Raum des menschlichen Denkvermögens, hat in der formgeschichtlichen Forschung der frühen Jesustradition eine nur unbedeutende Rolle gespielt. Die Dominanz des Printmediums dürfte bei der Vernachlässigung und, damit einhergehend, dem Verlust des Gedächtnisses in der Evangelienforschung eine wesentliche Rolle gespielt haben. Unverkennbar haben sich typographische Vorstellungen in die Auseinandersetzung mit der sogenannten synoptischen Frage eingeschlichen. In der Einleitungswissenschaft wird das synoptische Problem meist als das der textlichen Übereinstimmung und Verschiedenheit , bzw. des ausschließlich und direkt literarischen Abhängigkeitsverhältnisses von Matthäus, Markus und Lukas definiert. Schon aufgrund dieser Definition scheint es, als handele es sich um ein rein literarkritisches Problem. Aber sobald einmal die synoptische Frage als ein literarisches Problem definiert war, musste die Lösung zwangsläufig auf einer literarkritischen Ebene zu suchen und finden sein. In Forschung und Lehre ist die Zweiquellentheorie, wonach Matthäus und Lukas die beiden Quellen Markus 25 S.D. Moore, Literary Criticism and the Gospels. The Theoretical Challenge, New Haven 1989, 95. 26 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995. Die an diesem klassischen Werk vielfältig geübte Kritik richtete sich, soweit ich sehen kann, kaum jemals auf die Nichtbeachtung des Gedächtnisfaktors. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 87 und Q benutzt haben, weithin dominierend. Der grafischen Darstellung dieses Modells eignet in ihrer Geradlinigkeit und proportionierten Gleichförmigkeit eine nicht geringe visuelle Überzeugungskraft. In der Tat ist die grafische Symmetrie dieses Modells so eingängig, dass es einiger mentaler Anstrengungen bedarf, um wahrzunehmen, dass die Leser mit einem streng kontrollierten typographischen Sprachraum konfrontiert sind, aus dem orale und memoriale Dynamiken dezidiert ausgegrenzt sind. Die Folge ist, dass genau diejenigen Faktoren disqualifiziert werden, die im Kommunikationssystem der Antike eine Hauptrolle gespielt haben dürften. Nun ist es eine der Grunderkenntnisse der modernen Kommunikationswissenschaft, dass jedes Medium gezwungen ist, die Informationsfülle einer mehrdimensionalen und multisensualen Wirklichkeit zu reduzieren. Jeder Wahrnehmungsvorgang ist zwangsläufig selektiver Art. Eine gewisse Klarheit über Ereignisse und Geschehensabläufe ist überhaupt nur durch eine kontrollierte Komplexitätsreduktion zu erlangen. Aus diesem Grunde kann es nicht darum gehen, sich über das klassische Modell rundweg hinwegzusetzen, freilich auch nicht darum, ihm größere Geltung zuzuerkennen, als ihm zukommt. Vom medientheoretischen Gesichtspunkt aus darf man aber sagen, dass das typographische Paradigma auf räumliches Vorstellungsvermögen angewiesen ist, während Oralität und Erinnerung zeitbedingte , räumlich nicht nachvollziehbare Phänomene sind. Es geht darum, ein angemessenes Problembewusstsein zu entwickeln und diese blinden Flecken im Hinblick auf ihre folgenschweren Konsequenzen ernstlich zu bedenken. Gehen wir nochmals der Frage nach, warum die formgeschichtliche Forschung im 20. Jh. zu fragwürdigen Anschauungen von Oralität gelangte und ohne Rückgriff auf memoriale Prozesse auszukommen glaubte. Maßgeblich war, wie ich zu zeigen versuchte, der sich über alle vorausgegangenen Informationsmedien hinwegsetzende „imperialistische Grundzug“ 27 des typographischen Systems, die beispiellose typographische Aufwertung der Bibel, die rasante Verbreitung von Druckerzeugnissen aller Art, die wachsende Standardisierung des Wissens als reines Bücherwissen, die Popularisierung der Logik der Intertextualität, wonach Texte ohne Bezug auf andere Texte kaum mehr denkbar sind, und ganz allgemein ein von Gutenbergs revolutionärer Erfindung geförderter Intellektualismus. Aber es gab noch einen weiteren Faktor, der bei der Untersuchung der neuzeitlichen Einengung menschlicher Sinneswahrnehmungen nicht unterschlagen werden darf. Ich kehre zurück zu den Mechanismen des High-Tech des 15. Jh.s. Im Umgang mit der Druckerpresse wurden Schriftsetzer 27 Giesecke, Der Buchdruck, 504. 88 Werner H. Kelber und Drucker sowie Unternehmer des um sich greifenden Print-Kapitalismus 28 tagaus und tagein daran erinnert, dass das gedruckte Buch ein Produkt rein mechanischer Prozesse und der Schriftsatz eine „durch und durch künstliche, im Vorhinein zu planende und metallisch zu konstruierende Sprache“ war. 29 Gutenbergs Vulgata und fortan sämtliche Druckbibeln waren ein Wahrzeichen der neuen ars artificialiter scribendi . Mündliche Kommunikation und Erinnerungsfähigkeit, die beide am antiken und mittelalterlichen Informationssystem konstitutiv beteiligt waren, erwiesen sich nun als zwecklos und überflüssig. Somit war es unausweichlich, dass im typographischen Zeitalter technische Konstruktion und methodische Logik gegenüber mündlichen Sensibilitäten, auditiver Wahrnehmung und dem Erinnerungsvermögen priorisiert wurden. Oralität und Gedächtnis wurden ausgegrenzt oder ignoriert, weil sie im typographisch technisierten Informations- und Kommunikationszeitalter ausgedient hatten und ihrer raison d’etre verlustig gegangen waren. 2. Die Entdeckung der Mündlichkeit 2.1 Marcel Jousse und Edgard Sienaert „Erinnerung könnte insofern sogar zuverlässiger sein als schriftliche Dokumente, als sie eine lebendige Flexibilität in Gebrauch und Austausch formelgeprägter Mechanismen bewahrt, die kein Kopist oder Redaktor schriftlicher Dokumente erreichen kann“. 30 Jousse hatte sich bei seinen sämtlichen Untersuchungen der facettenreichen Welt der Mündlichkeit die Beantwortung einer grundlegenden Frage gewidmet: „Wie bewahren Menschen inmitten zahlloser Handlungen des Universums die Erinnerung an diese Handlungen, und wie überliefern sie das Erinnerte zuverlässig von Generation zu Generation an ihre Nachkommen? “ 31 Es ist stets ein problematisches Unterfangen, wenn man einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel an einer einzelnen Forscherpersönlichkeit festmacht. Anfänge sind komplexe Geschehen, die selten präzis datiert werden können. Jeder Neuanfang erwächst aus einer Fülle von Voraussetzungen und beruht 28 Der Begriff „print capitalism“ stammt von B. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/ New York 1983, 18, passim. 29 Giesecke, Der Buchdruck, 98. 30 M. Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers. The Galilean Oral-Style Tradition and Its Traditionists, hrsg. und übers. E. Sienaert, Eugene 2018, 122. 31 E. Sienaert, “Marcel Jousse: The Oral Style and the Anthropology of Gesture,” 94. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 89 immer auf zuvor geleisteter Denkarbeit. Im Blick auf Mündlichkeit ist das Anfangsdenken umso fragwürdiger, als es sich bei der Entdeckung der Mündlichkeit um die Wiederentdeckung von etwas eigentlich schon immer Dagewesenem handelt. Wenn ich trotzdem bei der Person von Marcel Jousse ansetze, dann in dem vollen Bewusstsein, dass sein Werk aus vorangegangenen Kontexten erwachsen ist und an zahlreiche ältere Ansätze anknüpft, die hier nicht dargestellt werden können. Im Jahr 1925 veröffentlichte Jousse, französischer Anthropologe, Ethnologe und Semitist (1886-1961), ein zu seinen Lebzeiten vielbeachtetes Werk unter dem Titel Le Style Oral rhythmique et mnémotechnique chez les Verbomoteurs . 32 Nach Form und Inhalt war es ein äußerst unkonventionelles Buch, denn es rekrutierte sich aus einer Unzahl von Zitaten aus der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Es darf angenommen werden, dass Jousse die Intention hatte, seinem Programm gerade durch dieses Format Ausdruck zu verleihen. Ihm ging es darum vorzuführen, wie sich eine Vielzahl von Stimmen harmonisch zu einer Einstimmigkeit summiert, ohne in einem einheitlichen Paradigma systematisiert zu werden. Mit anderen Worten, eine glaubwürdige Synthese konnte nicht um den Preis einer Abstraktion von der unermesslichen Vielfalt der Daten zustande kommen, sondern sie ergab sich aus der Interaktion möglichst vieler Einzelteile. Jousses Le Style Oral und seine Vorlesungstätigkeit an der Sorbonne , der École des Haute Études , der École d’Anthropologie und dem Laboratoire de Rythmo-Pédagogie in den Jahren 1931 bis 1957 waren Gegenstand lebhafter Diskussionen in Paris und wurden in gewissen Kreisen zu einem kulturellen Ereignis. Auch einzelne Intellektuelle, unter ihnen der Homerexperte Milman Parry und der Schriftsteller James Joyce, gerieten unter den Einfluss von Jousse. Parry kam aufgrund der Lektüre von Jousses Le Style Oral zu der Einsicht dass es sich bei den Homerischen Kompositionstechniken nicht um schlechthin traditionsgebundene Sprache, sondern speziell um mündliche Diktion handelt. 33 Jousse seinerseits vertrat die Ansicht, dass die Arbeit Parrys über L’Épithethe traditionelle dans Homère eine Bestätigung seiner eigenen Thesen über die formelgeprägte Sprache der palästinischen Kultur war. 34 Im Fall von Joyce war es das Erlebnis dramatischer Vorführungen der Gleichnisse Jesu, von Jousse in aramäischer Sprache choreografiert, das seiner schriftstellerischen Kreativität wichtige Impulse gab. 35 Der Performanzcharakter der Gleichnisse und die Kombination von Tanz, fremder Sprache und Gestik hinterließen ihre 32 M. Jousse, Paris, 1925; engl. Übersetzung von E. Sienaert / R. Whitaker, The oral Style New York, 1990. 33 A. Parry (Hg.), The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry, New York 1987, IX- XII, vgl. vor allem XXX-XXXI und XXXIV-XXXV. 34 Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers, 157 f. 35 M. Colum / P. Colum, Unser Freund James Joyce, Stuttgart 1958. 90 Werner H. Kelber Spuren in Finnegans Wake , dem letzten großen Werk des irischen Schriftstellers, in dem er eine Neugestaltung von Rede, Schrift, polyglotter und aural-auditiver Sprache anstrebte. Nicht zuletzt ist der Einfluss von Jousse deutlich bei Walter Ong in seinen umfangreichen und differenzierten Analysen mündlicher und schriftlicher Kommunikationsformen greifbar. In einem Atemzug mit Marcel Jousse muss Edgard Sienaert erwähnt werden. Der in Belgien geborene Kulturwissenschaftler ist von Haus aus Spezialist der französischen Literatur des Mittelalters. Als er an der südafrikanischen Universität von Kwa-Zulu-Natal tätig war, begann er sich mit der mündlichen Kultur des Landes vertraut zu machen und erkannte alsbald, dass sie ein Schlüssel zu den vielen sprachlichen Eigentümlichkeiten war, die ihm in der mittelalterlichen französischen Literatur rätselhaft erschienen waren. Im Lichte der in Afrika entdeckten oralen Kultur wurde ihm klar, dass es sich bei den französischen Texten um eine Schnittstelle von Oralität und Verschriftlichung handelte. Auf der Suche nach weiteren Einsichten in das Phänomen der Oralität stieß er auf Marcel Jousse: „Er erschien mir damals, und er erscheint mir heute noch die einzige Person zu sein, die auf die im oralen Stil geschriebenen Texte mit dem Ohr eines Insiders zu hören vermochte“. 36 Von 1988 bis zum heutigen Tag ist Sienaert als Herausgeber, Interpret, und Übersetzer der meist unveröffentlichten französischen Schriften von Jousse tätig. Seine jahrzehntelangen Bemühungen, das Werk Jousses zu sichten, zu übersetzen und im englischsprachigen Raum zugänglich zu machen, stellen einen bedeutenden Beitrag zu den Kulturwissenschaften dar. Die Bedeutung von Jousse darf man darin sehen, dass er erstmals in der Neuzeit das Phänomen der Mündlichkeit systematisch thematisierte und eine empirisch fundierte Grundlage zur Erforschung von Mündlichkeit und mündlichen Kulturen schuf. Für den nahezu gesamten Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften erbrachte sein Werk ein kaum je erahntes, geradezu verblüffendes Novum: Jousse war der Überzeugung, dass Stil, Kompositionstechniken und Denkstrukturen mündlicher Kulturen und Traditionen eine eigene, von chirographischen und typographischen Medien gesonderte Untersuchung erfordern und verdienen. Seine Theorien forderten die westliche akademische Welt geradezu demonstrativ heraus, ernsthaft der Realität ins Auge zu sehen, dass sich in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte die Schriftkultur erst vor sehr kurzer Zeit etabliert hatte. Projiziert man nämlich die Geschichte des Homo sapiens auf eine Weltuhr in Form eines Jahreskalenders dann treten das ägyptische Schriftsystem und die mesopotamische Keilschrift Mitte Dezember auf den Plan, und Gutenbergs Erfindung macht sich erst in den allerletzten Dezembertagen 36 E. Sienaert, E-Mail vom 6. Dezember 2018. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 91 bemerkbar. 37 Hatte nicht das mündliche Medium angesichts einer universalen Mediengeschichte, die bis auf eine kurze Zeitspanne in jüngster Zeit ohne das schriftliche Medium gediehen war, unsere ganz besondere Aufmerksamkeit und einen eigenen Forschungszweig verdient? Mehr noch, war es nicht in Anbetracht der auf das Ganze gesehen überwältigenden Dominanz des mündlichen Mediums geboten, das heute geläufige Kommunikationsmodell vom Ansatz her neu zu überdenken? In diesem Bewusstsein einer universalen Geschichte mündlicher Kommunikationskulturen fasste Jousse den Entschluss, eine ausführliche Materialsammlung anzulegen, um auf diese Weise eine empirische Basis für eine eigene, fundierte Gesamtsicht zu schaffen. Sein Datenbestand umfasste Texte aus Ägypten, Babylonien und Assyrien, jüdische Quellen, dazu Textproben aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, etwa der Hindus, Bantus, Berber und Afghanen, Quellen in aramäischer, hebräischer, arabischer und chinesischer Schrift, verbindliche mündlich tradierte Texte aus den Kommunikationssystemen von Afrika, Asien, Ozeanien, Australien, Europa, Nordamerika und vieler anderer ethnischer Kulturkreise. Die so erstellte umfangreiche Materialsammlung legte ein beredtes Zeugnis von der Existenz einer globalen Kommunikationskultur ab. Unter den von Jousse sorgsam registrierten sprachlichen Charakteristiken sind die folgenden besonders bemerkenswert: eine rhythmisch strukturierte Sprache, eine durch und durch formelgeprägte Diktion in Verbindung mit einer gewissen Variationsfreudigkeit, Parallelkonstruktionen und Wiederholungen, Alliterationen, Rezitationszitate, verschiedene Arten von Repetitionsformen und vieles andere mehr. Durchgängiges Ziel von Jousses Lebenswerk war es letztlich, den Nachweis einer globalen „verbo-motorischen“ (und senso-motorischen) Kultur zu erbringen, die durch eine oral-rhetorische Informationsverarbeitung, einen interaktiven Ablauf mimetisch-memorialer Prozesse, einen dynamisch fungierenden Kommunikationskreislauf und ein im Gemeinwesen und Traditionsstrom eingebettetes Verhaltensmodel gekennzeichnet war. Als Priester und Jesuit galt Jousses besonderes Interesse der Person und Sprache Jesu und der an Jesus anknüpfenden Evangelientradition. Er verstand sich als Anthropologe und Spezialist der Semitistik mit aramaistischem Schwerpunkt. Wie wenige humanistische Gelehrte seiner Zeit widmete er sich eingehend dem Studium der targumischen Traditionen. Jesus war nach Jousses Verständnis ein galiläischer Rabbi und Lehrer der Tora. Als Vertreter einer palästinischen „verbo-motorischen“ Kultur war er für Jousse Repräsentant einer globalen Kommunikationswelt und zugleich die Personifizierung wahrer Hu- 37 J.M. Foley, How to Read an Oral Poem, Urbana/ Chicago, 2002, 22-25. 92 Werner H. Kelber manität. 38 Seine Sprache, zutiefst geprägt von der verbo-motorischen Kommunikation der palästinisch-galiläischen Kultur, war ganz und gar formelgeprägt und in rhythmischer Übereinstimmung mit der Bilateralität des menschlichen Körpers. Was die Eigenart und den Primat formelgeprägter Diktion betrifft, so erkannte Jousse klar, dass deren Entdeckung einen bewussten Bruch mit der neuzeitlichen Sprach- und Erfahrungswelt darstellte. Ein gepflegter, typographisch geschulter Stil war alles andere als formelgeprägt. Die Hochschätzung literarischer Tugenden wie dichterische Freiheit und Einfallsreichtum oder auch pragmatische Zweckmäßigkeit und präzise sprachliche Eindeutigkeit verleiteten dazu, einen aus formelgeprägter Sprache aufgebauten Stil als gedankenlosen, banalen Jargon ungebildeter Völker abzuwerten. Im Hinblick auf Jousses zahlreiche Studien zum formelartigen Charakter der Sprache Jesu ist es bemerkenswert, dass er hierin nicht einzig und allein ein Mittel stabiler Tradierbarkeit sah. Formelgeprägte Diktion in der verbo-motorischen Kultur verstand er als ein komplexes rhetorisches Phänomen. Zwar war die Stütze des Gedächtnisses eine wichtige Funktion dieser Sprache, aber sie resultierte nicht in Stagnation oder gar Stillstand der Tradition. Die eigentliche Stärke der formelgeprägten Kommunikationskultur bestand in ihren Modifikationen, Rekombinationen und Neuschöpfungen. Die ständige Umstrukturierung der konventionellen Wendungen ermöglichte es, die Tradition in neuem Glanz erstrahlen und gegenwartsbezogen wirksam werden zu lassen. Wichtig ist, dass nach Einschätzung der antiken Rhetoren und Rezitatoren trotz aller Variationen und Modulationen die Tradition nie verlassen, geschweige denn verraten wurde, wobei hier freilich kein moderner Begriff von historischer Korrektheit vorausgesetzt werden darf. Vielmehr ist zu beachten, dass es sich, so Jousse, bei formelgeprägter Sprache um traditionelle, oft seit langer Zeit in Gebrauch befindliche Sprache handelte, die Sprecher und Hörer in einen Traditionsstrom einbettete. Dies war eine Einsicht, die für sein Verständnis von Jesus und seiner Sprache eine entscheidende Rolle spielte. Jousses gesamte Phänomenologie von Tradition, Kommunikation und Anthropologie drehte sich um den zentralen Begriff der Memoria . Es scheint mir ein in der Neuzeit einzigartiges Ereignis zu sein, dass im sensomotorischen Paradigma von Jousse dem Gedächtnis die absolute Priorität zuerkannt wurde, das im typographischen System marginalisiert und negiert worden war. Ge- 38 Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Jousse nachdrücklich die jüdische, aramäische und galiläische Identität Jesu zu einem Zeitpunkt hervorhob, als der Antisemitismus in Europa im Aufstieg begriffen war, Antijudaismus die Bibelwissenschaft infiltrierte und die Entjudaisierung Jesu aktiv betrieben wurde. Jousse stellte mit einiger Genugtuung fest, dass er den jüdischen, aramäischen, galiläischen Jesus zur Zeit der deutschen Besetzung von Paris (1940-1944) an akademischen Instituten unbeirrt zur Geltung gebracht hatte. