eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 22/43-44

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
2243-44 Dronsch Strecker Vogel

Buchreport: Mogens Müller, Heike Omerzu (Hrsg.) Gospel interpretation and the Q-Hypothesis London u.a.: Bloomsbury T&T Clark 2018 (Library of New Testament Studies 573) X, 302 S., gebunden ISBN 978-0-5676-7004-5

1201
2019
Manuel Vogel
znt2243-440199
Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Buchreport Manuel Vogel Mogens Müller, Heike Omerzu (Hrsg.) Gospel interpretation and the Q-Hypothesis London u.a.: Bloomsbury T&T Clark 2018 (Library of New Testament Studies 573) X, 302 S., gebunden ISBN 978-0-5676-7004-5 200 Buchreport Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Tagung im dänischen Roskilde im Jahr 2015 zurück, die von Heike Omerzu und Mogens Müller veranstaltet wurde. Der Umfang der Besprechung bedarf eines Wortes der Erklärung: Er ergab sich aus dem Wunsch des Rezensenten, der Bedeutung des Bandes für den aktuellen Forschungsstand dadurch Rechnung zu tragen, dass die einzelnen Beiträge in einer Ausführlichkeit zur Kenntnis genommen werden können, die auch Nicht-Spezialisten die Möglichkeit eröffnet, die darin dokumentierten Fortschritte und Positionen so gründlich selbst nachzuvollziehen, dass der Ertrag der Lektüre des Buchreports fast schon an den der Lektüre des Buches selbst heranreicht, ohne sie freilich vollgültig zu ersetzen. Der Rezensent hat sich bis auf einige wenige Stellen mit eigenen Meinungsäußerungen weitestgehend zurückgehalten und statt dessen alle Mühe darauf verwendet, den Leserinnen und Lesern der ZNT den im zu besprechenden Band erreichten Diskussionsstand möglichst gründlich zu referieren, und zwar in der Erwartung, dass die Mühe der Lektüre dieses Buchreports dadurch bei weitem aufgewogen wird, dass auf diese Weise auch Positionen zur Sprache kommen, die im Heft sonst keinen oder nur wenig Raum haben. John S. Kloppenborg bietet in seinem Beitrag „Conceptual Stakes in the Synoptic Problem“ (13-42) eine eingehende forschungsgeschichtliche und methodologische Standortbestimmung der gegenwärtigen Forschung zur synoptischen Frage. Einleitend stellt er im Blick auf die gegenwärtig meistdiskutierten Modelle (Zweiquellen-Hypothese, Farrer-Hypothese und Neo-Griesbach-Hypothese - mit der Markion-Priorität befasst er sich freilich nicht -) fest: „I am not of the view that definitive arguments for or against any of these hypotheses or variations of these are in fact possible“ (13), und er formuliert abschließend als ein Anliegen seines Beitrags, „to inject a degree of humility into our musing about the S[ynoptic] P[roblem] and to caution against the hybris that announces that certain hypotheses have been ,discredited‘ when in fact the particular complexion of data that is available hardly admits the language of deductive testing and disproof “. Allerdings gibt es auch kein „freefor-all of groundless speculation“ (42). Vielmehr ist eine Methodenreflexion zur Synoptischen Frage („Methodological Issues“, 14-29) umso dringender nötig. Unstrittig ist für Kloppenborg, dass die synoptischen Evangelien ein „layered text“ sind, „in which prior construals are engaged and submerged, eirenically or otherwise, in a new configuration of textual elements“. Zwar sind synchrone Zugänge wertvoll, doch seien für das Textverständnis diejenigen Stellen wichtig, „at which predecessor materials are manipulated, suppressed, enhanced, or qualified“. Methodologisch geht es zunächst um die Frage der „Primary Data for the Synoptic Problem“ (14). Zwar werden schon lange ,außerkanonische‘ Buchreport 201 bzw. ,apokryphe‘ Texte, allen voran das Thomasevangelium, auf ihre Beziehungen zu den synoptischen Stoffen hin befragt, aber „it is one thing to argue that some of the sayings of Thomas are early and show no dependence on the Synoptics“, jedoch „quite another matter to integrate“ - wie von Francis Watson gefordert - „Thomas into a stemma of Synoptic relationship and to posit an early version of Thomas as one of the sources of the Synoptics“ (18). Unabhängig vom Umfang der Primärdaten der Synoptischen Frage trifft das Ansinnen einer neutralen Beschreibung dieser Daten auf die doppelte Schwierigkeit (a) der textgeschichtlichen Fluidität, die sich in den von Ausgabe zu Ausgabe des Nestle-Aland immerzu veränderten textkritischen Apparaten niederschlägt, und (b) der Unmöglichkeit einer neutralen synoptischen Präsentation des Synoptischen Stoffs, wie an erheblichen Unterschieden in Text, paralleler Perikopenanordnung und textkritischem Apparat der in Gebrauch befindlichen Synopsen deutlich wird (18-20). Eine weitere Schwierigkeit besteht nach Kloppenborg darin, dass etwa bei der Analyse der Übereinstimmung von Mt und Lk gegen die Markus-Akoluthie mehrere „logically possible configurations“ (20) möglich sind und dass auch bei anderen synoptischen Streitfragen kein logisch zwingendes Schlussverfahren zur Verfügung steht. So wurde gegen Michael Goulders Nachweis matthäischen Vokabulars bei Lk, mit dem die Unabhängigkeit des Lk von Mt zwingend widerlegt werden sollte, eingewendet, dass es umgekehrt bei Mt lukanisches Vokabular gebe (20 f.). Der Anspruch, eine gegenteilige Hypothese zwingend „widerlegt“ oder „falsifiziert“ zu haben, sei „at best rhetorical, attempting to manufacture unearned credibility for one’s own hypothesis, and at worst simply fallacious“. Ob etwas „plausibel“ ist, hänge von den jeweiligen „canons of plausibility“ ab, die von Forschungsposition zu Forschungsposition differieren. Methodologisch sei angesichts dessen geboten „to discipline one’s own ingenuity in generating possible editorial scenarios“. Ein s.E. verbreiteter Fehlschluss, den Kloppenborg mit „Renaming the Problem“ bezeichnet, liege etwa dann vor, wenn Goulder die Verteilung matthäischen Materials bei Lk mit der lk „block policy“ (blockweise abwechselnde Verwendung von Mk und Mt als Primärquelle) und seiner weiteren „policy“, mit Mt im Kontext eines Q-Logions niemals übereinzustimmen, erklärt. „This, however, is not an explanation; it only renames the problem. Luke’s disagreement with Matthew is converted into a set of aesthetic preferences of Luke with the help of Goulder’s assumption of Luke’s dependence of Matthew“ (22). Zu sagen „he did so, because he wanted to“ sei kein Argument (23 Anm. 35). Dagegen wird eine Erklärung dann „persuasive if not compelling“, wenn sie sich auf ein „coherent set of data“ bzw. auf eine an anderen Texten aufweisbare Regelhaftigkeit berufen kann. Kloppenborg unterscheidet hier „[c]oherence arguments“ (24), d. h. solche, die auf einem ganzen Netz von Transformationen innerhalb eines Dokuments beruhen - wobei auch 202 Buchreport diese nicht selten einander ausschließende Theorien unterstützen (25) - und „[e]xternally buttressed arguments“, die editorische Prinzipien, die für die synoptischen Evangelien angenommen werden, mit denen anderer Textcorpora vergleichen, so etwa Thomas Longstaff ( Evidence of Conflation of Mark? A Study in the Synoptic Problem , 1977), der auf diese Weise die für die Neo-Griesbach-Hypothese entscheidenden mt-lk-Textverschmelzungen („conflations“) durch Markus plausibilisieren will (25). Freilich könne der Vergleich nur die (auch von der Zweiquellen- und der Farrer-Hypothese angenommene) Verbindung von Textblöcken erweisen, nicht die für Mk angenommene „microconflation“ unterhalb der Satzebene (26). Einen der „more promising ways to ,normalize‘ our imaginations about the kinds of editorial operations that are plausible and those that are not“ (27), findet Kloppenborg in der Orientierung an Stilgesetzen antiker Progymnasmata und anderer zeitgenössischer Rhetorik-Handbücher, etwa Klarheit ( perspicuitas ) und textinterne und -pragmatische Stimmigkeit ( aptum ). So sei immerhin gewährleistet, dass antike rhetorische Konventionen maßgeblich sind anstatt subjektiver moderner Geschmacksurteile. Im zweiten Teil seines Beitrages geht es Kloppenborg um Fragestellungen einer s.E. noch ausstehenden „Critical History of the Synoptic Problem” (29-42), die wissenssoziologisch die „conceptual frameworks“ freilegt, die die einen Modelle favorisieren, andere aber als unplausibel ausgrenzen (30). Wie hinreichend bekannt ist, ging es bei der synoptischen Frage nie nur um literarische, sondern auch um theologische und historische Probleme. Am Anfang stand Lessings „Urevangelium“ als direkte Antwort auf Reimarus’ Angriff auf die Glaubwürdigkeit der Evangelien (30 f.). Erst im Laufe des 19. Jh.s ging es in zunehmender Verfeinerung auch um literarische Fragen, doch auch hier dienten hypothetische literarische Quellen dazu „as much to exorcize the ghost of Reimarus as they did to solve specific textual problems“ (31). Erst Holtzmann ging es um die Synoptische Frage primär als ein Problem der Textgenese der Synoptiker, doch war der Siegeszug der von ihm erarbeiteten Zweiquellen-Hypothese insofern dezidiert theologiebildend, als er für die Dauer von vier Jahrzehnten die Grundlage für eine lange Reihe liberaler Leben-Jesu-Darstellungen bildete, die das Markusevangelium psychologisierend der romantischen „großen Persönlichkeit“ anverwandelten, die im Laufe erlittener Krisen ihren moralisch exzellenten Charakter entfaltete (32). Freilich: Die theologischen Implikationen der im Laufe des 19. Jh.s vorgetragenen Antworten auf die Synoptische Frage entwerten nicht ihren literarischen Ertrag (33)! Gegenwärtig stehen, so Kloppenborg, v. a. die Fragen (a) nach dem ,historischen Jesus‘ und (b) der „conceptual landscape“ der frühen Jesusbewegung zur Debatte (33). Buchreport 203 (a) In die Vorgeschichte hierzu gehört die Erschütterung des Vertrauens in das MkEv durch Wrede, die ersatzweise Favorisierung der Logienquelle durch Harnack und die damit eröffnete lange Hochphase der Q-Forschung (33 f.). Wenn freilich Robinson das älteste Stratum von Q für das zuverlässigste hält, werden, so der Q-Forscher Kloppenborg, unzulässigerweise Kompositionsmit Traditionsgeschichte vermischt und das editorische Verfahren der Q-Tradenten fälschlich für die Unterscheidung zwischen authentischem und nichtauthentischem Jesusgut in Anspruch genommen (34). Dagegen tritt für Michael Goulder wieder stärker das MkEv in den Vordergrund, hinter dem er altes „Peter-James-John material“ vermutet. Mt und Lk seien dagegen keine Sammler von (zusätzlicher) Tradition, sondern jeweils Urheber einer eigenen „Komposition“ (composing). Damit reduziere sich, so Kloppenborg, „the volume of material upon which to construct a portrait of the historical Jesus […] to almost nothing“. Anders wiederum bei William Farmer als Vertreter der Neo-Griesbach-Hypothese, der sich ganz auf das MtEv stützt und dem s.E. von Mt abhängigen LkEv keinen Zugang zu nicht- oder gar vormt. Material zutraut (34 f.). Die erheblichen Konsequenzen des Goulder’schen wie des Farmer’schen Modells werden beispielhaft anhand der aus Sicht der Zweiquellentheorie für genuin jesuanisch gehaltenen Seligpreisung der Armen in Lk 6,20b deutlich, die dann eben für die Frage nach dem historischen Jesus