ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2020
2345
Dronsch Strecker VogelJerusalem - mehr als die Summe seiner Steine
61
2020
Klaus Bieberstein
znt23450007
8 Michael Rydryck 2. Macht: Habitus und Handlungsmacht In der Forschungsgeschichte der neutestamentlichen Wissenschaft wurde und wird Macht oftmals mit Herrschaft gleichgesetzt. Letztere verfällt allerdings demselben Verdikt, das Manfred Josuttis hinsichtlich der Macht formuliert hat: Herrschaftsdiskurse sind in aller Regel Diskurse über Herrschaftskritik (vgl. hier etwa die Positionen der imperial studies oder des post-colonial criticism). Die Rezeptionsgeschichte von Röm 13 in der Gegenwart oder die Auslegung der Johannesoffenbarung können als zwei besonders prominente Felder für Herrschaftskritik und das Befremden gegenüber Herrschaft und Macht dienen. Doch greifen diese Diskurse über Herrschaft ebenso zu kurz wie die implizite Gleichsetzung von Herrschaft und Macht. Herrschaft ist lediglich ein politischer Teilaspekt von Macht. Daher muss die grundlegende Frage lauten: Was verstehen wir unter Macht? Erst nach Klärung dieser funktional zu beantwortenden Frage können evaluative Fragen nach den Quellen der Macht und dem Gebrauch oder dem Missbrauch von Macht sinnvoll gestellt werden. Denn auch das muss klar sein: Der Machtdiskurs innerhalb der christlichen Theologie kann sich nicht auf eine funktionale Perspektive beschränken, sondern muss Phänomene der Macht immer auch theologisch evaluieren, denn weder ist jede Form von Macht allein von Gott, noch ist sie allein vom Teufel. Der Duden definiert Macht folgendermaßen: Macht ist die „Gesamtheit der Mittel und Kräfte, die jemandem oder einer Sache andern gegenüber zur Verfügung stehen; Einfluss“ 13 . Der Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) führt die funktionale Bestimmung von Macht weiter aus und zeichnet sie in das Geflecht sozialer Felder ein: „Das Feld der Macht (nicht zu verwechseln mit dem politischen Feld) ist kein Feld wie die anderen: Es ist der Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der verschiedenen Kapitalsorten versehen sind, um gegebenenfalls das entsprechende Feld beherrschen zu können, und deren Kämpfe immer dann an Intensität zunehmen, wenn der relative Wert der verschiedenen Kapitalsorten (zum Beispiel der ‚Wechselkurs‘ zwischen kulturellem und ökonomischen Kapital) ins Wanken gerät; vor allem also dann, wenn das im Feld bestehende Gleichgewicht zwischen jenen Instanzen bedroht ist, deren spezifische Aufgabe die Reproduktion des Feldes der Macht ist […].“ 14 13 www.duden.de/ rechtschreibung/ Macht (letzter Zugriff: 16.09.2019). 14 P. Bourdieu, Sozialer Raum und Feld der Macht, in: P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt 10 2018, 51. Paulus und die Macht 9 Macht ist demnach das Handlungspotential eines Akteurs in unterschiedlichen Feldern (politisch, ökonomisch, sozial, religiös, kulturell etc.), in denen unterschiedliche Kapitalsorten (soziale, politische, ökonomische, kulturelle, symbolische etc.), d. h. Handlungspotentiale, von relativem Wert sind. Die im Habitus akkumulierten und inkorporierten Kapitalsorten (Handlungspotentiale) können kultur- und lebensweltabhängig ineinander konvertiert werden. Die Grenzen dieser Konvertierbarkeit bilden die Grenzen der Handlungsmacht eines Akteurs. Die neuere Soziologie hat im Zusammenhang mit solchen Handlungspotentialen den Begriff agency (Handlungsmacht) geprägt und damit die enge Verbindung von Akteuren und deren Handlungspotentialen auf den Begriff gebracht: „Der allen Verwendungen und spezifischen Definitionen von ‚Agency‘ in den Sozialwissenschaften gemeinsame Kern lässt sich so umreißen: der Begriff ‚Agency‘ ist in sehr grundsätzlicher Weise mit den elementaren Fragen der Sozialwissenschaften verbunden, wer mit wem was in welcher Weise macht/ machen kann, wessen Wirkung wem (dem Individuum, der Gesellschaft, anonymen Mächten etc.) zugerechnet werden kann und was in der Macht des Einzelnen steht (faktisch oder als Vorstellung). ‚Agency‘ ist ein Grundbestandteil aller Konzepte, die erforschen oder erklären, wer oder was über welche Art von Handlungsmächtigkeit verfügt oder diese zugeschrieben bekommt bzw. als welchen und wessen Einwirkungen geschuldet etwas zu erklären ist.“ 15 Die Art und Weise, wie sich Akteure diese als Agency verstandene Handlungsmacht zu eigen machen, hat Bourdieu - gerade theologisch und neutestamentlich nicht uninteressant - als das Einverleiben bzw. die Verleiblichung von Handlungspotentialen (Bourdieu: Kapitalsorten) beschrieben 16 und das Ergebnis dieses Einverleibungsprozesses auf den Begriff des Habitus gebracht. 17 Die inkorporierten Handlungspotentiale werden zum Habitus eines Akteurs, der sein Handeln bzw. seine Handlungsmöglichkeiten (Agency) in einem sozialen Feld zwar nicht determiniert, aber entscheidend bestimmt und auch begrenzt: 15 C. Helfferich, Einleitung: Von roten Heringen, Gräben und Brücken. Versuche einer Kartierung von Agency-Konzepten, in: S. Bethmann / C. Helfferich / H. Hoffmann / D. Niermann (Hg.), Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim / Basel 2012, 10. 16 Vgl. G. Fröhlich, Einverleibung (incorporation), in: G. Fröhlich / B. Rehbein (Hg.), Bourdieu Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2014, 81-90; sowie W. Fuchs-Heinritz / A. König, Pierre Bourdieu. Eine Einführung, 3.