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 93 dächtnis war in seiner Sicht eine multifunktionale Größe. Einerseits war mündliche Tradition ohne den Ablauf memorialer Prozesse undenkbar, sodass Überlieferungsgeschichte und Erinnerungs- oder Gedächtnisgeschichte im Prinzip zusammenfallen. 39 Andererseits ist für Jousse das Gedächtnis auch das bestimmende Merkmal des Anthropos , so seine kollektive Benennung des Menschen als Glied einer erdumspannenden Einheit. Als Anthropos verkörpert er einen in einem stetigen Wechselspiel von Imitation, Inkorporation und Reorganisation formelgeprägter Sprache tätigen Organismus. Alles in allem ist Memoria eine anthropologische und eine kulturelle Größe und die Schaltstelle eines globalen, interaktiven, im Fluss befindlichen mimetischen Dramas. Die Frage scheint berechtigt: In welche Richtung hätte sich die Bibelwissenschaft entwickeln können, wenn die frühen Formkritiker einen Blick über die Grenze geworfen und das Jousse’sche Paradigma von Oralität, Tradition und Gedächtnis wahrgenommen hätten? Mit anderen Worten, hätten sich nicht die Erforschung des Synoptischen Problems, die historische Jesusforschung, die Interpretation der Evangelien und die Textkritik des 20. Jh.s anders entwickelt, wenn der Franzose Jousse sich mit den deutschen Formkritikern zu gemeinsamen Diskussionen zusammengefunden hätte, und diese mit ihm? 2.2 Milman Parry und Albert Lord „Ich meine, dass dieses Versäumnis, den Unterschied zwischen geschriebenen und mündlichen Versen zu erkennen, das größte Hindernis für das Verständnis Homers war“. 40 „Der mündliche Dichter ist fortgesetzt damit befasst, dasjenige, was er gehört hat, zu kombinieren und neu zu kombinieren, etwas hinzuzufügen und etwas wegzulassen. Dieses Kombinieren und Neukombinieren, dieses Hinzufügen und Weglassen, das ist die Tradition“. 41 Milman Parry und Albert Lord haben das Verdienst, den Anstoß für eine Forschungsrichtung gegeben zu haben, die die kompositorischen, performativen und ästhetischen Aspekte lebendiger mündlicher Überlieferung und einer von ihr abhängigen Schriftlichkeit zum Gegenstand hatte. Der Beitrag des Homerforschers Parry lässt sich am besten in einem größeren wissenschaftlichen 39 Den Begriff der Gedächtnisgeschichte verdanken wir J. Assmann (Ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998). Vgl. auch W.H. Kelber, The Works of Memory - Christian Origins and MnemoHistory - A Response, Semeia Studies 52 (2005), 221-248 und in jüngster Zeit v. a. A. Kirk, Memory and the Jesus Tradition, London/ New York, 2018. 40 M. Parry, “Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making”, 77. 41 A.B. Lord, Epic Singers and Oral Tradition , 47. 94 Werner H. Kelber Kontext verdeutlichen. Im 18. und 19. Jh. wurde die Homerforschung von zwei Schultraditionen dominiert. Auf der einen Seite standen die Unitarier, welche für die individuelle Autorschaft der Ilias und Odyssee plädierten, sei es, dass man einen Ur-Autor annahm, oder dass man die Ilias dem Homer, und die Odyssee einem anderen Verfasser zuschrieb. Die Analytiker auf der anderen Seite vertraten ein Wachstumsmodell, wonach die beiden epischen Werke schichtweise durch redaktionelle Erweiterungen entstanden sind. Zuweilen suchte man die so verstandenen Texte in einem analytischen Rückschlussverfahren auf die „Ur-Ilias“ zurückzuführen. Eine Sonderstellung nahm Friedrich August Wolf ein. In seinen unvollendet gebliebenen Prolegomena ad Homerum (1795) argumentierte er in Berufung auf die Schriftlosigkeit zur Entstehungszeit der Epen für eine mündliche Wiedergabe durch Rhapsoden, deren Vorträge in Anpassung an ihre Hörer ständigen Veränderungen ausgesetzt waren. Obwohl Wolf letztlich eine literarische Bearbeitung und Fixierung des mündlichen Traditionsstromes postulierte, betrachtete die Fachwelt seine These weithin mit Skepsis. Damals wie heute schien es unvorstellbar, eine Literarkritik ohne einen individuellen Autor und mit einer Pluralität von Darbietern ernst zu nehmen. Es war unzumutbar, dem mündlichen Medium die Schlüsselrolle im Anfangsstadium der westlichen Literaturgeschichte zuzugestehen. Während Unitarier und Analytiker sich einig waren, dass die homerischen Epen ein literarkritisches Problem darstellten, und Wolf eine vermittelnde Position zwischen Mündlichkeit und Literalität einnahm, setzte sich Parry zum Ziel, einen Lösungsvorschlag auf der Basis reiner Mündlichkeit auszuarbeiten. Die Innovation seines Ansatzes bestand darin, dass er die epischen Texte gleichzeitig von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus anging. Auf der einen Seite untersuchte er die Texte mit philologischer Akribie, richtete dabei aber sein Augenmerk nicht auf redaktionelle Einfügungen, thematische Ungereimtheiten und die Benutzung literarischer Quellen, sondern vielmehr auf gewisse den Texten eigene stilistische Charakteristiken. Auf der anderen Seite unternahm er den in der Homerforschung revolutionären Versuch, lebendige mündliche Traditionen zur Aufklärung der homerischen Frage zu Rate zu ziehen. Überraschenderweise fand er sein Forschungsfeld nicht in Afrika, Südamerika oder Australien, sondern in Europa. Von 1933 bis 1935 führte er ethnologische Feldstudien in abgelegenen, von moderner Zivilisation unberührten Dörfern außerhalb von Dubrovnik im damaligen Jugoslawien durch. Als eigentliches „Laboratorium“ dienten ihm lokale Sänger-Dichter, die sich selbst auf der Gusle, einem Saiteninstrument einfachster Art, begleiteten und umfangreiche epische Gesänge vortrugen, die aus einer langen Tradition hervorgegangen waren. Parry orientierte sich an drei Leitlinien: Erhellung des kompositorisch-künstlerischen Selbstver- Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 95 ständnisses der Sänger mit Hilfe ausführlicher Interviews, Tonbandaufnahmen ihrer Darbietungen und der Analyse des aufgenommenen epischen Materials. 42 Parry gewann aus der Analyse des in seinen Feldforschungen gesammelten serbo-kroatischen Materials folgende Beobachtungen: Die Kompositionen zeichneten sich durch ein erstaunlich hohes Maß an formelartigem Gut und formelgeprägten Wendungen aus. Letztere waren zum großen Teil aus vorprogrammierten ( preprogrammed ), in ständigem Gebrauch stehenden und aus der Tradition stammenden Elementen zusammengesetzt. Formelsprache war die entscheidende Kompositionstechnik, die von den Barden gepflegt und von einem Sänger zum anderen weitergegeben wurde. Hinzu kam, dass die künstlerische Wiedergabe über einen beträchtlichen Spielraum verfügte, in dem die traditionellen Elemente passend zum jeweiligen Verwendungskontext flexibel eingesetzt werden konnten. Diese formelgeprägte Kompositionstechnik diente als Gedächtnisstütze ( mnemonic trigger ) für Sänger und Hörer gleichermaßen, und sie ebnete gleichzeitig den Weg zum kontinuierlichen Fortbestehen der Tradition. Genese und Intention dieser Kommunikationsart ließen deutlich die Arbeitsweise des mündlichen Mediums erkennen. In Beobachtungen dieser Art lag für Parry der Schlüssel zur Sprache und Kompositionstechnik der homerischen Epen. Bewusst losgelöst von literarischen Denkprozessen begann er die homerischen Texte im Hinblick auf formelgeprägte Sprache zu untersuchen. Die seine Arbeit bestimmende Definition von „Formel“ ist klassisch geworden: „Die Formel in den homerischen Gedichten kann als eine Gruppe von Wörtern definiert werden, die regelmäßig unter denselben metrischen Bedingungen angewendet werden, um eine vorgegebene wichtige Idee zum Ausdruck zu bringen“. 43 Die von Parry gemäß dieser Definition durchgeführten Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die homerische Sprache nicht nur ein hohes Maß an formelgeprägter Diktion enthielt, sondern durch und durch formelgeprägter Natur war. Weit über die bekannten homerischen Epitheta hinausgehend („die rosenfingrige Eos“, „der listenreiche Odysseus“, usw.) zeigte er, wie sich formelgeprägte Wendungen um standardisierte Themenkomplexe gruppieren, die ganze Verse ausfüllen konnten. Parrys Schlussfolgerung war, dass die im Hexameter metrisch konstruierte Sprache, die Auswahl und formelgeprägte Ausdrucksweise und die im Metrum arrangierte Formelsprache das Ergebnis einer mündlichen Traditionsweitergabe war, die sich über eine lange Zeitspanne hinweg entwickelt hatte. Diese formelgeprägte 42 Die Tonbandaufnahmen der Vorführungen mitsamt den anschließenden Diskussionen und darauf bezogenen Interviews befinden sich heute in der Milman Parry Collection of Oral Literature , die Teil der Widener Library an der Universität Harvard ist. 43 M. Parry, Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making: I. Homer and the Homeric Style, HSCP (1930), 73-147, hier: 80. 96 Werner H. Kelber Sprache war Ausdruck einer Kultur, in der die Sänger mit vorgegebenen Elementen und Denkmustern arbeiteten und sich einer vom mündlichen Medium auferlegten Kompositionsmethode bedienten. Zwar neigte Parry zu einem etwas mechanistischen Denken, doch war er sich bewusst, dass die Sänger bei jeder Vorführung formelgeprägte Teilelemente zu einer jeweils neuen Komposition verarbeiteten. Formelgeprägte Stabilität und flexible Anpassungsfähigkeit bildeten also in seiner Sicht eine Einheit. Albert Lord, der nach dem frühen Tod Parrys dessen Erbe fortführte, hat die Mündlichkeitsforschung auf zwei Ebenen entscheidend bereichert. Zum einen vertiefte er das Verständnis der homerischen Epen durch Feldstudien in Bosnien und Herzegowina, erweiterte aber zugleich die Forschung durch eingehende Studien des Gilgamesch-Epos, eines der ältesten epischen Dichtungen, sowie des in angelsächsischen Stabreimen verfassten Epos Beowulf und der Folklore aus vielen ethnischen Kulturen. Angefangen von dem als Klassiker anerkannten Werk The Singer of Tales 44 hat das gesamte Schaffen Lords wesentlich zum internationalen Ruf der Mündlichkeitsforschung beigetragen. In Bezug auf die homerischen Epen kam Lord nach Parrys Tod zu dem Schluss, dass man bei der endgültigen Fassung der Ilias und der Odyssee mit „einer gewissen Abhängigkeit von Schriftlichkeit ( some reliance on writing )“ zu rechnen habe. 45 Die Epen repräsentierten ein Übergangsstadium zwischen Oralität und Literalität, waren aber nicht das Resultat chirographischer Kompositionstechnik, sondern vielmehr „mündliche, diktierte Texte ( oral dictated texts )“: Ein Sänger hatte sich des Diktierstils einer des Schreibens kundigen Person bedient. Das so entstandene Schreiben gab daher die Worte der mündlichen Version wieder, obwohl diese unter außergewöhnlichen Umständen eines langsam gesprochenen Diktats zustande gekommen war. Wie jeder andere mündliche Vortrag, so war auch der diktierte Text ein einzigartiges und gewissermaßen einmaliges Moment im anhaltenden Überlieferungsstrom. Auf die Dauer aber machte der fixierte Text seinen Einfluss auf die mündliche Tradition geltend, und avancierte allmählich zum „ursprünglichen Text“. Keinesfalls darf unerwähnt bleiben, dass Lord einen umfassenden und nuancierten Artikel über die Komposition der Evangelien geschrieben hat, der leider auch in der englischsprachigen Literatur zu wenig beachtet wird. Sein Beitrag The Gospels as Oral Traditional Literature geht auf einen Vortrag zurück, den er auf einem denkwürdigen Kolloquium 1970 an der Trinity University in San Antonio (Texas) gehalten hat. Darin lehnte er alle Arten von quellen- und 44 A.B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge 1960. 45 Ders., Homer’s Originality: Oral Dictated Texts, in: Ders., Epic Singers and Oral Tradition, Ithaca/ London 1991, 38-56, hier: 45. Ursprünglich erschien der Artikel in TAPA 84 (1953), 124-133. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 97 textkritischen Thesen ab: „Ich finde es ungewöhnlich, dass ein Schreiber eine Auswahl aus mehreren dokumentarisch belegten Quellen trifft, als wähle er von einem Buffet“. 46 Lord sieht in den Evangelien ein nahezu klassisches Beispiel von drei oder vier Wiedererzählungen „,derselben‘ traditionellen Geschichte“. 47 Wie oben ausgeführt, widmete er sich in der Homerforschung eingehend den komplexen Fragen der Verschriftlichung mündlicher Traditionen und des Übergangs von Oralität zur Schrift. Leider diskutierte sein Evangeliumsartikel diese Frage nicht. 2.3 Eine neue Poetik „Womit wir ringen, ist allem Anschein nach nicht einfach ,Mechanismus‘ versus ,Ästhetik‘, nicht nur ,mündlich‘ versus ,literarisch‘, sondern überhaupt mit einer unbrauchbaren Theorie der Wortkunst“. 48 Teils unter dem Einfluss von Parry und Lord, teils unabhängig von ihnen wurden ähnliche Untersuchungen von einer sich ständig vergrößernden Anzahl von ethnischen Kulturkreisen unternommen, sodass man bald von einer eigenen akademischen Disziplin der Mündlichkeitsforschung sprechen konnte. Heute erstreckt sich diese Disziplin quer durch die Kultur- und Sozialwissenschaften, überschreitet nationale und religiöse Grenzen und umfasst ein globales Spektrum ethnischer Kulturen. Überdies darf man sagen, dass die Konsequenzen, die sich aus dem Werk von Parry, Lord und ihren Nachfolgern ergeben, weit über die spezifische Problematik von Mündlichkeit hinausgehen. Beispielsweise hat die Wiederentdeckung von vorwiegend im mündlichen Medium lebenden Kulturen zu einer kritischen Besinnung auf die Funktion des chirographischen Mediums und rein textzentrierter Interpretationsweisen geführt. Je tiefer man in die kompositorischen Mechanismen und Prozesse mündlicher Kompositionsstrukturen eindrang, desto deutlicher wurde das Bewusstsein, dass eine Vielzahl antiker, spätantiker und frühmittelalterlicher Schriften in mannigfaltigen Abhängigkeitsverhältnissen zur oral-rhetorischen Informationsverarbeitung stand. Langsam, erst noch ansatzweise und nur zögernd beginnt in der klassischen Philologie, der Bibelwissenschaft und der Mediävistik die Erkenntnis an Boden zu gewinnen, dass die klassische Hermeneutik historischer und literarischer Art der multimedialen Kommunikationsgeschichte und dem äußerst 46 Lord, Oral Traditional Literature, in: W.E. Walker (Hg.), The Relationships Among the Gospels. An Interdisciplinary Dialogue, San Antonio 1978, 33-91, hier: 59-60. 47 Ders., Oral Traditional Literature, 64. 48 Foley, Immanent Art , 5. 98 Werner H. Kelber komplexen Wechselverhältnissen von Oralität und Verschriftlichung nicht angemessen Rechnung getragen hat. 49 Die von Jousse, Sienaert, Parry und Lord erschlossenen Perspektiven auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die davon ausgehenden Impulse stellen neue Fragen an unsere linguistischen und literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Ergebnisse. Begriffe wie Text und mündlicher Diskurs, Gedächtnis und Veranschaulichung, Autor und Kopist, Komposition und Interpretation, Lesen, Schreiben und Hören, Intertextualität und Tradition, Sinneswahrnehmung und Logik - Grundmetaphern der westlichen Kultur - sind sämtlich davon betroffen, wenn es darum geht, die im Gutenberg’schen Paradigma verortete Fachprosa und ihre Lösungsvorschläge, Methodik und Fragestellungen neu zu durchdenken. Seit den Studien von Jousse, Sienaert, Parry und Lord hat sich in der Forschung der Begriff der Oral-Formulaic Theory eingebürgert, der heute auch unter dem Namen Parry-Lord-These bekannt ist. Als terminus technicus für das im Mündlichkeitsdiskurs zur Diskussion stehende Material ist heute allgemein der Begriff Oral Traditional Literature in Gebrauch. Er ist m.W. der bislang adäquateste Lösungsvorschlag, eine aus einer vorrangig mündlichen Entwicklungsgeschichte hervorgegangene, von ihr geprägte und mit ihr auf mannigfaltige Weise verflochtene Sprachkultur begrifflich zu fassen. Grundsätzlich kann man bei einem großen Teil der in Oralität verflochtenen Texte von zwei Prämissen ausgehen. Zum einen neigen sie zur Traditionsgebundenheit, d. h. sie konstituieren sich in unterschiedlicher Weise aus traditionellen Elementen. Zum anderen sind sie fluid und anpassungsfähig, nicht typographisch eingegrenzt, vielmehr fähig über offene Grenzen hinweg mit der Umwelt zu kommunizieren. 