ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
2345
Dronsch Strecker VogelEditorial
61
2020
Kristina Dronsch
Christian Strecker
Manuel Vogel
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4 Editorial steht das matthäische „Reich der Himmel“ als „den transzendenten Herrschaftsbereich der befreienden Umsonstheit der Gnade Gottes“ und formuliert damit einen weiteren wichtigen Aspekt eines gabetheoretisch reflektierten Gnadenbegriffs. Die von Christian Strecker eingeleitete Kontroverse zu Röm 3,25 - was genau bezeichnet der griechische Terminus hilastērion? - berührt die eingangs formulierte Frage nach Analogien göttlichen und menschlichen Gebens: „Gibt“ Gott Versöhnung in einer verblüffenden Umkehrung hellenistisch-römischer Konventionen des Umgangs mit dem Göttlichen oder ist für das Verständnis der Stelle ein biblisch-jüdischer Hintergrund aufzurufen? Unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung trägt Veronika Hoffmann erhellende Beobachtungen zur Phänomenologie zwischenmenschlicher Praktiken des Gebens bei, reflektiert diese im Blick auf den Begriff der Anerkennung und eröffnet ein fruchtbares Gespräch mit Lk 14,12-14. Friederike Oertelt stellt schießlich im Buchreport eine aktuelle Monographie zum Wohltätigkeitskonzept des lukanischen Doppelwerks vor, die das Thema Gabe in einen sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext stellt. Aus der Redaktion der ZNT ist mitzuteilen, dass Susanne Luther seit diesem Heft den Platz von Kristina Dronsch im Kreis der Hauptherausgebenden der ZNT einnimmt. Wir danken Kristina Dronsch, die wegen anderweitiger beruflicher Verpflichtungen wieder in den erweiterten Kreis gewechselt ist, für alle engagierte und ideenreiche Mitarbeit, und wir freuen uns auf die Impulse, die Susanne Luther der ZNT geben wird. Unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir nun eine anregende Lektüre. Susanne Luther Christian Strecker Manuel Vogel NT aktuell Paulus und die Macht Aspekte von Habitus und Handlungsmacht im Corpus Paulinum Michael Rydryck 1. Paulus, die Forschung und die verdammte Macht Bereits im Jahr 1993 veröffentlichte Manfred Josuttis eine Monographie mit dem provokanten Titel Petrus, die Kirche und die verdammte Macht, die er mit folgendem Befund einleitet: „In der Kirche herrscht die Angst vor der Macht. Viele Phantasien und Gefühle, die das christliche Bewusstsein in früheren Zeiten mit der Sexualität verknüpft hat, sind gegenwärtig in diese Lebenssphäre herübergewandert. Macht ist schmutzig und wirkt deshalb unrein. Macht ist vom Übel und muss deshalb möglichst gemieden werden. Kindliche Unschuld, ehemals durch sexuelle Reinheit charakterisiert, stellt sich vielen Eltern heute als Machtlosigkeit der Kleinen dar. Edel, hilfreich und gut ist im Kern nur ein Mensch, der auf Macht verzichtet. Und wer sich, weil es anders nicht geht, in Machtpositionen begibt und auf Machterfahrungen einlässt, darf dabei auf keinen Fall Lust empfinden.“ 1 Blickt man in die neutestamentliche Paulus-Forschung, so scheint Paulus dem von Josuttis gezeichneten und kritisierten Idealbild des Abstinenten zu ent- 1 M. Josuttis, Petrus, die Kirche und die verdammte Macht, Stuttgart 1993, 7. Dr. Michael Rydryck, Jahrgang 1980, studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, Alte Geschichte und Evangelische Theologie in Bonn und Frankfurt und wurde 2016 in Frankfurt promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche sowie Mitarbeiter im Dekanat im Bereich Studium und Lehre am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Paulus, das lukanische Doppelwerk sowie Fragen der Wunderhermeneutik. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 6 Michael Rydryck sprechen - sowohl mit Blick auf seine Sexualität als auch mit Blick auf seine Macht: Schon in der klassischen Studie von Adolf Deissmann (1866-1937) Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze sucht man das Stichwort „Macht“ vergebens im Sachindex. 2 Aber auch in neueren Grundlagenwerken wie etwa den Monographien von Udo Schnelle und Michael Wolter, dem von Friedrich W. Horn herausgegebenen Paulus Handbuch, dem von Oda Wischmeyer herausgegebenen Sammelband Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe oder dem Sammelband Biographie und Persönlichkeit des Paulus, herausgegeben von Eve-Marie Becker und Peter Pilhofer, fehlen die Stichworte „Macht“ und „Handlungsmacht“ (engl. agency) in den Inhaltsverzeichnissen und Indizes. 3 Wird man doch fündig, wie in Bruce J. Malinas und Jerome H. Neyreys Studie Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, ist der Machtdiskurs ein Diskurs über Machtverzicht 4 ganz im Sinn der von Josuttis konstatierten und kritisierten Positionierung. Eine Ausnahme von diesem weitgehenden Negativbefund stellt die Erörterung der Machtfrage im Kontext des paulinischen Wunderdiskurses in Stefan Alkiers Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus dar. Wundermacht im Spannungsfeld von menschlichen und göttlichen Akteuren ist für Alkier ein wesentlicher Schlüssel zur Interpretation der paulinischen Briefe. 5 Insgesamt überraschen aber der vorherrschende Negativbefund in der Paulus- Forschung mit Blick auf einen kulturwissenschaftlich, soziologisch, exegetisch und theologisch fundierten Machtdiskurs sowie das weitgehende Fehlen einer entsprechenden textanalytischen respektive biographischen Methodologie angesichts der neuesten Perspektiven auf Paulus, die den frühchristlichen Apostel in immer neuen, soziologisch, althistorisch und theologisch ertragreichen Facetten sichtbar werden lassen: Paulus wird als Gebildeter und Schulhaupt, 6 als Philosoph, 7 2 Vgl. A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911, 186-196. 3 Vgl. E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 384-392; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 477-481; O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, Tübingen 2 2012; F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 644-653; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / Boston 2 2014. 4 Vgl. B. J. Malina / J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville (Kentucky) 1996, 59 f sowie 95f. 5 Vgl. S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001. 6 Vgl. T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006. 7 Vgl. neben der genannten Studie von Vegge den Sammelband C. Strecker / J. Valentin (Hg.), Paulus unter den Philosophen, ReligionsKulturen 10, Stuttgart 2013, in dem Paulus in vielfältige philosophische Diskurse und Rezeptionen eingezeichnet wird.