- Aufl., Konstanz / München 2014, 106-109. 17 Zu dem für Bourdieu grundlegenden Begriff des Habitus vgl. B. Krais / G. Gebauer, Habitus, Bielefeld 6 2014; B. Rehbein / G. Saalmann, Habitus (habitus), in: Fröhlich / Rehbein, Bourdieu Handbuch, 110-118; Fuchs-Heinritz / König, Pierre Bourdieu, 89-106; B. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz 2 2011, 86-98. 10 Michael Rydryck „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“. 18 Der Habitus und damit die daraus resultierende Handlungsmacht sind denjenigen Sozialstrukturen angepasst, in denen sie erworben wurden. Die Handlungsmuster der sozialen Akteure sind daher darauf gerichtet, die ihnen vertrauten Strukturen zu reproduzieren, um die eigene Agency zu erhalten. Auf Veränderungsprozesse reagiert der Habitus mit Trägheitseffekten, die Bourdieu unter den Begriff „Hysteresis“ (Hinterherhinken) fasst. 19 Diese Hysteresis kann zu Phänomenen der sozialen Unangepasstheit von Habitus und sozialen Strukturen, ja sogar zum Wandel von Handlungsmacht in Ohnmacht führen, wie sie insbesondere in Zeiten des beschleunigten Wandels oder der revolutionären Veränderung nicht selten sind. Mit Blick auf die neutestamentliche Wissenschaft und insbesondere die Paulus-Forschung ist hier nicht zuletzt die Möglichkeit interessant, den Zusammenhang von biographischen Brüchen, Identitäts- und Machtkonstellationen sowie Hysteresis-Effekten zu untersuchen. Agency ist die - entweder generelle oder aber situative - Konvertierbarkeit der im Habitus inkorporierten Handlungspotentiale in einem bestimmten sozialen Feld (Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur etc.). Der Habitus ist dabei immer an ein konkretes Subjekt gebunden. Agency dagegen lässt sich als Handlungsmacht delegieren, ohne jedoch die eigene Macht aufgeben zu müssen, wie ein Blick auf das neutestamentliche Verhältnis von Christus zu seinen Aposteln oder ein Blick in Art. 20 II des Grundgesetzes exemplarisch deutlich machen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus [Quelle der Macht, Anm. MR]. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen [Agency, Anm. MR] und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt [Delegieren von Agency, Anm. MR].“ 20 Im Kontext der neutestamentlichen Wissenschaft und gerade im Kontext der Paulus-Forschung vermögen die Begriffe Habitus und Agency sowohl die Textinterpretation als auch die daran anschließenden (Macht-)Diskurse zu bereichern: Die Frage nach der Selbstbzw. Fremdzuschreibung von Handlungs- 18 P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 3 2012, 164-165. 19 Vgl. M. Suderland, Hystersis (hystérésis), in: Fröhlich / Rehbein, Bourdieu, 127-129. 20 Grundgesetz Art. 20 Abs. 2, München 50 2019, 14. Paulus und die Macht 11 macht, Wirksamkeit und Verantwortlichkeit ist für die Interpretation der neutestamentlichen Texte theologisch von eminenter Bedeutung. 21 Gerade die Agency-Konstruktionen in autobiographischen Texten, 22 wie den Briefen des Paulus, verdienen hier besondere Beachtung. Bislang oft isoliert betrachtete Perspektiven wie der soziale und der religiöse Status des Paulus, sein Bildungspotential, sein Berufungserlebnis, seine Reisen, sein missionarisches, kybernetisches und theologisches Wirken, seine Briefkommunikation, seine autobiographischen Entwürfe sowie seine Leiden in der Nachfolge Christi können als „strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“, d. h. als Aspekte seines Habitus verstanden und mit Blick auf die daraus resultierende Handlungsmacht interpretiert werden. Diese habituellen Strukturen sind in den Texten des Corpus Paulinum gleichsam in einen Textleib inkorporiert und müssen nicht, wie bisher nicht selten geschehen, in einer hinter den Briefen konstruierten Persönlichkeit oder Intention des Paulus gesucht werden. Die Intentionen auch des Paulus sind mit seinem Tod erloschen und heutiger Forschung bleibend entzogen. Indem aber der Habitus des Paulus einen spezifischen Habitus des Schreibens erzeugt hat und indem seine Briefe Zeugnisse ebenso seiner Handlungsmacht wie seiner autobiographischen Agency-Konstruktionen sind, bilden die paulinischen Briefe die notwendige, unhintergehbare Referenz für die Frage nach dem Habitus und damit nach der Agency des Paulus. Mit Blick auf einige exemplarische Aspekte der Paulus-Forschung werde ich im Folgenden das heuristische Potential der Begriffe Habitus und Agency bei der Interpretation des Corpus Paulinum skizzieren. 3. Gab es einen „vorchristlichen“ und einen „christlichen“ Paulus? Aspekte des Habitus und der Handlungsmacht des Paulus Liest man das Corpus Paulinum als Sammlung autobiographischer Texte und damit als Ausdruck des paulinischen Habitus ebenso wie der paulinischen Agency-Konstruktion, stößt man auf eine Problemkonstellation, die Bourdieu als „biographische Illusion“ gekennzeichnet hat: 21 Vgl. hier exemplarisch die Studie von J. Maston, Divine and Human Agency in Second Temple Judaism and Paul. A Comparative Study (WUNT 297), Tübingen 2010. 22 Vgl. hier die hermeneutischen und methodischen Ansätze bei G. Lucius-Hoene, „Und dann haben wir’s operiert“. Ebenen der Textanalyse narrativer Agency-Konstruktionen, in: Bethmann / Helfferich / Hoffmann / Niermann, Agency, 40-70; sowie die exegetischen Studien bei K. B. Wells, Grace and Agency in Paul an Second Temple Judaism. Interpreting the Transformation oft he Heart (NT.S 157), Leiden 2015. 