unversehens ausscheidet (35). Für Goulder ist die Option für die Armen überhaupt erst eine lk. Bildung. Jesus und seine Jünger seien keineswegs arm gewesen, hatten vielmehr „respectable middle-class backgrounds“! Für eine gewisse Entkoppelung von synoptischer Frage und historischer Jesusforschung hat sich William E. Arnal in einem Aufsatz von 2008 („The Synoptic Problem and the Historical Jesus“) ausgesprochen, mit dem Argument, dass „editorial choices“ in Q, Mk, Mt oder Lk nicht notwendigerweise Schlüsse auf Alter oder Authentizität des verwendeten Materials zulassen, schlicht aber auch deshalb, weil „there are […] too many unknowns in the S[ynoptic] P[roblem]“ (36). Auch die Ansicht Marc Goodacres ist hier zu nennen, der als Vertreter der Farrer-Hypothese gleichwohl die Möglichkeit zulässt, Lk könnte von Fall zu Fall Zugang zu „orally transmitted material“ gehabt haben, „that might be more primitve than Matthew’s versions“. (b) Im Blick auf die „[c]onceptual [l]andscape of the [e]arly Jesus [m]ovement” (38) hängt an der Q-Hypothese die Annahme eines Dokuments „that is far less invested in christological apologetics and in advancing an explantation of Jesus’ death (which flows from christological apologetics) than any of the intracanonical gospels“. Wird die Q-Hypothese aufgegeben, entfällt eine anschauliche Ausprägung frühchristlicher Pluralität. Ebenso entfällt die Unterscheidung des in Q greifbaren ländlichen Settings innerhalb des jüdischen Milieus der galiläischen Dörfer einerseits, in dem Beschneidung, Sabbat und Speisegebote 204 Buchreport noch unproblematisch waren, vom späteren städtischen Umfeld andererseits, das bereits Spuren der Annäherung an Nichtjuden erkennen lässt, die Fragen der Toraobservanz aufwirft (38-40). Bei Zugrundelegung der Farrer- oder der Neo-Griesbach-Hypothese wird diese Unterscheidung unscharf und im Blick auf die Christologie entsteht dann „a different impression: that christology was at the heart of the Jesus movement from its very beginning“ (40). Im Blick auf die intellektuellen Milieus, die hinter der synoptischen Tradition in den einzelnen Stadien ihrer Genese stehen, sieht Kloppenborg noch erheblichen Forschungsbedarf. Als vielversprechendes Beispiel nennt er Giovanni Bazzana, „Kingdom of Bureaucracy: The Political Theology of Village Scribes in the Sayings Gospel Q“ (2014), der das ägyptische Milieu dörflicher Schreiber als komparativen Kontext verwendet, um zu begründeten Hypothesen zum sozialen Umfeld der Logienquelle - „if such a thing ever existed“ (41) - zu gelangen. Keine synoptische Hypothese ist, wie Kloppenborg abschließend feststellt, „innocent of ideological commitments. The most comfortable of those hypotheses are likely the least innocent“ (42). Stefan Alkier, „Sad Sources. Observations from the History of Theology on the Origins and Contours of the Synoptic Problem“ (43-77), unternimmt eine weit gespannte theologiegschichtliche Einodnung der Synoptischen Frage. Der Beitrag im vorliegenden Band der ZNT fußt auf diesem Text. Seine Bedeutung liegt m. E. darin, dass er die Unterscheidung „vorkritischer“ Epochen der Bibelauslegung von der „kritischen“ ebenso relativiert wie diejenige „wissenschaftlicher“ und „unwissenschaftlicher“ oder „historischer“ und „unhistorischer“ Herangehensweisen, u. zw. nicht mit dem Ziel einer Herabwertung „kritischer“, „wissenschaftlicher“ und „historischer“ Exegese, sondern umgekehrt in Würdigung der philologischen, methodologischen, historischen und literarischen Leistungen neutestamentlicher Exegese nicht erst seit Semler oder Reimarus, sondern bereits seit der Alten Kirche. Andererseits wird freilich sehr deutlich, dass auch die historisch-kritische Epoche der Erforschung des Neuen Testaments sich an keiner Stelle von theologischen Vorannahmen und Interessen ihrer Zeit gelöst hat, sondern stets mit ihren theologie- und kirchenwie auch handfesten zeitgeschichtlichen Kontexten eng verbunden war. Dies ist deshalb wichtig, weil die Exegese des Neuen Testaments zumal im akademischen Lehrbetrieb ansonsten in der Gefahr steht, im Habitus interesselos-objektiver Wissenschaftlichkeit wahrgenommen zu werden, der sich ein glaubensgebundener Zugang zu den Texten stets nach- und unterzuordnen hat und sich von einer angeblich „objektiven“ Methode sagen lassen muss, welche Interpretationen „historisch statthaft“ sind und welche nicht. Vielmehr verhält es sich, wie Alkier in einem konzentrierten Durchgang durch die Forschungs- Buchreport 205 geschichte zeigt, so, dass historisch-kritische Exegese ausnahmslos auf theologischen Vorannahmen beruht. Diese sind nicht unstatthaft und schmälern nicht den jeweiligen wissenschaftlichen Ertrag, müssen aber offengelegt werden, weil wissenschaftliche Objektivitätsprätentionen immer einschüchternd wirken. Im Blick auf die Alte Kirche ist festzustellen, dass bereits bei Papias (46 f.) insofern ein „kritischer“ Umgang mit den Evangelien zu verzeichnen ist, als hier bereits von einem „sekundären“ Arrangement der synoptischen Stoffe entgegen tatsächlicher Ereignisfolgen und von der Vermitteltheit der Jesusüberlieferung - der Markusevangelist war selbst kein Augenzeuge - ausgegangen wurde. Freilich: Als Mitarbeiter des Apostels und Augenzeugen Petrus ist Markus für Papias gleichwohl als Garant zuverlässiger Überlieferung ausgewiesen (was sein Evangelium übrigens noch nicht in den Rang einer „Heiligen Schrift“ hebt, 47). Das Interesse an zuverlässiger historischer Überlieferung teilt die Alte Kirche aber mit der historischen Kritik der Moderne, nur dass diese ausgefeiltere Modelle entwickelt hat. Interessant ist auch, was das Muratorische Fragment zum JohEv sagt, dass es sich nämlich um ein inspiriertes Gemeinschaftswerk handelt, mithin eines, das ohne das Konzept der individuellen Autorschaft verstanden werden kann (48). Dass die Vielfalt der frühchristlichen Jesusüberlieferung als problematisch empfunden werden konnte (49 f.), ist zuerst im Prolog des LkEv (Lk 1,1-4) greifbar, der das Programm der Vereinheitlichung divergierender Jesusdarstellungen formuliert, sodann bei Markion, der einzig ein von ihm bearbeitetes LkEv gelten lassen wollte (oder hat umgekehrt Lukas das Evangelium des Markion bearbeitet? ), und schließlich bei Tatian, der aus den vier ntl. Evangelien und anderer Jesustradition eine Evangelienharmonie schuf. Der apologetische Hintergrund dieser Strategien der Vereinheitlichung (51-54) wird erstmals bei Justin greifbar, der sich mit dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit auseinandersetzte, der von nichtchristlicher Seite gegen Mt, Mk und Lk erhobenen wurde. Angriffe dieser Art kamen zumal von Kelsos, der in seiner wider die Christen gerichteten Schrift alēthēs logos („Wahre Lehre“) ein intensives Studium der biblischen Schriften erkennen lässt. Origenes, der sich mit Kelsos’ Angriffen auseinandergesetzt hat, war dank seiner Auffassung vom mehrfachen Schriftsinn in der Lage, die Differenzen zwischen den Evangelien als inspirierte Verschiedenheit gelten zu lassen. Auch Augustin konnte seine Auseinandersetzung mit der Christenschrift des Porphyrius führen, ohne sich an der Pluralität der Jesusdarstellungen in den Evangelien zu stören. Er unterschied zwischen der invarianten „Geschichte“ der Evangelien und ihren je unterschiedlich ausgeprägten „Erzählungen“. Augustin war dabei der erste, der eine literarische Abhängigkeit zwischen den Evangelien annahm, nämlich eine Benutzung von Mt durch Mk. In einer Weiterentwicklung dieser Benutzungshypothese zählte er später auch das LkEv zu den Quellen des Mk. Im 18. Jh. wurde dieses Modell 206 Buchreport von Johann Jakob Griesbach vertreten, und im 20. Jh. in Gestalt der Neo-Griesbach-Hypothese von William Farmer und anderen. Auch die exegetischen und hermeneutischen Entscheidungen der Reformation erschließen sich erst im geschichtlichen Kontext ihrer Zeit. So ist Luthers Rede von der „Klarheit“ ( perspicuitas ) der Schrift, die seine Forderung des sola scriptura begründete (55-58), auf dem Hintergrund von über Jahrhunderte sich erstreckenden Debatten über das Verhältnis von Schrift und Tradition zu sehen. Seit Augustin gab es einen nur relativen Vorrang der Autorität der Schrift gegenüber der Autorität der Tradition, die immer dann zu Rate zu ziehen war, wenn Schriftstellen als unverständlich galten. Wenn Luther demgegenüber die Klarheit der allein gültigen Schrift behauptete, meine er damit freilich nicht, dass die Schrift immer einfach zu verstehen sei. „Luther’s sola scriptura […] was a call to methodological instruction in Biblical interpretation, which began with the text and always took Biblical intertexts into account“ (57). Damit verschiebt sich freilich bereits unter der Hand der Schwerpunkt von der „Klarheit der Schrift“ zur „Klarheit der Analyse“, und an die Stelle der früher beherrschenden „Tradition“ tritt nun das exegetische Expertenwissen, mit der historisch-kritischen Exegese als ihrer modernen Erscheinungsform, „which has more in common with Celsus and Porphyry than with Origen and Augustin“ (58). Dass die Lehre von der Klarheit der Schrift damit beinahe ihre eigene Idee zerstört hat, nennt Alkier das „protestantische Paradox“ (58). Gewissermaßen im Vorgriff darauf reagierten katholische Gelehrte, hier v. a. Richard Simon (1638-1712), auf die reformatorisch behauptete perspicuitas der Bibel mit dem Nachweis ihrer vielfachen Unverständlichkeit, der nur durch den Rekurs auf die autoritative Tradition der Kirche beizukommen sei. Nicht zufällig gilt der Katholik Richard Simon als Pionier der historischen Kritik! (59). Für deren weitere Entwicklung verweist Alkier auf die Religionskriege zwischen 1618 und 1648, die aus Sicht europäischer Intellektueller jeden autoritären Rekurs auf religiöse Wahrheit und den unantastbaren Bibelkanon völlig desavouierten. Die Deklaration des apokryphen Barnabas-Evangeliums durch John Toland (1670-1722) als ursprüngliches Evangelium (60 f.) ist ein sprechendes Beispiel für die intellektuelle Stimmungslage dieser Zeit. Während Henry Owen seine 1764 erschienenen Observations on the Four Gospels noch in den Dienst des Aufweises der Klarheit der Schrift stellte (61 f.), verfolgten Johann Salomo Semler (1725-1791) und Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) Strategien der Disharmonisierung (62-66). Semler plädierte in Abwehr religiös legitimierter Kriege für Diversität und für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Weisen der Gottesverehrung und fand diese Diversität dementsprechend auch in den frühchristlichen Texten. Kanon und Verbalinspiration, worin er ein Instrument kirchlicher Machtpolitik sah, lehnte er ab. Schon Jesus selbst habe seine Verkündigung auf unterschied- Buchreport 207 liche Adressaten abgestimmt, mithin nicht immer nur dasselbe gesagt, und für die Ausbreitung des Christentums sei die Diversität seiner Glaubensweisen und Gruppen entscheidend wichtig gewesen. Als Modell für die Entstehung der Synoptischen Evangelien - das JohEv, von Semler übrigens für das früheste gehalten, steht hier beiseite - entwickelte Semler seine