50 Wie an den Beispielen von Jousse, Sienaert, Parry und Lord gezeigt wurde, nahm die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Oral Traditional Literature ihren Anfang in fokussierten Analysen der iterativen Qualität von Texten, sie hat sich aber allmählich zu einer umfassenden kulturgeschichtlichen Phänomenologie entwickelt. Nach dem diesem Abschnitt vorangestellten Zitat Foleys geht es heute 49 Für den Bereich der klassischen Philologie vgl. S. A. Gurd, Work in Progress. Literary Revision as Social Performance in Ancient Rome, Oxford 2012. Für den Bereich der Bibelwissenschaft vgl. Biblical Performance Criticism, einzusehen unter: https: / / www.biblicalperformancecriticism.org. In der Mediävistik ist wichtig B. Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretatrion in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983 und J. Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. 50 M.W. war Jousse der erste Kulturwissenschaftler, der den Begriff textes fluids („flüssige Texte“) gebrauchte. Damit bezeichnete er Texte, die nicht typographisch fixiert, sondern ständig dafür verfügbar waren, um- oder fortgeschrieben zu werden, vgl., Ders., Memory, Memorization, and Memorizers, 30 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 99 bei den Untersuchungen der Oral Traditional Literature um weit mehr als um das Problem von Mündlichkeit vis-à-vis Schriftlichkeit. Die Zielsetzung ist eine neue Poetik, welche sich sowohl auf die Materialität der Kommunikation wie auch auf das menschliche Sensorium konzentriert, beides Konzepte, die in ihrem Zusammenspiel von der Bibelwissenschaft bislang kaum erfasst worden sind. 51 3. Sieben Anfragen an die Formgeschichte „Viele, wenn nicht alle Akteure innerhalb technologischer Kulturen sind in erheblichem Maße konditioniert […] anzunehmen, dass die Welt des Printmediums die reale Welt ist, und dass das gesprochene Wort belanglos ist“. 52 In Wahrheit verhält es sich so, dass unser Begriff vom „Original“ eines Liedes in einer mündlichen Kultur einfach keinen Sinn ergibt. Uns scheint er dagegen selbstverständlich gültig und logisch zu sein, weil wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der die Technik des Schreibens die Norm eines originären und dauerhaften künstlerischen Schöpfungsaktes etabliert hat, mit der Folge, dass wir der Überzeugung sind, es müsse für alles ein „Original“ geben. 53 Zuallererst muss die Tatsache konstatiert werden, dass die moderne Bibelwissenschaft die Möglichkeit gehabt hätte, das Phänomen der Mündlichkeit in das historisch-kritische Paradigma einzubeziehen. Bei aller Fixierung auf Texte und Intertextualität entwickelte die Formkritik ein einflussreiches Programm, um das Dunkel der hinter den biblischen Texten liegenden Überlieferungsprozesse zu erhellen. Dies war und ist das Bestreben der Formkritik . Ihr Hauptinteresse richtete sich auf die in biblische Texte eingebundenen Gattungen, von denen man vermutete, dass sie aus der Tradition stammten. Sobald man ihre Funktion in der jeweiligen Umwelt zu bestimmen suchte, war es im Prinzip unumgänglich, den mündlichen Faktor mit zu berücksichtigen. Rückblickend können wir sagen, dass die Formgeschichte eine der bedeutendsten methodologischen Innovationen war, ohne die die Bibelwissenschaft des 20. Jh. nicht das wäre, was sie heute ist. Hier geht es nun aber nicht darum, Methodik und Ergebnisse der Formgeschichte noch einmal neu aufzurollen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sie bereits im Ansatz auf ein literarisches Modell zusteuerte, das unfähig war, Mündlichkeit begrifflich zu erfassen. Im Folgenden werden sieben für die 51 W.H. Kelber, Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft, in: Imprints, Voiceprints, and Footprints of Memory, Atlanta 2013, 217-235. 52 W.J. Ong, “Transformation of the Word and Alienation”, 2. 53 A.B. Lord, The Singer of Tales , 101. 100 Werner H. Kelber Formgeschichte maßgebliche Prinzipien herausgegriffen, die sämtlich im Widerspruch zur modernen Mündlichkeitsforschung stehen. 3.1 Das Problem der Form Unsere Kritik setzt ein mit der Bezeichnung „Formgeschichte“. Sie stellte sicher, dass der so benannte Forschungszweig Sprache als Form zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte. Nun ist Form eine visuelle Metapher, ein in der visuellen Wahrnehmung begründetes Konzept, das dem Sehen erkenntnistheoretische Priorität einräumt. Demgegenüber hat Ong daran erinnert, dass Wörter in der Klangwelt existierende Ereignisse sind, die keine Form besitzen, sondern sich in Zeitlichkeit realisieren. 54 Sie lassen sich nicht in einer durch Höhe, Breite und Länge definierten Räumlichkeit vermessen. Mit dieser ihr eigenen Definition hat die Formgeschichte vom Ansatz her die Richtung einer sichtbaren, stabilen und potentiell objektivierbaren Sprache eingeschlagen, und sich damit vorab für ein literarisches Paradigma entschieden. Der Boden war damit bereitet, die Überlieferungsgeschichte von einem literarischen Vorverständnis aus anzugehen. In einem von mündlicher Hermeneutik determinierten Modell wäre nicht Form , sondern Performance leitend gewesen. 3.2 Mündlichkeit als Produkt oder als Prozess Soweit sich die Formgeschichte mit Fragen der Mündlichkeit beschäftigte, hat sie mündliche Ereignisse im Zustand ihrer Stabilität beschrieben. Das bedeutete, dass mündliche Überlieferungseinheiten identifiziert und aus dem Textzusammenhang herausgelöst wurden, um dann ihren Sinngehalt in einem hypothetisch entworfenen sozialen Kontext zu rekonstruieren. Nicht beachtet wurde, dass die sich ständig ändernden sozialen Kontexte eine gewisse Elastizität bewirkten und erforderten. Die Folge war, dass der Überlieferungsprozess im Zustand der Stabilisierung festgefroren wurde. Schon diese Beobachtung zeigt, welch außergewöhnlichen Schwierigkeiten wir gegenüberstehen, wenn es darum geht, sich die Psychodynamik mündlicher Prozesse vorzustellen. Ein gesprochenes Wort existiert nur in dem Augenblick seiner Entstehung, d. h. wenn es aus der Interiorität einer Person ausgesprochen und veräußerlicht wird. Aber sobald es in den Außenraum eintritt, ist es bereits zum Verschwinden verurteilt. Gesprochene Worte zahlen für ihre unmittelbare Vitalität den hohen Preis ihrer raschen Vergänglichkeit und sie können deshalb nie als gesprochene Worte im textlichen Medium wiedergegeben werden. Umgekehrt kann einmal Geschriebenes und Gedrucktes nicht in reine Mündlichkeit zurückverwandelt 54 Ong, Orality and Literacy, 31-33. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 101 werden. In beiden Fällen - beim Übergang vom Sprechen zur Schrift und vom Text zum Sprechen - handelt es sich um einen Informationstransfer, der grundsätzlich nicht rückgängig gemacht werden kann. So dürfte es eine Illusion sein, formelgeprägte Sprache aus dem Textzusammenhang zu lösen und in ihrer „ursprünglichen“ Oralität wiederherzustellen zu wollen. Die Undurchführbarkeit (oder deutlicher: das Missverständnis) der „ursprünglichen Oralität“ ist eine Grundeinsicht, die im Folgenden nicht aus den Augen verloren werden darf. Man muss sich also im Klaren darüber sein, was in der Mündlichkeitsforschung möglich und was nicht möglich ist. Wie auch in anderen Wissenschaftszweigen ist in der Medienwissenschaft die vergleichende Analyse von Bedeutung. Auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft, deren Stärke mehr in der minutiösen Detailforschung und weniger in weitreichenden kulturellen Perspektiven liegt, ist die vergleichende Kommunikationswissenschaft umso wichtiger. Die Arbeiten von Jousse, Sienaert, Parry, Lord und vielen anderen erschließen für die frühe Jesustradition kulturelle Rahmenbedingungen, die sie in einem neuen Licht erscheinen lässt. Es geht also nicht darum, direkte Analogien herzustellen, sondern den Bereich des historisch und sprachlich Möglichen auszuloten und abzustecken, innerhalb dessen sich die uns vorgegebenen Daten plausibel einordnen lassen. Konkret eröffnet die vergleichende Kommunikationsgeschichte Einblicke in formelgeprägte und mnemotechnische Redewendungen, vielfältige orale Kompositionstechniken, Informationseinheiten oder sound bytes , Epitheta und antithetische Ausdrucksweisen, additive Stileigenheiten, episodische Organisationsformen, die Priorisierung gewisser Sinneswahrnehmungen, eine große Bandbreite oral-literaler Spannungsverhältnisse, und vieles mehr. Kurzum, die vergleichende Analyse dient als Einführung in ein kommunikationsgeschichtliches Denken, das Ungereimtheiten des historisch-kritischen Paradigmas zutage fördert und diese zu korrigieren unternimmt, um im Zuge dessen historisch-kritische Grundannahmen neu zu durchdenken. 3.3 Das Problem der „ursprünglichen Form“ Nach Rudolf Bultmanns klassischer Definition war die Rekonstruktion der ursprünglichen Form eine der Leitideen der Formgeschichte: „Die ursprüngliche Form eines Erzählungsstückes, eines Herrenwortes, eines Gleichnisses zu erkennen, ist eben das Ziel der formgeschichtlichen Betrachtung. Sie lehrt damit auch sekundäre Erweiterungen und Bildungen erkennen […]“. 55 55 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 8 1970, 7. 102 Werner H. Kelber Diese Konzeption von der ursprünglichen Form, von der sich sekundäre Versionen ableiten lassen, ist eines der schwerwiegenden Missverständnisse mündlicher Tradierungsprozesse. Der Grund hierfür ist, dass es in der mündlichen Kommunikation keine unveränderliche Textbasis gibt, auf deren Grundlage man spätere Fassungen identifizieren könnte. Erst mit dem Aufkommen skriptographisch produzierter Texte und vor allem dem Printmedium ist eine Stabilisierung von so etwas wie einer Textbasis überhaupt durchführbar. Das Konzept der „ursprünglichen Form“ und „sekundärer Fassungen“ ist ebenso eine vom Printmedium determinierte Vorstellung wie die Ansicht, dass sich mündliche Mechanismen und Dynamiken direkt vom schriftlichen Medium ableiten lassen. 56 Vom Standpunkt mündlicher Hermeneutik ist die Schlussfolgerung unausweichlich: Wie häufig auch immer Jesus ein Gleichnis erzählte, jedes Erzählen hatte den Rang einer eigenen kompositorischen Leistung, und keine Erzählung wurde als Variante einer Urform rezipiert. Weder dem Vortragenden noch den Hörenden konnte jemals der Gedanke einer Urfassung und einer sekundären Darbietung in den Sinn gekommen sein. Lord hat das Entscheidende gesagt: Die ursprüngliche Form hat im Paradigma der Mündlichkeit keinen Sinn. Nicht nur ist die Rekonstruktion eines Jesuswortes in seiner ursprünglichen Form mit erheblichen methodischen Problemen belastet, sondern, weitaus wichtiger, eine Urform ist im mündlichen Paradigma überhaupt inexistent. Man muss es noch deutlicher sagen: Das Konzept des ursprünglichen Wortes stellt einen Verstoß gegen das Ethos der mündlichen Tradition dar. Scheidet aber die Kategorie der ursprünglichen Form für das Verständnis der synoptischen Überlieferungsprozesse aus, ergeben sich hieraus Konsequenzen für die historische Jesusforschung und die Textkritik, die bisher, soweit ich sehe, noch viel zu wenig bedacht wurden. Beispielsweise gilt im Blick auf frühchristliche Überlieferungsprozesse: Wenn jedes gesprochene Wort Ursprungscharakter hat, ist man berechtigt, eine Pluralität ursprünglicher Worte zu postulieren. Von den Anfängen der Verkündigung Jesu an bestand die synoptische Tradition aus einer Vielzahl von authentischen, ursprünglichen Worten und nicht aus dem einen ursprünglichen Wort. Mehr noch: Die Vitalität und Leistungsfähigkeit der frühchristlichen Tradition war auf das Engste mit der Pluralität ursprünglicher Worte verbunden. Hierbei geht es nicht geradewegs um den einfachen Unter- 56 Die Problematik des formgeschichtlichen (wie auch des redaktionsgeschichtlichen) Verfahrens, von Schriftlichkeit aus zu denken, hat in jüngster Zeit niemand so deutlich gesehen wie S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, Göttingen 2014, 24 f.: „Es zeichnet sich hier bereits ab, dass die Formkritik von der Schriftlichkeit her denkt und damit letztlich von falschen Voraussetzungen ausgeht - auch wenn es noch geraume Zeit dauern wird, bis dies so klar formuliert wird“. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 103 schied von Singular und Plural, sondern um eine vom typographischen Denken völlig unterschiedliche Medienkultur. 3.4 Das „ursprüngliche Wort“ im Dienst der historischen Jesusforschung Die Annahme, dass die „ursprüngliche Form“ eines Jesuswortes durch eine methodisch kontrollierte Arbeitsweise wiederherstellbar sei, hat die Pioniere der formgeschichtlichen Methode dazu verleitet, sie mit der historischen Jesusforschung nahezu gleichzusetzen. Sie sahen in der Formgeschichte das lang erwartete Hilfsmittel, das wie geschaffen schien, der Jesusforschung neue Impulse zu geben. „Die ursprüngliche Form“ wurde zum Schlüsselprinzip, das zur Rekonstruktion der sogenannten ipsissima verba oder der ipsissima structura von Jesu Verkündigung diente. Genau daraus resultierte auch der hauptsächlichen Einwand, der gegen die frühe Formkritik erhoben wurde, dass sie nämlich mit ungebührlicher Skepsis die Historizität Jesu auflöse. Rasch vergessen war die Tatsache, dass nach Bultmanns eigenem Verständnis die formgeschichtliche Methode in erster Linie dem Traditionsstoff, der sogenannten Überlieferungsgeschichte und ihrem Verhältnis zur Endgestalt der Evangelien gegolten hatte. Indem sich die formgeschichtliche Forschung aber dem wesentlich verheißungsvolleren und ertragreicheren Projekt der historischen Jesusforschung zuwandte, stand sie in der Gefahr, ihre eigentliche Mission aus den Augen zu verlieren. Inzwischen ist es zur wissenschaftlichen Konvention geworden, dass die Jesusforschung aus der formgeschichtlichen Logik resultiert. Sowohl die Jesusforschung wie die Erforschung der Überlieferungsgeschichte haben unter dieser Entwicklung gelitten. Dies ist einer der „langen Schatten der Formgeschichte“, die Sandra Hübenthal mit kritischem Einfühlungsvermögen beschrieben hat. 57 3.5 Der Kontext Alles Sprechen ist umweltbezogen und kann sich nur in einem sozialen Bezugsrahmen verwirklichen. Ohne Kontext ist Reden nicht nur unvollkommen, sondern praktisch unrealisierbar. Ong hat diese Einsicht mit wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht: „Sowohl die von Jesus gesprochenen Worte wie ihre im mündlichen Medium stattfindende Erinnerung waren immer kontextgebunden, obwohl sie natürlich von universaler Relevanz sein konnten“. 58 Die Evangelien verdeutlichen diesen Sachverhalt eindrucksvoll, wenn sie Jesu aphoristische Aussagen und gleichnishafte Erzählungen in bestimmten histo- 57 Hübenthal, Das Markusevangelium, 51, 11-73. 58 Ong, Text as Interpretation: Mark and After, in: T.J. Farrell / P. A. Soukup (Hg.), Faith and Contexts, Vol. 2, Atlanta 1992, 191-210, hier: 197. 104 Werner H. Kelber rischen Situationen verorten. Allerdings ist es wichtig, zwei unterschiedliche Kontexte zu unterscheiden: den narrativen, textgebundenen Kontext einerseits und den sozialen, historischen Kontext andererseits. Während Worte und Gleichnisse im narrativen Kontext in den Zuständigkeitsbereich ihrer unmittelbaren narrativen Umgebung fallen und eine sinnstiftende Funktion im gesamten Textzusammenhang übernehmen, wenden sich gesprochene Worte und Gleichnisse direkt an die Hörenden und entfalten ihnen gegenüber eine Wirkung. Die eigentliche Aktualisierung der Sprache verläuft je unterschiedlich: Geschriebene Worte existieren in einem Wartezustand, der anhält, bis Lesende sich den Text zu eigen machen oder Sprecher ihn re-oralisieren. Gesprochene Worte werden in der Gegenwart einer Hörerschaft augenblicklich realisiert. In beiden Fällen ist ein Moment der Variabilität erkennbar. Im Fall der Textualität ist mit Sicherheit anzunehmen, dass sich die Leserschaft und ihre soziale Umgebung im Laufe der Zeit ändern, wobei allerdings die Textbasis konstant bleibt. Im Fall der Mündlichkeit ändern sich sowohl die Hörerschaft wie auch die gesprochenen Worte, die immer wieder auf neue Zuhörer einzugehen und neue Situationen zu berücksichtigen haben ( audience adjustment ). Somit ergibt sich, dass der mündliche Prozess einen höheren Grad von Variabilität aufweisen kann als der schriftliche. Angesichts dieser medientheoretischen Überlegungen scheint es problematisch, dass die Formgeschichte von der Prämisse ausging, es gäbe ein permanent fixierbares Korrespondenzverhältnis zwischen charakteristischen Gattungen und bestimmten sozialen „Sitzen im Leben“. Bultmann hat die Bedeutung des soziologischen Sitzes im Leben nachdrücklich betont: „Jede literarische Gattung hat also ihren ,Sitz im Leben‘ (Gunkel), sei es der Kultus in seinen verschiedenen Ausprägungen, sei es die Arbeit, die Jagd oder der Krieg“. 