12 Michael Rydryck „Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass hinter der autobiographischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse an der Sinngebung steht, am Erklären, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind. […] Der Neigung, sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen, indem man in Abhängigkeit von einer Globalintention bestimmte signifikante Ereignisse auswählt und Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt, die geeignet scheinen, ihr Eintreten zu begründen und ihre Kohärenz zu gewährleisten, solche etwa, wie sie implizit geschaffen werden, wenn man Ereignisse als Ursachen oder, häufiger noch, als Zwecke setzt - dieser Neigung also kommt die natürliche Komplizenschaft des Biographen entgegen, der in jeder Hinsicht, angefangen bei seinen Dispositionen des Berufsinterpreten, geneigt ist, diese künstliche Sinnschöpfung zu akzeptieren.“ 23 Das entscheidende Ereignis einer solchen narrativen Sinngebung in den autobiographischen Zeugnissen des Paulus ist das Damaskuserlebnis, wie es etwa in Gal 1,12-16 oder in Phil 3,3-14 von Paulus entfaltet wird. Viele Biographen sind ihm weitgehend in dieser autobiographischen Narration gefolgt und entwarfen ein biographisches Diptychon mit dem Damaskuserlebnis als Scharnier. Schon Deissmann unterschied zwischen dem Juden Paulus und dem Christen Paulus. 24 Neuere biographische Entwürfe enthalten die analoge Unterscheidung zwischen einem vorchristlichen und dem christlichen Paulus. 25 Das von Paulus als signifikant erlebte und textlich inszenierte Damaskusereignis ist für die biographische Forschung der Dreh- und Angelpunkt einer linear konstruierten Lebensgeschichte, in der sich ein Vorher von einem Nachher klar unterscheiden und sinngebend plausibel machen lassen. Doch diese attraktive, (auto-)biographische Sinnkonstruktion einer durch ein Schlüsselerlebnis zweigeteilten Lebensgeschichte und eines entsprechenden religiösen Identitätswechsels des Paulus ist in der gegenwärtigen Forschung fragwürdig geworden: Zum einen hat der neu entfachte Identitätsdiskurs in Exegese und Altertumswissenschaften die Vielschichtigkeit und Isomorphie jüdischer, christlicher und römisch-hellenistischer Identitätskonstruktionen herausgearbeitet. 26 Zum anderen konnten kultur-, sozial- und ritualwissen- 23 P. Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Bourdieu, Praktische Vernunft, 76. 24 Vgl. Deissmann, Paulus, 59-129. Auch in der gegenwärtigen Forschung findet sich diese Unterscheidung noch, etwa bei E. Ebel, Das Leben des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 114-116. 25 Vgl. Horn, Paulus Handbuch, 43-134; sowie Schnelle, Paulus. Leben und Denken, 39-113. 26 Vgl. S. Alkier / H. Leppin (Hg.), Juden - Heiden - Christen? : Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT 400), Tübingen 2018. Paulus und die Macht 13 schaftliche Arbeiten zeigen, dass biographische und hier insbesondere religiöse Wandlungsprozesse komplexer und zeitintensiver sind als in dichotomischen, an punktuellen Ereignissen bzw. Erlebnissen orientierten Konversionsmodellen angenommen. 27 Auch die Apostelgeschichte, die zwar eine wiederholte Inszenierung des Damaskusereignisses bietet (Apg 9,3-19; 22,6-16; 26,12-18), trägt in sozialwissenschaftlicher Perspektive nur an der Erzähloberfläche eine zweigeteilte Lebensgeschichte des Paulus - darunter ergeben sich zahlreiche Kontinuitäten im Bild des paulinischen Habitus. 28 Wirft man einen Blick auf den Habitus („strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“) des Paulus in seinen Selbst- (Protopaulinen) und den neutestamentlichen Fremdzeugnissen (Apostelgeschichte, Deuteropaulinen 29 ) und die daraus resultierende Agency (Handlungsmacht), lassen sich einige Konturen ausmachen: Paulus hatte berufliche Kompetenz im Handwerk (vgl. Apg 18,1-3) erworben, was ihn in die Lage versetzte, ortsunabhängig einer Erwerbsarbeit nachzugehen und dadurch ökonomisch unabhängig zu agieren (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 9,7-23). Eine damit zusammenhängende habitualisierte Mobilität ist in seinen Briefen breit bezeugt (vgl. etwa Gal 1,15-21; 1Kor 16,5-12; 2Kor 11,26; Röm 15,22-29), ohne die seine missionarische Agency nicht denkbar wäre. Die Briefe legen zudem eindrücklich Zeugnis ab von der Bildungskompetenz, 30 der Schriftgelehrsamkeit und dem kommunikativen Habitus des Paulus - Handlungspotentiale, die sowohl seine Missionsals auch seine Lehrtätigkeit ermöglichten. Soziale, religiöse und kommunikative Netzwerke spielen für die Agency des Paulus eine wichtige Rolle - der Habitus eines Netzwerkers ist in den Briefen deutlich ausgeprägt. 27 Vgl. als grundlegende Studien: C. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; Ders., Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirche. Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity II (BZNW 176), Berlin / New York 2011, 1383-1440; Ders., Die frühchristliche Taufpraxis. Ritualhistorische Erkundungen, ritualwissenschaftliche Impulse, in: W. Stegemann / R. E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese? , Stuttgart 2015, 347-410. 28 Vgl. hier M. Rydryck, Das Kapital des Paulus. Ein Beitrag zur sozialhistorischen Plausibilität der Apostelgeschichte, in: Alkier / Rydryck, Paulus - Das Kapital eines Reisenden, 59-84. 