ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2019
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Dronsch Strecker VogelWie sicher ist die Q-Hypothese?
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Markus Tiwald
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Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Wie sicher ist die Q-Hypothese? Markus Tiwald 1. Die synoptische Frage Die synoptische Frage (griech. σύνοψις, syn-opsis , „Zusammenschau“ i. S. einer literarischen Abhängigkeit), ist eines der dornigsten Themen neutestamentlicher Bibelwissenschaft: Wie kommt es, dass die drei Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas in weiten Passagen wortwörtlich miteinander übereinstimmen? Die Antworten darauf fielen in Geschichte und Gegenwart unterschiedlich aus. Alleine die Frage, welcher der drei Evangelisten als erster sein Werk verfasste, wurde in der Vergangenheit anders beantwortet als heute. Seit dem Kirchenvater Augustinus (354-430) war es bis ins 18. Jh. üblich, das Matthäusevangelium als ältestes anzusetzen. Der vermeintliche Augenzeuge und Apostel Matthäus hätte als erster sein Evangelium verfasst und von ihm die beiden Nicht-Augenzeugen Mk und Lk abgeschrieben. 1 Diese Abfolge hat sich bis heute in den Bibelausgaben erhalten, wo noch immer das MtEv an erster Stelle gereiht ist. Eine historische Priorität des noch immer 1 Vgl. Augustinus, De consensu evangelistarum I,2,4. 172 Markus Tiwald so bezeichneten „ersten“ Evangelisten Matthäus wie auch dessen Augenzeugenschaft sind jedoch wissenschaftlich nicht haltbar. Erst mit dem 18. Jh. kam neue Bewegung in die synoptische Frage. Der Weimarer Theologe Johann Gottfried Herder (1744-1803) führte die Ähnlichkeit der drei Synoptiker auf ein mündliches Urevangelium in aramäischer Sprache zurück ( Traditionshypothese ). 2 Tatsächlich aber legen die zumeist wortwörtlichen Übereinstimmungen eine schriftliche Abhängigkeit der drei Evangelien nahe. Daher vermuteten Gotthold Ephraim Lessing (1729-1784) und Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) ein schriftliches aramäisches Urevangelium ( Urevangeliumshypothese ), das von den drei Synoptikern unterschiedlich ins Griechische übersetzt worden sei. Allerdings scheitert auch diese Annahme an den starken wortwörtlichen Übereinstimmungen auf griechischer Sprachbasis. Die in Folge vorgebrachten Benutzungshypothesen rechnen mit unterschiedlichen literarischen Abhängigkeiten der Texte. So sieht die Griesbachhypothese (benannt nach Johann Jakob Griesbach, 1745-1812) im MtEv das älteste Evangelium, welches der Autor des LkEv benutzt habe, Mk hingegen beide vorangehenden. Das MkEv wird nach dieser Annahme lediglich zu einer Zusammenfassung der beiden anderen Evangelien degradiert. Dass Mk so bedeutsame Passagen wie 2 Zu J.G. Herder vgl. F. Frey, Herder und die Evangelien, in: M. Keßler / V. Leppin (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin 2005, 47-91, hier 60 f. Herder hatte zunächst ein schriftliches Urevangelium (Urevangeliumshypothese) vermutet und später erst ein mündliches Urevangelium postuliert. Zur detaillierten Analyse der Urevangeliumshypothese bei J. G. Herder und dann bei G. E. Lessing siehe M. Tiwald, Die Suche nach dem „Urevangelium“ als Frage nach der Authentizität der Jesusüberlieferung, in: J.S. Kloppenborg / J. Verheyden (Hg.), Theological and Theoretical Issues in the Synoptic Problem (LNTS), Bloomsbury (im Erscheinen), passim. Zu den folgenden Überblicken vgl. I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 4 2016, 44-78; G. Harb, Die eschatologische Rede des Spruchevangeliums Q. Redaktions- und traditionsgeschichtliche Studien zu Q 17,23-37 (BToSt 19), Leuven 2014, 5-7; U. Bauer, Das synoptische Problem und die Zweiquellentheorie, in: BiKi 54 (2/ 1999) 54-62; C. Heil, Einleitung, in: P. Hoffmann / C. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt 3 2009, 11-14; M. Tiwald, Die Logienquelle. Text, Kontext, Theologie, Stuttgart 2016, 15-22. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 173 die Bergpredigt, die Kindheitsgeschichten und die Osterevangelien aus seinen Vorlagen hinausgekürzt habe, macht diesen Ansatz extrem unwahrscheinlich. Eine „Neo-Griesbach-Hypothese“ wird heute nur mehr vereinzelt im angelsächsischen Bereich vertreten und als „Two-Gospel-Hypothesis“ bezeichnet. Mit der Entdeckung der Mk-Priorität war in der synoptischen Forschung ein Meilenstein gesetzt, hinter den nicht mehr zurückzugehen ist. Karl Lachmann (1793-1851) hatte in seinem 1835 publizierten Artikel, „De ordine narrationum in evangeliis synopticis“ , bemerkt, dass Mt und Lk in ihrer grundsätzlichen Anordnung der Perikopen dort übereinstimmen, wo sie auch mit Mk identisch sind. Dort wo Mt oder Lk den mk Faden verlassen, weicht auch deren Perikopenanordnung voneinander ab. Lachmann folgerte, dass Mk das damals postulierte „Urevangelium“ am getreuesten wiedergäbe und Mt und Lk von ihm abhängig sind. Nach heutigem Forschungsstand ist die Markus-Priorität kaum mehr zu erschüttern. Recht präzise lässt sich beweisen, dass sowohl Mt als auch Lk das MkEv kannten, dieses allerdings stilistisch überarbeiteten, inhaltlich ergänzten, theologisch weiterführten und in einen je neuen erzähltechnischen Rahmen spannten. So übernimmt Mt 90 % des Mk-Stoffes, Lk hingegen nur 55 %, da zwischen Lk 9,17 und 9,18 (dort, wo Mk 6,45-8,26 seinen Platz gehabt hätte) der Mk-Text fehlt. Diese „große Lücke“ wird heute zumeist als bewusste Auslassung (daher auch „große Auslassung“) des dritten Evangelisten gewertet, da Lk Dubletten vermeidet (vgl. den ausgelassenen Text Mk 8,1-10 mit der Dublette in Mk 6,34-44) und die mit der Israelthematik verbundenen Fragen (z. B. die Univ.