59 Diese Deckungsgleichheit von Gattung und Sitz im Leben ist ein Postulat, das der modernen Mündlichkeitsforschung unbekannt ist. Wir haben gesehen, dass besonders in mündlichen Prozessen das Variabilitätsmoment ein beträchtliches Ausmaß erreichen kann. Allerdings ist es bemerkenswert, dass sich Bultmann von einer detaillierten historischen Verortung des Sitzes im Leben ferngehalten hat und es bei sehr allgemeinen Beschreibungen bewenden ließ, etwa wenn er den Sitz im Leben „nicht [als] ein einzelnes historisches Ereignis, sondern eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschaft“ kennzeichnete. 60 Aber ist nicht auch ebenso gut denkbar, dass etwa die sogenannten Streitgespräche, die Wundergeschichten oder Logien keineswegs auf eine gattungsspezifische Situation fixiert waren, sondern in diversen sozialen Situationen 59 Bultmann, Geschichte, 4. 60 Ebd., 4. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 105 erzählt und re-aktualisiert wurden? Zweifelsohne ist der jeweilige Kontext für die moderne Mündlichkeitsforschung eine unerlässliche Komponente mündlicher Sprache, die nicht aus isolierten Entitäten, sondern aus Diskursen besteht, die untrennbar mit einer kommunikativen Biosphäre verbunden sind. Um Kommunikation zu ermöglichen, muss „Kontext“ etwas sein, das Sprecher und Hörer gemeinsam haben und sie verbindet. Darunter könnte man etwa ein aus sozialen, religiösen und ethnischen Werten bestehendes Identitätsbewusstsein verstehen oder traditionelle Gepflogenheiten und Konventionen, kurzum alles, was mit dem von Jan Assman so genannten kulturellen Gedächtnis zusammenhängt. 3.6 Oralität und Literalität Nach dem bisher Gesagten muss die formgeschichtliche Neigung, die oral-literale Differenzierung zu trivialisieren, ernsthaft in Frage gestellt werden. Laut Bultmann ist die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit weder realisierbar „noch von prinzipieller Bedeutung“, 61 und im Grunde „relativ bedeutungslos“. 62 Doch ist die Mündlichkeitsforschung heute insbesondere im nordamerikanischen Raum zu weit fortgeschritten, als dass sie im Interesse einer rein textbezogenen Hermeneutik bagatellisiert werden könnte. Es sollte zu denken geben, dass die von Parry initiierte Forschung und die aus ihr erwachsene Oral-Formulaic Theory mit überraschender Geschwindigkeit einen wahren Siegeszug über weite geographische Gebiete erlebt hat und heute über 100 verschiedene ethnische Traditionen umfasst. Nach Foley haben wir es hier mit „einem der umfassendsten Forschungsprojekte in den Kulturwissenschaften im Laufe eines Jahrhunderts“ 63 zu tun, dessen Tragweite kaum überschätzt werden kann. Angesichts dieser Entwicklung ist die formgeschichtliche Trivialisierung einer zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit differenzierenden Betrachtungsweise ein weiterer Beweis für eine gewisse theoretische Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Mündlichkeit überhaupt. 64 Nun kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit hochgradig interaktive Medien sind, sei es, dass verschriftlichte Überliefe- 61 Ebd., 92. 62 Ebd., 254. 63 Foley, How to Read, 109-113, hier: 109 f. Mit dieser Bemerkung bezieht sich Foley auf das 20. Jh. 64 Bei Bultmann zeigt sich diese Aporie unter anderem darin, dass er dem Begriff der Mündlichkeit aus dem Weg geht. Er bevorzugt es, das mündliche Medium als „unliterarisch“ oder „vorliterarisch“ zu bezeichnen. Wie Hübenthal klar erkannt hat, denkt die Formkritik von der Schriftlichkeit her und versteht Mündlichkeit als unzulängliche oder verbesserungsbedürftige Schriftlichkeit. 106 Werner H. Kelber rung ( scribality ) mit mündlichen Sinneswahrnehmungen und Kompositionsformen verflochten ist, oder dass Texte zum Hören mehr als zum Lesen geeignet erscheinen. Die beiden Medien stehen weder unverbunden nebeneinander, noch folgen sie schiedlich-friedlich aufeinander, vielmehr greifen sie in mannigfacher Weise ineinander, existieren in wechselseitigen Assimilationen und sind verschiedenartig aufeinander bezogen. Das ist deshalb wichtig, weil im Falle der frühen Jesustradition Spuren von Mündlichkeit nur im schriftlichen Medium erhalten sind. In der antiken Kommunikationsgeschichte und weit in das Mittelalter hinein bis hin zur Renaissance und Aufklärung existierten mündliche und schriftliche Sprache in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis und in einer produktiven Partnerschaft. 65 Angesichts dieser Situation ist es gerade die Aufgabe der Kommunikationswissenschaft, diese Verflechtungen verschiedener Medientechniken, die vielfachen Kommunikationsnetze, Selektionsprozesse und Datenkompressionen zu entdecken und zu veranschaulichen. Wir haben später Gelegenheit, das Problem oral-literaler Spannungsverhältnisse noch näher ins Auge zu fassen. Hier soll nur grundsätzlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir intermediale Prozesse ohne ein Mindestmaß an begrifflicher Differenzierung zwischen spezifisch mündlichen und schriftlichen Phänomenen gar nicht beschreiben könnten. Von philosophischer Seite hat Jacques Derrida moderne Konzepte von Mündlichkeit im Blick auf ihre medientheoretischen, theologischen und philosophischen Voraussetzungen einer dekonstruktiven Kritik unterzogen. 66 In ausführlichen Untersuchungen entwickelte er die These, dass die dualistische Prämisse von Oralität und Literalität, wie alle Dualismen, unvermeidlich die Subsumierung der letzteren unter volle orale Gegenwärtigkeit ( plénitude ) nach sich ziehe, die sich letztlich auf die Ursprünglichkeit des Logos beruft. In dem Maße, wie das philosophische und theologische Denken des Westens eine hierarchische Skala oraler vis-à-vis schriftlicher Denk- und Wahrnehmungsnormen etablierte, war es unvermeidlich, dass Oralität mit ihrem Gegenwartsanspruch privilegiert wurde. Mit anderen Worten, wir sind nach Derridas Ansicht der Versuchung unterlegen, Texte phonozentrisch im Interesse einer oralen Metaphysik der Gegenwart zu interpretieren. Jedoch muss aus medientheoretischer Perspektive darauf hingewiesen werden, dass das eigentliche Interesse der Mündlichkeit auf die Performanz von logoi und immer mehr logoi gerichtet ist und eben gerade nicht auf die Reduktion der logoi auf den ursprünglichen Logos abzielt, geschweige denn diesen zu erreichen imstande ist. Nun ist es kaum zu bestreiten, dass die 65 Wenn auch die chirographische Kultur des Westens lange Zeit mnemonischen Mustern, noetischen Schemata und hörerfreundlichen Kompositionspraktiken verhaftet geblieben ist, so hat die Schriftlichkeit doch zunehmend die Vorherrschaft übernommen. 66 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974 (frz.: De la Grammatologie, Paris 1967). Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 107 Bibelwissenschaft bewusst Versuche unternommen hat, die Pluralität der logoi auf den Singular des einen Logos zu reduzieren. Wir werden darauf noch zurückkommen. Doch prinzipiell muss gelten, dass Pluralität, nicht Protologie charakteristisch für Mündlichkeit ist. Darin liegt gerade ihr theologisch-philosophisch Provozierendes: Sie lässt sich nicht von einem einzigen Urwort ableiten, und ihre logoi lassen sich nicht auf einen archē-Logos zurückführen. Könnte das der tiefere philosophische Grund sein, warum die Bibelwissenschaft sich gegen mündliche Hermeneutik so hartnäckig gesperrt hat? 67 3.7 Die Linearität und Evolution der Tradition Das tief in der formgeschichtlichen Methode verwurzelte Paradigma der Linearität hat lange Zeit als überlieferungsgeschichtliches Modell gedient. Schon vor einiger Zeit ist das lineare Modell von Helmut Köster und James Robinson in den Begriff der „Entwicklungslinien“ gefasst worden. 68 Davon abgesehen hat aber die lineare Denkweise ihren Einfluss in vielen Teildisziplinen der historisch-kritischen Forschung ausgeübt, ohne dass dies hinreichend sprachlich identifiziert und reflektiert worden wäre. Medientheoretisch ist ein linguistischer Nexus zwischen idealer Linearität und Schriftkultur nicht von der Hand zu weisen. Erfahrungsgemäß besteht der Schreibprozess darin, Buchstaben, Wörter und Sätze entlang einer Linie nebeneinanderzusetzen und aneinanderzureihen, sodass die geschriebene und mehr noch die gedruckte Seite den Eindruck einer totalen, zeilengleichen Ordnung vermittelt. Nach Ong ist die schriftliche Arbeitsweise eine Technologie, die wie alle Technologien über kurz oder lang verinnerlicht wird und im Unterbewusstsein ihre Wirkung entfaltet. 69 Unter diesen Bedingungen ist es dann völlig naheliegend, Tradition unter dem Einfluss von und im Einvernehmen mit jahrhundertealten Schreibgewohnheiten als geradlinige Entwicklung vorzustellen. Doch wiederum muss betont werden, dass gesprochene Worte in zeitlicher Verfasstheit existieren, räumlich undenkbar sind und am allerwenigsten im Modus eines räumlichen Richtungsindex existieren. Außerdem ist die Frage berechtigt, inwieweit die vorwiegend rhetorische (d. h. pragmatische und dialogische) Kommunikationsarbeit der Antike überhaupt anhand eines (nur durch innertextliche Beziehungen strukturierten) linearen Modells beschrieben werden kann. 67 Vgl. auch Kelber, In the Beginning Were the Words: The Apotheosis and Narrative Displacement of the Logos, in: Imprints, Voiceprints and Footprints of Memory, 75-101. 68 H. Köster / J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971. 69 Ong, Orality and Literacy, 81-83. 108 Werner H. Kelber Eng verknüpft mit dem Paradigma der Linearität ist das Evolutions- oder Wachstumsmodell. Wiederum handelt es sich um einen festen Bestandteil der Formgeschichte, der aber ebenso auch auf die historische Jesusforschung, auf die Erforschung der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte und der Synoptischen Tradition einschließlich der Q-Hypothese, auf die Redaktions- und Kompositionskritik der Evangelien und auf die stemmatologische Methode der Textkritik einen tiefgreifenden Einfluss ausgeübt hat. Das Modell einer Tradition, die sich entlang einer evolutionären Entwicklungslinie bewegt, stufenweise fortschreitet und sich aus kleineren Formen zu größeren Zusammenhängen organisiert, ist visuell optimal vorstellbar und aus diesem Grund mühelos denkbar. Hinzu kommt, dass die Formgeschichte von der „ursprünglichen Form“ ausgeht, von der aus die weitere Überlieferung durch redaktionelle Ergänzungen und Zusätze in einer evolutionären Aufwärtsbewegung ihren Fortgang nimmt. Das Modell scheitert daran, dass die mündliche Tradition nicht das eine Ursprungswort kennt und nicht im chirographischen Sprachraum beheimatet, sondern unvermeidlich in sozialen Kontexten mit all ihren Variablen engagiert ist. Wir haben es nicht mit einem kumulativen , sondern mit einem interaktiven Modell zu tun. 4. Traditionsgeschichtliche Vergangenheitsbewältigung 4.1 Vergegenwärtigung der Vergangenheit „Das kulturelle Gedächtnis ist ein Organ außeralltäglicher Erinnerung“. 70 „Es wird demnach nicht die Vergangenheit als solche bewahrt, sondern perspektivische Ausschnitte von ihr, die beim erneuten Abruf nicht wiedergefunden, sondern konstruiert werden“. 71 Mit der frühen Jesustradition bezeichnet man den Prozess, der die Erinnerung an Jesus und die mit ihm verbundenen Ereignisse aufrechterhält und für die Gegenwart in neue Kontexte stellt. Nach dieser Definition ist der Überlieferungsprozess sowohl auf die Vergangenheit Jesu wie auch auf die Gegenwart von Hörenden und Lesenden bezogen. Demnach besteht die Funktion der Tradition darin, Vergangenes und Gegenwart in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen. Alan Kirk und Tom Thatcher, zwei maßgebliche Befürworter der sogenannten social memory theory , haben dies klar erfasst: „,Tradition‘ ist mithin ein abgekürzter Begriff für die zahllosen Transaktionen, die zwischen sakraler 70 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis , 58. 71 Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 88. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 109 Vergangenheit und der eigentlichen Gegenwart stattfinden, und die für eine Gemeinschaft lebensnotwendig sind“. 72 Diese Beobachtung macht deutlich, dass die Vorstellung eines einfachen und direkten Tradierens von Daten fehlgeht, und dass Überlieferungsprozesse alles andere als eine neutrale, störungsfreie Informationsweitergabe widerspiegeln. Man könnte, anders ausgedrückt, die Überlieferungsgeschichte, insoweit sie sich mit dem befasst, was unwiederbringlich vergangen, erloschen und dem Verschwinden preisgegeben ist, als ein Projekt bezeichnen, das das Risiko auf sich nimmt, sich dem schier unlösbaren Problem der Vergangenheitsbewältigung zu stellen. Im Westen haben sich hierzu zwei Herangehensweisen herausgebildet: Die historische Methode und der Erinnerungsdiskurs. Die historische Methode richtet ihr Augenmerk auf die Vergangenheit, um sie als Vergangenheit zu rekonstruieren, während der Erinnerungsdiskurs bemüht ist, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Das Bestreben auf der einen Seite ist, die Vergangenheit in ihrer historischen Aktualität zu rekonstituieren. Auf der anderen Seite ist die Absicht leitend, Vergangenes im Erinnerungsprozess zu repristinieren. 73 Es ist leicht zu verstehen, dass das hier vorgelegte, von der modernen Mündlichkeitsforschung inspirierte Modell und der Erinnerungsdiskurs komplementär aufeinander bezogene Ansätze sind. In beiden Fällen spielen mentale und neurologische Fähigkeiten, Gehörtes, Geschriebenes und Erlebtes im Gedächtnis zu speichern, eine bedeutende Rolle. Nicht wegzudenken ist das Individuum mit seinen jeweils eigenen Speicherkapazitäten und seinem in Erinnerungsprozessen implizierten Sprachvermögen. Darüber hinaus arbeiten Mündlichkeit und Erinnerung nach dem Prinzip der Selektivität. Es macht gerade die Stärke des mündlichen Mediums aus, dass es nicht auf eine dauerhafte, endgültige Form eingeschworen ist, sondern seine Vitalität aus der Pluralität des Materials schöpft. Zeitlich eingebunden, doch der Räumlichkeit enthoben, funktioniert Mündlichkeit auf eine Weise, die sowohl geprägte Formeln wie deren Varianten, Modifikationen und Neukombinationen zur Geltung bringt. Gleichermaßen ist die Erinnerungsarbeit nicht holistisch, sondern perspektivisch und episodisch ausgerichtet. Orientiert an den Erfordernissen konkreter und situativer Gegenwartsdeutung steuert der Erinnerungs- 72 A. Kirk / T. Thatcher, Jesus Tradition as Social Memory, in: Semeia Studies 52 (2005), 25-42, hier: 33. 73 Das moderne Erinnerungsparadigma geht auf M. Halbwachs zurück, vgl. Ders., Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925. Der Ansatz von Halbwachs wurde von J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung, und politische Identität, München 1992, und A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 zu einem umfassenden kulturgeschichtlichen Paradigma ausgebaut. Hübenthal hat das Verdienst, das Halbwachs-Assmann’sche Erinnerungsmodell auf die Evangelientradition angewendet zu haben, vgl. Dies., Das Markusevangelium, 2014. 110 Werner H. Kelber prozess die Auswahl von Ereignissen oder Erfahrungen, die der permanenten Deutungsarbeit der individuellen oder kollektiven Identität dienen. Vielleicht ist die Beobachtung am wichtigsten, dass beide Paradigmen das Moment der Präsenz miteinander gemein haben. Der Erinnerungsprozess ist, wie wir sahen, ausschließlich an der Vergegenwärtigung des Vergangenen interessiert, und Oralität ist, wie Derrida nicht zu Unrecht insistierte, das Gegenwartsmedium par excellence . Somit ergibt sich, dass die beiden Paradigmen der Mündlichkeit und des Erinnerungsdiskurses aufs engste kooperieren, fließende Grenzen haben und nicht selten eine einheitliche Perspektive einnehmen. Sobald die überlieferungsgeschichtliche Problematik die Faktoren der Mündlichkeit und Erinnerung berücksichtigt, kann die Frage nicht mehr lauten: Was hat die überkommene Tradition an historischen Fakten übermittelt? Die Aufgabe besteht nun nicht mehr darin, hinter den Text zurückzufragen und sich auf die Suche nach seinen historisch verlässlichen Anteilen in Gestalt der „ursprünglichen“ Worte Jesu zu begeben. Vielmehr ist es ratsam, der These Jan Assmanns Beachtung zu schenken: „Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es Gedächtnisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird“. 74 Mit dieser These wird der Überlieferungsprozess eo ipso zur Erinnerungsgeschichte . Dann fragen wir: Mit welchen Mitteln wird Vergangenheit vergegenwärtigt und welcher Art sind die überlieferten Daten? Sandra Hübenthal hat den neuen Sachverhalt auf eine knappe Formel gebracht: Es geht darum, „was hier in welcher Form erinnert wird“. 75 Das Was und das Wie sind eng verkoppelte Fragestellungen, denn was von Vergangenem in die Gegenwart hinübergerettet werden kann, hängt in nicht geringem Maße vom Potential des Überlieferungsmediums ab. Was nun den eigentlichen Vorgang des Überlieferungsprozesses anbelangt, so verdanken wir wiederum Jan Assmann eine treffende Formulierung: „Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung“. 