29 Gerade mit Blick auf die sogenannten Deuteropaulinen, die ja textuelle Imitationen des paulinischen Habitus oder genauer des paulinischen Habitus des Schreibens darstellen, besteht m. E. Forschungsbedarf in Sachen Habitus und Agency-Konstruktionen. Ich fokussiere mich daher hier auf die besser erforschte Darstellung des Paulus in der Apostelgeschichte. 30 Vgl. hier die umfassende Studie von Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. 14 Michael Rydryck Nach Ausweis der Apostelgeschichte hatte Paulus sowohl das Bürgerrecht der Stadt Tarsus (Apg 21,39), als auch von Geburt an das römische Bürgerrecht (Apg 16,37; 22,28) und damit erhebliche rechtliche Handlungspotentiale auf lokaler und imperialer Ebene inne - das Schweigen darüber in den Selbstzeugnissen bedarf der Erklärung und soll im Folgenden plausibilisiert werden. Der Habitus eines freigeborenen, loyalen Bürgers wird indes auch in den Briefen greifbar (vgl. Röm 13,1-7; 1Kor 9,1-18). Spezifisch religiöse Handlungspotentiale wie die Berufung vor Damaskus, ekstatische Begabung und Erfahrung (vgl. 2Kor 12,1-4), die Leidensfähigkeit in der Nachfolge Christi (vgl. etwa 1Kor 9,24-27; 2Kor 4,7-17; 2Kor 11,23-27; Phil 1,12-30) und vor allem der für Paulus in seiner Agency-Konstruktion so entscheidende Aposteltitel, den er vehement und wiederholt zu verteidigen sucht (vgl. 1Kor 9,1-6; 1Kor 15,6-11; 2Kor 10,12-18; 2Kor 11,12-15), prägen den paulinischen Habitus sowie Konstruktion und Konkretion seiner Handlungsmacht. Die ethnische und religiöse Zugehörigkeit zum pharisäischen Judentum (vgl. 2Kor 11,22; Phil 3,4-5) stellten schließlich Handlungspotentiale zur Verfügung, die es Paulus etwa ermöglichten, synagogale Netzwerke und Ressourcen zu nutzen oder in Jerusalem den Tempel zu betreten. Stellt das Damaskuserlebnis in diesem Horizont von Habitus und Handlungsmacht des Paulus einen fundamentalen Einschnitt dar? Nein und Ja. Nein, denn der Christ Paulus war der Jude Paulus ebenso wie der Bürger und Handwerker Paulus, der weiterhin die Synagogen für seine Mission nutzte, 31 der weiterhin den Tempel betreten durfte und der weiterhin für seinen Lebensunterhalt arbeiten konnte. Weder die Bildungsnoch die Berufskompetenzen und die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten des Paulus wurden durch das Damaskuserlebnis verändert; ebenso wenig wie die Handlungsmacht, die ihm durch das Bürgerrecht zur Verfügung stand. Beantwortet man die oben gestellte Frage jedoch mit Ja, ergibt sich dennoch kein Diptychon: Durch das Damaskuserlebnis fügt Paulus seinem Habitus neue, spezifisch religiöse Handlungspotentiale hinzu wie die ekstatische Begabung, die Leidensfähigkeit in der Nachfolge Christi und den Aposteltitel, ohne indes seine bisherigen Handlungspotentiale einzubüßen. Damaskus bedeutet in dieser Hinsicht keinen radikalen biographischen Bruch, sondern eine Erweiterung der paulinischen Agency sowie das Inkorporieren neuer Handlungspotentiale in seinen Habitus. Der eigentliche Bruch hat seinen Ort in der Agency-Konstruktion des Paulus: Nicht der Habitus und die Agency des Paulus ändern sich radikal vor Damaskus, sondern die Perspektive des Paulus auf seinen Habitus (vgl. Phil 3,7-13; Gal 2,19) sowie die Einschätzung der Quelle seiner Handlungsmacht (Gal 2,20): „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich 31 So argumentiert auch Deissmann, Paulus, 67. Paulus und die Macht 15 im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich hingegeben hat.“ 32 Leben kann hier gleichbedeutend mit Agency verstanden werden. Hatte Paulus zuvor seine Agency sich selbst in seinem habitualisierten Eifer für den Gott Israels zugeschrieben (vgl. Gal 1,13-14; Phil 3,4-6), so schreibt er sie nach Damaskus Jesus als dem Christus und Sohn des Gottes Israels zu, als neuem Kern und Agens seines (ansonsten unveränderten bzw. bereicherten) Habitus sowie seiner nun christologisch interpretierten und orientierten Handlungsmacht. 4. Die feinen Unterschiede: Das Ringen um den Titel „Apostel“ Ein zentraler Aspekt des Habitus und der daraus resultierenden Handlungsmacht des Paulus ist der Titel „Apostel“. 33 Dass Titel spezifische Handlungsmacht verleihen und dass sie Teil der habitualisierten Distinktionsstrategien von Akteuren gegenüber anderen Akteuren sind, wird unschwer bei einem Blick in akademische und kirchliche Institutionen deutlich. Bourdieu untersucht die Funktion von Titeln im Gesamtzusammenhang der „feinen Unterschiede“, die eine Gesellschaft strukturieren, indem sie die Verteilung von spezifischer Handlungsmacht (wie das Recht zu predigen, die Sakramente zu spenden, akademische Prüfungsrechte etc.) in gesellschaftlichen Feldern legitimieren und regulieren. 34 Für unseren Kontext spielt es dabei keine Rolle, bis zu welchem Grad der Aposteltitel zur Zeit der Abfassung der paulinischen Briefe bereits institutionalisiert war. Der Fokus auf diese Frage mag auch mit der starken Institutionalisierung von Titeln eben in akademischen und kirchlichen Kontexten zusammenhängen sowie mit dem daraus resultierenden Forschungshabitus. Für Paulus ist dagegen weniger die Institutionalisierung des Aposteltitels als vielmehr die ihm daraus erwachsende Handlungsmacht von Bedeutung - es geht um die feinen Unterschiede: Paulus thematisiert den Aposteltitel in Gal 1,1; 1Kor 1,1; 1Kor 9; 1Kor 15,8-10 und Röm 1,1 als entscheidenden Teil seiner Agency-Konstruktion. Der Aposteltitel ist ein symbolisches Kapital und ein unverzichtbarer Teil des 32 Hier und im Folgenden werden Bibelzitate nach der revidierten Lutherübersetzung von 2017 wiedergegeben. 