-Prof. Dr. Markus Tiwald, Jahrgang 1966, studierte Katholische Theologie in Wien, Lyon (Frankreich) und Jerusalem (Israel). 1994 Priesterweihe danach Kaplansjahr, 1995- 1998 Lizentiatsstudium am Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem, danach Assistent an der Universität Wien. Ebendort 2001 Promotion zum Doktor der Theologie und 2007 Habilitation für das Fach Neutestamentliche Bibelwissenschaft. Von 2008 bis 2019 zunächst Vertretungsprofessor und dann Lehrstuhlinhaber für Biblische Theologie und ihre Didaktik/ Schwerpunkt Neues Testament an der Universität Duisburg-Essen, seit September 2019 Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind das Parting of the Ways zwischen Juden und Christen, das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, Synoptische Studien, die Logienquelle sowie die Kontextuierung von Paulus in seinem frühjüdischen Kontext. 174 Markus Tiwald Frage nach rein und unrein, Mk 7,1-23; die Heidin im Kontrast zu Israel, Mk 7,24-31; der Sauerteig der Pharisäer und des Herodes, Mk 8,15) erst in der Apg thematisiert (etwa Apg 10,1-11,18). 3 Bedingt durch die Priorität des MkEv vor Mt und Lk haben sämtliche Hypothesen, die diesem Faktum keine Rechenschaft tragen, auszuscheiden. 4 Die Farrer-Goulder-Hypothese wurde von Austin Farrer (1904-1968) entwickelt und dann von Michael Douglas Goulder (1927-2010) weitergeführt. Sie geht von der Mk-Priorität aus und stellt die wichtigste konkurrierende Alternative zur Zweiquellentheorie dar. Sie postuliert, dass Mt das MkEv benutzt habe, Lk sowohl das MkEv wie das MtEv. Unbeantwortet bleibt hier, warum Lk das mt Sondergut sowie das für die mt Redaktion typische Material weggelassen habe. Demzufolge hätte Lk die bei Mt groß angelegten Reden auseinandergebrochen (etwa die mt Bergpredigt), 5 die Kindheitsevangelien Mt 1-2 durch sein eigenes (konkurrierendes) Konzept ersetzt und auch in den Ostergeschichten ein komplett anderes Schema bevorzugt. Könnte man alle diese Fragen noch durch eine - wenn auch sehr eigenwillige - lk Redaktion begründen, bleibt in diesem Konzept unerklärlich, warum Lk die laut Zweiquellentheorie als Mk- und Q-Traditionen identifizierten Texte, die bei Mt zumeist ineinander vermischt wurden, wieder fein säuberlich aus- 3 Vgl. dazu L. Oberlinner, Die Verwirklichung des Reiches Gottes - Entwicklung beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Mk 4,26-29, in: U. Busse / M. Reichardt / M. Theobald (Hg.), Die Memoria Jesu. Kontinuität und Diskontinuität der Überlieferung (BBB 166), Bonn 2011, 197-214, hier 198. 4 Weitere Argumente für die Mk-Priorität sind die sprachlichen und sachlichen Verbesserungen, die Mt und Lk an holprigen Mk-Passagen vornehmen. Obendrein gilt die Regel, dass heilige Texte nicht gekürzt werden, sondern wachsen. Die lectio brevior Regel der Textkritik sagt, dass die kürzeste Textvariante zumeist die älteste ist, vgl. K. Aland / B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 2 1989, 285. 5 Vgl. dazu J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke I-IX (AncB 28), Garden City 1981, 74: „Why would so literary an artist as Luke want to destroy the Matthean masterpiece of the Sermon on the Mount? “ Wie sicher ist die Q-Hypothese? 175 einandergenommen hätte. 6 Natürlich erklärt die Farrer-Goulder-Hypothese die Q-Traditionen mit Mt-Sondergut, doch hätte Lk dann alle Stellen, wo das von der Zweiquellentheorie veranschlagte Q-Material bei Mt untergebracht war, wieder „rückbauen“ und anders anordnen müssen. 7 Hier ist es doch sinnvoller anzunehmen, Lk habe das MtEv gar nicht gekannt, doch die dem Mt ebenso bekannte Logienquelle eigenständig benützt. Hier setzt die Zweiquellentheorie an. Auch sie geht von der Mk-Priorität aus, erweitert diese erste Quelle aber noch durch eine zweite Quelle, die sogenannte „Logienquelle“. Die Existenz solch einer Quelle wurde zuerst von Christian Hermann Weisse (auch: Weiße, 1801-1866) in seinem 1838 erschienenen Werk, „Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet“ , postuliert. Der Gehalt dieser Quelle - bestehend aus den Übereinstimmungen von MtEv und LkEv über den Mk-Text hinaus - enthält größtenteils Aussprüche und Reden Jesu, was auf Griechisch logia , „Sprüche“, heißt - daher der Name „Logienquelle“. Ursprünglich meinte man, in der Logienquelle die von Papias von Hierapolis zu Beginn des 2. Jh. erwähnten logia , 8 eine angebliche Sammlung von aramäischen Jesus-Sprüchen, gefunden zu haben. 