ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
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Dronsch Strecker VogelWarum wollte Jesus nach Jerusalem?
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Bernd Kollmann
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38 John M.G. Barclay bar eine einzige Wirkung ist, ist sie doch der Konvergenz zweier unabhängiger Organe zuzuschreiben, wobei das beteiligte menschliche Organ allein für seinen eigenen Anteil an der Handlung verantwortlich ist. Da sie umgekehrt proportional arbeiten, muss die menschliche Handlungsweise umso belangloser sein, je größeres Gewicht der Macht Gottes nach Stärke und Umfang zugemessen wird. Wenn also in einem monergistischen Schema die göttliche Aktivität vollständig wirksam ist, muss sie innerhalb dieses Schemas auch die einzige wirkende Handlungsmacht sein. Bei beiden Interpretationen ist Gott also ein Akteur auf derselben Ebene und in derselben Kausalmatrix wie der menschliche Akteur. Selbst dort, wo Gott als Urheber der Kausalkette angesehen wird, wirkt die Gnade als Kraft oder Wirkungsmacht in derselben Weise, wie ein menschlicher Akteur wirkt. Aber wenn Gott Gott ist und die Gnade göttlich, dann gilt unser besonderes Augenmerk der Beziehung zwischen Gott und den Realitäten, die Gott nicht nur beeinflusst, sondern erschafft. 21 Eine dem Stoizismus nahestehende Lösung wäre eine Art Verwandtschaft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, so dass das menschliche Wirken nicht mit dem göttlichen Wirken konkurriert, sondern ein Teil oder „Fragment“ des Göttlichen ist. Nach diesem Modell wäre die menschliche Freiheit nicht Freiheit losgelöst von Gott, sondern etwas, das gerade in Übereinstimmung mit Gott ausgeübt wird. Dies beließe jedoch Gott und Mensch auf derselben Stufe des Seins, wobei Gottes Handlungsmacht zwar in Kraft oder Reichweite überlegen wäre, aber von selber Art. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das göttliche Wirken als „nicht-kontrastive Transzendenz“ (Tanner) aufzufassen. Hier schließt das göttliche Wirken das menschliche Wirken keineswegs prinzipiell aus. Es schränkt die menschliche Freiheit nicht ein oder mindert sie, sondern ist genau das, was sie begründet und ermöglicht. Die beiden Wirkungsweisen stehen also in direktem und nicht in entgegengesetztem Verhältnis zueinander: Je weiter das Handeln des menschlichen Akteurs Raum greift, desto mehr (nicht desto weniger) kann der Gnade zugeschrieben werden. Die göttliche Transzendenz impliziert jedoch, dass die beiden Organe nicht identisch oder als Teil eines Ganzen miteinander verbunden sind. Gott unterscheidet sich radikal vom menschlichen Wirken und ist kein Akteur innerhalb derselben Seinsordnung oder desselben Kausalzusammenhangs. Daher ist menschliche Handlungsmacht weder eine leere Hülle für göttliche Macht noch eine unabhängige Kraft, die an der Seite Gottes wirkt, sondern in Gottes Handlungsmacht begründet und durch sie konstituiert, zugleich aber von Gott unterschieden. 21 Hilfreich hierzu K. Tanner, God and Creation in Christian Theology: Tyranny or Empowerment? , Oxford 1988. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 39 Anstelle von „Synergismus“ oder „Monergismus“ kann dieses Modell „Energismus“ genannt werden, in Anlehnung an die Aussage des Paulus in Phil 2,12f: „Bemüht euch um euer eigenes Heil, denn Gott ist in euch am Werk (ho energōn en hymin), sowohl zum Wollen als auch zum Vollbringen zu seinem Wohlgefallen“. Paulus hält hier die Philipper zum Handeln an und schreibt ihnen die volle Verantwortung für dieses Handeln zu, aber er spricht auch vom Werk Gottes, das nicht unabhängig von ihrem eigenen ist, sondern in gewisser Weise die Quelle ihres Handelns, ja sogar ihres Wollens, das dem Handeln vorausgeht. Göttliche und menschliche Handlungsmacht werden nicht einfach nebeneinander gestellt, als ob sie je für sich zu einer gemeinsamen Anstrengung beitragen würden. Aber sie werden in eine logische Beziehung zueinander gebracht: Der menschliche Imperativ (die Mahnung zum „Werk“) beruht auf einem göttlichen Indikativ („Gott ist am Werk“), die beiden sind durch eine logische Konjunktion („für“) miteinander verbunden. Die Glaubenden partizipieren hier an einer Macht, die anders ist als sie selbst und die über sie hinausreicht, die aber ihr Handeln nicht ersetzt, sondern es mobilisiert und ermöglicht. Wenn wir hier von „Wirksamkeit“ sprechen dürfen, so ist die Gnade Gottes nicht nur eine Inspiration oder ein Beispiel, aber sie ist auch kein Ersatz für das Handeln und Wirken des Glaubenden: Sie ist vielmehr die Macht, innerhalb derer der Glaubende vollumfänglich sein verantwortliches Tun realisiert. Paulus versteht den Glaubenden so, dass er durch die Gnade verwandelt und umstrukturiert, ja zu einer „neuen Schöpfung“ wird (2Kor 5,17; Gal 6,15). Man kann hier davon sprechen, dass das Selbst des Glaubenden neu zentriert