33 Vgl. zur Einführung in die aktuelle Debatte um den Apostel-Begriff: J. Frey, Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen „Kollegen“, in: Becker / Pilhofer, Biographie und Persönlichkeit des Paulus, 192-227; sowie C. Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe, (ThSt 6), Zürich 2012, 35-51. 34 Vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 25.-Aufl., Frankfurt am Main 2016, 31-167. 16 Michael Rydryck paulinischen Habitus. Aus Sicht des Paulus verdankt er dieses Kapital allein seiner Berufung durch Christus. Der Grund dafür ist nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen, dass der Titel „Apostel“ in der Lebenswelt des Paulus in konkrete Handlungsmacht konvertierbar ist: Ein Apostel hat die von Christus legitimierte Agency zur Verkündigung, zum missionarischen Handeln und zur Gründung von Gemeinschaften von Christusanhängern. 35 Aus diesem Grund kann Paulus zu Beginn des Galaterbriefes, der Korintherbriefe und des Römerbriefes seinen Titel in kommunikative und kybernetische Handlungsmacht umsetzen. Der Aposteltitel ist damit ein wichtiger Bestandteil des paulinischen Habitus des Schreibens. Die Selbstbeschreibung als Apostel (Habitus) ist für Paulus Kern und treibende Kraft (lat. agens) seines missionarischen Wirkens (agency). Kritisch ist in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, aus welcher Quelle Paulus das symbolische Kapital seines Titels schöpft: Hat sich Paulus den Aposteltitel einfach selbst zugeschrieben, um seine Handlungsmacht zu begründen und zu mehren? Oder wurde ihm der Titel auf legitime Weise verliehen - und wenn ja, von wem? Die Apostelgeschichte etwa schreibt Paulus den Aposteltitel nicht zu. Und die ständige Betonung der göttlichen Legitimierung des Titels (vgl. etwa 1Kor 1; 2Kor 1 oder Röm 1,1) in den autobiographischen Selbstzeugnissen des Paulus verschärft diesen Befund eher, als dass sie ihn ausgleicht. Explizit wird das Prekäre in der Habitualisierung und Konvertierung des Aposteltitels in der Agency-Konstruktion des Paulus am Beginn des Galaterbriefes (Gal 1,1-2): „Paulus, Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten, und alle Brüder und Schwestern, die bei mir sind, an die Gemeinden in Galatien.“ Paulus konstruiert hier eine Distinktion zwischen dem Aposteltitel als sozialem Kapital, das ihm entweder durch eine Gemeinschaft von Christusanhängern („nicht von Menschen“) oder durch den irdischen Jesus selbst im Sinne der apostolischen Sukzession („auch nicht durch einen Menschen“) hätte verliehen werden können, und dem Aposteltitel als symbolischem Kapital, dessen Erwerb Paulus allein der Übertragung von Agency durch den auferweckten Christus und Gott verdankt. Gottes unüberbietbare Handlungsmacht, an der Paulus durch seine Berufung partizipiert, wird hier und andernorts entsprechend deutlich herausgestellt (Röm 1,1-7): „Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heili- 35 Vgl. hierzu C. Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe (ThSt 6), Zürich 2012, 40-41. Paulus und die Macht 17 gen Schrift, von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten - Jesus Christus, unserm Herrn. Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, den Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen aufzurichten unter allen Heiden, zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus. An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! “ Eine Infragestellung der legitimen Apostolizität des Paulus würde dagegen eine Beeinträchtigung nicht nur seiner, sondern auch der göttlichen Handlungsmacht darstellen - eine ideologisch tragfähige Legitimierungs- und Distinktionsstrategie. Es geht Paulus also um die Begründung und um die Unterscheidbarkeit seiner Macht gegenüber anderen Akteuren. Dieser Strategie folgend kann Paulus auch keine Machtinterferenzen zulassen, die durch Akteure entstehen, die sich den Aposteltitel aus Sicht des Paulus zu Unrecht anmaßen (2Kor 11,12-15): „Was ich aber tue, das will ich auch weiterhin tun, um denen den Anlass zu nehmen, die einen Anlass suchen, sich zu rühmen, sie seien wie wir. Denn solche sind falsche Apostel, betrügerische Arbeiter und verstellen sich als Apostel Christi. Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen als Diener der Gerechtigkeit; deren Ende wird sein nach ihren Werken.“ Nicht alle Macht ist vom Teufel, aber manche schon. Die Herkunft des Titels legitimiert oder delegitimiert die Handlungsmacht der Akteure und entscheidet über die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Habitus. Erst die Übertragung von Agency durch Gott und seinen Christus erzeugt die feinen Unterschiede, die mit dem Aposteltitel verbunden sind. 5. Grenzen der habitualisierten Handlungsmacht oder das Schweigen über das römische Bürgerrecht Nicht von Gott, sondern durch Menschen oder auch durch einen Menschen (seinen Vater) hatte Paulus nach Ausweis der Apostelgeschichte das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Tarsus und das römische Bürgerrecht. 