76 Man sollte diesen Satz eine Weile auf sich wirken lassen, um sich der Konsequenzen dieser gewichtigen These voll bewusst zu werden. Sie will besagen, dass sich Vergangenes nicht unvermittelt einstellt, und dass es nicht unmittelbar zugänglich, sondern wenn überhaupt nur in medialisierter Form zu haben ist. 77 Mit anderen Worten, der Überlieferungsprozess ist im wahrsten Sinne des Wortes 74 Assmann, Moses der Ägypter, 26. 75 Hübenthal, Das Markusevangelium, 44. 76 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48. 77 Für Assmann gilt das auch für die historische Methode: „Ich möchte daher bezweifeln, ob es so etwas wie einen historischen Sinn wirklich gibt und halte den Begriff des kulturellen Gedächtnisses hier für vorsichtiger und angemessener“. Ders., Das kulturelle Gedächtnis, 67. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 111 eine Vermittlungsgeschichte: Er bedient sich besonderer Mittel, um den komplexen Vorgang des Transfers von in der Vergangenheit Geschehenem in die Gegenwart zu bewerkstelligen. 4.2 Stilisierte Sprache und Vorstellungswelt Diesen Überlegungen folgend lenken wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die sprachliche Eigenart des Evangeliums und die darin zu Wort kommende Vorstellungswelt. Die längst zur Gewohnheit gewordene Lektüreweise des Evangeliums hat uns weithin das Empfinden dafür genommen, dass wir es in der Erzählwelt des Evangeliums nicht mit Alltagssprache und Alltagsidentität zu tun haben. Genauer gesagt: Insoweit wir uns der Außeralltäglichkeit der Erzählung bewusst sind, erklären wir diese oft unreflektiert in Bezug auf die außerordentliche historische Persönlichkeit des Protagonisten. Hierbei kommt es zu einer Verkürzung der überlieferungsgeschichtlichen Perspektive, ein Vorgang, der uns vergessen lässt, dass hier nicht nur historische Formgesetze im Spiel sind. Es muss auffallen, dass Alltagsleben und Alltagsidentität in der Evangelienerzählung unberücksichtigt bleiben. Leser oder Hörer suchen vergeblich nach Bildern aus dem werktäglichen, landläufigen, sattsam bekannten Leben, nach Berichten über sich im Alltagshorizont abspielende Vorgänge, nach der Einförmigkeit von small talks , oder dem Einerlei und Vielerlei des Alltagslebens - alles Dinge, die aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken sind und es zum Teil sogar überhaupt ausmachen. 78 Geprägt von einer gewissen Alltagsenthobenheit erweckt das Evangelium den Eindruck einer überhöhten oder idealisierten Erzählweise. 79 Es ist nicht verwunderlich, dass eine Erklärung der sprachlichen Eigenart der Evangelienerzählung auf terminologische Schwierigkeiten gestoßen ist. Versuchsweise hat man von „Kunstsprache“ oder „Sondersprache“ gesprochen , was allgemein zutreffend ist, jedoch nicht zum Kern der Sache vordringt. Im englischen Sprachraum sind Begriffe wie register oder dedicated medium in Gebrauch. Register , ein aus der Computertechnologie entnommener Begriff, bezeichnet den Speicherbereich von Daten, die darauf warten verarbeitet zu werden oder gerade in Verarbeitung sind. In ähnlicher Weise beschreibt das de- 78 Entgegen der landläufigen Meinung sollte man sich m. E. bei der Interpretation der Gleichnisse nicht auf die Beschreibung des Alltäglichen festlegen, die nicht das letzte Wort sein kann. Nachfolgend ist zu zeigen, dass die Gemeinplätze des galiläischen Landlebens letztlich nur als hermeneutischer Anknüpfungspunkt für eine metaphorische Überhöhung dienen. 79 Die Begrifflichkeit von Alltagsidentität, Alltagswelt, Ausseralltäglichkeit, Alltagsentpflichtung und Alltagsenthobenheit stammt von Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48-56. 112 Werner H. Kelber dicated medium eine aus einem Reservoir von idiomatischen Ausdrucksweisen, thematischen Konfigurationen, und kodifizierten Daten schöpfende Sprache. Im Bemühen das Gemeinte noch klarer zu fassen, geht die hier postulierte These davon aus, dass die stilisierte Sprache und Vorstellungswelt der Evangelienerzählung, trotz aller historisierenden Veranschaulichung, nicht alleine von historischen, sondern maßgeblich von oral-memorialen Kommunikationsdynamiken bestimmt sind. Für das Verständnis der sprachlichen Eigenart und besonderen Darstellungsweise des Evangeliums ist der Umstand maßgeblich, dass sie unter dem Druck memorialer Erfordernisse und oraler Überlieferungsprozesse entstanden sind. Wenn wir diese These nun anhand ausgewählter Einzelelemente des Evangelientextes illustrieren, so geht es grundsätzlich darum, formelgeprägte Sprache sowie Erzähl- und Denkweisen zu erheben. Wir unternehmen den Versuch, Gedächtnisspuren zu finden und zu verfolgen, die nicht als Abbild einmaliger Ursprünglichkeit, sondern als Niederschlag eines Überlieferungsprozesses verstanden werden. Wir sind heute vorsichtig geworden, Teilstücke aus der Gesamtkomposition herauszulösen und in einem festen Sitz im Leben zu lokalisieren. Aus der vorangegangenen Diskussion sollte ersichtlich sein, dass es nicht unser Bestreben sein kann, sich rekonstruktiven Phantasien hinzugeben und dem Ideal oraler Ursprünglichkeit nachzujagen. Andererseits sind wir heute besser als frühere Generationen über verbale Praktiken und deren Implikationen im Kontext der antiken Kommunikationskultur informiert, und wir sind dank des kurz umrissenen medientheoretischen Forschungsüberblicks in der Lage, den Text des Evangeliums aus der Perspektive medialer Dynamiken und Verflechtungen neu zu durchdenken. Bekanntlich sind die Geschichten von Jesus als Heiler von einer formgeprägten Kompositionstechnik strukturiert, zeigen zugleich aber eine gewisse Variationsbreite und funktionale Flexibilität. 80 Es fällt auf, dass der narrative Schwerpunkt der Heilungsepisoden zwar auf Jesus, nicht aber auf einer differenzierten Ausgestaltung seiner Persönlichkeit liegt. Offensichtlich gehört die individuell gestaltete Charakterisierung nicht zu den Stärken und auch nicht zu den Anliegen dieses narrativen Stils. Die Erzählungen sind erkennbar wenig geneigt, die Persönlichkeit Jesu in all ihrer psychologischen Vielschichtigkeit zu entfalten. Indem die Jesusfigur überhöht wird, wird sie zugleich bis hin zur Eindimensionalität reduziert. Dem Prinzip der Selektivität folgend, liegt der Nachdruck auf dem einen Wesensmerkmal von Jesu heilender Tätigkeit, und dieses wird ins Monumentale gesteigert. Jesus wird, mit anderen Worten, seiner menschlichen 80 Mk 1,29-31; 1,40-45a; 2,1-12; 3,1-6; 5,21-24.35-43; 5,25-34; 7,24-30; 7,31-37; 8,22-26; 10,46-52. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 113 Alltäglichkeit enthoben und zu einer kommunikations- und erinnerungsfähigen Figur typisiert . 81 Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen ähnlicher Art lassen sich auch an den Erzählungen über Jesu Exorzismen anstellen. 82 Standardisierende Strukturierung paart sich mit kompositorischer Flexibilität. Das Leitmotiv dieser Geschichten ist die dramatische und visuell eindrucksvolle Konfrontation Jesu mit den Mächten des Bösen. In der Fixierung auf gewaltsame Polarisierung erkennen wir die Präsenz des agōn -Motivs, das Ong einprägsam beschrieben und erklärt hat. 83 Kampf und Wettstreit, Krieg und Gewalt, Konflikte und kämpferische Auseinandersetzungen, Rivalitäten und persönliche Verunglimpfungen des Gegners, Fehden und Wortgefechte sind nach Ong bevorzugte Themen in vorwiegend oralen Kulturen und Gattungen. Wiederum ist festzustellen, dass die Darstellung extremer Polarisierung in den Exorzismuserzählungen mnemonischen Erfordernissen entgegenkommt, indem sie den Fokus auf das Außerordentliche richtet und das Alltägliche ausblendet. 84 Man erinnert sich nicht an das Glas im Fenster, sondern an den Bruch im Glas. 85 Die sogenannten Streit- und Schulgespräche machen sich den rhetorischen Mechanismus von Dialog und Disputation zunutze. 86 Generell lässt sich sagen, dass in diesen Erzählungen drängende Fragen des Umgangs mit sozial Ausgestoßenen, der Fastenpraxis, des Sabbatgebotes, der Ehescheidung, des persönlichen Eigentums und der Steuerzahlung behandelt werden. Regelmäßig zielt die Diskussion auf die Übermittlung von Werten und sozialen Normen, die in einem abschließenden Jesuswort artikuliert werden. Es ist bemerkenswert, dass die zu vermittelnden Wertperspektiven nicht in einer philosophischen Abhandlung oder in ethischen Lehrsätzen niedergelegt sind, sondern vielmehr in einem didaktischen Modell ausgehandelt werden. Nur eine Denkweise, die sich von mündlichen Formvorgaben entfernt hat, könnte auf die Idee kommen, nach dem Wesen der Gerechtigkeit, der Definition von Frömmigkeit, oder dem Sinn sozia- 81 Von Assmann stammt der Begriff der Erinnerungsfigur; vgl. Ders., Das kulturelle Gedächtnis, 37-42, 168, 200-202. 82 Mk 1,21-28; 5,1-20; 9,14-29. 83 Ong, Orality and Literacy, 43-45. 84 Das Thema der Gewalt ist in der Literatur allgegenwärtig. Ong vertritt die Meinung, dass die Darstellung exzessiver physischer Gewalt die epische Literatur in besonderem Maße prägt, dass sie aber „in späterer literarischer Erzählkunst immer mehr nachlässt und an den Rand gedrängt wird“, so Ders., Orality and Literacy, 44. 85 Zweifellos haben die Erzählungen auch eine Funktion im größeren Textzusammenhang, erfahrungsgemäß werden aber, wenn die Analyse sich hierauf konzentriert, ihre im oral-memorialen Überlieferungsprozess wichtigen funktionalen Eigenschaften übersehen. 86 Mk 2,15-17.18; 2,23-28; 10,2-9; 10,17-22; 12,13-17. 114 Werner H. Kelber ler Verantwortung zu fragen. Zwar stehen Prinzipienfragen im Hintergrund, aber die Antworten werden nicht direkt in thetischer Form gegeben, sondern in einem dialogischen Geben und Nehmen ausgehandelt. Werte werden nicht auf einer abstrakten Definitionsebene dokumentiert, sondern in einem Wortwechsel konkretisiert. Im Gegensatz zu den Heilungserzählungen, den Streitgesprächen und den didaktischen Geschichten stützen sich die Gleichnisse 87 nicht auf eine einheitliche kompositorische Struktur. Zwar sind die einzelnen Gleichnisse mnemonisch strukturiert, aber es gibt kein übergreifendes Muster, das den Gleichnissen etwa des MkEv zugrunde läge, geschweige denn denen der gesamten synoptischen Tradition. Das bedarf einer Erklärung. Auffallend ist, dass die Gleichnisse sich mit einer trügerischen Selbstverständlichkeit in Gemeinplätzen des galiläischen Landlebens bewegen. Wie wir sahen, stimuliert das Alltägliche zwar die Identifikation mit dem Erzählten, aber es trägt wenig zur Gedächtnisarbeit bei. Nun erschöpft sich allerdings der parabolische Prozess nicht in der Informationsvermittlung über Säen und Wachstum, Senfkorn und Feigenbaum, die Verpachtung eines Weinbergs und einen Hausbesitzer, der außer Landes zieht. Vielmehr ist der springende Punkt aller Gleichnisse der, dass ihr Sinngehalt nicht völlig in der wörtlichen Eindeutigkeit aufgeht. Alle Gleichnisse haben eine metaphorische Qualität. 88 Sie appellieren an die Hörerschaft, eine außerhalb der dargestellten Realität liegende Wirklichkeit wahrzunehmen. Darum die Weckformel: „Wer Ohren hat zu hören, der höre“. Gerade weil Gleichnisse ein hermeneutisch unvollendetes Sprachereignis sind und es an den Hörenden liegt, den parabolischen Prozess zu aktualisieren, sind die gleichnishaften Erzählungen nicht nur für Hörende geschaffen , sondern elementar von ihnen abhängig . Parabeln sind ein orales Genre par excellence . Hierin mag auch der Grund dafür liegen, dass sie sich nicht in ein einheitliches Muster einordnen lassen. Klare Definitionen und feste Strukturen haben ihren Sinn in der parabolischen Rede eingebüßt. Etwas ist in der Gleichniserzählung ungesagt geblieben, und eben dieses Ungesagte ist es, was von Bedeutung ist. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der mündliche Charakter der Evangelien insgesamt Gefahr läuft, von den Interessen der neueren narratologischen Forschung verdeckt werden. Zwar hat der narrative criticism das unleugbare Verdienst, die Fragmentierung des Evangelientextes überwunden und die Gesamterzählung in den Blick genommen zu haben. Zweifellos haben narratologische Analysen eine ständig wachsende Anzahl von intertextuellen 87 Mk 4,3-8; 4,26-29; 4,30-32; 12,1-11; 13,28.34. 88 S. McFague, Speaking in Parables: A Study in Metaphor and Theology, Philadelphia 1975; P. Ricoeur, The Rule of Metaphor, übersetzt von R. Czerny / K. McLaughlin / J. Costello, Toronto/ Buffalo, 1977. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 115 Vernetzungen ans Licht gebracht und uns dadurch das schier unermessliche hermeneutische Potential des Erzähltextes vor Augen geführt. Doch jeder methodologische Neuansatz fordert seinen Preis. Bei aller Wertschätzung der narratologischen Forschungsergebnisse besteht die Gefahr, dass der Text mit Kriterien des modernen New Criticism gelesen wird und seine ausnehmend orale Disposition dabei aus dem Blick gerät. 89 Wenn diese nun noch einmal in Erinnerung gerufen wird, dann nicht, um den Text erneut formkritisch zu zerlegen, sondern um bei aller Anerkennung der Erzählchoreographie die tiefe Verwurzelung des Evangeliums im mündlichen Traditionsstrom nicht aus den Augen zu verlieren. Wir beginnen mit der in der Folklore bekannten dreifachen Kompositionsform, die ein strukturbildendes Element des Erzählstils ist. Drei Jünger werden innerhalb der Zwölf abgesondert, dreimal sagt Jesus Leiden und Auferstehung voraus, dreimal spricht er zu drei Jüngern in Gethsemane, dreimal betritt er Jerusalem, und dreimal verleugnet Petrus seinen Herrn. Die Dreizahl ist erkennbar kein historisches, sondern ein stilistisches Merkmal, dessen rhythmische Struktur dem Rezitationscharakter des Evangeliums entgegenkommt. Neben der Dreizahl zeichnet sich der Evangelientext durch eine Vielzahl von Pleonasmen, Tautologien und Paarbildungen aller Art aus, letztere vielleicht das konventionellste Stilmittel mündlicher Kommunikationsweise überhaupt. 90 Wir greifen nur einige Beispiele solcher paarweiser Formationen heraus: Zusammengesetzte Verben gefolgt vom selben Präfix (1,16: paragōn para ; 15,32: kai synestaurōmenoi syn autō ); Verdoppelung verwandter Verben (8,6-7: paratithōsin … parethēkan … paratithenai; 14,45: elthōn euthys proselthōn ); doppelter Imperativ (4,39: siōpa, pephimōso ; 15,36: aphete idōmen ); doppelte Negation (1,44: mēdeni mēden eipēs ; 13,32: oudeis oiden … oude … oude ); tautologische Zeitangaben (1,32: opsias de genomenēs, hote edy ho hēlios ; 15,42: ēdē opsias genomenēs … ho estin prosabbaton ); Wiederholung eines Motivs (3,21-22: exestē … Beelzebul echei ; 14,41: katheudete to loipon kai anapauesthe); doppelte Frage (2,7: ti houtos houtōs lalei; tis dynatai aphienai hamartias ; 8,17: oupō noeite oude syniete ); Wiederholung einer gewährten Bitte (5,12f: eis autous eiselthōmen … eisēlthon eis tous choirous ; 6,56: hapsōntai … kai hosoi hēpsanto ). Diese Paarbildungen sind sämtlich keine stilistischen Mängel, sondern ein auf das Hören ausgerichtetes Stilmittel: Wie im Leseprozess das Auge bereits Gehörtes wieder aufsuchen 89 Zu den Anleihen der narrativen Kritik beim New Criticism vgl. v. a. Moore, Literary Criticism and the Gospels, 9-12, passim. 90 F. Neirynck hat dem Phänomen der Dualität im Markusevangelium ein ganzes Buch gewidmet, vgl. Ders., Duality in Mark. Contributions to the Study of the Markan Redaction, Louvain 1972. 116 Werner H. Kelber kann, so wird dem Ohr durch Wiederholung bereits Gehörtes erneut in Erinnerung gebracht. Andere Stilmittel dienen dazu, die gegenwärtige Aktualität des Vergangenen zu verdeutlichen: der ungewöhnlich häufige Gebrauch des historischen Präsens, vorwiegend mit den Verben legein (8,12; 14,67) und erchesthai (1,40; 16,2); regelmäßige Verwendung des adverbialen euthys und kai euthys (1,29; 6,54); iteratives palin , häufig in Verbindung mit Verben der Bewegung (2,1; 7,31) und des Sprechens (4,1; 10,1); und die auffallende Vorliebe für das parataktische kai (9,2; 11,20). Insgesamt forcieren diese Stilmittel die Erzählgeschwindigkeit, aktualisieren die narrative Lebendigkeit, und vermitteln einen hohen Grad an Unmittelbarkeit, alles Elemente, die die Vergangenheit als gegenwärtiges Geschehen erscheinen und die Hörenden an der Erzählung teilhaben lassen. 5. Fünf Arten von Gedächtnisarbeit „Die präzise Beschaffenheit des Verhältnisses von Erinnerung und Überlieferung im frühen Christentum ist und bleibt ein ungelöstes Problem“. 91 „Mündliche Kulturen kleiden ihre Gedanken nicht etwa ergänzend in Antithesen, Proverbien und andere geprägte Formen und Gedächtnismuster, sondern ihre Gedanken bestehen von Anfang an aus solchen Elementen“. 