wird, umgestaltet durch eine neue Beziehung und das daraus resultierende neue Selbstverständnis, so dass Verstand, Wille, Körper und Emotionen neu ausgerichtet und der Wille zu kraftvollen Taten der Liebe angeregt wird. Hier gibt es keine Passivität, sondern eine „Kreuzigung“ des Fleisches mit seinen Leidenschaften und Begierden (Gal 5,24) und ein unermüdliches „Säen“ auf den Geist (Gal 6,8-9). Alle menschlichen Kräfte des Wollens, Begehrens, Denkens und Handelns werden hier mobilisiert, durch Gnade nicht unterdrückt, sondern aktiviert und angeregt. Aber - und das ist für Paulus von entscheidender Bedeutung - die Kraft, durch die diese Aktivität erzeugt wird, ist nicht ihre eigene, sie ist nicht eine Eigenschaft, die sie als Akteure charakterisiert, und sie ist auch nicht Teil ihrer kreatürlichen Ausstattung. Das neue Leben, das sie leben, ist geliehen, stammt von außerhalb ihrer selbst. Es ist in ihnen aktiv, jedoch unabänderlich nicht als ihr Besitz. Der Geist Christi wohnt in ihnen (Röm 8,11), aber er wird ihnen nie assimiliert; er ist nie „ihr eigen“ in demselben Sinne, wie er der Geist Christi ist. So wird das ganze christliche Leben in Abhängigkeit von der Gnade gelebt: Die Glaubenden werden neu zentriert, aber das Zentrum ihrer Existenz liegt nicht in ihnen, sondern 40 John M.G. Barclay außerhalb von ihnen. Diese Gabe bleibt immer inkongruent, immer außerhalb ihrer selbst, während sie gleichzeitig von ihr leben und in ihr handeln. In diesem Sinne ist die Gnade die Quelle ihrer eigenen Handlungsmacht, und die Glaubenden sind wie ein ungeborenes Kind, das im Mutterleib lebendig ist, aber auf das Leben angewiesen ist, das es von seiner Mutter erhält. 22 So verstanden ist die Struktur der Gnade in der Theologie des Paulus so markant wie konsistent: Sie ist die Gabe Gottes, endgültig erfüllt und verwirklicht in Christus, nicht eingeschränkt durch ein Kalkül von Wert oder Eignung, sondern eine unbedingte, inkongruent Gabe, die die Sünder rechtfertigt, den Toten Leben gibt und „das, was nicht existiert, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17). Diese Gnade ist keine „Sache“, sondern eine Beziehung, die Gegenwart und Kraft Gottes in Christus, durch die der Glaubende neu geschaffen, neu ausgerichtet und zu Gehorsam, Dienst und Liebe befähigt wird. Weil sie eine Gabe der Teilhabe an Christus ist, wirkt sie im Glaubenden, ist aber nicht eigentlich ihr Besitz, und so ist sie inkongruent nicht nur zu Beginn der neuen Existenz in Christus, sie bleibt es auch das ganze Leben hindurch. Die Glaubenden, selbst und als solche ganz ungenügend, leben vom Leben in Christus und zeigen so am vollkommensten, wie die Menschen von Anbeginn gedacht waren, nämlich dankbare und tätige Empfänger einer Gnade zu sein, die ihre eigenen Fähigkeiten übersteigt und sie zu einer Bestimmung hinführt, die weit über ihren geschöpflichen Status hinausgeht. 22 Vgl. K. Tanner, Christ the Key, Cambridge 2010, sowie die Darstellung der Ethik Karl Barths bei J. Webster, Barth’s Ethics of Reconciliation, Cambridge 1995. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit Lutz Doering 1. Forschungsgeschichtliche Zugänge Bis in die 1970er Jahre, teilweise auch darüber hinaus, herrschte in der neutestamentlichen Forschung - nicht zuletzt in der bis dahin tonangebenden protestantischen - das Bild eines Judentums vor, dessen „Soteriologie“ (wie man in christlich-dogmatischer Tradition entlehnter Terminologie sagte) auf einer sprichwörtlichen Werkgerechtigkeit gründete, die zugleich als differentia specifica zu einem die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade vertretenden, vornehmlich von Paulus her verstandenen Christentum betrachtet wurde. Zwar hatte schon George Foot Moore in seinen Arbeiten 1 dem pharisäisch-rabbinischen Judentum größere Gerechtigkeit widerfahren lassen, doch diese sind - insbesondere im deutschen Sprachraum - weitgehend ohne Widerhall geblieben, nicht zuletzt, weil die großen Synthesen protestantischer Lehrmeinung über das antike Judentum, von Ferdinand We- 1 G. F. Moore, Christian Writers on Judaism, HThR 14 (1921), 197-254; ders., Judaism in the First Centuries of the Christian Era: The Age of the Tannaim, 3 Bde., Cambridge, MA 1927-30. Prof. Dr. Lutz Doering, Jahrgang 1966, studierte Evangelische Theologie und Judaistik in Erlangen, Jerusalem und Heidelberg. Nach Promotion in Göttingen und Vikariat in Soest war er Wissenschaftlicher Assistent an der Friedrich- Schiller-Universität Jena, wo er sich auch habilitierte. Von 2004 bis 2009 lehrte er am King’s College London, von 2009 bis 2014 an der Durham University. Seit 2014 ist er Professor für Neues Testament und Antikes Judentum sowie Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ leitet er gegenwärtig ein Projekt zur transkulturellen Verflechtung und Entflechtung jüdischer Apokalyptik. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind jüdische Literatur und Religion in hellenistisch-römischer Zeit, rabbinische Literatur (insbesondere Tosefta), antike jüdische und frühchristliche Briefe. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 42 Lutz Doering ber 2 zu Wilhelm Bousset, 3 von Emil Schürer 4 zu Paul Billerbeck, 5 zunächst weihin bestimmend blieben. Nach vereinzelter Kritik an diesen Synthesen, vor allem im englischsprachigen Raum, 6 war es Ed Parish Sanders’ Paul and Palestinian Judaism (1977), das eine grundlegende Neuorientierung einläutete. Durch die Übersetzung von Jürgen Wehnert (1985) wurde das Buch seit den späten 1980er Jahren zunehmend auch im deutschsprachigen Raum rezipiert. 7 Sanders zeichnet das Judentum als eine Religion der Gnade. Der zentrale Begriff für Sanders ist „Bundesnomismus“ (covenantal nomism): 8 Alle wichtigen Kreise des antiken Judentums (mit Ausnahme des Autors von 4. Esra, so Sanders) seien sich einig, dass es sich beim Bund um ein göttliches Geschenk handelt und dass Tora-Gehorsam nicht dazu dient, die Mitgliedschaft im Bund zu erlangen, sondern sie auszudrücken - oder anders gesagt, dass es beim Halten der Tora nicht um getting in, sondern um staying in geht; getting in geschehe durch Erwählung, also aufgrund von Gnade. 9 Vergleicht man nun Paulus mit den Zeugnissen des antiken Judentums, 2 F. Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie aus Targum, Midrasch und Talmud, hg. v. F. Delitzsch/ G. Schnedermann, Leipzig, 1880; 2.- Aufl.. u. d. T. Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, Leipzig 1897. 3 W. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903, 2.- Aufl. 1906, 3.- Aufl. hg. v. H. Greßmann u. d. T. Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HNT 21), Tübingen 1926. 4.-Aufl. hg. v. E. Lohse 1966. Man lese nur den tendenziösen, mit schroffen Werturteilen nicht sparenden Abschnitt zur Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes sowie zur Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit der Frommen in Bousset/ Greßmann, Religion, 3. und 4.-Aufl., 380-394. 4 E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1, 3./ 4.- Aufl., Leipzig 1901; Bd. 2-3, 3.-Aufl., Leipzig, 1898. Zum „New Schürer“ siehe unten, Anm. 6. 5 [H. L. Strack / ] P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde., München 1922-28, Bd. 5-6: Rabbinischer Index; Verzeichnis der Schriftgelehrten; Geographisches Register, hg. v. J. Jeremias, 1956-61. 6 Vgl. S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81 (1962) 1-13; K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963) 199-215; auch die korrigierenden redaktionellen Eingriffe, die das Team um Geza Vermes und Fergus Millar am englischen „New Schürer“ vornahm: E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, rev. Ed. v. G. Vermes/ F. Millar u. a., 3 Bde., Edinburgh 1973-87, besonders deutlich in Bd. 2 (1979) mit der Revision des berüchtigten Kapitels 28 „Das Leben unter dem Gesetz“ und des Abschnitts 26 I über die Pharisäer. 7 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion, Minneapolis, MS 1977; dt. Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1985. 8 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 75.236. “Briefly put, covenantal nomism is the view that one’s place in God’s plan is established on the basis of the covenant and that the covenant requires as the proper response of man [sic] his obedience to its commandments, while providing means of atonement for transgression” (75). 9 So spricht z. B. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 424, vom “pattern of getting in (election) and staying in (obedience)”. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 43 dann ergibt sich nach Sanders, dass die Religionsstruktur (pattern of religion) bei Paulus substanziell ähnlich ist, zugleich aber eine grundlegende Differenz besteht, und zwar nicht im angeblichen Gegensatz von Gnade und Werken, sondern bei der Zentralität des Glaubens und der Teilhabe an Christus, die an die Stelle des Bundes in der jüdischen Religionsstruktur treten. 10 Das Problem, das Paulus mit dem Judentum habe, bestehe im Wesentlichen darin, „dass es nicht Christentum ist“. 11 Sanders’ Analyse hat sowohl Zustimmung als auch Widerspruch erfahren. Allgemein wertgeschätzt wurde die Überwindung einer herabsetzenden Karikatur des Judentums in vielen Darstellungen protestantischer Exegese. Die New Perspective on Paul hat an Sanders angeknüpft, wobei etwa N. T. Wright und James Dunn die Vorgängigkeit der Gnade im Judentum wie bei Paulus ausdrücklich hervorhoben. 12 Insofern aber Dunn unter den „Werken des Gesetzes“, durch die nach Paulus niemand gerechtfertigt wird (Gal 2,16; Röm 3,20), vorwiegend die „nationalen“ boundary markers der Beschneidung, Speisegesetze und Sabbatbeobachtung verstand, sah er den Unterschied im paulinischen Verständnis der Gnade gegenüber dem sonstigen Judentum vor allem in der Universalität der 10 Vgl. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 543-552. 11 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 552: “In short, this is what Paul finds wrong in Judaism: it is not Christianity” (kursiv im Original). 12 Vgl. N. T. Wright, Pauline Perspectives: Essays on Paul, 1978-2013, London 2013, 3-20 (15) (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1978); J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul: Revised Edition, Grand Rapids, MI 2008, 199 (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1991). Prof. Dr. Lutz Doering , Jahrgang 1966, studierte Evangelische Theologie und Judaistik in Erlangen, Jerusalem und Heidelberg. Nach Promotion in Göttingen und Vikariat in Soest war er Wissenschaftlicher Assistent an der Friedrich- Schiller-Universität Jena, wo er sich auch habilitierte. Von 2004 bis 2009 lehrte er am King’s College London, von 2009 bis 2014 an der Durham University. Seit 2014 ist er Professor für Neues Testament und Antikes Judentum sowie Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ leitet er gegenwärtig ein Projekt zur transkulturellen Verflechtung und Entflechtung jüdischer Apokalyptik. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind jüdische Literatur und Religion in hellenistisch-römischer Zeit, rabbinische Literatur (insbesondere Tosefta), antike jüdische und frühchristliche Briefe. 44 Lutz Doering Gnade, die nicht auf Juden und Proselyten begrenzt sei. 13 Allerdings entzündete sich an den Thesen Sanders’ und der New Perspective zum Gnadenverständnis im antiken Judentum auch Widerspruch, vor allem im englischsprachigen Raum, zum Teil aus evangelikaler Perspektive. Donald A. Carson zufolge hat Sanders die angebliche „Verwässerung“ der Gnade und ihre Kopplung mit einer „Theologie der Verdienste“ in den Zeugnissen des antiken Judentums übersehen. 14 Ein Sammelband unter dem Titel Justification and Variegated Nomism hat sich die Aufgabe gestellt, die „Komplexitäten des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels“ zum Thema Gnade Gottes und Tun des Menschen herauszuarbeiten. 15 Ein weiterer Sammelband stellt das Problem in den breiteren Zusammenhang von Divine and Human Agency bei Paulus und in seiner (vorwiegend jüdischen) Umwelt. 16 Einige Forscher haben Korrekturen am Verständnis des Bundesnomismus vorgenommen. So hat Friedrich Avemarie für frührabbinische Texte gezeigt, dass die Tora einerseits aus einer Bundesverpflichtung heraus gehalten wird, dass aber andererseits das Tun der Tora durchaus zu Heil und Leben führt. 17 Und Simon Gathercole zieht aus seinen Analysen vorrabbinischer jüdischer Texte den Schluss, dass die Stellung des Einzelnen vor Gott im antiken Judentum wichtiger ist, als die New Perspective dies zugesteht. 18 In jüngerer Zeit hat nun John Barclay die Frage nach der Gnade Gottes im frühen Judentum in seiner monumentalen Untersuchung Paul and the Gift (2015) noch einmal neu aufgerollt. 19 Barclay zufolge krankt die bisherige Debatte über Gnade im antiken Judentum und bei Paulus - der der Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist - an stillschweigenden, jeweils von den Forscherinnen und Forschern nicht aufgedeckten Grundannahmen über Gnade. Viele seien von den Gnaden-Verständnissen Augustins und Luthers geprägt, die jeweils die Priorität und Inkongruenz der Gnade - bei Luther auch die Bestimmung als „reine Gabe“ - betonen. 20 Doch Barclay zeigt, dass es bereits in der Antike unterschiedliche 13 Vgl. Dunn, New Perspective, 375 (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1997). 14 D. A. Carson, Divine Sovereignty and Human Responsibility: Biblical Perspectives in Tension, London 1981, 68f.86-95.120f. 15 D. A. Carson/ P. T. O’Brien/ M. A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1: The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT 2/ 140), Tübingen und Grand Rapids, MI 2001. 16 J. M. G. Barclay/ S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and his Cultural Environment, London 2006. 17 F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55), Tübingen 1996, zusammenfassend: 575-584. 18 S. J. Gathercole, Where is Boasting: Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1-5, Grand Rapids, MI 2002, v. a. 37-194. 19 J. M. G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, MI 2015. 20 Vgl. zu Augustinus und Luther die relevanten Abschnitte in Barclay, Paul and the Gift, 85-97.97-116. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 45 Verständnisse von Gnade gab, die jeweils verschiedene Merkmale als wesentlich hervorhoben. Barclay spricht hierbei, terminologisch etwas gewöhnungsbedürftig (in Anlehnung an Kenneth Burke), von perfections von Gnade und unterscheidet insgesamt sechs perfections, 21 wobei Priorität und Inkongruenz nicht für alle Verständnisse konstitutiv seien. 