36 Gerade das römische Bürgerrecht stellte lebensweltlich ein erhebliches politisches wie rechtliches Kapital dar und prägt in der Apostelgeschichte nicht unwesentlich den 36 Zur offenen Forschungskontroverse in Bezug auf den Bürgerrechtsstatus des Paulus vgl. Ebel, Das Leben des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 108-113; H. Omerzu, Tarsisches und römisches Bürgerrecht, in: Horn, Paulus Handbuch, 43-134; sowie Schnelle, Paulus. Leben und Denken, 55-58 sowie 40-44. 18 Michael Rydryck Habitus und das Handeln des Paulus. 37 Daher wurde das Schweigen des Paulus über sein Bürgerrecht in den authentischen Selbstzeugnissen immer als Problem empfunden und zum Anlass genommen, der Apostelgeschichte in diesem Punkt Fiktionalität zu unterstellen und dem historischen Paulus das Bürgerrecht abzusprechen. Auf diese alte Problemkonstellation fällt indes neues Licht, betrachtet man sie in der Perspektive von Habitus des Schreibens und Agency des Paulus: Die autobiographischen Passagen in Gal 1-2; 1Kor 9; 2Kor 11; Phil 3; Röm 1 und Röm 15 sind ja keineswegs als Selbstzweck oder gar als sentimentale Retrospektiven aufzufassen, sondern als ein spezifisch paulinischer Habitus des Schreibens, als argumentative und kommunikative Strategien der Selbst- und Agency-Konstruktion des Paulus zu rhetorischen Zwecken. Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, welche Funktion eine Selbstthematisierung des Bürgerrechtsstatus in den genannten Passagen erfüllt hätte. Die Antwort muss lauten, dass das Bürgerrecht als rechtliches und politisches Kapital keinen Zuwachs an Agency bedeutet hätte, da es auf dem Feld der religiösen und sozialen Kommunikation des Paulus schlicht nicht konvertierbar war. Im Gegenteil hätte sich der Hinweis auf den eigenen Bürgerrechtsstatus auf Argumentation und Agency des Paulus negativ auswirken können, da kaum alle Adressaten auch im Besitz dieses Privilegs gewesen sein dürften. Gerade in den römischen Kolonien Korinth und Philippi sowie in der Hauptstadt Rom hätte Paulus damit eine kontraproduktive soziale Distinktion zwischen sich und seinen Adressaten eingeführt, die seine Handlungsmacht gemindert hätte. Im Brief an die galatischen Gemeinden hätte dagegen ein Versuch das römische Bürgerrecht in Agency zu konvertieren seltsam deplatziert gewirkt, ging es doch hier nicht wie in der Korintherkorrespondenz um identitäre Spannungen zwischen jüdisch-christlichen und römisch-hellenistischen Handlungsmustern, sondern um Spannungen zwischen dem Habitus von nichtjüdischen und jüdischen Christusanhängern. Es ist darum kein Zufall, dass Paulus in der Darstellung der Apostelgeschichte sein Bürgerrecht ausschließlich in juristischen Kontexten (und auch dort strategisch) in Handlungsmacht umsetzt (vgl. Apg 16,16-40; Apg 21,27-25,12). Solche Kontexte sind in den genannten Briefpassagen jedoch nicht im Blick, sodass dort andere Kapitalsorten wie die Berufung durch Gott, der Aposteltitel und nicht zuletzt das inkorporierte Leiden in der Nachfolge Christi textstrategisch zur Sprache kommen. 37 Rydryck, Das Kapital des Paulus, 75-78. Paulus und die Macht 19 6. „Auf Narben weisen“ in der Nachfolge Christi „Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin’s weit mehr! Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht? “ So beschreibt Paulus in 2Kor 11,23-29 die Mühen und Leiden, die er in der Nachfolge Christi und im Zuge seines missionarischen Wirkens erdulden muss. Man könnte und hat diese autobiographische Passage als Beleg für einen Habitus der Niedrigkeit, für Ohnmacht und Machtverzicht des Paulus gewertet, zumal im Anschluss 2Kor 11,30 und 2Kor 12,9-10 die Stichworte für eine solche Lesart zu liefern scheinen. Doch gibt 2Kor 12,10 auch eine andere mögliche Lesart zu erkennen, die mit dem bisher über Habitus und Handlungsmacht des Paulus Gesagten in engem Zusammenhang steht: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Wörtlicher übersetzt lautet der letzte Teil: „Wenn ich nämlich schwach bin, so bin ich mächtig (griech. δυνατός).“ Leiden, Mühen, Schwäche und Gefangenschaft sind in der Agency-Konstruktion des Paulus leiblicher Ausdruck der Nachfolge Christi sowie der damit korrelierten Ermächtigung durch Christus. 38 Sie sind gerade kein Zeichen der Ohnmacht oder des Machtverzichts, sondern habitualisiertes symbolisches Kapital. Wer in der römisch-hellenistischen Lebenswelt „auf Narben weisen“ 39 kann, die er sich im Dienst einer höheren Sache - sei es die 38 Vgl. die Analyse der Implikationen dieser Perspektive bereits bei E. Güttgemanns, Der leidende Apostel und sein Herr. Studien zur paulinischen Christologie (FRLANT 90), Göttingen 1966; sowie die Interpretation der paulinischen Leidensaussagen als Machterweise Gottes bei Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, 226-248. 39 Vgl. zur Semantik und Funktionalität dieses Phänomens E. Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom (Historische Semantik 1), Göttingen 2 2004, 123-136. 