9 Allerdings kann das nicht der Fall sein, da die Übereinstimmungen zwischen MtEv und LkEv über den Markustext hinaus (also die Logienquelle) auf griechischer Sprachbasis funktionieren, nicht aber auf aramäischer. Dieser „kreative Irrtum“ führte dazu, dass Heinrich Julius Holtzmann (1832-1910) das Sigel Λ (den griechischen Buchstaben lambda ) als Abkürzung für logia verwendete und der Zweiquellentheorie mit seinem 1863 erschienenen Werk, „Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter“ , in weiten Kreisen zum Durchbruch verhalf (die Tübinger Schule favorisierte auch weiterhin die Griesbach-Hypothese). Eduard Simons (1855-1922) verwendet erstmals 1880 in „Hat der dritte Evangelist den kanonischen Matthäus genutzt? “ für diese logia das Sigel „Q“ (für „Quelle“), bald darauf gefolgt von Johannes Weiß (1863-1914) 1890 in seinem Beitrag, „Die 6 Vgl. M. Ebner, Die synoptische Frage, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 68-85, hier 83. 7 Vgl. auch U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 9 2017, 237f: „Die grundlegende Schwäche dieser Theorie besteht darin, dass die Prinzipen des abwechselnden Gebrauchs von Markus und Matthäus durch Lukas nicht plausibel gemacht werden können. Vor allem die Mt-Rezeption wäre höchst merkwürdig, denn warum sollte Lukas die mt. Reden zerschlagen (vor allem die Bergpredigt! ) und Teile des Materials ohne erkennbares Anordnungsprinzip einfach über sein Evangelium verteilen? “ 8 Vgl. das Papias-Fragment 5,16, überliefert bei Eusebius, HE 3,39. Zur Frage nach der Historizität des Papiaszeugnisses vgl. U.H. Körtner, Papiasfragmente, in: ders./ M. Leutzsch (Hg.), Papiasfragmente. Hirt des Hermas (SUC 3), Darmstadt 2011, 1-103, hier 9-49. 9 Vgl. dazu Heil, Die Q-Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts. Einführung in Methodik und Resultate, in: NT 43 (2001) 128-143, hier 128 f. 176 Markus Tiwald Verteidigung Jesu gegen den Vorwurf des Bündnisses mit Beelzebul“. 10 Ab 1899 setzte sich mit der Monographie von Paul Wernle (1872-1939), „Die synoptische Frage“ , das Sigel „Q“ für die Logienquelle durch. Die Zweiquellentheorie sieht demnach folgendermaßen aus: Neben den beiden schriftlichen Quellen des Markusevangeliums und der Logienquelle Q haben Mt und Lk auch je eigenes Sondergut (Sondergut des Matthäus = S Mt / Sondergut des Lukas = S Lk ) verwendet. Im deutschsprachigen Raum ist das Urteil zu dieser Theorie recht eindeutig: Ingo Broer und Hans-Ulrich Weidemann sprechen davon, dass die Zweiquellentheorie die „[…] heute vor allem im europäischen Raum fast einhellig oder zumindest ganz überwiegend akzeptierte“ Lösung der synoptischen Frage darstellt. 11 Ähnlich Ulrich Luz: Wer die Zweiquellentheorie „[…] in Frage stellen will, muß einen Großteil der seit 1945 geleisteten redaktionsgeschichtlich orientierten Forschung an den Synoptikern widerlegen - ein wahrhaft mutiges Unterfangen, das mir weder nötig noch möglich zu sein scheint“. 12 Und Andreas Lindemann urteilt 2015 nach einem detaillierten Forschungsüberblick zu neuerer Literatur und aktuellen Positionen in der synoptischen Frage über die Zweiquellentheorie: „[…] eine plausiblere Hypothese, die tatsächlich allen Teilfragen gerecht würde, wird offenbar nicht gefunden“. 13 10 Vgl. dazu F. Neirynck, Note on the Siglum Q, in: F. van Segbroeck (Hg.), Evangelica II. 1982-1991. Collected Essays by Frans Neirynck (BEThL 99), Leuven 1991, 474; J.M. Robinson, Introduction, in: ders./ P. Hoffmann / J.S. Kloppenborg (Hg), The Sayings Gospel Q in Greek and English with Parallels from the Gospels of Mark and Thomas (Biblical Exegesis & Theology 30), Leuven 2001, 11-72, hier 23 f. 11 I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung, 49. 12 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Bd. 1: Mt 1-7 (EKK I/ 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 47. 13 A. Lindemann, Neuere Literatur zum „Synoptischen Problem“, in: ThR 80 (2015) 214-250. Siehe auch den Forschungsüberblick bei ders., Neuere Literatur zur Logienquelle Q, in: ThR 80 (2015) 377-424, passim. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 177 2. Die Minor Agreements Als stärkstes Argument gegen die Zweiquellentheorie muss die Existenz der Minor Agreements angesehen werden. Wie der Name schon sagt, sind damit „kleinere Übereinstimmungen“ gemeint und zwar überall dort, wo Mt und Lk ihre Mk-Vorlage in gleicher Weise abgeändert haben. Diese dürfte es nach der Zweiquellentheorie allerdings nicht geben, da dieser zufolge Mt und Lk einander nicht kannten. Wie viele dieser Agreements es wirklich gibt, ist umstritten. Frans Neirynck hat eine umfassende Liste von allen je in der exegetischen Diskussion erwähnten Minor Agreements erstellt, 14 die von Andreas Ennulat in seiner einschlägigen Monographie mit geringfügigen Modifikationen weiterverwendet wurde. 15 Es gibt positive Minor Agreements , das sind von Mt und Lk übereinstimmend gesetzte Hinzufügungen oder Abänderungen gegenüber dem Mk-Text und negative Minor Agreements , wo Mt und Lk übereinstimmend eine Passage von Mk ausgelassen haben (Texte, die als markinisches Sondergut bezeichnet werden). Die quantitative Auswertung allerdings ist umstritten: Bei der Auslassung eines längeren mk Textabschnittes könnte theoretisch jedes einzelne Wort als Agreement gezählt werden oder der gesamte Text als nur ein einziges. Das erklärt die starken Unterschiede der in der Literatur genannten Zahlen, die zwischen 175 und 2354 Minor Agreements rangieren. 