92 Erinnerung hat in den voranstehenden Ausführungen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, zuerst im Zusammenhang mit der Formgeschichte und ihrem Konzept von Überlieferung ohne jeden Rekurs auf Erinnerungsprozesse. Dagegen war die grundlegende Bedeutung von Memoria/ Mnemosyne zu betonen, die sich wie ein roter Faden durch die antike Kommunikationskultur zieht. Wir gelangten sodann zu dem von Jousse entwickelten globalen, anthropologischen Paradigma, in welchem das Gedächtnis eine Schlüsselposition besetzt. Schließlich war darauf hinzuweisen, dass Erinnerung wesentlicher Bestandteil eines Überlieferungsprozesses ist, in dem sich die Vergegenwärtigung der Vergangenheit vollzieht. Angesichts dessen liegt es nahe, den Begriff der Erinnerungsgeschichte aufzunehmen. Wir beschließen also diesen Beitrag mit einer zusammenfassenden Darstellung der frühen Jesustradition als einer Erinnerungsgeschichte . Die fünf Arten von Gedächtnisarbeit, mit denen im Folgenden der Überlieferungsprozess identifiziert wird, stellen gewissermaßen ein Gegenstück zu den sieben Anfragen an die Formgeschichte dar, wobei aber die einzelnen Elemente der Gedächtnisarbeit nicht in einem direkten Korrespon- 91 A. Kirk, “Memory”, 163 92 Ong, “From Epithet to Logic”, 191. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 117 denzverhältnis zu denen der Formgeschichte stehen. Wichtig ist, dass der Kritik an der Formgeschichte ein neues Traditionsmodell entgegengesetzt wird. 5.1 Die memoriale Strukturierung der Jesusworte In erster Linie ist festzuhalten, dass wir mit einem Nexus zwischen der Tätigkeit des Gedächtnisses und Jesu eigener Botschaft rechnen müssen, und dass diese Gedächtnistätigkeit von ihren sozialen Kontexten, in denen sie sich äußert, niemals isoliert werden kann. Nachdem wir im vorangegangenen Abschnitt beispielhaft vorgeführt haben, dass die szenische Organisation der Jesusüberlieferung wie auch die Erzählweise der Gleichnisse entsprechend ihrer memorialen Funktion strukturiert und stilisiert sind, können wir uns nun auf die Worttradition beschränken. Wiederum ist zu betonen, dass eine Unterscheidung von authentischen und unauthentischen Jesusworten außerhalb der Konzeption eines erinnerungsgeschichtlichen Überlieferungsprozesses liegt. Für ein konzeptuelles Verständnis des Traditionsstoffs kann es nicht von Relevanz sein, ob die Worte von Jesus selbst oder in seinem Namen gesprochen wurden, im Verschriftlichungsprozess der Evangelien entstanden oder als Zitate fortlaufend wiedergegeben wurden - sofern solche Unterscheidungen im Traditionsstrom überhaupt praktikabel und durchführbar sind. Ein von medientheoretischen Prämissen geprägtes Denken interessiert sich neben dem „Was“ für das „Wie“ ihrer Überlieferung, nämlich wie die Worte aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit überlieferungsfähig wurden, um im Traditionsstrom fortleben zu können. Ein Blick auf die reiche Worttradition des MkEv lässt erkennen, dass Jesusworte zum großen Teil von ihren mnemonischen Erfordernissen her strukturiert sind. Man könnte geradezu von „mnemonischen Kreationen“ sprechen. Einige wenige Beispiele aus dem Markusevangelium sollen einen Einblick in die mnemonische Sprechkultur der Jesusworte vermitteln, so etwa Mk 2,27 „Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, und nicht der Mensch um des Sabbats willen“. Dies ist ein zweistufiger Parallelismus mit positiv-negativer Antithese. In Mk 4,9 „Wer Ohren hat zu hören, der höre! “ liegt ein Doppelungseffekt von akouein und akoueto vor. Bei Mk 4,25 „Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und wer nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat“ handelt es sich um eine zweistufige, diametrale Opposition. Mk 7,15 „Nichts kommt von außen in den Menschen hinein, das ihn verunreinigen kann, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen verunreinigt“ ist ein progressiver Parallelismus, der mit der Antithese von außen und innen arbeitet. Mk 8,35 „Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der 118 Werner H. Kelber wird es retten” ist ein zweistufiger Parallelismus mit doppelter Antithese mit „retten und verlieren“ auf beiden Stufen, und der Inversion dieser Antithese auf der zweiten Stufe zu „verlieren und retten“. Mk 8,38 „Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt […], dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen“ arbeitet mit einem progressiven Parallelismus, der den Gedankengang wiederholend weiterführt. In Mk 9,37 „Wer ein solches Kind um meines Namens willen aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat” kommt ein zweistufiges Verfahren zur Anwendung, wobei die zweite Stufe den Gedankengang der ersten antithetisch fortführt. Mk 9,40 „Denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns“ ist antithetisch konstruiert. Mk 10,31 „Viele aber, welche Erste sind, werden Letzte sein, und die Letzten Erste“ bietet eine positiv-negative/ negativ-positive chiastische Konstruktion. Mk 10,39 „Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden“ besteht aus einem thematischen Parallelismus, der den Sinngehalt der ersten Stufe auf der zweiten Stufe mit anderen Worten wiederholt. Mk 2,21f „Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch an ein altes Kleid, denn der neue Lappen reißt doch vom alten, und der Riss wird ärger“ verarbeitet die Antithese von neu und alt. Mk 10,13-16 „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solchen ist das Reich Gottes. Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ wiederholt antithetisch „Kinder“ und „Reich Gottes“. Mk 11,22-25 stellt mit „Glauben an Gott“ - „bergeversetzender Glaube“ - „Bitten im Gebet/ Empfangen“ - „Beten/ Vergeben“ eine Bündelung von vier aphoristischen, thematisch aneinandergereihten Worten dar. Alle diese Beispiele weisen in hohem Maße strukturelle Gemeinsamkeiten auf. Ein gedächtnisstützendes Gerüst von Doppelungen, Polarität und Antithese strukturiert alle diese Worte. Zu betonen ist, dass diese Stilelemente nicht ergänzend in die mündliche Diktion eingetragen wurden, dass vielmehr diese Diktion substanziell aus antithetischen Konstruktionen gebildet ist. Dies bringt auch das an den Anfang dieses Abschnitts gestellt Zitat von Ong zur Geltung: In von Mündlichkeit geprägten kulturellen Kontexten vollzieht sich das Denken und Sprechen nachweislich in binären Strukturen. Jousse bringt dies plausibel mit der psychosomatischen Beobachtung in Verbindung, dass der antithetische Sprechstil in rhythmischem Einklang mit der bipolaren Funktionsweise des menschlichen Gehirns steht. 93 Für eine mnemonische Ökonomie des Überlieferungsprozesses ist diese psychosomatische Komponente von grundlegender Bedeutung. Zugleich stellen paarige Konstruktionen einen Stabilisierungsfak- 93 Jousse, Memory, Memorization and Memorizers. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 119 tor dar, denn „Formeln sind nichts anderes als Zwänge“. 94 Hier wird die Ironie formelgeprägter Sprache deutlich erkennbar: Lebendige Sprache muss in feste Formeln geprägt werden, um auf diese Weise ihr Überleben zu sichern und sie wiederholungsfähig und damit überlieferungsfähig zu machen. Aber die Stabilisierung mittels paarweiser, polarisierender und antithetischer Formulierungen ist ein überaus wichtiges Element im iterativen Verhalten von Tradition. Sie ermöglicht es, dass die formelgeprägten Wendungen nicht nur einmal, sondern mehrmals an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und vor verschiedenen Hörern gesprochen werden können. Wir müssen versuchen uns klarzumachen, was unter den Bedingungen mündlicher Kommunikation passiert, wenn ein Sprecher ein vormals gesprochenes Wort reaktiviert, indem er es erneut ausspricht. In diesem Moment liegt eine Spanne Zeit zwischen seinem früheren Verlauten und der Gegenwart des Sprechers. Nun muss die Erinnerung einspringen, um das früher einmal gesprochene Wort wieder ins Bewusstsein zu rufen und erneut wirksam werden zu lassen. Jedoch hat dann, wie zu zeigen war, das erneut gesprochene Wort denselben Stellenwert wie das zuvor gesprochene. Der Sprecher ist sich weder der Unterscheidung von „ursprünglichem Wort“ und davon abweichenden Varianten bewusst, noch einer inhaltlichen Differenz zwischen der früheren gegenüber der gegenwärtigen Aussage. Auch versteht er das erneut gesprochen Wort strenggenommen nicht als eine Wiederholung. John M. Foley ist einer der wenigen, die das Konzept der Wiederholung in seiner Tiefe erfasst haben: „Wiederholung ist in Wirklichkeit eine falsche Bezeichnung“. 95 Stattdessen schlägt er vor, von „Neuschöpfung“ zu sprechen. Erst die Verschriftlichung und mehr noch die gedruckte Schrift vermag Wiederholungen und Varianten als solche erkennbar zu machen. Was für chirographische und typographische Wahrnehmung Wiederholungen und Varianten eines ursprünglichen Wortes sind, wird in der oralen Erfahrung als Pluralität authentischer Worte wahrgenommen. Möglicherweise kommt der von mir vorgeschlagene Begriff der Gleichursprünglichkeit einer Beschreibung iterativer und doch gleichwertiger Worte noch am nächsten. 96 Was vom Standpunkt unserer typographischen Kultur aus gesehen Wiederholungen sind, das sind im Kontext mündlicher Kommunikation Neuschöpfungen. Wiederum sind wir uns der Schwierigkeiten bewusst, die Vorstellungswelt und Ausdrucksformen einer vorwiegend mündlichen Kultur nachzuempfinden. 94 Ong, Orality and Literacy, 64. 95 Foley, Immanent Art. From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic, Bloomington/ Indianapolis 1991, 56. 96 Kelber, Imprints, Voiceprints and Footprints of Memory, 77-80, 404-408, 422. 120 Werner H. Kelber 5.2 Erinnerung und Tradition Zweitens besteht unabweisbar eine enge Bindung von Jesu Verkündigung an die Geschichte und Tradition seines Volkes. Diese Bindung ist aber ohne eine konstitutive Rolle des Gedächtnisses schwerlich vorstellbar. Allzu oft wurde Jesus in der modernen Rezeptionsgeschichte als genialer Einzelgänger dargestellt, der den exklusiven Ausgangspunkt seiner eigenen Tradition konstituierte, eine Vorstellung, die von der formkritischen Denkweise zumindest indirekt begünstigt wurde, wenn sie Jesu ipsissima verba oder deren ipsissima structura isolierte und für die alleinige Grundlage seiner Verkündigung und der synoptischen Tradition erklärte. Dieses Verfahren musste früher oder später den Eindruck erwecken, als hätte die Geschichte der Jesustradition an einem Nullpunkt ihren Anfang genommen. Historisch ist es jedoch nicht sinnvoll, die Bedeutung Jesu darin zu sehen, dass er sich von der biblisch-jüdischen Tradition distanzierte, um eine völlige Neuorientierung anzubahnen. Marcel Jousse und Birger Gerhardsson haben als ausgewiesene Kenner des antiken Judentums die Verbundenheit Jesu mit der biblisch-jüdischen Tradition nachdrücklich hervorgehoben. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Jousse einen völlig anderen Weg einschlug als die Formgeschichtler, und dass Gerhardsson bewusst ein Gegenmodell zur Formgeschichte entwarf. Nach Jousse wuchs Jesus in der aramäischen Sprache auf, beherrschte meisterhaft alle Spielarten der mündlichen Kommunikation seiner galiläischen Heimat, und er lernte und lehrte die Schrift in der Form des aramäischen Targums. Bemerkenswert ist etwa Jousses Beobachung, dass sich alle Strophen des Vaterunsers in aramäischen Targumen nachweisen lassen. Traditionsgeschichtlich sah Jousse die Bedeutung des Herrengebets darin, dass es in der aramäischen Tradition liegende Komponenten aufgegriffen und zu einer neuen Synthese vereint hat. Somit ist für Jousse das Vaterunser bezeichnend für Jesu Sprache im Rahmen der aramäischen Erinnerungsgeschichte : Innerhalb eines traditionsgebundenen Erinnerungsdiskurses stehend und aus dem Reservoir der Tradition schöpfend realisierte er eine Neuschöpfung der Erinnerung. 97 97 Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers, 380-387, 394-396. Bekanntlich werden die aramäischen Targume meist auf einen späteren Zeitpunkt datiert. Jousse war allerdings der Ansicht, dass die galiläische Landbevölkerung bereits im 1. Jh. des Hebräischen unkundig und damit auf die Übersetzung der hebräischen Schriften ins Aramäische angewiesen war. Heute ermöglichen uns die aramäischen Texte von Qumran den Status der aramäischen Targums im 1. Jh. besser zu erfassen. Für eine nuancierte Beurteilung des Einflusses der targumischen Tradition auf Jesus und die frühe Jesustradition vgl. B. Chilton, Aramaic, Jesus, and the Targumim, in: J.H. Charlesworth (Hg.), Jesus Research: New Methodologies and Perspectives, Grand Rapids 2014, 305-334. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 121 Ähnlich wie Jousse hat Gerhardsson sein Erklärungsmodell für den Überlieferunsprozess der frühen Jesustradition mit Hilfe von Analogien im rabbinischen Judentum tannaitischer und amoräischer Prägung gewonnen. Gerade deswegen sah sich sein wichtiges Werk Memory and Manuscript 98 scharfer Kritik ausgesetzt, die sich hauptsächlich auf seine Rückdatierung rabbinischer Traditionen in das 1. Jh. konzentrierte. Bedauerlicherweise wurde dabei die volle Tragweite seines Werkes meist ignoriert. 99 Von seinen vielen Verdiensten will ich drei besonders hervorheben: Zum einen hat er die zentrale Bedeutung des Gedächtnisses und den unaufgebbaren Synergismus von Gedächtnis und Überlieferung in den Vordergrund gerückt. Anfang der 60er Jahre, als die Formgeschichte deutscher Prägung das beherrschende Paradigma war, musste die Einführung des Gedächtnisses als Leitmetapher der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte eine umstrittene These sein. Zweitens legte er großen Wert darauf, dass Jesus und seine Tradition in den Kontext der biblisch-jüdischen Geschichte zu stellen sind. Die frühe Jesustradition bleibt nach seiner Auffassung unverständlich, wenn man Jesus selbst oder die frühe Kirche zum Anfangspunkt erklärt. Beide sind historisch nur fassbar, wenn sie im Zusammenhang mit „der Tradition der Tora in ihrer mündlichen und schriftlichen Form“ gesehen werden. 100 Drittens darf nicht vergessen werden, dass Gerhardssons Kommunikationsmodell die konkreten Abläufe der jüdischen und frühchristlichen Überlieferungsprozesse in beispielloser Weise verdeutlicht hat. Wie kaum jemand unter den Bibelwissenschaftlern seiner Zeit hat er sich mit der psychosomatischen Interaktion von Ton, Klang und menschlicher Interiorität, der auditorischen Funktion der meisten antiken Schriften, den mnemonischen Techniken formelgeprägter, rhythmisch kantillierter Sprache, dem zwischen Schülern und Lehrer bestehenden Imitationsverhältnis, dem Zusammenwirken von Rezitation, Repetition und Gedächtnis und nicht zuletzt mit der memorialen Bindung Jesu an seine Tradition beschäftigt. Obwohl Gerhardsson de facto die Tradition als eine Gedächtnisgeschichte konzipierte, erweckt seine Auffassung von einer wortgetreuen, zuweilen nahezu mechanistisch erscheinenden Jesustradition den Anschein, dass er die individuelle, mentale Komponente des Gedächtnisses auf Kosten von sozialen Zusam- 98 B. Gerhardsson, Memory and Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Lund 1961. 99 In dem Bestreben ein ausgewogenes Verständnis des Werkes Gerhardssons zu erzielen, habe ich zusammen mit S. Byrskog den Band Jesus in Memory, Traditions in Oral and Scribal Perspectives (Waco 2018) veröffentlicht, der Beiträge von C. Tuckett, T.C. Mournet, D. Aune, M. Jaffee, L. Alexander und A. Kirk enthält. Die Aufsätze tragen dazu bei, Gerhardssons bahnbrechendes Werk in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. 100 Gerhardsson, Memory and Manuskript, 324. 122 Werner H. Kelber menhängen überbewertet hat. Tatsächlich hat er jedoch den sozialen Kontext der jüdischen Überlieferungsgeschichte als ihre unabdingbare Voraussetzung vorbildlich vor Augen geführt. Stärker zu betonen wäre allenfalls, dass Oralität stets kontextbezogen und Verschriftlichung in antiken Kommunikationssystemen in der Regel hörerorientiert ist. 101 Zusätzlich ist zu bedenken, dass das Überdauern der Worte Jesu nicht allein von ihrer mnemonischen Strukturierung, sondern auch von ihrer Interaktion innerhalb ihrer konkreten sozialen Bezüge abhängig war. Stets musste sich seine Botschaft auf dem Boden einer neuen Gegenwart behaupten. Wiederum dürfte Ong im Recht sein: „Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass generell in mündlichen Kulturen die weitaus meisten mündlichen Rezitationen selbst in rituellen Kontexten in das flexible Ende des Kontinuums zwischen Wörtlichkeit und Gestaltungsfreiheit fallen“. 102 Ich sehe keine Möglichkeit, für das durch und durch mündliche Milieu der frühen Jesustradition ein wortwörtliches Memorieren zu anzunehmen. Vielmehr ist von einem Zusammenwirken des souveränen individuellen Gedächtnisses einerseits und des sozialen bzw. kulturellen Gedächtnisses andererseits als aktive Koproduzenten im Prozess der überlieferungsgeschichtlichen Sinnbildung auszugehen. 