20 Michael Rydryck Polis, die res publica oder sei es Christus - zugezogen hat, erwirbt symbolisches Kapital, das sich in politisches bzw. soziales Kapital und dementsprechend in Handlungsmacht konvertieren lässt. Für Paulus - und offenbar auch für seine ebenso jüdisch-christlich wie römisch-hellenistisch sozialisierten Adressaten - konstituiert dieses Kapital eine spezifisch christologische Agency. Wer um Christi willen wie Christus gelitten hat, der hat gleichsam Christus inkorporiert: „Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ (Gal 2,19-20). „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ (Gal 3,27). Die Leidensnachfolge Christi als Inkorporation seiner Leiden erzeugt symbolische und soziale Macht, die Paulus in 2Kor 11-12 und andernorts textstrategisch einzusetzen weiß: „Darum, obwohl ich in Christus alle Freiheit habe, dir zu gebieten, was zu tun ist, will ich um der Liebe willen eher bitten, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu.“ (Phlm 8 f). Dass Christus, für den Paulus christologisch interpretierte Leiden und Gefangenschaft auf sich nimmt, die Quelle dieser Macht ist, legitimiert sie und ihren Träger. Machtkritisch ist hier anzumerken, dass der Einsatz dieser Macht ebenso an Christus zurückgebunden bleibt, mithin ihr Träger Christus und Gott gegenüber verantwortlich ist. Ein christlicher Habitus und eine sich auf Christus berufende Handlungsmacht können und dürfen sich niemals von Christus im Sinne einer autonomen religiösen und sozialen Macht unabhängig machen. Christliche Agency ist immer christologisch begründete und begrenzte Agency. Zum Thema Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus John M.G. Barclay Eines der zentralen theologischen Motive in den Paulusbriefen ist die Gabe - die Gabe Gottes, deren letzter und endgültiger Ausdruck die Gabe (oder Selbsthingabe) Christi ist. Paulus bedient sich einer Vielzahl von Begriffen, um diesen Sacherhalt auszudrücken. Oft spricht er von charis, verwendet aber auch andere Worte aus dem semantischen Feld des Schenkens. „Gnade (charis) sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben hat “ (Gal 1,4); „Denn ihr kennt die Gnade (oder Gunst, charis) unseres Herrn Jesus Christus“ (2Kor 8,9); „Dank sei Gott für seine unaussprechliche Gabe“ (2Kor 9,15); „Gott hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? “ (Röm 8,32). Diese Sprache der Gabe ist in den Paulusbriefen in einer vielfach überlappenden Begrifflichkeit überall vernehmbar (z. B. Gal 2,20-21; 5,4; Röm 4,4,16; 5,15-21; Phil 1,6; Eph 4,7-8; 5,2,25). Es würde in die Irre führen, wenn wir uns einzig auf das Wort charis konzentrierten, das, wie außerdem zu betonen ist, keiner besonderen theologischen Sprache angehört. Vielmehr handelt es sich um ein gebräuchliches griechisches Wort für Geschenk, Gunst oder Dankbarkeit. Es sagt als solches auch noch nicht aus, um welche Art von Geschenk es sich handelt. Für das englische grace war die lateinische Übersetzung von charis mit gratia prägend, und dieser Begriff hat (wie auch das deutsche Gnade) in der christlichen Theologie ein breites Spektrum von Konnotationen gebildet. Aber was bedeutete die Gabe-Terminologie für Paulus? Prof. Dr. John M.G. Barclay, geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 22 John M.G. Barclay Was meinen wir mit „Gnade“? Wenn wir das Wort „Gnade“ hören, assoziieren wir eine „freien Gabe“, aber „frei“ in welchem Sinne? Eine Gabe kann frei von Vorbedingungen sein, ohne Rücksicht auf das Verdienst oder den Wert der Beschenkten, „frei“ also im Sinne von ungeschuldet oder unverdient. Oder (und das ist eben nicht dasselbe) sie wird verstanden als „frei“ von nachträglichen Verpflichtungen, Schulden oder Forderungen, sozusagen „ohne Haken und Ösen“. In dieser Bedeutung entkommt „Gnade“ dem Kreislauf von Gegenseitigkeit und Gegenleistung, der Zirkularität des quid pro quo. Ein solches Verständnis von Gnade könnte dann aber den Aufruf zu Umkehr, Einsatz, Opfer, Dienst und Gehorsam obsolet erscheinen lassen, und man kann mit Recht fragen, ob dies nicht zu dem führen würde, was Bonhoeffer „billige Gnade“ nannte, ein Begriff von Gnade, der sich weigert, moralische Verpflichtungen anzuerkennen. 1 Es scheint angesichts dieser Sachlage am besten, mit dem Anfang anzufangen und dadurch zu einem Verständnis der paulinischen Aussagen zu gelangen, dass wir über den Charakter und die Wirkungsweise einer Gabe nachdenken. 2 Wir können „Gabe“ definieren als die Sphäre freiwilliger, persönlicher Beziehungen, die sich durch wohlwollende Gewährung eines Vorteils oder einer Gunst auszeichnet, sei es ein materieller Nutzen oder ein Dienst. Aber Gaben gibt es in verschiedenen Formen und Weisen des Schenkens. Jede Kultur hat ihre eigenen komplexen, unausgesprochenen Regeln für das Schenken, die sich darauf beziehen, wer wem etwas gibt, wie es gegeben werden soll und was als Gegenleistung erwartet oder sogar verlangt wird oder aber nicht erwartet wird. Tatsächlich ist das Schenken eine Quelle der Faszination für Anthropologen und Historiker, und es ist ein herausragendes Merkmal der meisten religiösen Traditionen, wie sie die Gegenseitigkeit des Schenkens zwischen Menschen und Göttern und die auf menschlicher Ebene zu verteilenden Geschenke strukturieren. 3 Wie auch in den meisten heutigen Kulturen waren in der Welt des Paulus Gaben ein wichtiges Mittel der sozialen Bindung: Sie banden dadurch Menschen aneinander, dass sie Beziehungen der Freundschaft und Verpflichtung stifteten und eine Form der Gegenseitigkeit evozierten, die freiwillig, aber auch für die Fortsetzung der Beziehung notwendig war. Wenn man ein Geschenk erhielt, 1 D. Bonhoeffer, Nachfolge, Gütersloh 1989 (1.-Aufl. 1937). 2 So bin ich auch in meinem Buch Paul and the Gift, Grand Rapids 2015 vorgegangen, auf das ich für eine wesentlich ausführlichere Präsentation und Diskussion des Materials verweise, das ich hier nur summarisch anführe. 