16 Fraglich ist aber auch, ob das Weglassen eines Markustextes (die negativen Minor Agreements) immer als Argument gegen die Zweiquellentheorie gewertet werden muss. Problematische Passagen oder Ausdrücke könnten Mt und Lk auch gut eigenständig „entsorgt“ haben. Die Episode vom „nackten Jüngling“ bei der Gefangennahme Jesu (Mk 14,51f.) wurde sowohl von Mt wie auch von Lk ausgelassen. Offensichtlich konnten beide Evangelisten in einem solch dramatischen Moment keinen „Nackt-Flitzer“ gebrauchen! Auch das unverständliche Wort vom „Gesalzen werden mit Feuer“ (Mk 9,49) lässt sich als unabhängige Auslassungen gut erklären. Dass Jesus von seinen Verwandten für verrückt gehalten wird (Mk 3,20f), war wohl zu anstößig, die Heilungswunder in Mk 7,32-36; 8,22-26 zu mirakelhaft. 17 Problematisch hingegen bleibt die Tilgung der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29), der Belehrung über das Gebet (Mk 9,29) oder der Bestätigung des Todes Jesu durch den römischen Zenturio (Mk 15,44). 14 Vgl. F. Neirynck, The Minor Agreements of Matthew and Luke Against Mark with a Cumulative List (BEThL 37), Leuven 1974, 51-195. 15 Vgl. A. Ennulat, Die „Minor Agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems (WUNT II 62), Tübingen 1994, 3-18. 16 So I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung, 55; Ebner, Frage, 81 nennt „zwischen 175 und 1000“; Ennulat, Agreements, 417, untersucht tausend Minor Agreements. 17 Siehe weitere Beispiele bei Ebner, Frage, 80 f., und Schnelle, Einleitung, 213. 178 Markus Tiwald Wenn man nur die „harten Fälle“ in Betracht zieht, kann man von etwa 50 wirklich wichtigen Minor Agreements sprechen. 18 Diese stellen allerdings ein ernst zu nehmendes Problem für die Zweiquellentheorie dar. Als mögliche Lösung wird hier gerne die Deuteromarkus-These angeführt: Mt und Lk habe nicht das uns heute bekannte MkEv vorgelegen, sondern eine überarbeitete Fassung, ein „Deuteromarkus“ (also „zweiter Markus“ von δεύτερος, deuteros , „zweiter“; abgekürzt: DtMk). Problematisch ist bei dieser Annahme, dass sie keinerlei Anhalt im handschriftlichen Befund hat - was allerdings auch für die Logienquelle gilt: Weder ein Exemplar von Q noch ein Exemplar von DtMk wurde je gefunden. Grundsätzlich muss das kein Problem darstellen, denn der Großteil antiker Literatur ist uns nicht erhalten geblieben. Der Text der Logienquelle kann aus den über die Mk-Vorlage hinausgehenden übereinstimmenden Passagen aus Mt und Lk rekonstruiert werden. Für DtMk ist dies schwieriger, es stellt sich die Frage welchen Umfang er gehabt hätte. In der maximalen Variante könnte DtMk auch schon die Logienquelle umfasst haben, doch bleibt hier die Frage nach den Q-Mark-Overlaps - Material, das bei Q und Markus in ähnlicher Weise, doch unabhängig bearbeitet vorkommt (das sind die Passagen Mk 1,2; 1,7-8; 1,12-13; 3,22-26.27-29; 4,21.22.24.25; 4,30-32; 6,7-13; 8,11.12; 8,34-35; 8,38; 9,37.40.42.50; 10,10-11; 10,31; 11,22-23; 12,37b-40; 13,9.11.33-37). 19 Diese Perikopen tauchen bei den „Seitenreferenten“ (also Mt und Lk) als Doppelüberlieferung (beide Seitenreferenten haben die Doppeltradition erhalten) oder Dubletten (nur einer der Seitenreferenten hat die Doppelung bewahrt) auf - ein wichtiges Argument zugunsten der Zweiquellentheorie. Hätte bereits DtMk jenes Material enthalten, das die Zweiquellentheorie für Q veranschlagt, wären diese Doppelungen schwer zu erklären. Wollte man dies trotzdem vertreten, hätte wohl auch schon DtMk diese Texte aus einer schriftlichen Quelle eingearbeitet, da aufgrund der mechanistischen Doppelungen nur dies in Betracht kommt. Somit hätte man die Existenz der Logienquelle nicht negiert, sondern deren Benutzung einfach von Mt und Lk auf DtMk verschoben. Schwer zu erklären wäre dann allerdings, warum Mt und Lk zumeist dem ursprünglichen MkEv folgen und das Q-Material so unterschiedlich einbauen (Lk neigt ja dazu, Mk und Q blockweise zu verwenden, Mt hingegen verarbeitet beide Quellen ineinander). Will man mit DtMk rechnen, ist man also gut beraten, diesen nicht allzu weit vom heutigen kanonischen Markustext zu entfernen. Schließlich handelt es sich bei den Minor Agreements ja nur um „kleinere“ Übereinstimmungen! 18 So Ebner, Frage, 81, und Broer / Weidemann, Einleitung, 55. Vgl. auch C. Tuckett, The Minor Agreements and Textual Criticism, in: G. Strecker (Hg.), Minor Agreements. Symposium Göttingen 1991 (GTA 50), Göttingen 1993, 119-142, hier 124: „Thus one cannot count Mas [sc. minor agreements] purely mechanically“. 19 Vgl. Schnelle, Einleitung, 259 f. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 179 Eine andere Erklärung der Minor Agreements wird mit der Annahme von Secondary Orality ( Sekundärmündlichkeit ) geboten, einer zur schriftlichen Überlieferung parallel weiterlaufenden mündlichen Tradition. 