Fragmenten-Hypothese, denn literarisch entspricht der Diversität das Fragment als Grundbaustein der evangelischen Tradition. Erst die erstarkende katholische Kirche habe die frühchristliche Vielfalt unterbunden und vereinheitlicht. Für Semler hing die Zukunft der Kirche an der Wiederentdeckung ihrer ursprünglichen Vielfalt. „Historical Criticism served to demonstrate that the polyphony of Christian voices was theologically acceptable. He thus employed his study of the diversity of early Christianity for normative purposes, advocating freedom of religion and tolerance for all forms of Christian faith“ (65). Mit Reimarus beginnt insofern ein neuer Abschnitt der Forschungsgeschichte, als er dort, wo Semler zu begrüßende Vielfalt sah, „with a sharper polemical edge“ (66) die Kategorie des „Betrugs“ in die weitere Diskussion einführte. Reimarus „transformed the diversity that Semler had seen in early Christianity into a ,problem‘ and turned the hermeneutic of suspicion into a trademark of historical-critical hermeneutics“ (66). Wie tief die Gegensätze zwischen Semler und Reimarus waren, kann man daran ermessen, dass Reimarus mit einer 350 Seiten starken Entgegnung auf die Fragmente eines Ungenannten reagierte. Mit Voltaire, Hume und Edward Gibbon betraten sodann Philosophen und Historiker die Bühne, die die Frühgeschichte des Christentums zum Gegenstand säkularer Geschichtsschreibung machten, und die aus Sicht eines sich selbst an das Ende des historischen Prozesses setzenden progressiven Geschichtsverständnisses an die christlichen Anfänge keinen besonderen Wahrheitsanspruch stellten und Unterschiede und Widersprüche bedenkenlos offenlegten. Auch darin sah kirchliche Theologie eine Provokation. Johann Jakob Griesbach (1745-1812) und sein Schüler Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) reagierten auf Reimarus mit „Strategien der Reharmonisierung“ (67-71). Griesbach, der mit seiner Commentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur ( Jena, 1789-90) auf Henry Owens Observations on the four Gospels fußte, verfasste gleichwohl keine weitere Evangelienharmonie, sondern die erste wissenschaftliche Synopse ihrer Art. In Anknüpfung an Augustin sah er im MkEv eine Kompilation aus Mt und Lk, der Matthäusevangelist galt ihm als Augenzeuge, der Markusevangelist als intelligenter Autor eines speziell für Heidenchristen konzipierten Evangeliums, Widersprüchliches zwischen den Evangelien als erklärbar, die Schrift als klar und zuverlässig. Griesbachs Hypothese konkurrierte lange Zeit mit der Urevangeliums-Hypothese seines Schülers Eichhorn, bis diese im Zuge der maßgeblich von Herder beförderten 208 Buchreport Ursprungs-Romantik, die das Ursprüngliche mit dem Essentiellen identifizierte, der Griesbach-Hypothese schließlich den Rang ablief. Eichhorn sah in dem von ihm postulierten „Urevangelium“ das authentische Dokument einer konsistenten Lehre Jesu, die erst durch spätere Übermalungen der Evangelisten entstellt worden, exegetisch jedoch rekonstruierbar sei. Eichhorn trat damit in einen Gegensatz zu Semler: Hatte Semler frühchristliche Diversität geschätzt, galt sie Eichhorn als Verzeichnung des ursprünglichen und widerspruchsfreien Urevangeliums Jesu. Auf dieser Linie liegt auch Lessings Nazarenerevangelium, das nach seiner Auffassung allen anderen Evangelien zugrunde lag. Stets ging es darum, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus die spätere Diversität erklärbar und auf die sie rückführbar war. „Historical-critical observations about diversity were thus transformed into an anxious quest for historical certainty“ (72). Frühchristliche Vielstimmigkeit wird um der einen und einzigen ipsissima vox willen geopfert. Herder, der die einfachere, kürzere Form gegenüber der komplexeren, längeren zur ursprünglicheren erklärte, fand im MkEv das früheste Dokument der synoptischen Tradition, das sich aus einzelnen, ursprünglich mündlich tradierten „Diegesen“ zusammensetzte. Ein Urevangelium im Stil Eichhorns war Herder demgegenüber zu hypothesenträchtig. Dass sich die Markuspriorität in der Folgezeit weitgehend durchsetzte, ist Christan Hermann Weisse, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet von 1838 und Christian Gottlob Wilke, Der Urevangelist oder die exegetisch kritische Untersuchung über die Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelien (ebenfalls 1838) geschuldet, der Siegeszug der darauf aufbauenden „Zweiquellentheorie“ - von Alkier in Anführungszeichen gesetzt, weil die angeblich einfache Hypothese tatsächlich ein kompliziertes Hypothesengebäude ist (75) - dem Einfluss von Heinrich Julius Holtzmann, Die synoptischen Evangelien (1863). Diese Namen gewissermaßen am Vorabend einer Epoche der Synoptikerforschung, die von weitestgehender Akzeptanz der Zweiquellentheorie bestimmt war, machen dreierlei deutlich: (a) Der Titel von Weisses Buch lässt einen in seiner Zeit augenscheinlich unhinterfragten „philosophischen“ Anteil an der Synoptischen Frage erkennen. (b) Der Umstand, dass Holtzmann in einem späteren Werk seine forschungsgeschichtlich so einflussreiche Hypothese selbst modifizierte - in seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament von 1886 notiert er, dass Lukas doch wohl „seine beiden Vorgänger gekannt“ habe (398)! - ist ein Schlaglicht auf die Reversibilität auch noch der etabliertesten Modelle. (c) Von einer irgendwie gearteten „Klarheit der Schrift“ kann nun längst nicht mehr die Rede sein. An ihre Stelle tritt der Wettbewerb der klarsten Analysen, der sich freilich als unentscheidbar erwiesen hat. Was bleibt, sind die von Alkier im Titel seines Aufsatzes so genannten „sad sources“, Buchreport 209 die, so mag man das Bild weiterdenken, ihres jahrhundertelangen Traktiertwerdens längst müde sind. Mogens Müller fragt im Titel seines Beitrages: „Were the Gospel authors Really ,simple Christians without literary gift‘ (Albert Schweitzer)? “ und diskutiert hierzu „arguments for the quest for sources behind the Gospels“ (79-96). In der „Introduction“ (79 f.) konstatiert er „two main tendencies“ in der gegenwärtigen Synoptikerexegese, deren eine darin besteht, die Frage nach den verwendeten Quellen maximal zu gewichten und dementsprechend die „independent creativity“ der Evangelienverfasser als sehr gering einzuschätzen. Dagegen steht die Tendenz, „primarly with the actual texts“ zu arbeiten und sie als Werke unabhängiger und kreativer Autoren anzusehen. Hier sieht er die Frage nicht nach Quellen, sondern nach „mutual literary dependence“ der Synoptiker als vorherrschend. Maßgeblich war von Anfang an die Suche der Aufklärung nach dem historischen Urgestein der authentischen Jesustradition, auf der aufgeklärtes Denken die Religion gründen wollte. Das Johannesevangelium wurde, wiewohl theologisch vielfach geschätzt, als mögliche Quelle schon früh ausgesondert, und auf dem Feld der Synoptiker wurden ihre Verfasser als „vehicles of tradition“ angesehen. Dagegen markieren die Stichworte „Form-history“, „Redaction history“, „Redaction criticism“ und „reception criticism“ forschungsgeschichtliche Etappen, an deren Ende die „relative independence and creativity“ der Evangelienverfasser stärker gewürdigt wird. Den dann anschließenden forschungsgeschichtlichen Überblick gliedert Müller in vier Phasen, deren erste „from the Urevangelium hypothesis to the Mark hypothesis [d. i. Mk-Priorität, M.V.]“ (80) reicht. Wichtige Namen sind hier Griesbach (Abhängigkeit des Mk von Mt und Lk) sowie Gottlob Christian Storr (1746-1805) als früher Vertreter der Mk-Priorität. Demgegenüber nahm Lessing keine literarische Abhängigkeit zwischen den Synoptikern an, sondern ein altes aramäisches oder hebräisches Evangelium als gemeinsame Grundlage. Die relative Kürze von Mk führte Lessing darauf zurück, dass Mk eine kürzere Version dieses Evangeliums zur Verfügung hatte. Man sieht, wie schnell jede synoptische Hypothese auf Zusatzhypothesen angewiesen ist! Auch Eichhorn ging von einem solchen Urevangelium aus, da s.E. zur „Simplification des christlichen Lehrbegriffs“ beitrug (Eichhorn bei Kümmel, Das Neue Testament, Freiburg 1958, 93) und es erlaubte, innerhalb der Evangelien das Spätere auszuscheiden. Für Eichhorn wäre ein „Verräther der Religion“, der „sich der Bemühung widersetzen wollte, die Evangelien auf ihre apostolischen Theile allein wieder zurückzubringen, und die späterhin bey ihrer Umarbeitung hinzugekommenen Zusätze und Vermehrungen wieder abzusondern“. Ein weiterer Vertreter der Urevangeliums-Hypothese war Herder, der diesem Evangelium jedoch, der roman- 210 Buchreport tischen Hochschätzung der Mündlichkeit entsprechend, eine mündliche Form zuschrieb, nämlich der Predigt. Zugleich votierte er dafür, auch die Evangelien in ihrer schriftlichen Endgestalt als eigene Stimmen zu würdigen und zu hören: „Vier Evangelisten sind, und einem jeden bleibe sein Zweck, seine Gesichtsfarbe, seine Zeit, sein Ort“ (Herder bei Kümmel, 94). In der geprägten Form der mündlichen Stoffe erkannte Herder die Bedingung ihrer Memorierbarkeit und damit ihrer Zuverlässigkeit: „Leute, wie die meisten Apostel waren, erinnerten sich leichter eines Spruches, einer Parabel, eines Apophthegmas, das ihnen auffallend gewesen war, als zusammenhängender Reden“ (bei Kümmel, 97). Indem Herder die einfachere Form als die ursprüngliche ansah, bereitete er auf lange Sicht der Markus-Priorität und damit der Zweiquellentheorie den Boden, ohne selbst eine literarische Abhängigkeit der Synoptiker untereinander anzunehmen. Wie bei Eichhorn liegt auch bei Herder innerhalb des synoptischen Stoffs eine kritische Unterscheidung vor, nun diejenige zwischen der „Religion Jesu“, zu der die Forschung zurückführen müsse, und der „Religion an Jesum“, dem urchristlichen Christusglauben. Nicht dieser, sondern nur jene lehrt, so Herder, dass „sein Gott unser Gott, sein Vater unser Vater“ ist (bei Kümmel, 99). Freilich: Herder erkennt die Evangelien (allen voran das JohEv! ) an als „necessary interpretation of the historical memory in the light of the resurrection faith“ (86). Die zweite von Müller in Augenschein genommene forschungsgeschichtliche Phase ist dadurch charakterisiert, dass „the Markan hypothesis is supplemented by the two-source-hypothesis“ (86-89). Hier ist Karl Lachmann (1793-1851) zu nennen, der den Boden bereitete für die Annahme einer von Mt und Lk benutzten zweiten Quelle, sowie Christian Gottlob Wilke (1786-1854), der Mk zwar im Rang des „Urevangelisten“ sah, im MkEv jedoch nur den „Schein eines geschichtlichen Zusammenhangs“ fand und es vielmehr als „künstliche Komposition“ betrachtete, die durch „vorausgedachte allgemeine Sätze“ geprägt ist (bei Kümmel, 182). Auch Christian Hermann Weisse (1801-1866) richtete sein Augenmerk auf diese zweite Quelle, die er im MtEv treuer bewahrt sah und sie deshalb „Spruchsammlung des Matthäus“ nannte (bei Kümmel, 185). Dass es bis zum endgültigen Durchbruch der Zweiquellentheorie noch 25 Jahre dauerte, nämlich bis zu Heinrich Julius Holtzmanns Die Synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter von 1863, hat mit dem Einfluss