22 Ein Problem im Ansatz Sanders’ sei gerade, dass er das, was er pattern of religion nennt, vornehmlich sequenziell denkt, das heißt, vom „Hineinkommen“ bis zur „endgültigen Rettung“; hier sei konstitutiv für Sanders’ Bundesnomismus, dass die Erwählung als der Gabe der Tora zeitlich vorausliegend behauptet wird. Damit würden von vornherein Priorität und Inkongruenz zu wesentlichen Eigenschaften von Gnade erklärt, während der textliche Befund im Einzelnen komplexer sei. 23 So habe Sanders zwar recht mit seiner Behauptung der Ubiquität der Gnade im antiken Judentum (und bei Paulus), doch unrecht mit seiner Annahme einer Gleichförmigkeit im Gnaden-Verständnis, wie Barclay zusammenfassend festhält: „Grace is everywhere in Second Temple Judaism but not everywhere the same.“ 24 Im Folgenden sollen - Barclays Untersuchung kritisch aufnehmend und weiterführend - die Konturen der Gnade und des Erbarmens Gottes in ausgewählten Texten des Judentums der hellenistisch-frührömischen Zeit aufgezeigt werden, also dessen, was häufig als „Frühjudentum“ bezeichnet wird (etwa 300 v. Chr. bis 135 n. Chr.). Dabei rekurriere und beschränke ich mich stärker als Barclay auf den lexikalischen Befund zu „Gnade“ und „Erbarmen“ und berücksichtige auch einige wichtige Schriften, die Barclay nicht bespricht. 25 2. Gnade und Erbarmen Gottes in ausgewählten jüdischen Texten 2.1 Vorbemerkung: „Gnade“ und „Erbarmen“ In den hier zu besprechenden Texten kann nicht scharf zwischen den Begriffen geschieden werden, die im Deutschen mit „Gnade“ und „Erbarmen“ wieder- 21 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 70-75: „superabundance“ (die Überfülle der Gnade), „singularity“ (Gnade als exklusive Handlungsweise des Gebers), „priority“ (das Zuvorkommen der Gnade), „incongruity“ (die Inkongruenz der Gnade, ohne Rücksicht auf den Wert des Empfängers), „efficacy“ (die alleinige Wirksamkeit der Gnade) und „non-circularity“ (Gnade ohne Erwartung einer entsprechenden Gegengabe). 22 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 75: „To perfect one facet of gift-giving does not imply the perfection of any or all of the others“ (im Original kursiv). 23 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 152-155. 24 Barclay, Paul and the Gift, 6; ähnlich 565. 25 Nämlich: Sirach, 1. Henoch (in seinen Bestandteilen), Jubiläen und 2. Baruch. Hingegen nehme ich Pseudo-Philo, LAB aus Platzgründen nicht auf. 46 Lutz Doering gegeben werden. Das liegt zum einen am Befund in den Übersetzungssprachen, in denen manche dieser Texte überliefert sind und die nicht scharf zwischen beiden Begriffen scheiden, wie z. B. im Fall von Ge‘ez šāhl und meḥrat oder von Syrisch raḥmā, ḥnānā und ṭayḇuṯā. Zum andern ist zu beobachten, dass einige Texte - teilweise ebenfalls nur in Übersetzung - die von uns mit „Gnade“ und „Erbarmen“ wiedergegebenen Begriffe syntagmatisch nebeneinander stellen (z. B. Jub 10,3; 23,23; 1QH a VIII 26 f.; IX 33 f.; XII 37 f.; 26 Sap 3.9; 4,15; 2 Bar 48,18). Weitere Beobachtungen, die den Befund terminologisch komplexer machen, sind hier anzufügen: Das Hebräische als Originalsprache einiger relevanter Texte drückt das, was wir im Deutschen zum Teil als „Gnade“ übersetzen, mit verschiedenen Wörtern aus. Dabei bezeichnet ןח entweder „Gunst“ (vor allem in der geprägten Wendung ינולפ יניעב ןח אצמ „Gnade in jemandes Augen finden“, Gen 6,8; 18,3 etc.) oder aber „Huld“ im Sinn angenehmer Eigenschaften (Nah 3,4; Prov 11,6 etc.), 27 während דסח das überwiegende Wort für Gottes „Gnade“ und „Treue“ ist ( Jer 33,11; Ps 33,5 etc.), daneben aber auch ein wechselseitiges Loyalitätsverhältnis (Dtn 7,9; Ps 89,25 etc.) oder auch wiederum „Gunst“ (Esr 2,9.17 etc.) bezeichnen kann. 28 Das Griechische bietet χάρις als einen Schlüsselbegriff an, der aber deutlicher als die hebräischen Termini in antike Diskurse über Wohltätigkeit (englisch benefaction, beneficence) eingezeichnet ist. 29 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in der Septuaginta χάρις nur eingeschränkt zur Wiedergabe der oben genannten hebräischen Wörter für „Gnade“ oder „Gunst“ verwendet wird - bei Weitem am häufigsten für ןח in der festen Wendung „Gunst finden“ (Gen 6,8; 18,3 LXX etc.), sodann auch in der Wendung „Gunst gewähren“ (Gen 39,21; 43,14 LXX etc.) -, 30 während דסח mit anderen Wörtern wie vor allem 31 ἔλεος (Gen 24,12.14 LXX etc.), sodann δικαιοσύνη (Gen 19,19; 20,13 LXX etc.) oder auch ἐλεημοσύνη (Gen 47,29; Ps 26 Zählung von 1QH a der Übersichtlichkeit halber nach H. Stegemann/ E. Schuller, 1QHodayot a (DJD 40), Oxford 2009; dort ist auch die ältere Sukenik-Zählung beigefügt. 27 Vgl. HALOT Online, s.v. ן ֵ ח R (18.09.2019). Das Englische verwendet auch für Letzteres „grace“ und davon abgeleitete Wörter. 28 Vgl. HALOT Online, s.v. II ד ֶ ס ֶ ח R (18.09.2019). 29 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 26, zur griechischen Tradition: χάρις und der Plural χάριτες „typically convey the ethos of the gift as voluntary benevolence, but are also used often for specific acts of beneficence, favor expressed in a particular object or action.