20 Man muss annehmen, dass die meisten Menschen damals Analphabeten waren 21 und auch des Lesens Kundige zumeist auswendig rezitierten, da Schriften teuer und nur im Besitz von Reichen anzutreffen waren. Daher könnte auch eine kontrastierende mündliche Überlieferung in die schriftliche Form der Texte interferiert haben. Christoph Heil unterstreicht dazu, dass in der Antike auch nach der Verschriftlichung von Texten „nicht […] die wortwörtliche Wiederholung eines kanonischen Textes […], sondern […] die inspirierte, emphatische Aufführung“ im Mittelpunkt stand. 22 Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: „Manche Varianten in der Textüberlieferung gehen dann nicht auf unabsichtliche Abschreibfehler oder absichtliche Redaktionen zurück, sondern auf Varianten in der mündlichen Überlieferung“. 23 Wenn man bedenkt, dass die Fassung des MkEv damals noch nicht kanonisch fixiert war, so lässt sich gut annehmen, dass unterschiedliche orale Varianten in Umlauf waren. Da die Minor Agreements allerdings gleichmäßig über den gesamten Stoff des MkEv verteilt sind, 24 bleibt fraglich, ob Sekundärmündlichkeit alleine eine ausreichende Begründung dieses Phänomens bieten kann. Als eigenständigen Erklärungsversuch zu den Minor Agreements möchte der Autor dieses Beitrags eine Kombinationsthese von Secondary Orality und DtMk vorschlagen, ausgehend vom Wissen um die grundsätzliche Fluidität biblischer Texte im ersten Jahrhundert n. Chr. Bereits Tuckett hat angemerkt, dass zwischen der Text- und der Quellenkritik fließende Grenzen bestehen. 25 Die ältesten Manuskripte der synoptischen Evangelien sind bis auf wenige Ausnahmen erst ins ausgehende zweite Jahrhundert zu datieren. Die für heutige Textkritik greifbare Textüberlieferung setzt also zumeist erst hundert Jahre nach der Erstabfassung 20 Vgl. Heil, Antike Textverarbeitung. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Homer und im Spruchevangelium Q, in: C. Wessely / A.D. Ornella (Hg.), Religion und Mediengesellschaft. Beiträge zu einem Paradoxon, Innsbruck 2010, 93-104, hier 103 unter Bezug auf ein 1982 entwickeltes Konzept von J.W. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the World, London 1982, 135-137. Vgl. dazu auch G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SPHKHAW 40), Heidelberg 2 2011, 41-46, der hier „primär- und sekundärmündliche Überlieferung“ unterscheidet. 21 Vgl. dazu die Studie von C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (Texts and Studies in Ancient Judaism 81), Tübingen 2001, passim. 22 Heil, Textverarbeitung, 101. 23 Ebd., 103. 24 Vgl. Ennulat, Agreements, 10, 18; Schnelle, Einführung, 215. 25 Vgl. Tuckett, Agreements, 138. 180 Markus Tiwald der Evangelien ein. 26 Die großen Textformen, zu welchen die uns heute bekannten kanonischen Evangelien kanalisiert und redigiert wurden, entstanden überhaupt erst gegen Ende des dritten Jh.s. 27 Dass die Texte bis zu diesem Zeitraum einer gewissen Fluidität unterlagen, muss mit gutem Grund angenommen werden. 28 Manche der Minor Agreements könnten somit auf die Redaktionsarbeit von frühen Schreibschulen zurückgehen, manche auf mündliche Interferenzen der Secondary Orality . Dringend anzunehmen ist aber auch, dass abweichende schriftliche Versionen des Markusevangeliums zirkulierten. Die Formulierung „Deuteromarkus“ scheint mir dafür jedoch zu hoch gegriffen - legt sie doch nahe, dass diese Version eine bewusste redaktionelle und theologische Verbesserung des ursprünglichen Textes war, welche die vorangehende Version ersetzen wollte. In diesem Fall müsste man tatsächlich erklären, warum sich die heute kanonische Form des MkEv und nicht DtMk erhalten hat. Allerdings ist aufgrund der damaligen Textfluidität sehr wohl mit unterschiedlichen Varianten des MkEv zu rechnen. Wenn man bedenkt, dass selbst der Text der LXX eine „relative Konstanz“ erst „im 2. und 3. Jh. d. chr. Z.“ gefunden hat 29 und es davor „keine zwei identischen oder fast identischen Rollen eines Buches der LXX“ 30 gab, dann ist eine ähnliche 26 Ebd., 127: „The gap of over 100 years between the writing of the autographs and the earliest of our extant manuscripts cannot be overlooked. Further, one must remember that it was precisely in this period that the NT writings were not regarded as sacrosanct or canonical […]“ 27 So Aland / Aland, Text, 60: „Gewiss gab es im Ausgang des dritten bzw. am Beginn des vierten Jahrhunderts (wahrscheinlich ist dafür die 40jährige Friedenszeit nach dem Aufhören der decisch-valerianischen Verfolgung bis zum Beginn der diokletianischen 303 anzunehmen) durchgreifende Bearbeitungen neutestamentlicher Handschriften“. 28 Tuckett, Agreements, 127: „It is therefore inherently very likely that changes were made to the texts in this period“. 29 E. Tov, E., Die griechischen Bibelübersetzungen, in: W. Haase (Hg.), ANRW II 20.1, Berlin 1987, 121-189, hier 133. 30 Ebd., 133. Vgl. auch Ebd., 165: Die LXX-Zitate „im NT, bei Philo von Alexandria, bei Josephus und bei vielen Kirchenvätern“ geben „Rezensionen verschiedenster Art wieder […]“. Während D.