Ferdinand Christian Baurs und der Tendenzkritik seiner Tübinger Schule zu tun, die an der Matthäuspriorität festhielt. Im Blick auf Albert Schweitzer als Chronisten der Leben-Jesu-Forschung und Kenner der synoptischen Frage ist bemerkenswert, dass Schweitzer selbst Mk und Mt für gleich zuverlässig hielt, Mt aber für ergiebiger: „Die Berichte der beiden ältesten Evangelien sind ihrer Art nach gleichwertig. Das des Matthäus ist aber als das Vollständigere das wertvollere“ Buchreport 211 (Geschichte der Leben-Jesu Forschung, Vorrede zur sechsten Auflage, Tübingen 1950, XII). In der dritten Phase melden sich „alternative voices“ (89-91) zu Wort, die den Optimismus ihrer Zeit, mit einer Lösung der synoptischen Frage zu einer stabilen Quellenbasis für das Leben Jesu vordringen zu können, nicht teilten. Müller verweist auf den von Schweitzer mit einem ganzen Kapitel gewürdigten, von Kümmel wegen der Radikalität seiner historischen Skepsis dagegen in eine einzige Fußnote gebannten Bruno Bauer (1809-1882), sowie auf Gustav Volkmar (1809-1893), der im Markusevangelium eine narrative Umsetzung paulinischer Theologie sah, und erst dann William Wrede (1859-1906), der das Vertrauen der liberalen Theologie in den Quellenwert des MkEv endgültig erschütterte. Mit der Etappe der „continuations of the two-sources-hypothesis“ (91-94) kommt die formgeschichtliche Forschung in den Blick, die ihr Interesse auf geprägte, anonyme und mündlich tradierte Überlieferungen als Quellenmaterial der Synoptiker richtete. Für Martin Dibelius, Karl-Ludwig Schmidt und Rudolf Bultmann, die „three ,fathers‘ of the form-critical approach inside gospel-scholarship“ (91), verstanden die synoptischen Evangelien als „Kleinliteratur“ ohne literarische Ambitionen auf Seiten ihrer Verfasser. Aus der Erhebung eines „Sitzes im Leben“ der von den frühen Formgeschichtlern erhobenen Kleingattungen versprach man sich stattdessen einen Einblick in die gemeindlichen Situationen, die diese Gattungen hervorgebracht hatten. Einflussreich in der angelsächsischen Welt war Burnett H. Streeter (1874-1937), der für Mt und Lk einen Proto-Lukas als weitere Quelle neben Mk und Q annahm, und der dementsprechend dem kanonischen LkEv besondere Bedeutung beimaß. In der „Conclusion“ (92-94) nimmt Müller auf dem erarbeiteten forschungsgeschichtlichen Hintergrund die einleitend beschriebenen „tendencies“ wieder in den Blick. Im linguistic turn seit den 1970er Jahren sieht er einen Grund dafür, dass ein Verständnis der Evangelien als „coherent compositions“ gegenwärtig starke Befürworter hat und die Auffassung von den Evangelien als bloßen Vehikeln der ihnen zugrunde liegenden Tradition praktisch aufgegeben wurde. Die Einsicht der Formgeschichte, dass die synoptischen Evangelien aus disparaten Einzelüberlieferungen zu einer „only seemingly […] continuous story“ zusammengefügt wurden, tut dem keinen Abbruch, denn „[a]lready this […] is a literary achievement“. Für das Mk hält es Müller für denkbar, dass er nicht auf eine vormk. Passionsgeschichte zurückgegriffen, sondern diese selber komponiert hat. Die bereits erwähnte These Volkmars von der im MkEv verarbeiteten paulinischen Theologie hält er für sehr nachdenkenswert, ebenso die Überlegung, dass Mt und Lk ihre Kindheits-Kapitel nach dem Modell einer „biblical history“ frei komponiert haben. Der „rewritten Scripture“ gibt er gegenüber der antiken Biographie trotz unbestreitbarer Gemeinsamkeiten als literaturgeschichtlicher 212 Buchreport Vergleichsgröße den Vorzug. Er verbindet dies mit der Erwägung einer Spätdatierung des LkEv „to sometime between 120 and 140 AD“. Dann wäre die Unkenntnis des MtEv durch Lk unwahrscheinlich und eine der Grundannahmen der Zweiquellentheorie entscheidend geschwächt. Als Abschlussfrage formuliert Müller „whether the acknowledgement of the originality of the single gospel author is not contributing to making probable that the Two-Source-hypothesis is unnecessary, and that no relevant source has been lost“. Ein kleines, aber feines Stückchen Forschungsgeschichte präsentiert Francis Watson in seinem Beitrag „Q and the Logia: On the Discovery and Marginalizing of P.Oxy.1“ (97-113). Watson setzt ein mit Austin Farrers Auffassung von Q als einer nach Ockhams Sparsamkeitsprinzip entbehrlichen Zusatzhypothese, sobald die Möglichkeit hinreichend plausibilisiert werden kann, dass Lk das MtEv gekannt und benutzt hat. Watson stimmt dem zu, verweist aber darauf, dass dann wieder die Frage offen ist, wie die Lücke zwischen Worten Jesu um das Jahr 30 und ihre Inkorporation in Mt und Lk rund ein halbes Jahrhundert später geschlossen werden kann, wenn man nicht von einem rein mündlichen Überlieferungsvorgang über einen solch langen Zeitraum oder eine Komposition dieses Spruchgutes durch Matthäus ausgehen will. Auch unter Zugrundelegung der von ihm geteilten Farrer-Hypothese hält es Watson für „entirely possible for Matthew to have drawn on a written collection of Jesus’s sayings“ (98), mithin eines Exemplars der Gattung „Spruchsammlung“, für die das Thomasevangelium „a late but fully extant example“ darstellt. Eigentliches Thema seines Beitrages ist, zu zeigen, „that this possibility was already discussed in late nineteenth-century Oxford“. Anhand einer „long-forgotten episode in the history of scholarship“ will Watson auf den Umstand aufmerksam machen, dass die Zweiquellen-Hypothese eine rein innerkanonische Lösung des Synoptischen Problems favorisiert und damit die kanonische Situation vom Ende des zweiten Jh.s unter der Hand ans Ende des ersten zurückdatiert. Außerdem erkennt Watson eine „radikale“ und „konservative“ Doppelrolle von Q, die ihren forschungsgeschichtlichen Erfolg mit erkläre. Einerseits wird Q insofern als nichtkanonischer Text gehandelt, als er der frühchristlich dominierenden Betonung auf Tod und Auferstehung Jesu widerspricht, aber gleichwohl insofern als ein völlig kanonischer Text, als es in Q nichts gibt, was es nicht auch bei Mt und Lk gibt. Die Attraktivität von Q bestehe außerdem darin, dass sie das Prinzip der „alternating primitivity“ (99) zulässt, das es erlaubt, wechselweise bei Mt und Lk die „ursprünglichere“ Fassung einen Q-Logions zu finden (was unter Zugrundelegung der Farrer-Hypothese logischerweise ausscheidet). Im Ergebnis hat sich zumal im britischen Kontext seit den 1890er Jahren Q als „critical orthodoxy“ (100) etabliert. In diese Zeit fiel - das ist die Buchreport 213 „long-forgotten episode“ - die Entdeckung Oxyrhynchos-Papyrus P.Oxy 1, von seinen Herausgebern Grenfell und Hunt „ΛΟΓΙΑ ΙΗΣΟΥ: Sayings of our Lord“ genannt (London 1897). Es handelt sich um das Fragment eines Kodex mit Jesus-Logien, die einzeln mit „Jesus spricht“ eingeleitet werden. Später erwiesen sich diese Logien als Teil des Thomasevangeliums, weshalb P.Oxy 1 heute keine eigene Rolle mehr spielt. Watson will aber anschaulich machen, wie P.Oxy 1 in der Zeit seiner ersten Publikation wahrgenommen wurde, als man von einem Thomas-Evangelium noch nichts wusste: Erstmals gab es eine Quellengrundlage für die Annahme, dass Spruchsammlungen, die bisher z.T. völlig unbekanntes, d. h. außerkanonisches, „apokryphes“ Spruchgut enthielten, für die Genese der kanonischen Evangelien eine Rolle gespielt haben könnten. Diese Annahme unterlag der sich mehr und mehr etablierenden Q-Hypothese, die vorschrieb, dass „the most important lost text is to be extracted not from the sands of Egypt but from within the canonical gospels themselves“ (101). Grenfell und Hunt sahen dagegen eine Verbindung zu den von Papias kommentierten λόγια κυριακά. In der Tat kann P.Oxy 1 als Beleg für ein solches Genre gewertet werden, also nicht für einen Einzeltext, sondern für mehrere oder gar viele Texte dieser Gattung, die dann keinesfalls vollständig in die kanonischen Evangelien Eingang gefunden haben können. Noch in 1897, dem Jahr der Veröffentlichung von P.Oxy 1, wies Rendel Harris in einer eigene Publikation ergänzend auf Apg 20,25 hin, wo vom Erinnern der λόγοι τοῦ κυρίου Ἱησοῦ die Rede ist, mit der P.Oxy 1 verwandten Zitationsformel ὅτι αὐτός εἴπεν, sowie auf die Aufforderung in 1Clem 13,2, sich der λόγοι τοῦ κυρίου Ἱησοῦ zu erinnern, auch hier mit einer Zitateinleitung οὕτως γὰρ εἴπεν und einem dann folgenden Jesuslogion in erkennbarer Unabhängigkeit vom kanonischen Evangelienstoff. Die Hinweise auf eine Gattung „Spruchsammlung“ bringt die Q-Hypothese insofern in Verlegenheit, als Q ja gar keine reine Spruchsammlung ist, sondern eher eine Sammlung von Redestoffen mit narrativen Anteilen. Das Thomasevangelium scheidet, so Watson, aufgrund der evidenten Gattungsdifferenz jedenfalls als Beleg für die Möglichkeit von Q aus. Watson zeichnet dann die Oxforder Reaktionen auf die Publikation von P.Oxy 1 nach, die maßgeblich durch William Sanday bestimmt waren, einen der einflussreichsten Vertreter der Zweiquellenhypothese in England. Für Watson stellt sich die Diskussionslage so dar, dass Sanday erkennbar bemüht war, die Bedeutung dieses Textfundes möglichst herunterzuspielen, einschließlich des Gebrauchs von Autoritätsargumenten oder Andeutungen auf das junge Lebensalter von Greenfell und Hunt, die damals 27 und 26 Jahre alt waren. Sanday steht als Akteur einer „[p]olitics of Q“ (110) für die Etablierung der Q-Hypothese (die sich übrigens einem Analogie-Argument verdankt: Wenn Mt und Lk das MkEv als „erste“ Quelle unabhängig voneinander verwendet haben, dann per 214 Buchreport Analogieschluss auch Q als deren zweite) als „an already existing orthodoxy“ (112). Watsons Urteil fällt deutlich aus: „Sanday’s contribution to the Synoptic Problem lies not in any reasoned scholarly argument but in his rhetoric“ (113). Demgegenüber sei die Einbeziehung nichtkanonischer Evangelienstoffe in der weiteren Erforschung der Ursprünge der Evangelien „the more challenging possibility“. Die beiden folgenden Beiträge von Christopher M. Tuckett, „Watson, Q and ,L/ M‘“ (115-118) und Francis Watson, „Seven Theses on the Synoptic Problem, in disagreement with Christopher Tuckett“ (139-147) bieten eine Kontroverse zwischen zwei gewichtigen Vertretern der Q-Hypothese (Tuckett) und der Farrer-Hypothese (Watson): Erklären sich die Gemeinsamkeiten von Mt und Lk gegen Mk aus einer je eigenständig benutzten gemeinsamen Quelle oder durch die Benutzung nicht nur des MkEv, sondern auch des MtEv durch Lk? Der Beitrag von Tuckett setzt sich kritisch mit methodischen Grundentscheidungen der Forschungen Watsons zur synoptischen Frage auseinander, und Watson antwortet auf diesen Beitrag unter Verwendung der Seitenzahlen des Bandes, was der Nachvollziehbarkeit der Kontroverse zustattenkommt. Gleichwohl bleibt als stärkster Eindruck, dass hier eine Diskussion geführt wird, die sich nicht ohne Nebentöne der Gereiztheit an Sachfragen abarbeitet, die anhand der Quellentexte jedenfalls nicht in einer Klarheit entschieden werden können, die nötig wäre, um festgefahrene Positionen in einem neuen Anlauf wieder in ein offenes Gespräch zu bringen. Die von beiden Autoren wider einander vorgebrachten Argumente können im Rahmen dieser Buchbesprechung nicht annährend