“ 30 Vgl. daneben die Wendung Sach 12,10 πνεῦμα χάριτος καὶ οἰκτιρμοῦ ( םי ִ נוּנ ֲ ח ַ ת ְ ו ן ֵ ח ַ חוּר ). 31 „… in the Septuagint, ἔλεος in about seventy-five per cent of the occurrences is the standard rendering of the Hebrew noun ד ֶ ס ֶ ח .“ P. C. Beentjes, God’s Mercy: ,Racham‘ (pi.), ,Rachum‘ und ,Rachamim‘ in the Book of Ben Sira, in: R. Egger-Wenzel (Hg.), Ben Sira’s God: Proceedings of the International Ben Sira Conference, Durham - Ushaw College 2001 (BZAW 321), Berlin 2002, 101-117 (102). Im griech. Sirachbuch sei der Prozentsatz aber viel niedriger (41,8%). S.u. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 47 23,5 LXX etc.) übersetzt wird. Wie unter anderem James Harrison herausgearbeitet hat, ist daher der bestimmende Hintergrund für den Gebrauch von χάρις in jüdischen Texten (und, so Harrison, auch bei Paulus) nicht in der Septuaginta, sondern in den genannten hellenistisch-frührömischen Diskursen über Wohltätigkeit zu sehen, die sich in literarischen und dokumentarischen Zeugnissen niedergeschlagen haben. 32 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Griechische zwei verschiedene Wörter für „Erbarmen“ oder „Barmherzigkeit“ kennt, die beide auch in der Septuaginta zur Wiedergabe von םימחר begegnen: neben ἔλεος (Dtn 13,18; Jes 47,6 LXX etc.) das weitaus häufiger für seine Wiedergabe verwendete οἰκτιρμός, 33 oft im Plural (2 Kgt 24,14 LXX; 3 Kgt 8,50 LXX etc.). 34 Von grundlegender Bedeutung für das jüdische Verständnis von Gottes „Gnade“ und „Erbarmen“ ist Ex 34,6-7, die sog. „Gnadenformel“ (Hermann Spieckermann), 35 für die im Gefolge des Gesagten in der Septuaginta ελε*-Begrifflichkeit vorherrscht: 36 „JHWH, JHWH, Gott, barmherzig und gnädig ( ןוּנּ ַ ח ְ ו םוּח ַ ר ; οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων), langmütig und von großer Gnade und Treue ( ת ֶ מ ֱ א ֶ ו ד ֶ ס ֶ ח־ב ַ ר ְ ו ם ִ י ַ פּאַ ךְ ֶ ר ֶ א ; μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός), (7) der Tausenden Gnade bewahrt ( ד ֶ ס ֶ ח ר ֵ צ ֹ נ ; καὶ δικαιοσύνην διατηρῶν καὶ ποιῶν ἔλεος), Schuld, Übertretung und Sünde (griech.: Pl.) aufhebt ( א ֵ שׂ ֹ נ ; ἀφαιρῶν), aber gewiss nicht [lediglich] für frei erklärt ( ה ֶ קּ ַ נ ְ י אֹ ל ה ֵ קּ ַ נ ְ ו ; καὶ οὐ καθαριεῖ τὸν ἔνοχον), sondern heimsucht die Schuld der Väter an Kindern und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation.“ Ähnliche Formeln, mit schwankender Reihenfolge der Adjektive „barmherzig und gnädig“, finden sich auch in Joel 1,3; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8 und Neh 9,7. Hier wird zugleich deutlich, dass Gottes langmütige Barmherzigkeit und Gnade durch seinen heimsuchenden Zorn be- 32 J. R. Harrison, Paul’s Language of Grace in its Graeco-Roman Context (WUNT 2/ 172), Tübingen 2003 (Nachdr. mit neuem Vorw., Eugene, OR 2017); zu χάρις in jüdischen Texten: 97-165. Vgl. auch D. Zeller, Charis bei Philon und Paulus (SBS 142), Stuttgart 1990, 13-32 (bes. 27). 33 Beentjes, God’s Mercy, 101: in 64,1% der Fälle der Übersetzung von םימחר in der Septuaginta. Das griech. Sirachbuch weicht wiederum ab und benutzt es nur einmal, gegenüber fünfmaligem Gebrauch von ἔλεος (102). 34 Freilich gibt es Ausnahmen, etwa Gen 43,14, wo רחמים durch χάρις wiedergegeben wird. - Vgl. zum Nebeneinander von χάρις und ἔλεος auch C. Breytenbach, „Charis“ and „Eleos“ in Paul’s Letter to the Romans’, in: U. Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL 226), Leuven 2009, 247-277, der darauf hinweist, dass ἔλεος als „Mitleid“ in der griechischen Welt Gefühl war, das bei griechisch-römischen Schriftstellern als problematisch betrachtet und in eine Reihe mit Eifer, Streit, Neid oder Trauer gestellt wurde: 270-273; vgl. z. B. Diog. L. 7,111. 35 Vgl. H. Spieckermann, “Barmherzig und gnädig ist der Herr …”, ZAW 102 (1990) 1-18. 36 Griechische Termini sind in den Klammern aus der Septuaginta beigefügt. 48 Lutz Doering grenzt ist, von dem er sich aber - so ist zu verstehen - im Fall der Bitte um Sündenvergebung umstimmen lässt. 2.2 Ben Sira/ Jesus Sirach Im Sirachbuch, das auf Hebräisch zwischen etwa 190 und 180 v. Chr. in Judäa verfasst und vom Enkel des Verfassers zwischen 132 und 117 v. Chr., vielleicht auch kurz danach, in Alexandria ins Griechische übersetzt wurde, 37 findet sich in Sir 2,11 (nur griechisch belegt) eine deutliche Aufnahme der „Gnadenformel“: 38 „Denn der Herr ist barmherzig und gnädig (οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων) und vergibt Sünden (ἀφίησιν ἁμαρτίας) und rettet in der Zeit der Not (σῴζει ἐν καιρῷ θλίψεως).“ 39 Der literarische Kontext ist „eine kunstvoll aufgebaute Lehrrede (2,1-18) …, die zur Gottesfurcht und zum Gottvertrauen ermahnt und dabei argumentativ auf die Barmherzigkeit Gottes als dem eigentlichen Wesen Gottes verweist.