-A. Koch in einer 1993 erschienenen Publikation noch behaupten konnte „[…] daß für die vorneutestamentliche Zeit […] mit einem relativ stabilisierten Septuagintatext zu rechnen ist“ (ders., Die Überlieferung und Verwendung der Septuaginta im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Aspekte der neueren Septuagintaforschung und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, in: ders./ H. Lichtenberger (Hg.), Begegnung zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg, Göttingen 1993, 215-244, hier 229), zerbröselt diese Meinung immer mehr unter dem Druck der neueren Septuagintaforschung: „[…] à l’époque de rédaction des écrits du NT les textes grecs de la Bible circulaient sous plusiers formes textuelles […]. Il n’est donc pas étonnant que nous trouvions dans les écrits du NT des citations de l’AT sous des formes différentes“ (M. Harl, La Septante aux abords de l’ère chrétienne, in: G. Dorival / M. Harl / O. Munnich, La Bible Grecque des Septante, Paris 1988, 269-288, hier 276). Ebenso: M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt Wie sicher ist die Q-Hypothese? 181 Bandbreite auch für die Evangelien anzunehmen. Variae lectiones waren somit für das MkEv nicht der Ausnahmefall, sondern die Norm! Dass sich nicht alle abweichenden Lesarten in den uns überlieferten Handschriften erhalten haben, hängt mit den verschlungenen Wegen der Textüberlieferung zusammen, die für die synoptischen Evangelien in signifikantem Maßstab ja erst ab 200 n. Chr. einsetzt und um 300 n. Chr. noch einmal „durchgreifende Bearbeitungen“ 31 erfuhr. So rechnet auch Schnelle mit einem „Deuteromarkus“, allerdings nicht als „neue Evangelienausgabe“, sondern als „eine veränderte Version“. 32 Zu Recht befindet er, dass man von DtMk im Sinne einer neuen Evangelienausgabe nur reden könne, „[…] wenn sich eine deuteromarkinische Theologie nachweisen lässt“. 33 Albert Fuchs und Andreas Ennulat meinten, eine solche ausmachen zu können, 34 doch sollte man hier mit dem Gros der Exegeten zurückhaltend bleiben. 35 Die Erkenntnis der Textfluidität in den ersten drei christlichen Jahrhunderten bietet genügend Erklärungsmöglichkeiten für Minor Agreements. Die von Ennulat genannten Tendenzen zur „‚Ent-Menschlichung‘ Jesu“, also das Tilgen von Gefühlsregungen oder die „Eliminierung von neben Jesus als Subjekt auftretenden Personen, so daß Jesus allein als handelndes Subjekt des Geschehens erscheint“, 36 liegen im Trend dessen, wie man Texte im mündlichen Vortrag oder in schriftlicher Überlieferung pointierter zuspitzen konnte (man denke nur an die Variationsbreite von Witzen, deren Pointe prägnanter gefasst oder auf neue Situationen hin aktualisiert wird). Eine eigenständige und bewusst konzipierte Neuschreibung des MkEv muss damit nicht intendiert sein - solche Änderungen liegen in der Bandbreite damals 2005, 63: „Zudem gab es im Judentum zu keiner Zeit eine zentrale Kontrollinstanz, die in der Lage gewesen wäre, einen autoritativen und normativen griechischen Standardtext gegenüber den alternativen Übersetzungen durchzusetzen“. 31 Aland, Text, 60. So auch Ennulat, Agreements, 430. 32 Schnelle, Einleitung, 216. Ebenso Luz, Matthäus I, 50, der als Lösungsvorschlag zu den Minor Agreements meint: „Vor allem aber sollte man ernst nehmen, daß auch von Mk leicht unterschiedliche Fassungen existiert haben konnten“. Anders Konradt, Matthäus, 20, der gegen eine Mk-Rezension optiert und nur Sekundärmündlichkeit als Lösung für die Minor Agreements veranschlagt: „Auf Zusatzhypothesen zur Zweiquellentheorie wird in diesem Kommentar verzichtet. Dies gilt in Sonderheit für die These, dass Matthäus und Lukas nicht das kanonische Mk vorlag, sondern eine deuteromarkinische Rezension […]. Im Blick auf jene ‚minor agreements‘ […] ist vielmehr zu bedenken, dass Matthäus und Lukas mit dem vom Mk gebotenen Stoff im Regelfall schon vertraut gewesen sein werden, bevor sie das Mk kennenlernten, und die mündliche Tradierung der Jesusüberlieferung mit der Abfassung des Mk keineswegs abriss“. 33 Schnelle, Einleitung, 216. 34 Vgl. Ennulat, Agreements, 422-424; A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I-V (SNTU NF 1-5), Münster 2004-2007, hier Deuteromarkus IV, 125-129. 35 Auch Schnelle, Einleitung, 216, teilt diese Zurückhaltung. 36 Ennulat, Agreements, 422 f., 424. Ähnliche Kriterien nennt Fuchs, Deuteromarkus IV, 125-129. 182 Markus Tiwald gängiger variae lectiones. Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen scheinen die Minor Agreements mit der Zweiquellentheorie versöhnbar - und in jedem Fall weniger komplex als die oben genannte Farrer-Goulder-Hypothese . 3. Die Logienquelle 3.1 Die Logienquelle und der historische Jesus Die Existenz der Logienquelle war zunächst nur ein „Nebenprodukt“ der Zweiquellentheorie: Vorrangiges Ziel war es, die Abhängigkeit der synoptischen Evangelien zu erklären. Sehr bald schon rückte die Logienquelle aber selbst ins Zentrum des Interesses. So legte 1907 Adolf von Harnack (1851-1930) mit „ Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas“ die erste vollständige Rekonstruktion der Logienquelle vor. In „ Das Wesen des Christentums“ (Auflagen 1900-1929, jeweils um Anmerkungen erweitert) offenbart Harnack das dahinter stehende Anliegen, wenn er schreibt: „Vor sechzig Jahren glaubte David Friedrich Strauß die Geschichtlichkeit auch der drei ersten Evangelien fast in jeglicher Hinsicht aufgelöst zu haben. Es