vollständig dargestellt, geschweige denn geprüft werden, wenn sie nicht in einen eigenen Forschungsbeitrag ausarten soll. Ich begnüge mich damit, ausgewählte Runden des Schlagabtauschs vorzustellen: Tuckett sieht bei Watson insofern einen konzeptionellen blinden Fleck, als er „always refuses to provide explanations for ommissions […] by a secondary evangelist“, mit Bezug auf Watson, „Q as hypothesis“, 403: „little if nothing should be read into an ommission“, und er insistiert darauf, dass Auslassungen für das Verständnis redaktioneller Prozesse mit zu berücksichtigen sind (117). Sodann diskutiert Tuckett die Frage der Beweislast. Watson erhebe (zu Recht) die Forderung einer Gleichbehandlung beider Hypothesen, dergestalt, dass die (von Watson so bezeichnete) L/ M-Hypothese bei Aufweis einer plausiblen Texterklärung an diesem Punkt als der Q-Hypothese gleichwertig zu betrachten sei, gehe aber selber gelegentlich so vor, dass ein Erweis der Plausibilität eines Details der lk. Redaktion unter Zugrundelegung der L/ M-Hypothese bereits deren Überlegenheit demonstriere, so etwa Watson, „Q as hypothesis“, 407: „if the L/ M redactional procedure is judged to be no less plausible than Buchreport 215 the alternative [as implied by the 2ST]“, this „ undermines the Q-hypothesis“. Forschungsgeschichtlich mag dies, so Tuckett, insofern zutreffen, als die Zweiquellen-Hypothese, so zu Recht Watson, in dem Maße stark geworden ist, wie die Hypothese der Benutzung zweier Evangelien durch einen anderen sich als schwierig erwies. Dann wäre tatsächlich der Umkehrschluss denkbar, dass die Zweiquellen-Hypothese mit der Beseitigung dieser Schwierigkeiten geschwächt würde (118). Für die Gegenwart gelte aber, dass „[w]e […] should […] not prejudge the issue by implying that one ,plausible‘ explanation […] ipso facto rules out alternative hypotheses“. Wo immer Tuckett und Watson auf dieser Ebene diskutieren, entsteht der Eindruck, dass hier nicht nur äußerst komplexe (und möglicherweise unentscheidbare) Sachfragen entschieden werden sollen, sondern dass es auch darum geht, ein Spiel zu gewinnen, bei dem man ständig mit Argusaugen auf das Fair-play des Gegners achtet. So lautet ein Vorwurf Tucketts an Watson, dass er entgegen der von ihm geforderten Gleichbehandlung beider Hypothesen zu seinen eigenen Analysen selten die Gegenprobe auf Grundlage der Q-Hypothese mache. Einen weiteren Kritikpunkt Tucketts, dass Watson redaktionelle Prozesse stets nur „beschreibe“, nicht aber „erkläre“, mindestens als Element eines erkennbaren redaktionellen Musters (119), weist Watson sehr entschieden zurück, wenn er Tucketts permanent vorgetragene „question why …? “ und die Parole „,[p] lausibility‘ involves giving reasons“ als „inquisitorial rhetoric“ charakterisiert, die einzig dazu da sei, der L/ M-Hypothese ein „total lack of explanatory power“ zu unterstellen (140). Gegen Tucketts Forderung, Plausibilität sei an „a coherent overall activity“ (119) des Redaktors Lk gebunden, stellt Watson die These, dass nur „general tendencies“ zu erheben seien, nicht eine „rigid uniformity“ (140), auf die auch die Zweiquellen-Hypothese im Übrigen nicht verweisen könne. Mit Blick auf die Kindheitsgeschichten und Genealogien in Mt und Lk stellt Tuckett (120-124) die Unähnlichkeiten heraus, die s.E. die Annahme einer Benutzung von Mt durch Lk wegen der dann anzunehmenden gravierenden Änderungen des Mt-Stoffes durch Lk verbieten. Dagegen betont Watson die Gemeinsamkeiten, die s.E. die Annahme einer voneinander unabhängigen Komposition der mt und lk Eingangskapitel vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen. Tuckett wiederum führt diese Gemeinsamkeiten, v. a. in der Abfolge, auf die Gegebenheiten der chronologischen Stoffanordnung zurück (124 f.). Eine weitere Gemeinsamkeit, die nach Watson die L/ M-Hypothese stützt, ist die gemeinsame Platzierung von Bergpredigt bzw. Feldrede nach einer aus Mk 3,7f entnommen Einleitung, obwohl die Markusstelle nichts von einem Lehren Jesu verlauten lässt. Tuckett räumt ein, dass „[t]he phenomenon may appear striking“ (126), arbeitet dann aber in einer von Watson m. E. zur Recht als spitzfindig beanstandeten Unterscheidung von „context“ und „setting“ erhebliche Unterschiede in 216 Buchreport der weiteren redaktionellen Gestaltung dieser Übereinstimmung heraus. Wiederum wäre dann die Gemeinsamkeit, die durch Übernahme eines Details aus Mt durch Lk erklärt werden kann, durch erhebliche Unterschiede, die die L/ M-Hypothese zu Annahme weitreichender Freiheiten des Lk gegenüber dem Mt-Stoff nötigen (und nach Tuckett in Verlegenheit bringen), mehr als aufgewogen. Zu Tucketts Beobachtung, dass die Verwendungsweisen dieser gemeinsamen mk Einleitung zu Bergpredigt bzw. Feldrede unterschiedlich sind, bemerkt Watson: „Of course they are! Did Tuckett suppose I failed to notice that? “ (142). Für wenig wahrscheinlich hält Tuckett, dass (so die L/ M-Hypothese) Lk mit seinen beiden Quellen so unterschiedlich umgegangen sein soll: konservativ mit Mk und außerordentlich frei mit Mt: „[W]hy would Luke treat his sources in such radically different ways? “ (130). Watson hält dem entgegen, dass ein „flexible treatment of […] sources“ (141) auch für die Zweiquellen-Hypothese unverzichtbar ist (141). Im Blick auf die Doppelüberlieferungen (Mk, Q) hält Tuckett fest, dass diese nicht nur für die Zweiquellen-Hypothese Probleme bereiten, sondern auch für die L/ M-Hypothese, ja bisweilen noch größere: Wo nach der Zweiquellen-Hypothese bei einer Doppelüberlieferung Lk der (von Mk unabhängigen) Logienquelle folgt, Mt dagegen Mk und Q kombiniert, müsste entsprechend der L/ M-Hypothese angenommen werden, dass Lk in einem „complex ,unpicking‘ process“ mk-nahe Matthäusstoffe von allen mk Ähnlichkeiten gereinigt habe (136). Was aus Sicht der Zweiquellen-Hypothese bei Mt eine Kombination aus Mk und Q ist, bei Lk aber ein Q-Stoff unter Außerachtlassung der mk Version der Doppelüberlieferung, ist aus Sicht der L/ M-Hypothese bei Lk Matthäusstoff, dem sein Mk-Anteil von Lk redaktionell entzogen wurde (136 f.). Watson redet dagegen nicht von „unpicking“, sondern von „selecting“ von nicht-mk Material bei Mt, und er sieht nicht, was an „such a simple procedure“ (143) übermäßig kompliziert sein sollte. Der an die L/ M-Hypothese gerichteten Forderung nach einer nachprüfbar kohärenten Verfahrensweise der lk. Redation im Umgang mit dem mt Stoff hält Watson die These entgegen, dass „[e]vangelists may simultaneously ,agree‘ and ,disagree‘ with their sources“ (141), wie es doch auch üblich sei, dass „two parties […] agree about one aspect of an object of shared concern but disagree about one another“. Die erheblichen Abweichungen etwa der lk von den mt Kindheitskapiteln zeigen aus dieser Sicht lediglich, dass Lk einiges aus Mt übernommen, anderes aber eben ganz anders gesagt hat. Warum Lk so vorgegangen ist, entziehe sich dem, was man sicher wissen kann, und dementsprechend entzieht sich Watson auch Tucketts permanent vorgetragener Forderung nach Gründen. „To say (as I am severely criticized for doing) that it seemed good to him to do what he did is a Lukan way to suggest that, like definitions, explanations must come to an end somewhere“ (146). Buchreport 217 Die Kontroverse zwischen Tuckett und Watson ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die tiefere Befassung mit dem synoptischen Problem einem Labyrinth gleicht, in dem man sich früher oder später notwendigerweise verirrt, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diejenigen, die darin unterwegs sind, einander die Schuld dafür geben, dass sie nicht mehr herausfinden. Der Beitrag von Eve-Marie Becker „Mark with and against Q: The earliest gospel narrative as a counter-model“ (151-163) skizziert ein mögliches literaturgeschichtliches Verhältnis zwischen dem MkEv und der (als gegeben vorausgesetzten) Logienquelle. Becker macht zunächst darauf aufmerksam, dass die Q-Forschung von hohem Interesse für die Mk-Forschung ist, sofern die literarische Vorgeschichte des MkEv „will always overlap with Q studies“ (152), mit Hinweis u. a. auf den Aufsatz von W. Schenk „Der Einfluss der Logienquelle auf das Markusevangelium“ (ZNW 70/ 1979, 141-165). Einen Vorteil der Q-Hypothese sieht Becker darin, dass sie unser Bild von den „socio-religious diversification of transmission processes“ in der Jesusbewegung (153 f.) und den „multiple processes of identiy formation“ (154) wesentlich bereichert, und sie verknüpft dies mit der Frage, inwiefern die Mk-Forschung zu diesem Bild ihrerseits etwas beitragen kann. Allerdings will Becker die Frage nach dem Verhältnis von Mk und Q aus der quellenkritischen Engführung, die „hardly any convincing result“ erbracht habe (155), zugunsten einer literaturgeschichtlichen Perspektive herauslösen (155). Ohne also das Mk-Q-Verhältnis quellenkritisch minutiös nachzeichnen zu müssen (bzw. zu können), kann von folgendem Szenario ausgegangen werden: „While Mark intends to narrativize and interpret the storyline, the Q concept reflects a more traditional claim of documenting and collecting authoritative words“ (156). Die weitergehende Frage lautet dann, „how Mark’s composition […] must conceptually have been affected by Q as a (possible) forerunner document“ (156 f.). Wird diese Frage gar nicht gestellt, entweder mit dem Fokus der Farrer-Hypothese, die Lk ohne Q verstehen will, oder im Kontext einer Mk-Forschung, die ihr Terrain gegen die Q-Forschung absteckt, erscheint Mk als „the first writer who has transformed a diversity of [oral] Jesus traditions […] into a written account“ (157), mithin eine wenig wahrscheinliche „ creatio ex nihilo “, zumal wenn man die Ergebnisse der neuer Mk-Forschung zur literarischen Qualität dieses Evangeliums in Rechnung stellt (158). Diese ist besser verstehbar, wenn man von einer „productive coexistence“ der Q-Endredaktion und des MkEv ausgeht. Dass Mk die Logienquelle als „slightly forerunnig piece of literature“ nicht gekannt haben könnte, hält Becker angesichts der „vital networks of interaction existent within and between various groupings of Jesus followers and Christ believers“ (159) für unwahrscheinlich. Wie kann man sich dann aber das Verhältnis des Markusevangelisten zur Logienquelle und 218 Buchreport ihrem Trägerkreis vorstellen? Die Möglichkeit, die Becker durchspielt, lautet: Mk hat „Q’s text-producers as literary competitors “ (160) angesehen und deshalb diese Gruppe(n) in der Figuration der erzählten Zeit seines Evangeliums im Unterschied zu zahlreichen anderen Gruppen nicht zu Wort kommen lassen. Für dieses Verfahren lassen sich in der römischen Historiographie anschauliche Vergleichsgrößen finden (162 f.). Im Blick auf Q könnte für Mk die (von Simon J. Joseph, „Jesus, Q and the Dead Sea Scrolls“, Tübingen 2012 erwogene) Nähe zu den Qumranschriften und den von Mk ebenfalls unerwähnt gelassenen Essenern eine Rolle gespielt haben, oder aber allgemeiner wegen einer zwischen Q-Gruppen und Mk-Gruppen bestehenden „religious and/ or literary competition“ (161). Unter den zahlreichen Planspielen der Synoptikerforschung