“ 40 Die Rede rechnet mit Sündern, Verzagten und Ungeduldigen, die nicht beschirmt bzw. die von Gott heimgesucht werden. Ob allerdings so scharf zwischen den „Sündern“ und den nur zu einzelnen Übertretungen fähigen „Gerechten“ geschieden wird, wie Sanders in Anlehnung an Adolf Büchler meint, 41 bleibt angesichts der mahnenden Absicht in der Argumentation des Siraciden zu fragen. Zielpunkt der Rede in Kapitel 2 ist Sir 2,18, wo der Wunsch, in die Hände des Herrn und nicht der Menschen zu fallen, wie folgt begründet wird: „Denn wie seine Größe, ist sein Erbarmen (ἔλεος; syr. raḥmaw).“ 42 Gottes Größe bedingt sein Erbarmen (vgl. auch 18,5 nach den meisten griech. Handschrif- 37 Vgl. O. Kaiser, Die alttestamentlichen Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen, Gütersloh 2000, 80.83f. Über die Textgeschichte und das Verhältnis der Versionen informiert B. Wright, Textual History of Ben Sira, in: A. Lange/ M. Henze/ F. Feder (Hg.), Textual History of the Bible: The Deuterocanonical Scriptures, Vol. 2B, Leiden 2019. 38 Vgl. M. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Alten Testament am Beispiel des Buches Jesus Sirach, in: R. G. Kratz/ H. Spieckermann (Hg.), Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity (FAT 2/ 33), Tübingen 2008, 176-202 (180-183). - Für das Griechische folge ich dem durch die Majuskeln Vaticanus, Sinaiticus und Alexandrinus als Hauptzeugen repräsentierten kürzeren und älteren Text („G-I“). 39 Hingegen findet sich der ebenfalls auf Ex 34,6f. (und verwandte Texte) zurückgehende Zusatz „langmütig und von großer Barmherzigkeit“ (μακρόθυμος καὶ πολυέλεος) nur in der hexaplarischen Rezension, einer Korrektur im Codex Sinaiticus, einigen griechischen Minuskeln und der bohairischen Version. Er ist aus metrischen Gründen als nicht ursprünglich anzusehen. 40 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 181f. 41 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 342-346; A. Büchler, Ben-Sira’s Conception of Sin and Atonement, JQR NS 13 (1922-23) 303-335.461-502; 14 (1923-24) 53-83 (304). 42 Die syrische Version, die von einer hebräischen Vorlage übersetzt wurde und deshalb hier zum Vergleich angeführt wird, bietet noch einen weiteren Stichos: „und wie sein Name, so sind auch seine Werke.“ Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 49 ten: τὰ ἐλέη), das selbst als „groß“ bezeichnet werden kann (17,29 ἐλεημοσύνη; syr. raḥmaw). Auf dieses Erbarmen darf gehofft werden (2,7 ἔλεος; syr. ṭuḇeh; vgl. 2,9 ἔλεος; syr. purqānā). Vertrauen auf Gott wird belohnt (2,8). Zu beachten ist freilich, dass nach 3,20 (hebr. Hs. A und Syr.) die Gewährung der als „groß“ beschriebenen „Barmherzigkeit Gottes“ ( םיהלא ימחר ; raḥmaw d-elāhā) 43 ein demütiges menschliches Verhalten voraussetzt (vgl. 3,18). 44 Sir 5,5f. 45 bringt nun Gottes Erbarmen und Zorn in prägnanter Weise miteinander in Verbindung: „Verlass dich nicht auf Vergebung ( החילס ; ἐξιλασμοῦ), so dass du Vergehen auf Vergehen häufst (6) und du sagst: ‚Sein Erbarmen ( וימחר ; ὁ οἰκτιρμὸς αὐτοῦ) ist groß; er wird mir viele Sünden vergeben.‘ Denn Erbarmen ( םימחר ; ἔλεος) und Zorn ( ףאו ; καὶ ὀργή) sind bei ihm, doch auf den Frevlern ruht sein Grimm ( וזגר ; ὁ θυμὸς αὐτοῦ).“ Gottes Zorn ist hier die Kehrseite seines Erbarmens und trifft den, der - auf Erbarmen rechnend - vorsätzlich sündigt. Die „Verbindung zwischen Barmherzigkeit und Sündenvergebung, Zorn und Strafe“ verdeutlicht „die grundsätzliche Bezogenheit Gottes auf das Handeln des Menschen.“ 46 Im Sirachbuch reagiert Gott auf den Gehorsam oder Ungehorsam des Menschen. 47 Ein ähnlicher Bezug wird auch in Sir 16,11b hergestellt (hebr. in Hs. A belegt): „Denn Erbarmen und Zorn sind bei ihm, und er erlässt und vergibt ( חלוסו נואשו ; Griech. liest anders und verbindet: δυνάστης ἐξιλασμῶν ‚ein Dynast von Besänftigungen/ Sühnungen‘), aber über den Frevlern lässt er seinen Grimm aufleuchten (Griech. liest stattdessen: ‚und schüttet Zorn aus‘).“ Hier findet sich die Aussage allerdings in einer geschichtstheologischen Reflexion, in der im Anschluss (Sir 16,12) Gottes Erbarmen ( וימחר ; ἔλεος αὐτοῦ) seinem Züchtigen gegenübergestellt wird, als welches der göttliche Zorn hier, wie in Weisheitstexten häufig (Sir 18,13f.; Sap 12,19-22), im Sinn einer Erziehungsmaßnahme gedeutet wird. Zwar ordnet Sirach das Erbarmen in anthropologische Aussagen ein: Dem Erbarmen eines Menschen, das nur seinem Nächsten gilt, wird das Erbarmen (ἔλεος; syr. raḥmaw) Gottes gegenübergestellt, das „über allem Fleisch“ (syr. „allen seinen Werken“) ist (18,13). Doch es kommt tatsächlich nur denjenigen zu, „die sich Gott und seinen Geboten zu- 43 Griech. hat hier δυναστεία „Macht“. In Sir 3,18 bietet Griech. εὑρήσεις χάριν (syr. raḥme), während die mittelalterlichen hebräischen Handschriften einen gespaltenen Befund zeigen: Hs. A םימחר ; Hs. C ןח . 44 F. Zanella, Vergeltungsvorstellungen in der tannaitischen Literatur (TSAJ 177), Tübingen 2019, 185(f.), spricht diesbezüglich von „Spuren eines weisheitlichen Gebrauchs von םימחר “ im Sirachbuch. 