3 Das grundlegende Werk, das am Anfang der anthropologischen Erforschung der Gabe steht, ist M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt 1968 (frz. Originalausgabe 1925). Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 23 aber weder Dankbarkeit dafür bekundete noch irgendeine Art von Gegengabe erbrachte, kam eine soziale Bindung nicht zustande bzw. wurde nicht aufrechterhalten und einer Freundschaft drohte das Ende. 4 Geschenke wurden unterschieden von Darlehen (ein Rechtsverhältnis) und vom Markttausch (bei dem der Wert der Transaktion genau berechnet werden kann). Aus bestimmten historischen Gründen sind viele westliche Kulturen außerdem dazu übergegangen, Geschenke von jeder Form des Austauschs zu unterscheiden und damit das Geschenk ohne Gegenleistung zu idealisieren, d. h. das einseitige (bisweilen sogar anonyme) Geschenk, das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Fraglos sind wir der Meinung, dass ein „reines“ Geschenk oder ein „freies“ Geschenk, wenn es seinen Namen denn verdient hat, ohne jeden Hintergedanken und ohne Druck auf den Empfänger, eine Gegenleistung zu erbringen, gegeben werden muss. Wir sind uns zwar bewusst, dass dies normalerweise nicht möglich ist, so wie wir sagen „nichts im Leben ist umsonst“, aber wir sind doch der Meinung, dass es so sein sollte. Aber das ist eine moderne, westliche Annahme, die von der lutherischen Theologie beeinflusst, in der Kantischen Ethik weiter entwickelt und von Jacques Derrida auf maximal zugespitzt wurde. 5 Es gibt jedoch besondere soziale, wirtschaftliche und politische Gründe dafür, dass sich der westliche Begriff der Gabe in dieser Weise entwickelt hat, und wir sollten dieses Verständnis nicht als selbstverständlich oder allgemeingültig ansehen und es vor allem nicht ungeprüft Paulus zuschreiben. Was macht eine vollkommene Gabe aus? Was würde das göttliche Geben wirklich überaus gnädig machen? Die Antwort lautet, dass es mehrere verschiedene Arten gibt, wie das ideale oder vollkommene Geschenk näher beschrieben werden kann. Es gibt verschiedene „Vollkommenheiten“ der Gnade, 4 Die umfangreichste erhaltene philosophische Abhandlung aus der Zeit des Paulus ist Seneca, De beneficiis. 5 Vgl. hierzu Paul and the Gift, 54-63 und J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993. Prof. Dr. John M.G. Barclay , geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. 24 John M.G. Barclay verschiedene Dimensionen, in denen man diesen Begriff in seine reinste oder höchste Form bringen kann. Tatsächlich lassen sich mindestens sechs solcher „Vollkommenheiten“ unterscheiden: 1. Überfülle: Geschenke können in ihrer schieren Größe und ihrem Umfang vollkommen sein und alle anderen Geschenke durch die Tiefe und Bandbreite ihrer Großzügigkeit übertreffen. Da Gott der Geber aller Dinge ist und da die Gaben Gottes keinen Beschränkungen unterliegen, ist dies eine verbreitete Auffassung von der göttlichen Weise des Gebens, wenn auch oft im Ausgleich mit der Vorstellung, dass der menschlichen Fähigkeit zum Empfangen Grenzen gesetzt sind. 2. Singularität: Man kann von der Singularität der Gnade sprechen, wo Gottes Großzügigkeit nicht von Gericht oder Zorn beeinträchtigt ist, mithin Gott gegenüber der Welt nichts als großzügig ist. „Reine“ Gnade in diesem Sinne würde bedeuten, „gereinigt von jeder Haltung oder Handlung, die nicht Geschenk oder Gnade ist“. 3. Priorität: Als die besten Geschenke können diejenigen angesehen werden, die vorgängig gegeben werden, also nicht als Antwort auf ein vorheriges Geschenk, sondern als primäre Handlung, die sich allein der Initiative des Gebers verdankt. Da die Vorstellung von Gott als einem sekundären Geber üblicherweise als defizitär erscheint, haben Theologen vielfach betont, dass Gott immer derjenige ist, der zuerst gibt, sei es in der Schöpfung oder in der Erlösung. 4. Inkongruenz: Gemeint ist, dass die Gaben Gottes ohne Rücksicht auf den Wert der Empfänger gegeben werden, anders als bei den meisten menschlichen Gaben. Wir wählen sorgfältig aus, wem wir Geschenke machen, nach bestimmten Kriterien von Wert oder Würdigkeit. Hier liegt der Einwand nahe, dass solche Kriterien auch für das göttliche Geben leitend sein müssen, denn wenn Gott unterschiedslos Guten und Bösen gibt, würde dies die moralische Ordnung des Universums untergraben. Gleichwohl kann man an der Inkongruenz als Merkmal der perfekten göttlichen Gabe ohne Rücksicht auf Wert oder Unwert des Empfangenen festhalten. Dies ist eindeutig keine einfache Angelegenheit und löst zwangsläufig eine theologische Debatte aus. 5. Wirksamkeit: Geschenke, die nichts bewirken und für den Empfangenden ohne Belang sind, sind augenscheinlich anderen Geschenken, die eine positive Veränderung bewirken, unterlegen. Wenn Gott Gaben gibt, kann man erwarten, dass sie wirksam sind, d. h. dass sie die Absichten Gottes, der sie gegeben hat, realisieren. Aber das wirft Fragen der Handlungsmacht auf: Setzt Gott den menschlichen Akteur mittels der Wirksamkeit der Gabe außer Kraft, oder ist es Sache des Empfangenden zu bestimmen, welche Veränderung sie bewirken? Theologen haben diese Frage aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten über die Wirksamkeit der Gnade auf verschiedene Weise beantwortet.