5.3 Gedächtnis und die frühe papyrologische Tradition Die Textkritik als Teildisziplin der neutestamentlichen Wissenschaft ist vorwiegend ein Arbeitsfeld von Experten. Weil sie besondere methodisch-technische Fachkenntnisse erfordert, die nur wenige Bibelwissenschaftler erworben haben, haftet ihr bis heute der Nimbus des Spezialistentums an, weshalb man die Textkritik üblicherweise einem kleinen Kreis von Experten überlässt. Diese beschäftigen sich in erster Linie mit der Sichtung der mehr als 5400 Textzeugen, die für die Rekonstruktionen des griechischen Textes des Neuen Testaments zur Verfügung stehen. Um der ungewöhnlich hohen Anzahl an Handschriften Herr zu werden, entwarf die Textkritik ein umfassendes System der Katalogisierung und Digitalisierung, nahm eine chronologische und kulturelle Einordnung in Texttypen vor und entwickelte ein stemmatologisches Schema der handschriftlichen Überlieferung. Das groß angelegte Programm der neutestamentlichen Textforschung besteht darin, mittels einer Eliminierung sekundärer und/ oder „korrupter“ Textzeugen eine kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments zu erstellen, bzw. diese fortwährend auf den neuesten Stand der textkritischen Forschung zu bringen. Bis in die jüngste Zeit bestand das unhinterfragte Ziel 101 Vgl. Abschnitt 3.5 in diesem Beitrag 102 Ong, Orality and Literacy, 65. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 123 aller textkritischen Arbeit darin, den vollständigen Handschriftenbestand für die Gewinnung eines normativen Textes nutzbar zu machen und auszuwerten. In den letzten drei Jahrzehnten haben aber führende Textkritiker neue Prioritäten gesetzt und die Arbeit an den Handschriften und die Zielsetzung der Disziplin in eine andere Richtung gelenkt. Ungeachtet je eigener Fragestellungen und Schwerpunkte sind sich die Textkritiker Eldon Epp, 103 David C. Parker, 104 Bart D. Ehrmann, 105 und Kim Haines-Eitzen 106 in einem Punkt völlig einig: Die Jesustradition ist in ihrem frühen handschriftlichen Überlieferungsstadium durch einen höchst erstaunlichen Pluralismus gekennzeichnet. Parker hat diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammengefasst: „Die bemerkenswerteste Tatsache dieser [frühesten] Periode ist die große Variabilität der Textzeugen“. 107 Fast noch aufschlussreicher ist seine Beobachtung, dass „die überwiegende Anzahl neutestamentlicher Textvarianten in die Zeit vor dem Jahr 200 fällt“, 108 und ferner die Bemerkung, dass, „je weiter wir zurückgehen, desto grösser der Variationsgrad erscheint“. 109 Aus diesem Tatbestand ergeben sich einige wichtige Folgerungen. Zum einen ist festzuhalten, dass die frühe Textgeschichte unter den Bedingungen von Pluralität und Variabilität verlief, dass sie mithin keineswegs mit einem „Urtext“ begann. Es gibt in dieser frühen Periode keinen autoritativen Text. 110 Daraus folgt aber nun, dass jede einzelne Textvariante als ein selbständiges Element der Tradition ernst genommen werden muss und nicht primär von der Perspektive eines normativen Textes beurteilt bzw. verurteilt werden sollte. Dann aber kann es nicht mehr die primäre und schon gar nicht alleinige Aufgabe der Textkritik sein, einen normativen Text zu konstruieren. Vielmehr tangiert die neue Sicht der Überlieferungsgeschichte auch das bisher unhinterfragte Projekt einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments. Textkri- 103 E. Epp, The Oxyrchynchus New Testament Papyri: Not Without Honor Except in Their Hometown? , JBL (2004), 123: 5-55; Ders., It’s All About Variants: A Variant-Conscious Approach to New Testament Criticism, HTR (2007), 100: 275-308. 104 D.C. Parker, The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997; Ders., Scribal Tendencies and the Mechanics of Book Production, in: Ders., / H.A.G. Houghton (Hg.), Textual Variation: Theological and Social Tendencies, Piscataway 2008, 173-184. 105 B.D. Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture: The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, Oxford 1993; Ders., The Text as Window: New Testament Manuscripts and the Social History of Early Christianity, in: Ders. / M.W. Homes (Hg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Quaestionis, Grand Rapids 1995, 361-379. 106 K. Haines-Eitzen, Guardians of Letters: Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, New York 2000. 107 Parker, The Living Text, 188. 108 Ders., Scribal Tendencies, 183. 109 Ders., The Living Text, 188. 110 Ebd., 212. 124 Werner H. Kelber tik sollte nicht mehr der Expertise der Spezialisten überlassen bleiben, sondern mit einem neuen Blick auf Überlieferungs- und Textgeschichte von Grund auf neu überdacht werden. In meinen eigenen Arbeiten habe ich versucht, diese neue Sicht von medientheoretischen Gesichtspunkten aus zu entwickeln. Meine These lautet, dass die frühe Handschriftenüberlieferung beträchtliche Analogien zu mündlichen Überlieferungsprozessen aufweist. Analog zur frühen Handschriftenüberlieferung verlief auch die mündliche Überlieferungsgeschichte in einer Pluralität von mannigfachen Sprechakten. Keiner der über 5400 Papyri ist mit einem anderen Papyrus identisch. Die handschriftliche und die mündliche Überlieferung kennen gleichermaßen keinen Unterschied zwischen ursprünglicher und sekundärer Sprache. Angesichts der in der Textkritik üblichen Abwertung und Marginalisierung vieler Handschriften 111 ist daran zu erinnern, dass die Gleichursprünglichkeit der Textzeugen das dominierende Phänomen sowohl der frühen schriftlichen wie der mündlichen Tradition war. Deshalb bezweifle ich auch, dass der Fachterminus „Variante“ im Kontext der frühen Überlieferungsgeschichte angemessen ist. Wenn man mit Haines-Eitzen die frühe Texttradition als „eine Form der Überlieferung“ versteht, „in der Standardisierung und Einheitlichkeit nicht existierten“, dann sollte der Begriff Variante im Sinne einer Abweichung von der Norm problematisiert werden. Nicht zuletzt zeigen Teile der Handschriftentradition jenen ausgeprägten adaptiven Habitus, der auch in mündlichen Überlieferungsprozessen maßgeblich ist. Beide Bereiche sind kontextgebunden und, wie besonders Ehrmann 112 und Epp 113 hervorgehoben haben, von theologischen Disputen, christologischen Kontroversen, liturgischen Gepflogenheiten sowie von ganz allgemeinen Fragen des täglichen Lebens beeinflusst. Im Zuge der Neubesinnung auf die Grundlagen und Methoden textkritischer Arbeit sind auch der Status und die Funktion der Schreiber in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. 114 Schon seit geraumer Zeit wird zunehmend in Zweifel gezogen, dass die konventionelle Vorstellung von antiken Schreibern als engagierten Kopisten, die hauptsächlich, wenn nicht ganz und gar im Interesse einer wortgetreuen Erhaltung des skriptographischen Traditionsbestandes tätig waren, noch aufrecht erhalten werden kann. Stattdessen werden die Rolle und die Aktivitäten der Schreiber in einen größeren soziologischen Zusammenhang 111 Epp (2007, 285, 297) äußert sein Bedauern darüber, dass in den gebräuchlichen Ausgaben des NT Graece „die große Fülle an Textvarianten aus früher Zeit an den untersten Rand der Textseiten verbannt wird, in die Unterwelt des kritisches Apparats, eine Position, wo ihre Stimmen zum Schweigen gebracht und ihre Erzählungen unterdrückt werden“. 112 Ehrman, The Orthodox Corruption. 113 Epp, It’s All About Variants. 114 Besonders wichtig hierzu ist das Buch von Haines-Eitzen, Guardians of Letters. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 125 gestellt. In den antiken Gesellschaften nahmen Personen, die des Schreibens kundig waren, eine Sonderstellung ein. Richard Horsley, der das große Verdienst hat, die politische Geschichte des Judentums des zweiten Tempels und der frühen Jesustradition ausführlich dargestellt zu haben, hat antike Schreiber als einflussreiche Aktivisten im Machtkampf zwischen imperialen hellenistischen Mächten einerseits und dem unterdrückten Bauernstand andererseits beschrieben. 115 Sie waren gesuchte Experten, die im Verwaltungsdienst und in der Politik agierten, und deren Tätigkeit keineswegs nur auf die Pflege des schriftlichen Erbes beschränkt war. Mit anderen Worten, Schreiber waren prädestiniert, in ihren spezifischen gesellschaftlichen Kontexten eine multifunktionale Rolle zu spielen. Es empfiehlt sich, diesen soziologischen Hintergrund im Auge zu behalten, wenn wir die chirographische Tätigkeit der Schreiber der frühen Handschriftenüberlieferung in ihrer vollen historischen Tragweite verstehen wollen. Sie waren nicht nur Produzenten von Texten, sondern auch Kenner und Leser ihrer Texte. Als Personen, die am öffentlichen Leben teilnahmen, können sie ihre Schreibertätigkeit kaum anders ausgeübt haben als mit einem engagierten Interesse am Inhalt der Texte, mit denen sie in ihrer Eigenschaft als Schreiber zu tun hatten. Die jüngsten Arbeiten von Ehrman und Haines-Eitzen haben das mit aller Deutlichkeit gezeigt. Weit davon entfernt, sich ausschließlich als buchstabengetreue Kopisten zu betätigen, waren Schreiber auch Mitgestalter ihrer Textproduktionen. Dann ist es aber nicht mehr möglich, zumal die frühen Handschriften als Resultat einer von der sozialen Umwelt völlig isolierten Arbeitsweise und eines reinen Abschreibens textlicher Vorlagen zu verstehen. Kurzum, die Schreiber waren auf unterschiedliche Weise kontextgebunden, so wie mündliche Tradition voll und ganz kontextgebunden ist. Zumindest teilweise findet die Pluralität und Variabilität der Handschriftenüberlieferung eine Erklärung in ihrer Bindung an soziale Kontexte. Andererseits ging die sukzessive Zentralisierung und Standardisierung der Handschriftenproduktion Hand in Hand mit der Herauslösung aus ihrer sozialen Umgebung und mit der Reduktion ihrer Pluralität. Auf dem Gebiet der Textüberlieferung des antiken Judentums hat Raymond Person ganz ähnliche Überlegungen angestellt. In seinem Artikel The Ancient Israelite Scribe as Performer trug er die in der Wissenschaft der Hebräischen Bibel sehr kühne These vor, dass israelitische Schreiber „in erheblichem Maße von der 115 R.A. Horsley, Scribes, Visionaries, and the Politics of Second Temple Judaism, Louisville-London 2007; Ders., Revolt of the Scribes. Resistance and Apocalyptic Origins, Minneapolis 2010. Ich selbst habe den Begriff scribal activism in die Diskussion eingeführt, vgl. Kelber, Imprints, Voiceprints, and Footprints of Memory, 408 f. 126 Werner H. Kelber überwiegend oralen Kultur beeinflusst waren, in der sie lebten“. 116 Dem Vorgang der mündlichen Darbietung eines Textes nicht unähnlich pflegten Schreiber ihre Texte zu verinnerlichen und die Tätigkeit des Abschreibens mit einer „oralen Mentalität“ auszuüben, was ihnen die Freiheit gab, im Schreibvorgang abweichende oder zusätzliche Passagen in den jeweiligen Text einarbeiteten. Person kann mit Blick auf die israelitisch-jüdische Schreibkultur ganz im Sinne der mündlichen Kommunikationsweise von scribal performance, scribal memory , und composition-in-performance sprechen. Die Vorstellung, dass antike Texte nicht nur auf Papyrus festgehalten, sondern auch im Gedächtnis der Schreiber eingeschrieben waren, ist höchst bedenkenswert. Der Kopiervorgang war dann nicht lediglich vom Wortlaut des Referenzmanuskripts determiniert, sondern zugleich auch von der kulturellen und memorialen Beheimatung des Schreibers in einem breiten Traditionsstrom. Aus diesem Blickwinkel dokumentiert die frühe handschriftliche Überlieferung einmal mehr die enorme Vielschichtigkeit der antiken Kommunikationsgeschichte. Wir haben chirographisch dokumentiertes Material vor uns, das sich zugleich einem spezifisch oralen Verhalten verdankt und in Übereinstimmung mit oralen Konventionen funktionierte. Mit welchem Begriff wäre dieses Phänomen zu erfassen, das von scribal memory, oral-scribal interfaces , und einer mouvance (Bewegtheit) der Tradition bestimmt ist? Ein neuzeitliches Textverständnis, das wesentlich durch das Printmedium determiniert ist, wird hier schwerlich zu einem angemessenen Verständnis finden. Schriftlichkeit, Oralität und Gedächtnis kooperierten und interagierten in der Anfertigung und Performanz der Papyri auf eine Art und Weise, die für uns nur schwer definierbar ist. Streng genommen haben wir für dieses kommunikative Phänomen bislang keinen historisch adäquaten Begriff. 117 5.4 Erinnerung und Tod Mit Jan Assmann kann man den Tod geradezu als die „,Urszene‘ der Erinnerung“ bezeichnen. 118 Eben weil mit dem Tod vollständige Vergangenheit entsteht, löst er einen aktiven Prozess retrospektiver Besinnung aus. Man wird nicht umhinkönnen anzunehmen, dass Jesu gewaltsamer Tod wie kein anderes Ereignis in der frühen Jesustradition hohe Anforderungen an das Gedächtnis stellte. Das 116 R.F. Person, The Ancient Israelite Scribe as Performer, SBL 117/ 4 (1998), 601-609, hier: 608. 117 Eine medientheoretisch überaus kenntnisreiche Studie über antike Kommunikationskulturen ist A. Kirk, “Manuscript Tradition as a Tertium Quid: Orality and Memory in Scribal Practices,” in T. Thatcher, hg., Jesus, the Voice, and the Text: Beyond the Oral and the Written Gospel, Waco, Texas, 2008, 215-234; wieder abgedruckt in A. Kirk, Memory and the Jesus Tradition, 114-137. 118 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 33. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 127 „Was“ und das „Wie“ des Erinnerns muss eine Frage von größter Dringlichkeit gewesen sein. Wie konnte das Gedächtnis mit dem Trauma der Kreuzigung umgehen, und wie konnte es die Erinnerung an das Geschehene verarbeiten, formulieren und inszenieren? Bekanntermaßen vertraten die Formgeschichtler die These, dass die Passionsgeschichte des Markus sehr früh und in zeitlicher und räumlicher Nähe zu den Ereignissen selbst entstanden ist. Karl Ludwig Schmidts Formulierung fand weithin Zustimmung: „Ehe die Überlieferung Zeit hatte, an den Dingen herumzufeilen, wie das bei dem Stoff außerhalb der Leidensgeschichte geschehen ist, war der Bericht über das Leiden und Sterben Jesu schon fixiert“. 119 Zur Stützung dieser These beriefen sich die Formgeschichtler meist auf die erzählerische Kohärenz der Passionsgeschichte. Doch hier ist einzuwenden, dass die zusammenhängende Erzählung in erster Linie ein Indiz für narrative Kompetenz ist und nichts über den frühen oder späteren Zeitpunkt der Komposition aussagt. Wichtiger sind Erwägungen psychodynamischer Art. Ist es vorstellbar, dass es ausgerechnet die traumatische Erfahrung des Todes Jesu war, der zuallererst eine zusammenhängende Darstellung evozierte? Oder ist nicht im Gegenteil eine gewisse zeitliche, örtliche, und emotionale Distanzierung erforderlich, ehe Erinnerung sich konsolidieren und verschriftlichen kann? Wird hier möglicherweise im Interesse eines geradlinigen Zugriffs auf die früheste Historie der mühevolle memoriale Rekurs auf das traumatische Geschehen des Todes Jesu verkürzt und trivialisiert? Wie unter 4.1 ausgeführt, kann Vergangenheit nur in selektiver und vermittelter Form und als erinnerte Vergangenheit aktualisiert werden. Machen wir uns einmal mehr klar: Der Erinnerungsprozess ist nicht mit der direkten Replikation unvermittelter Fakten, nicht mit dem Nachschlagen in einem Buch und nicht mit dem Download von Daten vergleichbar. Nach Halbwachs ist Erinnerung an die cadres sociaux (Rahmenbedingungen, frames of reference ) gebunden. Hierüber herrscht unter den Gedächtnistheoretikern Maurice Halbwachs, Jan Assmann, Aleida Assmann, Sandra Hübenthal und Alan Kirk Einigkeit: Vergangenheit ist nur als Erinnerungskonstrukt erinnerungsfähig und bedeutungstragend. Diese Einsicht dürfte für die Erinnerung an den Tod Jesu von hoher Relevanz sein, denn dieser ist in seiner rohen Aktualität nicht erinnerungsfähig. Wenn irgendein Datum der frühen Jesustradition einer Vermittlung bedürftig war, dann war es Jesu gewaltsamer Tod. Auf der Suche nach einem Referenzrahmen, der für die Erinnerung der Passion Jesu leitend gewesen sein könnte, ist Lothar Ruppert in einer Reihe von Studien aus den frühen 70er Jahren des vergangenen Jh.s auf den Motivkomplex 119 K.L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu, Darmstadt 1964, 305 (Berlin, 1 1919). 128 Werner H. Kelber der passio iusti (bzw. iustorum ) gestoßen. 120 Das von ihm gesichtete Material über den oder die unschuldig Leidenden erstreckt sich über einen Zeitraum eines ganzen Jahrtausends und umfasst Texte aus der hebräischen Bibel, der Septuaginta, dem hellenistischen Judentum, Qumran und der apokalyptischen Literatur. Es gelang ihm, aus der Fülle und Variationsbreite des Materials das zeitübergreifend bemerkenswert stabile Paradigma des unschuldig Leidenden und seiner Rechtfertigung herauszuarbeiten. Augenscheinlich handelt es sich um ein zeitübergreifendes menschliches Erfahrungs- und Deutungsmuster, das sich in einem relativ stabilen Traditionskomplex niedergeschlagen hat. Unabhängig von Ruppert hat George Nickelsburg innerhalb eines wesentlich kleineren Quellenbereichs den Motivkomplex der Rettung und Rechtfertigung des unschuldig Verfolgten beschrieben und damit ein Feld näher untersucht, das Ruppert bereits erschlossen hatte. 121 Auch Nickelsburg analysierte einen Motivzusammenhang von hoher thematischer Kohärenz, der es erlaubte, von einer eigenen literarischen Gattung zu sprechen, die, wie zumal die Analyse der mk. Passionsgeschichte zeigt, aus dem motivischen Reservoir der passio justi schöpfte. 