ist der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen gelungen, sie in großem Umfang wiederherzustellen“ (Ebd., 65 f.). Harnack bezieht sich hier auf Strauß’ Publikation „ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (Band 1: 1835, Band 2: 1836), in der die Historizität der Jesusüberlieferung in Frage gestellt wird. Dem widerspricht Harnack nun, denn „[…] in der dem Matthäus und Lukas gemeinsamen Quelle [sc. der Logienquelle] sowie in zahlreichen Abschnitten des Markus besitzen wir allerdings umfangreiche und wesentlich [sic] zuverlässige Sammlungen von Sprüchen und Taten Jesu“ (Ebd., 66). Auch wenn sich die Sichtweise nicht zu halten vermochte, dass die Logienquelle eine Art Sammlung von Jesusworten im O-Ton sei, 37 so ist doch unumstritten, wie wich- 37 So noch D. Lührmann, Die Logienquelle und die Leben-Jesu-Forschung, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 191-206, hier 205: „Es handelt sich um ein Dokument der ersten Generation, und Q enthält im wesentlichen Worte Jesu, die im Unterschied zu Erzählungen von ihm ein höheres Maß an Authentizität vermitteln“. Zu Recht aber J. Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 207-254, hier 245: „… daß es fragwürdig ist in dem auf uns gekommenen Material zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung in der Weise unterscheiden zu wollen, daß die letztere mehr Anspruch auf Authentizität besitze, weil in ihr tatsächlich von Jesus gesprochene Worte bewahrt worden sein können, wogegen die Schilderung der Szenen von anderer Hand stammen muß“. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 183 tig die Logienquelle gemeinsam mit dem MkEv für die Rückfrage nach dem historischen Jesus ist. 38 Dabei ist zu beachten, dass „historische Realität […] stets nur als gedeutete zugänglich“ 39 ist und auch die Logienquelle (ähnlich wie das MkEv) bereits innergemeindliche Fortschreibungen der Jesusfigur vorgenommen hat. So wird Jesus in Q bereits mit dem „Menschensohn“ identifiziert, doch noch nicht mit dem Christustitel bedacht. 40 Damit wird die Logienquelle zu einer Art missing link zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der späteren Kirche. 41 3.2 Die Logienquelle als in sich geschlossener theologischer Entwurf Lange Zeit galt Q nur als eine „Materialsammlung“, sozusagen „ein größeres Notizbuch“, das „[…] jederzeit einen Einschub von neuen Blättern“ zuließ, aber „[…] nicht ein literarisches Dokument“, das eine innere Ordnung besaß. 42 Diese Sichtweise konnte durch rezente narratologische Studien widerlegt werden. Michael Labahn kommt in seiner 2010 publizierten Habilitationsschrift, „ Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte“ , zum Schluss, dass „das Dokument Q […] mehr als eine zufällige Aneinanderreihung von Sprüchen“ 43 darstellt, wie dies etwa beim Thomasevangelium der Fall ist, sondern „[…] eine innere Struktur - einen plot - hat“. 44 Ähnlich urteilen auch John Kloppenborg Verbin („we can speak of Q as a ‚literary unity‘“) 45 und Udo Schnelle („Die Endfassung der Logienquelle […] lässt eine bewusste literarische Gestaltung erkennen“ und weist eine „bewusste theologische Komposition“ auf) 46 . Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Habilitationsschrift von Hildegard Scherer, „Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex“ (2016), nämlich, „dass das Material der Traditio du- 38 Dazu Heil, Rekonstruktion, 141: „Das Markusevangelium und Q gelten als wichtigste Zeugnisse für die Rekonstruktion des historischen Jesus. Aber: Markus und Q müssen natürlich kritisch gelesen werden, da auch sie schon die Überlieferung gemäß ihrer je eigenen Theologie redigieren“. Ebenso Ebner, Die Spruchquelle Q, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 86-112, hier 86; Robinson, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, in: PZB 6 (1997) 1-14, hier 2 f. 39 Schröter, Der „erinnerte“ Jesus. Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: ders. / C. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 112-124, hier 121. 40 Siehe dazu ausführlich, Tiwald, Logienquelle, 151-166. 41 Vgl. dazu die Ausführungen bei Tiwald, Logienquelle, 144-146. 42 Luz, Matthäus I, 48. 43 M. Labahn, Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 32), Leipzig 2010, 574. 44 Labahn, Wiederkommender, 575. 45 Kloppenborg Verbin, Excavating, 135. 46 Schnelle, Einleitung 251. 184 Markus Tiwald plex [sc. der Logienquelle] einen eigenständigen […] in sich sinnvoll vernetzten Entwurf sozialer Identifikationsgrößen bietet […]“. 47 Zuletzt hat auch der Autor dieses Beitrags in seinem Kommentar zur Logienquelle (2019) versucht, den narrativen Gesamtduktus von Q zu erheben. 48 Als Textbasis der rekonstruierten Logienquelle dient dabei die Critical Edition of Q (CEQ) , herausgegeben 2000 von J. M. Robinson, P. Hoffmann, J. S. Kloppenborg und M. Moreland als Ertrag des 1989 gegründeten Internationalen Q-Projekts (IQP). 49 Von dieser Edition wurde „[…] ein insgesamt eher ‚konservativer‘ Q-Text hergestellt, der frei ist von extravaganten Spekulationen“. 