ist das von Becker angemahnte Augenmerk auf das Q-Mk-Verhältnis gewiss eines der lohnenden und wichtigen. Ob es unter den Akteuren der frühchristlichen Literaturproduktion so etwas wie eine „literary competition“ gegeben hat - den Lk-Prolog mit der leicht abschätzigen Referenz auf die „Vielen“ vor dem LkEv kann man so lesen - wäre zu prüfen, und die „religious competition“ ist an den Texten vorzuführen. Dass Becker diese Frage aus der quellenkritischen Umklammerung lösen will, ist zu begrüßen, zumal wenn man ihren Beitrag nach den beiden vorigen liest. Die Frage lautet jedoch, ob die anstehenden Textvergleiche, je minutiöser und kleinteiliger sie ausfallen, früher oder später nicht doch wieder nach quellenkritischer Präzisierung rufen. Etwas disloziert wirkt im thematischen Kontext des Bandes der Beitrag von Claire Rothschild, „Refusing to acknowledge the Immerser (Q 7.31-35)“ (165-183) in allerdings gekonnt doppeldeutiger Formulierung: Die Nichtanerkennung des Täufers ist einerseits Thema der im Titel notierten Q-Spruchgruppe - hier sind es die metaphorisch so genannten „Kinder“, die den Täufer missachten -, andererseits aber auch Thema des Aufsatzes, der die These entfaltet, dass das LkEv dem Täufer die Anerkennung verweigert, sofern es nämlich eine Spruchgruppe zur Hälfte für Jesus beansprucht, die in Q noch ganz auf den Täufer gemünzt war. Zum Thema des Bandes gehört der Beitrag insofern, als seine These auch etwas „about the Synoptic Problem“ (165) sagt, präzis über das Verhältnis von Q und dem LkEv, das im Blick auf den Täufer so zu beschreiben ist, dass Täufer-Material aus Q für das synoptische Jesusbild requiriert wird. Die Q-Hypothese gibt hier beispielhaft die Anschauung von einer Hermeneutik des Verdachts. Der Verdacht besteht konkret darin, dass der historische Täufer im weiteren Verlauf der Genese der Synoptiker sozusagen christologisch über den Tisch gezogen wurde. Aufgabe der Exegese ist es dementsprechend, dies rückgängig zu machen und dem historischen Täufer auf diese Weise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mithin die (von Rothschild ironisch formulierte) Devise Buchreport 219 namentlich der lk. Sondergut-Kapitel Lk 1-3, „sich vor Täufer-Traditionen in acht zu nehmen, die inmitten der so geschätzten Traditionen über Jesus lauern“ („to be wary of Baptist traditions lurking among the prized traditions about Jesus”, 183), gerade nicht zu befolgen, sondern dem Täufer zurückzuerstatten, was des Täufers ist. Rothschild bezieht sich in ihrem Beitrag auf Ergebnisse ihres Buches „Baptist traditions and Q“ (Tübingen, 2005) und die darin verwendete „Baptist hermeneutic“ (178). Q 7,31-35 stellt sich dann so dar, dass das Menschensohn-Wort v. 34 („Der Menschensohn kam und aß und trank…“) ursprünglich „ a self-referential expression of John the Baptist“ ist (169) und Johannes „the sole subject and speaker of Luke 7,31-35“ (170). Der Parallelismus in v. 33 f. („kein Brot essen, keinen Wein trinken“ vs „Essen und Trinken“) wäre dementsprechend nicht antithetisch auf Johannes und Jesus zu beziehen, sondern synthetisch auf Johannes, der beides tat, so wie Elia am Horeb (vgl. 1 Kön 19,8), der erst fastete und dann aß (175). Auch das Paar „mit der Flöte Aufspielen und Tanzen“ vs. „Klagelieder und Weinen“ ist dann synthetisch zu verstehen. Hierzu führt Rothschild interessante Belege dafür an, dass altgriechisch auch bei Trauer- und Begräbnisritualen ritueller Tanz üblich war. Interessant ist auch der bei Herodot I,141 überlieferte Fabelstoff von den Fischen, die im Netz zappeln („tanzen“), die aber dadurch ihr Geschick nicht mehr wenden können (172 f.). Mit den beiden Kindergruppen seien die Propheten und Johannes einerseits und die Pharisäer und Schriftgelehrten andererseits gemeint, für die es zu spät ist „to ,dance‘ on Judgement Day“ (174). Die Deutung von Q 7,31-35 allein auf Johannes entsprechend „Q’s predilection for John“ (177) vermag aber in vielen exegetischen Details nicht zu überzeugen. Vielmehr scheint mir die nicht geringe Gezwungenheit der Argumentation die Sperrigkeit der Texte gegenüber der an ihnen ausprobierten These treffend abzubilden. Hermeneutisch steht hier einiges auf dem Spiel: Muss man, wenn man sich auf die Seite des historischen Täufers stellen will, sich zugleich gegen den Endtext von (Mt und) Lk stellen, dem man exegetisch den Nachweis führt, er habe den Täufer christologisch übervorteilt? Dagegen stelle ich die These, dass dieser mit Hilfe oder zumindest auf Basis der Zweiquellentheorie geführte Nachweis den Texten in dem Maße Unrecht tut, als er behauptet, dass sie Johannes Unrecht tun. Wenn Rothschild für die angeblich in Q noch unstrittige und erst von (Mt und) Lk manipulierte Referenz von Q 7,31-35 allein auf Johannes geltend macht, dass nur so die „anomalous equality between John the Baptist and Jesus“ (183) entfalle, dann macht sie m. E. den Evangelienverfassern eine theologische Leistung streitig, die für ihr Täuferbild unbedingt beachtlich ist, nämlich bei fragloser Vorordnung Jesu gegenüber dem Täufer Aspekte der Gleichheit beider Akteure möglichst zahlreich und möglichst deutlich herauszustellen. Lk 7,31-35 (oder meinetwegen auch Q 7,31-35) betont die Geschicksgemeinschaft 220 Buchreport zwischen Johannes und Jesus, die in beider Ablehnung besteht. Rothschilds Beitrag ist im Kontext des Bandes insofern wichtig, als er vorführt, wie man den Evangelisten in bester quellenkritischer Manier unversehens ihr eigenes Wort im Munde herumdreht. Hildegard Scherer, „Coherence and distinctness: Exploring the social Matrix of the double tradition“ (185-200) bringt Ergebnisse ihrer Bonner Habilitationsschrift von 2014 („Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex“, Göttingen 2016) in die Diskussion ein. Sie untersucht Mt und Lk gemeinsame Stoffe, d. h. Q-Material, auf mögliche sozialgeschichtliche Besonderheiten, die „some distinctive structure“ und „characteristic threads“ (186) erkennen lassen. Methodologisch beschränkt sich Scherer dabei auf ein „critical minimum“ von „categories and text fragments which are identical in the Matthean and Lukan versions“. Exemplarisch widmet sich Scherer den „social categories related to the ancient household“ (187), die sich in bestimmten Q-Stoffen v. a. darin niederschlagen, dass die Jesus-Anhänger einen „existential loss of household protection“ erfahren (189) und Gott als himmlischer Vater in die Rolle des pater familias tritt und sich als Versorger seiner irdischen Kinder bewährt (188-192). In Q 12,42-46 bilden sich umrisshaft neue Sozialstrukturen innerhalb der Jesusbewegung heraus, in der die (einstigen) Hausväter ihrer Pflicht Speise zu geben (Q 12,42) nun als Sklaven (nämlich Sklaven ihres himmlischen Herrn) nachkommen. Der Vergleich zwischen Q und Mk ist erhellend: In Mk 3,31 geht es nicht um das Versorgtwerden durch den himmlischen Vater, sondern um die Zugehörigkeit zu Jesus. Nach Mk 3,35 (Tun des Willens Gottes) ist Gott nicht Versorger, sondern „norm-giving leader“ (193). In Mk 10,29 wird der himmlische Vater nur ex negativo genannt (nämlich als Leerstelle in der neuen familia dei , die keinen irdischen Vater mehr hat), und der soziale Bruch fällt nicht so scharf aus wie in Q, sofern die berufenen Jünger gleichwohl bei der Schwiegermutter des Petrus einkehren und von ihr versorgt werden (Mk 1,29-31) und Mk an zwei Stellen das Gebot der Elternehrung anklingen lässt (7,10-12) bzw. sogar zitiert (10,19). Weniger markant ist m. E. die in Mk 13,12 vorhandene Differenz, dass „the conflict is not initiated by the followers of Jesus, but by the non-believing family members; moreover it leads straight into capital trial, not into being homeless“ (193). Da Mt, so Scherer, den Q-Stoff im Horizont von Mk 13 interpretiert, wird bei ihm entsprechend das „Schwert“, das durch die Familien geht (Q 12,51), in Mt 10,21 „[b]y implicaition“ zum Schwert des Scharfrichters. Da aber „Luke seems to have kept to the more original interpretation“, fragt Scherer (an die Adresse der Farrer-Hypothese), ob der lk Befund nicht ein anderer wäre, „[i]f Luke had only known Matthew“ (und nicht statt dessen Q als separate Quelle). Hier wird m. E. die Lage sehr unübersichtlich und führt in Endlosschleifen von Buchreport 221 der Art, wie sie auch die bereits referierte Kontroverse zwischen Tuckett und Farrer dokumentieren. Denn Lk kannte ja jedenfalls auch Mk und bietet doch in Lk 21,16 ebenso das in Mk 13,12 enthaltene Motiv der Eskalation familiärer Zerrüttung im Kapitalprozess. „Without a doubt“, räumt Scherer ein, „we could argue about the evaluation of coherences in spite of all the differences“ (194), was zutrifft, und was die Diskussion so schwierig macht, denn in dem Maße, wie Kohärenz und Differenz eine Frage der Gewichtung ( evaluation ) sind, gerät man methodisch auf den schwankenden Grund des zumindest teilweise subjektiven Ermessens dessen, was man als different, und was man als stimmig empfindet. Dass Scherer den Verlust der Familienbeziehungen und die Rolle Gottes als himmlischer Vater und Versorger quellenkritisch als eigenen Motivkreis herausarbeitet und ihn von seiner apokalyptischen Variante (Mk 13,12) unterscheidet, ist erhellend und wichtig. Was besagt aber der Umstand, dass Gottes „food-providing father role“ sich viermal im Q-Stoff findet, außerhalb desselben aber nicht? Soll denn das heißen, dass Mt und Lk dieser Stoff nicht so wichtig war, weil sie redaktionell nicht mehr daraus gemacht haben? Im weiteren Fortgang ihres Beitrages untersucht Scherer die synoptischen Knechtsgleichnisse im Beziehungsgefüge von Mk, Q, Mt, Lk und den Beständen des Sondergutes in Mt und Lk (194-197). Die herausgearbeiteten Spannungen und Brüche innerhalb der einzelnen Gleichnishandlungen sind abermals erhellend, und abermals kann man der Quellenkritik nicht vorwerfen, dass sie keine Ergebnisse erzielt. Die Frage lautet aber, ob hier nicht narratologische Zugangsweisen zu identischen Ergebnissen kommen, ohne die Quellenfrage beantworten zu müssen, die dafür aber Überlegungen anstoßen können, ob die beobachteten Inkonsistenzen möglicherweise erzähltechnisch gewollt und narratologisch sinnvoll interpretierbar sind. Marc Goodacre, „Taking our leave of Mark-Q overlaps: Major agreements and the Farrer theory“ (201-222) befasst sich aus Sicht der Farrer-Hypothese mit Texten, die aus Sicht der Zweiquellentheorie als „Doppelüberlieferungen“ geführt werden, die sowohl in Mk wie auch in Q enthalten waren („Mark-Q overlaps“). Goodacre vertritt die Auffassung, dass diese Doppelüberlieferungen die Zweiquellentheorie vor Schwierigkeiten stellen, die weithin unterschätzt werden (201). Während weiter reichende Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk bei Mk-Stoffen („major agreements“) für die Farrer-Hypothese unproblematisch sind, weil angenommen wird, dass Lk den von Mt am Mk-Stoff vorgenommenen Änderungen folgt (nämlich in Kenntnis nicht nur des MkEv, sondern auch des MtEv), muss die Zweiquellen-Hypothese zu der Annahme greifen, dass es zwischen Mk und Q Überschneidungen gibt und es sich bei den „major agreements“ um Q-Stoff handelt, den sowohl die Logienquelle wie auch 222 Buchreport das MkEv bieten (202). Freilich erstrecken sich diese Übereinstimmungen nicht nur auf Formulierungen, sondern auch auf die Anordnung des Stoffs, d. h. Mt und Lk hätten unabhängig von einander an derselben Stelle Mk-Stoff um Q-Stoff ergänzt, „something that is not supposed to happen on the Two-Source Theory“ (204). Als Beispiel nennt Goodacre die Täuferperikope Mt 3,1-12 / Mk 1,1-8 / Lk 3,1-18, wo Mt und Lk den Mk-Text ( Nach mir kommt, der stärker ist als ich; mir steht es nicht zu, mich zu bücken und ihm die Schuhriemen zu lösen. Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit heiligem Geist taufen ) nicht nur fast wortidentisch, sondern eben auch an exakt derselben Stelle um und mit Feuer (…). In seiner Hand ist die Wurfschaufel, und er wird seine Tenne säubern. Seinen Weizen wird er in die Scheune einbringen, die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen (hier zitiert nach Mt) aus Q ergänzt hätten (205 f.). Goodacre sieht in der Täuferperikope ein Beispiel dafür, dass Lk an manchen Stellen der (sogenannten! ) „Mark-Q overlaps“ exakt dieselben redaktionellen Entscheidungen getroffen hat wie Mt, etwas, wovon Vertreter der Zweiquellen-Hypothese versichern, dass Lk dies „niemals“ tue (207). Mit der Täuferperikope als s.E. schlagendem Beweisstück in der Hand moniert Goodacre „the misleading nature of an argument that uses the term ,never‘ when ,sometimes’ is meant“ (208). Auch den immer wieder geltend gemachten pauschalen Verweis auf die inhärente Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Stoffe, wenn zwei Traditionsblöcke dieselbe Geschichte erzählen, will Goodacre nicht gelten lassen (208 f.). Die Bezeichnung „Mark-Q overlaps“ beanstandet er als suggestiv (nicht zuletzt für Studierende, die nie etwas anderes kennenlernen als die Zweiquellen-Hypothese), weil sie in die Beschreibung von Daten Vorannahmen eines Modells einfließen lässt, das auf Grundlage dieser Daten allererst zu erproben ist. Der wissenschaftlichen Fairness halber fordert er das Lager der Zweiquellen-Hypothese auf, künftig neutral von „major agreements between Matthew and Luke against Mark“ zu sprechen (210). Freilich gibt es auch hier ein terminologisches Problem: Wenn die Zweiquellen-Hypothese die „minor agreements“ unterschiedlichen Mk-Rezensionen zuschreibt, die „major agreements“ dagegen den Doppelüberlieferungen in Mk und Q, suggeriert sie eine kategoriale Unterscheidung, die die Zweiquellen-Hypothese bereits als gültig voraussetzt (210 f.). Aus Sicht der Farrer-Hypothese gibt es diese Unterscheidung gar nicht, sondern ein „continuum […] in which the supposedly different categories in fact overlap with one another“ (213). Hierfür führt Goodacre wortstatistische Belege an, die zeigen, dass in Einzelfällen Mt/ Lk-Übereinstimmungen gegen Mk, die als „minor agreements“ gelten, sogar höher sind als bei „major agreements“ mit verhältnismäßig wenigen Übereinstimmungen (211-213). Widerlegbar ist für Goodacre sodann die gängige Meinung, dass im Bereich der Doppelüberlieferungen Mt die Q-Fassung und die Mk-Fassung vermischt, Lk dagegen sich eng Buchreport 223 an Q hält. Unter Hinweis u. a. auf das Senfkorn-Gleichnis diagnostiziert etwa Christopher Tuckett „Luke’s apparently almost pathological refusal in some of these texts to use any Markan material at all“ (214). Goodarcre nennt es „one of the curiosites“ in der Erforschung des synoptischen Problems, dass diese durch die Texte s.E. nur dürftig unterlegte Behauptung gleichwohl ständig wiederholt wird, denn es sei „simply not the case that Luke lacks Marcan material in the Mark-Q overlap passages“. In der Taufszene Mt 3,13.16f / Mk 1,9f / Lk 3,21f wie auch im Senfkorngleichnis Mt 13,31f / Mk 4,30-32 / Lk 13,18f verweist Goodacre auf „several agreements between Mark and Luke. There are triple agreements and there are Mark-Luke agreements. Luke’s versions are clearly not Mark-free zones“ (216). Hier wie auch sonst in seinem Beitrag unterlegt er seine Befunde durch die synoptische Darbietung der in Rede stehenden Stellen auf Griechisch und in englischer Übersetzung. Auf einen Nebenschauplatz der Farrer-Hypothese begibt sich Goodacre in der Diskussion der gelegentlich behaupteten „Matthean posteriority“, der These also, nicht Lk habe Mk und Mt benutzt, sondern umgekehrt Mt das LkEv und das MkEv (218-221). Worum geht es bei all dem? Antwort: Es geht um die Validität des Kriteriums der mehrfachen Bezeugung, das für die historische Jesusforschung von nicht geringem Gewicht ist (222), ein Hinweis, mit dem bei Nicht-Spezialisten und theologisch tätigen Zaungästen von außerhalb des Fachs um Verständnis für eine hochspezialisierte Debatte geworben werden soll. Entfällt dieses Kriterium, weil es Q nicht gegeben hat und Lk das MtEv benutzt hat, ist ein wichtiger Zugang zum historischen Jesus versperrt. Man soll aber, meint Goodacre, schwierige Fragen wegen möglicher unbequemer Resultate nicht scheuen (222). Werner Kahl, „The Gospel of Luke as Narratological Improvement of Synoptic Pre-texts: The Narrative Introduction to the Jesus Story (Mark 1.1-8 parr.)“ (223-244) hat als Vertreter der Farrer-Hypothese das von ihm so genannte „Synoptic Improvement Model“ (SIM) entwickelt (230), das er im vorliegenden Heft in Anknüpfung an den hier zu referierenden Aufsatz in einem eigenen Beitrag vorstellt. Das SIM zeigt in Anwendung der Narratologie von A. J. Greimas auf der Linie Mk - Mt - Lk Tendenzen narratologischer Verbesserungen (improvements) auf. Der Erläuterung dieses Modells anhand ausgewählter Synoptikertexte stellt er eine forschungsgeschichtliche Kritik der Q-Hypothese voran: Diese erkennt er nicht als „the result of an objective investigation“ an (224), sei Q doch von Ch. H. Weisse in direkter Reaktion auf D. F. Strauss’ „Leben Jesu“ aufgeboten worden als zuverlässige Quelle der Lehren des historischen Jesus, die das Jesusbild der liberalen Theologie zu Lasten der Wunder Jesu trefflich bestätigte. Zumal seit Wrede die Brauchbarkeit des MkEv als Quelle für den historischen Jesus erschüttert hatte, fiel der Logienquelle die 224 Buchreport ganze Beweislast zu. Die Q-Forschung des 20. Jh.s, die die Logienquelle form- und redaktionsgeschichtlich als komplexes Gebilde zu sehen lehrte, war ihrem Ruf als Garantin einer zuverlässigen Jesusüberlieferung nicht eben zuträglich (225). Inzwischen spricht die Q-Forschung nicht mehr von einer „Spruchsammlung“, sondern von einem „Spruchevangelium“ mit nennenswerten narrativen Anteilen, einschließlich Wunderstoffen. Methodologisch moniert Kahl v. a., dass die kritische Edition eines Textes, für den es keine direkte Handschriftenüberlieferung gibt, editionswissenschaftlich unzulässig sei (226), sodann, dass die angenommenen (intendierten) narrativen Lücken in Q tatsächlich textuelle Lücken sind, die keinen Schluss auf die narrative Architektur von Q zulassen. Im Blick auf den mutmaßlichen Beginn von Q mit einem Ausspruch des Täufers verweist Kahl auf die von Andreas Lindemann vorgetragenen Bedenken, wie eine Sammlung von Jesus-Sprüchen mit einem Täufer-Spruch beginnen könne (227). Lindemann behilft sich mit einer „Einzelüberlieferung“, die von Mt und Lk unabhängig rezipiert wurde (228). Als „Sonderüberlieferung“ wird aus Q auch die Versuchungsperikope ausgegliedert, da diese mit der in Q fehlenden Überlieferung über die Taufe Jesu untrennbar zusammenhänge. Weisse hatte seinerzeit angenommen, die dem Täufer zugeschriebene Äußerung am Beginn der Jesusspruch-Sammlung sei ursprünglich ein Jesuswort gewesen, das auf Jesus umgemünzt wurde (229). Später schrieb Weisse den initialen Täuferspruch dagegen nicht mehr der Spruchquelle, sondern einer verlorenen früheren Version des MkEv zu. Auch Holtzmann sah in der Annahme eines Urmarkus die Lösung für die Übereinstimmungen von Lk und Mt gegen Mk in Mk 1,1-8, gab dann aber die bisher verteidigte Unabhängigkeit zwischen Mt und Lk auf und schloss sich der Auffassung seines Schülers Eduard Simons an, der die minor agreements mit der Benutzung von Mk und Mt durch Lk erklärte - seinerseits ohne die Annahme von Q! (230). Inzwischen haben sich die Fragestellungen des synoptischen Problems aus Kahls Sicht insofern verschoben, als literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze unter dem Einfluss postmoderner Philosophie und der postcolonial studies das Interesse von den Quellen hinter den Texten in Richtung auf die Texte in ihrer heute vorliegenden Form verschoben haben (232). Für das von ihm auf Grundlage der Farrer-Hypothese entwickelte „Synoptic Improvement Model“ (SIM) nimmt er in Anspruch, dass damit dem von Kloppenborg s.E. zu Recht namhaft gemachten „renaming the problem“ bei ästhetischen und ad-hoc -Argumenten (s. o. zum Beitrag von Kloppenborg) begegnet werden kann (232 f.). Das hauptsächlich in der Ethnologie verwendete narratologische Schema von Greimas, das bereits Hendrikus Boers in die ntl. Wissenschaft eingeführt hatte, soll helfen, „possible intended functions of additions, ommissions, translocations, word changes or other alterations of a later Gospel as compared to an Buchreport 225 earlier Gospel“ transparent zu machen (235). Mit der synoptischen Analyse von Mk 1,1-8 / Mt 3,1-12 / Lk 3,1-20 wählt Kahl ein Beispiel aus, das für ihn insofern von Bedeutung ist, als ihm hier erstmals Zweifel an der Zweiquellen-Hypothese kamen und er daraufhin unter Zugrundelegung der Farrer-Hypothese „the whole Greek Synopsis“ studiert und zu der Auffassung gefunden hat, „that the assumption of Q is an unnecessary complication in the attempt of understanding the synoptic interrelatedness“ (236). Kahl ersetzt die Unterscheidung von „minor“ und „major“ agreements durch diejenige von „exclusive“ (EA) und „inclusive“ agreements (IA), diese bei Dreifachbezeugung und jene in allen Fällen wo zwei Synoptiker gegen den jeweils dritten stehen. Eine Quantifizierung von Differenzen und Übereinstimmungen erreicht er dadurch, dass er identische Formulierungen mit dem Wert 1 gewichtet, und ähnliche mit dem Wert 0,5. Für Mk 1,1-8parr ergibt sich, dass die EA Mt-Lk (120) die beiden anderen (EA Mk-Lk : 20,5; EA Mk-Mt : 17,5) und die IA (12) bei weitem überwiegen. Dies entspricht dem Befund, dass in Mk 1,1-8parr „the Gospel of Luke shares with the Gospel of Matthew the rearrangement of Markan material in all instances and Matthean additions to the Gospel of Mark in most instances“ (237). So haben etwa Mt und Lk gegen Mk gemeinsam, dass sie Mk 1,2b „siehe, ich sende meinen Boten…“ (weil der Versteil nämlich gegen die mk Angabe gar nicht aus Jesaja stammt) in das Urteil Jesu über den Täufer (Mt 11,7-11 / Lk 7,24-30 ) verschieben. Hier würde nach dem SIM Lk eine Verbesserung, die Mt an Mk vorgenommen hat, übernehmen. Dagegen liegt in Lk 3,1f eine Verbesserung von Mt durch Lk vor, sofern die mt Angabe „in diesen Tagen“ das Missverständnis zulässt, dass der Täufer zeitgleich mit der Übersiedlung der Eltern Jesu nach Nazareth gewirkt habe. Lk schafft hier durch einen Synchronismus gegenüber Mt Klarheit. Wider