122 Die Leidensgeschichte des MkEv beruht also auf einer konventionellen und weithin bekannten narrativen Grundstruktur. Das missing link , das die Gattung der passio justi mit der Gedächtnisthematik verband, sollte die Forschung im weiteren Verlauf noch beschäftigen: Richtungsweisend waren hier Arbeiten von Arthur Dewey. 123 Mit Inventing the Passion gelang es ihm in herausragender Weise, die weitere Erforschung der Passionsgeschichte aus dem historisch-kritischen Rahmen herauszulösen und aus der Perspektive der Gedächtnisforschung neu in den Blick zu nehmen. Nach seiner Auffassung hat sich die historische Forschung mit der Leitfrage nach der historischen Referenz des Erzählten den Zugang zur Passionsgeschichte in nicht geringem Maße verbaut und ihr Grundanliegen dementsprechend nicht unwesentlich verzeichnet. Für Dewey, der die Passionserzählungen der Evangelien auf dem Hintergrund einer tief in Memoria/ Mnemosyne verwurzelten Kommunikationskultur las, verdankt sich die Erzählung von Jesu Tod nicht 120 L. Ruppert, Der leidende Gerechte: Eine motivgeschichtliche Untersuchung zum Alten Testament und zwischentestamentlichen Judentum, Würzburg 1972; Ders., Jesus, der leidende Gerechte? , Stuttgart 1972; Ders., Der leidende Gerechte und seine Feinde: Eine Wortfelduntersuchung, Würzburg 1973. 121 G.E. Nickelsburg, The Genre and Function of the Markan Passion Narrative, HTR 73 (1980), 153-184. 122 Ders., The Genre and Function, 163. 123 A.J. Dewey, The Locus for Death: Social Memory and the Passion Narratives, in: A. Kirk / T. Thatcher (Hg.), Memory, Tradition, and Text. Uses of the Past in Early Christianity, Semeia Studies 52 (2005), 119-128; Ders., Inventing the Passion: How the Death of Jesus was Remembered, Santa Rosa 2017. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 129 primär historischen, sondern memorialen Impulsen. Wichtig für ein historisch adäquates Verständnis ist somit nicht die Frage „was ist geschehen“, sondern „was wurde weitergegeben“ und insbesondere „wie wurde es vermittelt“. Die Kernfrage war, wie das Trauma des gewaltsamen Todes der Erinnerung zugänglich gemacht werden konnte. Eine Antwort fand Dewey in der Anwendung seines gedächtnistheoretischen Ansatzes auf die antike Rhetorik. Von den fünf Kategorien der antiken Redekunst interessierte ihn vorrangig die inventio , d. h. die Auffindung der Argumente, die gedächtnistheoretisch betrachtet mit dem Finden eines Gedächtnisortes ( memory place ) einhergeht. Mit inventio ist folglich ein aktiver Prozess der Erkundung und Konstruktion bezeichnet, nicht eine passive Reproduktion gegebener Daten. Mit Dewey gesprochen war das antike Gedächtnis „heuristisch und nicht einfach mimetisch“ tätig. 124 Die Vorstellung einer konstruktiven Gedächtnisleistung steht, wie nochmals zu betonen ist, im Einklang mit den von Halbwachs, Jan Assmann, Aleida Assmann, Hübenthal und Kirk analysierten Funktionsweisen des Gedächtnisses innerhalb einer oral-memorialen Kultur. Wie Dewey zutreffend beobachtet hat, geht das Erinnerungsparadigma die Passionsgeschichte mit ganz anderen Grundvoraussetzungen an als die historisch-kritische Methode: „Natürlich steht die Vorstellung des Gedächtnisses als einer Konstruktionsleistung in erheblichem Widerspruch zu den Prämissen vieler moderner Bibelwissenschaftler“. 125 Deweys letzter und entscheidender Schritt bestand darin, die Konventionen der antiken Rhetorik als eine Funktionsweise des kulturellen Gedächtnisses zu beschreiben. 126 Auf diesem Hintergrund erschließt sich die Gattung der passio iusti als vom Markusevangelisten angewendetes Verstehensmuster, das das Unausdenkbare in eine erzählbare Form zu fassen vermochte. Ganz im Sinne der rhetorischen inventio „fand“ er einen Gedächtnisort, an dem sich die Erinnerung an den gewaltsamen Akt der Hinrichtung Jesu realisieren ließ, oder anders ausgedrückt einen cadre social , der das Unfassbare in einen narrativen Deutungsrahmen fassen konnte. Psychodynamisch betrachtet kann man sagen, dass das Trauma durch einen Rückgriff auf eine konventionelle Form medialisiert und dadurch gewissermaßen „normalisiert“ wurde, denn Medialisierung bedeutet immer auch Normalisierung. 124 Dewey, The Locus for Death, 126. 125 Ebd. 126 Deweys Konzept des Gedächtnisses basiert auf M. Carruthers, The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990. 5.5 Das Evangelium als kulturelles Gedächtnis Wir haben voranstehend Betrachtungen über die kaum zu überschätzende Bedeutung und vielgestaltige Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung in der gesamten antiken Kommunikationsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen und frühchristlichen Traditionen angestellt und damit Aspekte der Überlieferungsgeschichte des frühchristlichen Traditionsstoffs in den Blick genommen, die in der historischen Forschung einschließlich der Formkritik und Textkritik nur sehr geringe Beachtung gefunden haben. Unsere Beobachtungen reichten von der mnemonischen Sprechkultur der Worte Jesu und deren memorialer Bindung an seine eigene jüdische Tradition über die memoriale Funktionsweise der mündlichen Überlieferungsprozesse und die Rolle des Gedächtnisses in der chirographisch-papyrologischen Überlieferung bis hin zum Verständnis von Überlieferungsgeschichte als Erinnerungsgeschichte . Damit ist bereits der Bogen zum letzten gedanklichen Schritt geschlagen, nämlich zur Frage, ob und inwieweit auch auf der Ebene der Endgestalt der narrativen Komposition der Evangelien Implikationen memorialer Gestaltungsprozesse erkennbar sind. Dass im historisch-kritischen Paradigma gar nicht in diese Richtung gefragt wurde, hat, wie hier unter Hinweis auf den ersten Abschnitt dieses Beitrags über die „typographische Gefangenschaft der historisch-kritischen Forschung“ nochmals in Erinnerung zu rufen ist, wesentlich auch damit zu tun, dass mit Aufkommen der Druckerpresse Texte ohne jegliches Zutun von Gedächtnisprozessen einen Stand nie dagewesener Perfektion erreichen konnten. Die Mechanismen der Druckerpresse hatten gewissermaßen das Gedächtnis aus seinem Dienst entlassen. Angesichts der augenfällig makellosen Konsolidierung und Perfektionierung der typographischen Textgestaltung mussten die Stabilisierungsversuche formelgeprägter Sprache als unprofessionell und geradezu antiquiert gelten. Der Verlust jeglicher Sensibilität für oral-memoriale Prozesse war medientheoretisch betrachtet eine der vielen gravierenden epistemologischen Folgen einer systematischen Durchsetzung des typographischen Mediums. Wiederum ist eine gewisse Ironie unverkennbar, die mit der engen Vernetzung des historischen Paradigmas mit dem typgraphischen Medium einherging. Dasselbe Paradigma, das die Erforschung der Historie auf seine Fahnen geschrieben hatte, ließ es zu, dass einige der maßgeblichsten Komponenten der antiken Kommunikationskultur vernachlässigt bzw. ignoriert wurden, wie Sandra Hübenthal klar gesehen hat: In historischer Würdigung der antiken Zeugnisse „hätte der Begriff der Erinnerung eine leitende Kategorie werden können“. 127 Pointiert gesagt hieße das, dass die historisch-kritische Hermeneu- 127 Hübenthal, Das Markusevangelium, 16-19, hier: 18 mit Hinweis v. a. auf Justin, 1 Apol. 66,3; 63, 7 und Dial. 100,4; 101,3; 102,5; 103,6,8; 104,1; 105,1,5f; 106,1,3f; 107,1 und auf 130 Werner H. Kelber Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 131 tik in gewisser Hinsicht nicht historisch genug ist. Umso wichtiger ist der Hinweis, dass seit einiger Zeit neue Positionen in die Diskussion gebracht werden, die geeignet sind, Raum für den Erinnerungsdiskurs zu schaffen. Seit den 1970er Jahren ist die narrative Kritik der Evangelien zu einem unaufgebbaren Bestandteil biblischer Interpretation geworden. Narrative Hermeneutik begegnet uns in zwei verschiedenen Ausprägungen. (1) Zum einen manifestiert sie sich als ein formalisiertes Programm, das die Analyse der autonomen narrativen Welt der Texte zu ihrer Aufgabe gemacht hat. 128 Hier geht es um ein synchrones Verständnis des Textes. Die narrative Kritik untersucht mit oft penibler Genauigkeit den Plot des Evangeliums, etwa die Organisation, Abfolge und thematischen Interaktionen der erzählenden Handlung. Sie gewinnt mit großem analytischen Scharfsinn und Vergnügen wieder und wieder neue Einblicke in die Erzählung und erschließt eine schier unendliche Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten: Dynamiken der Erfüllung und der Nichterfüllung, gezielte Polemiken, zahlreiche narrative Arrangements und Strategien, thematische Entwicklungen, Charakterisierungen, narrative Kausalzusammenhänge und vieles mehr. Kurzum, die narratologische Sichtweise erschloss einen Reichtum an exegetischen und interpretativen Erkenntnissen, von dem man bisher kaum etwas geahnt hat. (2) Ein anderer Zweig der narrativen Kritik erarbeitet rezeptions- und wirkungsgeschichtlich ein diachrones Verständnis der Texte. 129 Zusammen mit Gedächtnistheorie, Kommunikations- und Medienanalyse, Rhetorik, sound mapping , 130 Diskursanalyse und performance criticism 131 hat der rezeptionsgeschichtliche Ansatz die hermeneutische Orientierung in Richtung auf Leser und Hörer gelenkt. Wo diese Methoden zur Anwendung kommen, geschieht ein hermeneutischer Perspektivwechsel von der Erzählung zum Diskurs , vom sinnbildenden Inhalt zum sinnbildenden Ereignis und von einem Denken in der Kategorie des Raumes hin zur Kategorie der Zeit . Ähnlich wie die synchrone Papias Frag. V (Euseb. h.e. III, 39,15). 128 Ich halte die Arbeiten von E.M. Struthers für besonders repräsentativ für diese Richtung; vgl. E.K. Broadhead, (Hg.), Let the Reader understand. Essays in Honor of Elizabeth Struthers Malbon, London 2018. 129 Zur Richtung des reader-response criticism bzw. audience criticism vgl. v.a R.M. Fowler, Let the Reader Understand. Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark, Minneapolis, 1991. 130 Die Methode des Sound mapping untersucht den Charakter von Klang und Ton der griechischen Texte des NT, vgl. M.E. Lee / B.B. Scott, Sound Mapping the New Testament, Salem 2009. 131 Performance criticism macht Ernst mit der Tatsache, dass viele der alten Texte Rezitationstexte waren, vgl. D.M. Rhoads, Performance Criticism: An Emerging Methodology in Second Testament Studies, BTB 36/ 4 (2006), part 1: 118-133, part 2: 164-184. 132 Werner H. Kelber Narratologie des ersten Typs hat auch die rezeptionsgeschichtliche Methode eine bunte Palette von narrativen Strategien entdeckt. Allerdings sind diese diachron ausgerichtet und dienen dazu, Leser und Hörer anzusprechen, einzuladen, zu orientieren und auch zu desorientieren. Hübenthal ist in ihrer Studie über Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis ausführlich den im Erzähltext eingebauten Familiarisierungsangeboten nachgegangen, die einen Prozess der Leserlenkung arrangieren. Zu Recht wurde die rezeptionsgeschichtliche Orientierung auch Rezeptionsästhetik genannt, denn sie formuliert ganz im Gegensatz zur historischen Kritik und im Unterschied zur synchron ausgerichteten narrativen Kritik eine neue Ästhetik der narrativen Hermeneutik. Die aus der narrativen Kritik und der rezeptionstheoretischen Betrachtungsweise hervorgegangenen Arbeiten führen klar vor Augen, dass den Evangelien auf der Ebene historisch beschreibbarer Kausalzusammenhänge nicht beizukommen ist. Sobald wir aber den narrativen Konstruktionswillen beachten, dem die Evangelien ihre heutige Gestalt verdanken, stellt sich die Frage nach ihren memorialen Entstehungsbedingungen. Systematisch lassen sich vier Modi der Erinnerung unterscheiden, die am Kompositionsprozess der Evangelien mitwirken: Ein strategisch orientiertes Gedächtnis, das die narrative Makrostruktur überwacht, ein traditionsorientiertes Gedächtnis, das die Jesustradition je und je aktualisiert, ein archäologisches Gedächtnis 132 , das die Bindung zur israelitisch-jüdischen Tradition pflegt, und ein rezeptionsorientiertes Gedächtnis, das auf die soziale Umwelt ausgerichtet ist. Alle zusammen sind konstitutiv für die Praxis der Textkomposition und Textgestaltung. Das Markusevangelium steht an einem Brennpunkt der frühen Jesustradition. Der ungefähre Zeitpunkt seiner Entstehung etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu fiel mit einer Epochenwende in der jüdisch-christlichen Erinnerungskultur zusammen. Zum einen markierte das Ende der Periode der Augen- und Ohrenzeugen einen Generationenwechsel, 133 doch kann dieser angesichts der vielfach belegten zeitübergreifenden Kontinuität auch und gerade mündlicher Überlieferungsprozesse nicht schon als hinreichende Bedingung für das Ende der mündlichen Jesustradition angesehen werden. Vielmehr ist ergänzend mit äußeren Faktoren zu rechnen. „[Mündliche] Traditionen werden“, wie Jan Assmann ausführt, „normalerweise nicht verschriftlicht. Geschieht das doch, verweist es auf eine Krise. Die Tendenz zur Verschriftlichung ist in Traditionen nicht unbedingt im Sinne einer inneren Entwicklungslogik angelegt“. 134 Der 132 In „The Works of Memory“, 242, habe ich den Begriff der archaeology of memory eingeführt. Gemeint ist damit eine Erinnerung, die weit hinter die Jesustradition zurück in die Tiefe der israelitisch-jüdischen Traditionen eindringt. 133 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 215-228. 134 Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, Zehn Studien, München 2000, 82. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 133 namhaft gemachte Generationenwechsel kann also nicht allein die Erklärung für die Verschriftlichung der Jesusüberlieferung liefern. Der Anstoß musste von außen gekommen sein, und „von daher ist es sinnvoll, nach solchen äußeren Anlässen zu fragen“. 135 Man muss nicht lang Ausschau halten, bis der Blick auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 fällt. Für das Markusevangelium heißt das: Zur Krise des Todes Jesu und dem Aussterben der Augen- und Ohrenzeugen kommt als weitere Krisenerfahrung die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels. Hieran orientiert sich auch das von Sandra Hübenthal entwickelte gedächtnistheoretisch-idealtypische Modell. 136 Die kritische Epochenschwelle von 40 Jahren, so ihre These, war von einer Gedächtniskrise gekennzeichnet, die einen Umbruch vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis zur Folge hatte. Angesichts des Generationenwechsels erwies sich der multiperspektivische, gegenwartsbezogene, episodisch-diskursive und vorwiegend mündliche Gedächtnisdiskurs als nicht mehr tragfähig, und er wurde von einem Gedächtnismodell abgelöst, das auf narrative Kohärenz angelegt war, auf eine Gesamtperspektive, die Vergangenheit als einen „Gründungsmythos“ etablierte und hierbei einen Medienwechsel vollzog. Mediengeschichtlich betrachtet zeigt das Markusevangelium, dass „Krisenerfahrungen zur Transformation der Erinnerungen und zu ihrer Überführung in andere Medien führen“. 137 Das Markusevangelium unternimmt einen Rückgriff über den Bruch hinweg, um mit Hilfe einer rekonstituierten Vergangenheit eine Neuorientierung zu anzustoßen. „Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit führen, dann nämlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird“. 138 Sowohl der Medienwechsel von einer dominant oralen Überlieferungsgeschichte zur Verschriftlichung wie auch die Wahl der narrativen Form dokumentieren einerseits das Schwergewicht der Krise und andererseits die gestaltende Kraft des Neuanfangs. Anstelle des primär Mündlichen griff man zu einem neuen Medium, um Vergangenheit neu konstruieren zu können. Ergebnis dieser Neukonstruktion war die für die gegenwärtige Generation nacherzählte und auf neue Weise in Erinnerung gebrachte Jesusgeschichte, die geeignet war, die traumatische Erfahrung des Todes Jesu, das Aussterben der Augen- und Ohrenzeugen und die erlittene Katastrophe der Zerstörung Jerusalems in einen kohärenten Erzählzusammenhang zu bringen. Der Tod Jesu und das Ende des Tempels wurden erstmals miteinander in einen inneren Zusammenhang gebracht: Jesus selbst sagte die Zerstörung des Tempels voraus, und er kam nach seinem Angriff auf den Tempelbetrieb und seine Hierarchie ums Le- 135 Ebd. 136 Hübenthal, Das Markusevangelium, 142-150. 137 Ebd., 146. 138 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 32. 134 Werner H. Kelber ben. Das im MkEv so sonderbar sich durchhaltende Motiv des Jüngerversagens kann als Reflex des Generationenwechsels verstanden werden: Die Bedeutung der Augen- und Ohrenzeugen wird problematisiert, und zugleich funktioniert das offene Ende der Erzählung so, dass mit der Nachfolge und dem Zeuge-Sein nun diejenigen betraut werden, die das Evangelium (vor)lesen und hören. Mit dem Markusevangelium erreicht somit ein Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt, der die frühe Jesustradition als Erinnerungsgeschichte fortführt und von dem Impuls beseelt ist, die Vergangenheit je und je in ein orientierendes, sinnstiftendes Verhältnis zu Gegenwart zu bringen, die sich fortwährend wandelt. Das Markusevangelium stellt den Versuch dar, für die Zeit nach der großen Krise Jesus und seine Botschaft wieder erinnerungsfähig zu machen.