50 In dem für Q zu veranschlagenden Material zeichnet sich ein eindeutiger narrativer Duktus, eine durchgehende theologische Vision und ein einheitlicher soziologischer Hintergrund ab, 51 Aspekte, die auch für die Rekonstruktion der Anfänge des Christentums von hoher Bedeutung sind. 3.3 Die Logienquelle als Dokument jüdischer Jesusjünger/ innen In jüngster Zeit mehren sich Stimmen, die für die Logienquelle noch keinen Bruch mit dem Judentum veranschlagen. 52 Damit sind wir in der glücklichen Situation, ein (wenn auch nur rekonstruiertes) Dokument aus der Zeit zu besitzen, da die Jünger Jesu noch Juden waren! Somit ist die Logienquelle nicht nur ein missing link zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der späteren Kirche, sondern auch zwischen dem Frühjudentum und dem beginnenden Christentum. Für die heute intensiv diskutierte Frage nach dem Parting of the Ways (Wann schieden sich die Wege zwischen Judentum und Christentum und wie stark sind unsere jüdischen Wurzeln? ) 53 stellen die Studien zur Logienquelle einen unschätzbaren Wert dar. Aber auch in der Rückfrage nach dem historischen Jesus setzt das Studium der Logienquelle neue Impulse. Gerade an Q wird deutlich, dass weder ein unkritisches Suchen nach dem „wahren Jesus“, der aus den Texten herausgefiltert wird (sozusagen „als nachträgliche Präsentation des zuvor 47 H. Scherer, Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex (BBB 180), Göttingen 2016, 546. 48 Vgl. Tiwald, Kommentar zur Logienquelle, Stuttgart 2019, 31-44. 49 Zu IQP und CEQ vgl. Heil, Rekonstruktion, 133-138, und Tiwald, Logienquelle, 35-38. 50 Heil, Rekonstruktion, 137. 51 Zur soziologischen Verortung der Trägergruppe hinter Q vgl. Scherer, Königsvolk, passim, und die von Tiwald edierten Sammelbände Q in Context I. The Separation between the Just and the Unjust in Early Judaism and in the Sayings Source (BBB 172) und Q in Context II. Social Setting and Archeological Background of the Sayings Source (BBB 173) , beide Bonn 2015. 52 Vgl. dazu den Literaturüberblick und die intensive Diskussion bei Tiwald, Logienquelle, 94-117. 53 Siehe dazu Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums. Ein Studienbuch (BWANT 208), Stuttgart 2016, 25-52. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 185 erforschten Materials“ 54 ), noch ein ebenfalls a-historisches Außer-Acht-Lassen der Gewachsenheit unserer Traditionen dieser Rückfrage gerecht wird. In der deutschen „Exegeten-Szene“ wird mir von Kollegen bisweilen gesagt: „Auch ich glaube, dass es so etwas wie die Logienquelle gab, aber arbeiten möchte ich mit solchen Hypothesen nicht! “ Diese Zurückhaltung ist verständlich, aber falsch. Ein Abgehen von der Quellenfrage unserer Jesustraditionen hieße auch ein Aufgeben der Geschichtlichkeit unseres Heils - ein Ignorieren der Wachstumsprozesse läuft Gefahr, ein Stück der Menschwerdung Gottes selbst zu verlieren. Auch wenn wir in der Geschichtswissenschaft keine hundertprozentigen Sicherheiten bieten können, ist es doch der Redlichkeit geschuldet, „Quellen, die sich an die Spuren der Vergangenheit gebunden wissen, von solchen Überlieferungen […], die sich als legendarische Einkleidungen der Jesusfigur erweisen […]“ 55 zu scheiden. Ansonsten würden wir vor dem „garstigen breiten Graben“ kapitulieren, den Lessing zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus des Glaubens zeichnete. 56 Denn Lessing hatte noch befunden: „[…] zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen [sic] Vernunftswahrheiten nie werden“. 57 Die reine Vernunftreligion benötigt nach Lessing gar keinen historischen Anker , sie muss zeitlos gültig sein. Hier schon zeigt sich ein Grundmerkmal der „Leben-Jesu-Forschung“ des 18. Jh.s - diese war in ihren Anfängen paradoxerweise a-historisch konzipiert. Doch Jesus und die von ihm erzählenden Evangelien sind keine a-historischen Ideen, sondern der Historizität mit all ihren Konsequenzen unterworfen. Natürlich ist man „auf der sicheren Seite“, wenn man rein synchron (also unter Ausblendung der diachronen Entstehungsgeschichte) etwa die Erzählpragmatik eines Lukas oder Matthäus untersuchen will. Aber selbst diese können wir nur voll und ganz würdigen, wenn wir wissen, wie viel die beiden Seitenreferenten ihren Quellen verdanken und wie weit sie diese auch regruppiert und neu ausgerichtet haben. Bleibe ich ausschließlich in der Synchronie stecken, werde ich den Texten als historischen Dokumenten nicht gerecht. Es war ein großes Verdienst in der Folge der Aufklärung, die Evangelien als gewachsene Texte zu verstehen und nicht als wortwörtliches Gottesdiktat. Dieses Stück historisch geerdeten Glaubens sollten wir uns nicht nehmen lassen, sondern unsere Arbeit als Teil des „historischen Verstehens im Sinne deutender Erinnerung“ 58 betrachten. 54 So die berechtigte Kritik bei Schröter, Frage, 224. 55 Schröter, Erinnerung, 121. 56 G.E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Edition: Karl Lachmann, dritte Neuauflage durch Franz Muncker (ed.), Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, Bd. 13, Leipzig 1897, 1-8. Digitalisat (abgerufen: 19.05.2019): https: / / ia801409. us.archive.org/ 10/ items/ smtlicheschrif13lessuoft/ smtlicheschrif13lessuoft.pdf. 57 Ebd., 5. 58 Schröter, Frage, 224.