anders in Mt 3,5b: Hier ergänzt und verbessert Mt die mk Angabe durch „und das ganze Land am Jordan“, um den bei Mk abrupten Übergang von der Täuferpredigt „in der Wüste“ (1,4a) und seiner Tauftätigkeit „am Jordanfluss“ (1,5b) abzumildern. Lk verbessert nun aber seinerseits Mt, wenn er in Lk 3,2b.3a in der Wüste lediglich die Berufung des Johannes geschehen und ihn dann selbst an den Jordan gehen lässt, wo er verkündigt und tauft. „Here we have an improvement on Matthew’s improvement on Mark“ (243). Als Fazit dieser Textarbeit formuliert Kahl, was er im ersten Teil seines Beitrages forschungsgeschichtlich erläutert hat, nämlich „that it is possible and seems to be most plausible to explain the differences between the Synoptics without recourse to any hypothetical source“. Die Annahme einer Benutzung von Mk und Mt durch Lk „seems sufficient, economical and reasonable“. Shelly Matthews weitet in ihrem Beitrag „Does Dating Luke-Acts into the Second Century Affect the Q Hypothesis“ (245-265) den Blick hinein in 226 Buchreport das 2. Jh., auf den die Diskussion des synoptischen Problems längst nicht mehr verzichten kann, wenn sie mit dem Gang der Forschung Schritt halten will. Freilich wird die synoptische Frage damit nochmals sehr viel komplexer, weil mit Markions Evangelium und möglichen kanonischen Redaktionsprozessen im Lauf des 2. Jh.s weitere Faktoren ins Spiel kommen, die zu weiteren Hypothesenbildungen nötigen. Matthews will an der Zweiquellen-Hypothese im Grundsatz festhalten, diese aber dahingehend modifizieren, dass sie an die Stelle des kanonischen LkEv einen älteren (auch von Markion benutzten) „core Lk“ setzt, dem Q und Mk als Quellen gedient haben, wohingegen erst in einem späteren redaktionellen Stadium Bearbeiter des (im Ergebnis: ) kanonischen LkEv auch vom MtEv Gebrauch gemacht hätten (246). Matthews geht so vor, dass sie zunächst (1) auf Grundlage früherer eigener Arbeiten für bestimmte lk Texte eine Datierung ins 2. Jh. vorschlägt, sodann (2) nach dem Verhältnis des kanonischen LkEv zu Markions Evangelium fragt, um schließlich (3) die Möglichkeit einer „markionitischen“ Lösung des Synoptischen Problems zu diskutieren und hiermit (4) einige m. E. sehr wichtige „Concluding Observations“ zu verbinden. (1) In der Frage der Datierung der Apg tendiert Matthews zu einem „compositional window“ zwischen 115 und 130, eher später als früher, jedenfalls bereits nach dem Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan, d. h. in Kenntnis steigender Repressionen gegen Christen (247). Für Lk 24 in seiner jetzigen Gestalt nimmt sie eine Abhängigkeit von Apg an und zieht eine Abhängigkeit zu Joh 21 f. in Betracht (247 f.). Im Blick auf die in Lk 24 vorausgesetzte Schrifthermeneutik (249 f.) und den Zusammenhang von Zeugenschaft der fleischlichen Auferweckung Jesu und apostolischer Autorität (250 f.) sieht sie Lk 24 „in the orbit of the apologists, rather than the earlier evanglists“ (249). (2) Wie verschieben sich nun aber die Kulissen des synoptischen Problems, wenn zum kanonischen Lk auch noch „Marcion’s version of Luke“ ins Spiel kommt? Da das von Tertullian vorgeführte Szenario einer Verstümmlung des kanonischen LkEv durch Markion nicht überzeugt (254 f.), bleiben, so Matthews, zwei Möglichkeiten: Entweder das kanonische LkEv ist eine Erweiterung des Evangeliums des Markion, oder aber beide „have arisen from an earlier form of Luke, which was availible to both authors“ (255). Maßgeblich ist für Matthews, dass sich zwar Lk 1 f. als direkte Bekämpfung markionitischer Ansichten verstehen lasse, nicht aber Lk 24, dessen Akzente weithin nicht erkennbar antimarkionitisch bzw. überhaupt anders gelagert sind. Da mithin das kanonische LkEv zwar auch aber nicht nur als antimarkionitisches Dokument verstanden werden könne, tendiert Matthews „towards the premise of a core Luke, taken over and expanded in different directions in Marcionite circles on the one hand, and in ,Lukan‘ circles on the other“ (260). Buchreport 227 (3) Für das synoptische Problem ist dieser Befund, wie Matthews im Anschluss an Jason BeDuhn ausführt, insofern von Bedeutung, als die minor agreements , die aus Sicht der Q-Kritiker die Q-Hypothese entscheidend schwächen, nun in einem anderen Licht erscheinen. Setzt man nämlich innerhalb des Modells der Zweiquellen-Hypothese den postulierten „core-Luke“ an die Stelle des kanonischen LkEv, teilt jener mit dem MtEv „considerably fewer of the minor agreements“ (261), und die in den kanonischen Evangelien vorhandenen lassen sich unter der Voraussetzung kanonischer Redaktionsprozesse im Laufe des 2. Jh.s als „secondary scribal harmonizations“ verstehen. Hinzu kommt, dass, wenn man Q nicht aus dem kanonischen LkEv, sondern aus „core-Luke“ erhebt, Q erst mit Q 6,20 beginnt, womit ein weiterer Kritikpunkt an Q als einer „Spruchquelle“, dass sie nämlich auch narratives Material enthält, an Gewicht verliert. Die Stücke zu Predigt und Taufe des Johannes und zur Versuchung Jesu wären so erst viel später in das kanonischen LkEv gelangt, nämlich „as part of a later stage of redaction, when the final redactor has a copy of the Gospel of Matthew in hand“ (262). Über den hochgradig hypothetischen Charakter ihrer Überlegungen, die sie in feinem Understatement ein „inelegant proposal“ nennt (263), ist sich Matthews im Klaren, verweist aber auf den auf der Roskilde-Konferenz insgesamt vorhandenen Hypothesenreichtum, der in der Gesamtsicht der Beiträge immerhin dazu animiert, dass man die „fluidity of the textual tradition“ und „the active role of authors, redactors and subsequent scribes in shaping materials known to them“ (263 f.) stärker ins Kalkül zieht. (4) Abschließend gibt Matthews ihrer Hoffnung Ausdruck „that a clearer recognition of the nature of the shifting sands on which we all build hypotheses about the relationships among the canonical gospels might prompt biblical scholars to consider whether it is a reasonable and worthy exercise to continue to frame our hypotheses solely within the bounds of the historical-critical method“, die als allein gültige Methode die Erforschung des NT recht rückständig aussehen lässt, „untouched by the postmodern, poststructuralist, (including feminist) recognition that all knowledge is situated, that the historical narratives we construct are contingent and perspectival, and that especially because we deal with something as theologically/ ideologically weighted as Christian beginnings, our decisions on how to reconstruct these beginnings have consequences“ (264). Matthews führt für die Situiertheit jeder Antwort auf die synoptische Frage ihre eigene Position als Beispiel an: Dass „Lukan scriptural materials were shaped not by a singular hand of ,Luke‘ the evangelist, but by many hands in conversation and contest“, fügt sich zu „the sort of Christianity that appeals to me. Namely, a Christianity that is more fluid, less dogmatic and open to a variety of voices beyond the hegemonic voices of the canon“ (265). Freilich gilt: „[R]ecognition of one’s biases does not necessarily mean they are false“. Steht hinter diesen Überlegungen die unausgesprochene Frage, wie weit es die neutestamentliche Wissenschaft mit dem synoptischen Problem noch treiben will? Es damit angesichts des unleugbaren Aporien- und Hypothesengewirrs gerade jetzt ein Bewenden haben zu lassen, da der Blick weit in das 2. Jh. hinein zusätzliche theologiegeschichtliche Horizonte eröffnet, wäre freilich zu bedauern. Der abschließende Beitrag von Dieter T. Roth, „Marcion’s gospel and the Synoptic Problem in recent schoalrship“ (267-282) befasst sich mit vier neueren Monographien zum Text von Markions Evangelium, wie er u. a. aus Tertullian und Epiphanius in Teilen rekonstruierbar ist, nämlich Jason BeDuhn, The First Testament: Marcion’s Scriptural Canon (Salem 2013); Markus Vinzent, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels (Leuven 2014); Matthias Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (Tübingen 2015) und Judith M. Lieu, Marcion and the Making of a Heretic: God and Scripture in the Second Century (Cambridge 2015). Roth hat mit The Text of Marcion’s Gospel (Leiden 2015) eine eigene Monographie zum Thema vorleglegt. Zusammen mit weiteren Arbeiten, die sämtlich binnen zehn Jahren erschienen sind, dokumentieren sie das gegenwärtig hohe Interesse an Markions Evangelium. Zu Vinzents These, dass Markion geradezu der Erfinder der Evangelienform und alle vier ntl. Evangelien von ihm abhängig waren, verweist Roth auf kritische Rezensionen des Buches (271) und diskutiert seinerseits kritisch Vinzents Rekurs auf bestimmte Tertullian-Passagen, die seine in der Tat radikale These stützen sollen (272). Von Vinzent unterscheidet sich Klinghardt v. a. darin, dass er Markion nicht als Verfasser des von ihm mit der Sigel Mcn bezeichneten Evangeliums annimmt, das s.E. in der „Zeit ab 90“ entstanden sein kann, wie hier direkt aus Klinghardt, Das älteste Evangelium , 380 zu belegen ist. Die kritische Diskussion Roths mit Klinghardt, der ein überaus anspruchsvolles und komplexes Überlieferungsmodell vom s.E. ältesten Evangelium bis zu einer kanonischen Evangelienredaktion Mitte des 2. Jh.s vorgelegt hat, bezieht sich v. a. auf die Möglichkeiten und methodologischen Grundlagen einer Rekonstruktion von Markions Evangelium auch dort, wo der Text nicht direkt bezeugt, sondern nur anhand der ntl. Handschriftenüberlieferung in Kombination mit einem bestimmten Überlieferungsmodell indirekt erschlossen werden kann (273-278). Roth hält in dieser Frage eine größere methodologische Zurückhaltung für angezeigt. Auch gegenüber BeDuhn, der mit seiner Annahme, dass Markion „took up a Gospel already in circulation in multiple copies“ (278), augenscheinlich nä- 228 Buchreport Buchreport 229 her bei Klinghardt steht als bei Vinzent, ist Roth in dem Maße kritisch, wie er Schlüsse auf Textstellen des markionitischen Evangeliums gründet, die nicht direkt (Roth würde wohl sagen: überhaupt nicht) bezeugt sind (279 f.). Zustimmung signalisiert Roth dagegen zu Lieus Auffassung, dass bisher kein Versuch „to integrate Marcion’s ,Gospel‘ directly into any of the conventional theories of the interrelationship and interdependency of the three Synoptic Gospels“ zu überzeugen vermochten (281). Abschließend bekräftigt er seine Auffassung, dass das bereits zur Genüge komplizierte synoptische Problem überall dort unnötig zusätzlich verkompliziert werde, wo „grand theories are constructed on the basis of improbable, and at times even indefensable, reconstructions“ (281 f.). Dass damit freilich kein Schlusswort gesprochen ist, kommt am treffendsten im Titel eines von Roth in der vorletzten Anmerkung seines Beitrages zitierten Aufsatzes von J.K. Elliott aus dem Jahr 2000 zur Geltung: „The New Testament Text in the Second Century: A Challenge for the Twenty-First-Century“. Dass der Band, der hier in großer Ausführlichkeit zu besprechen war, der von Elliott formulierten Herausforderung immerhin in zwei Beiträgen Rechnung trägt, unterstreicht seine Bedeutung für die aktuelle Erforschung des synoptischen Problems.