45 Auch in den hebräischen Handschriften A und C erhalten. 46 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 185. 47 Vgl. J. Maston, Divine and Human Agency in Second Temple Judaism and Paul (WUNT 2/ 297), Tübingen 2010, 74 (zusammenfassend). 50 Lutz Doering wenden“ 48 (vgl. 17,29; 18,14); entsprechend steht insbesondere in Sir 15,11-17,24 die menschliche Verantwortung für das Halten der Gebote und das Tun des Rechten im Vordergrund (15,20 nach hebr. Hs. A und B: „und er erbarmt sich nicht [ םחרמ אלו ] über die, die Nichtiges [syr. ,Lüge‘] tun“). Nach dem griechischen Text von Sir 35[32],25f. ist Gottes Barmherzigkeit damit verbunden, dass Gott seinem Volk Recht schafft (hebr. Hs. B hier fragmentarisch, bietet aber ותעושיב anstelle von ἐν τῷ ἐλέει αὐτοῦ). In Sir 36[33],8- 18[7-13], auch hebräisch erhalten (Hs. B), 49 wird der Bitte, Gott möge seinen Zorn über die Feinde des Volkes ausgießen, die Doppelbitte gegenübergestellt, Gott möge sich über das Volk Israel und die Stadt Jerusalem erbarmen ( םחר ; ἐλέησον bzw. οἰκτίρησον), was sich somit als die Kehrseite des göttlichen Zorns erweist. Gottes Treue zu seinem Volk wird auch nicht durch die Sünden Salomos und die Entstehung des abtrünnigen Nordreichs infrage gestellt: Gott - so Sir 47,22 (Hs. B) - „wird die Gnade ( דסח ; τὸ ἔλεος αὐτοῦ) nicht zurücklassen und von seinen Worten nicht(s) auf die Erde werfen.“ In Sir 50,19 wird Gott geradezu als „der Barmherzige“ ( םוחר [Hs. B]; ἐλεήμονος) bezeichnet. 50 Die griechische Übersetzung spricht auch in 50,22 von Gottes Handeln „nach seiner Barmherzigkeit“ (ἔλεος) und bittet in 50,24, dass er sein Erbarmen „uns“ anvertraue, während nach Hs. B in 50,24 die bleibende Gnade Gottes ( ודסח ) für den Hohepriester Simeon erbeten wird. Das abschließende Gebet in Kap. 51 dankt für Hilfe nach Gottes „großer Gnade“ (51,3 ךדסח בורכ ; κατὰ τὸ πλῆθος ἐλέους καὶ ὀνόματός σου) und erwähnt die Erinnerung an die „Barmherzigkeit des Herrn und seine Gnadenerweise“ (51,8 וידסחו ייי ימחר ; vgl. τοῦ ἐλέους σου, κύριε, καὶ τῆς ἐργασίας σου). 51 Schließlich ruft in 51,29 die griechische Version, nicht aber die hebräische (nach Hs. B), zur Freude an der Barmherzigkeit Gottes auf (ἐν τῷ ἐλέει αὐτοῦ). Der Durchgang durch diese Stellen zeigt, dass Gottes Gnade und Barmherzigkeit wesentliche Attribute Gottes im Sirachbuch sind. 52 Dem, der sich ihm 48 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 190. 49 Zu den Problemen der Verszählung und der unterschiedlichen Textüberlieferung vgl. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 191 f. mit Anm. 67. 50 Dieser Aspekt kommt etwas zu kurz bei Maston, Divine and Human Agency, 67-69. 51 Die hebräische Hs. B fügt in Sir 51,12a-o einen Lobpreis auf Gottes Güte an, der wohl nicht ursprünglich dazugehört und jedes Kolon in Anlehnung an Ps 136 mit „denn seine Güte/ Gnade ( ודסח ) währt ewig“ abschließt. 52 Daneben spricht das Sirachbuch ausgiebig von menschlicher Gnade, Wohltat etc. (griech. meist χάρις; hebr. - sofern bezeugt - ןח , הבוט , דסח ): Sir 4,11; 7,33; 8,19; 12,1; 17,22; 20,13.16; 21,16; 24,16f.; 26,13.15; 29,15; 30,6; 32,10; 35,2; 40,17.22; 42,1; 45,1 (von Moses). In 44,1.10 werden die Vorväter als דסח ישנא bezeichnet (Hs. B und fragmentarisch in der antiken Masada-Hs.), was Griech. mit ἄνδρας ἐνδόξους bzw. (ἄνδρες ἐλέους) wiedergibt; vgl. 46,7 (hebr. Hs. B דסח השע ; griech. ἐποίησεν ἔλεος). Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 51 zuwendet, ist Gott barmherzig, doch straft er zugleich den Frevler. Das Sirachbuch betont nicht die Inkongruenz und Nicht-Zirkularität der Gnade, sondern lässt die Gnade denen zukommen, die sie wert sind, und erwartet ein dieser entsprechendes Leben. Ohne ausgeführte Auferstehungslehre hält das Sirachbuch doch ein Gericht nach den Werken fest. 2.3 Das 1. Henochbuch Das im Ganzen nur auf Äthiopisch, teilweise auch auf Griechisch überlieferte, ursprünglich aber auf Aramäisch abgefasste 1. Henochbuch besteht aus verschiedenen Einzelschriften, deren älteste das Wächterbuch und das Astronomische Buch sind (3.-2. Jh. v. Chr.). 53 Relevant für unsere Frage ist von diesen beiden nur das Wächterbuch (1 Hen 1-36). In der teilweise auch auf Griechisch überlieferten Einleitung (1 Hen 1-5), die zu den spätesten Teilen des Wächterbuchs gehört, 54 wird das Thema des Erbarmens bzw. der Gnade Gottes mit Blick auf die Gerechten und Erwählten entwickelt: Während Gott furchterregend zum Gericht auf den Sinai tritt, so dass die Wächter erzittern, die Berge zerbrechen und die Hügel hinschmelzen (1 Hen 1,3-7), wird Gott „mit den Gerechten (μετὰ τῶν δικαίων) Frieden machen, über den Erwählten (ἐπὶ τοὺς ἐκλεκτούς) wird Schutz{…} 55 sein, und über ihnen wird sich Erbarmen/ Gnade (ἔλεος; äth. šāhl) ereignen“; auch wird ihnen ein Licht aufscheinen, und „Frieden“ wird noch ein weiteres Mal zugesprochen (1 Hen 1,8). Motivische Verbindungen zum Aaronitischen Segen (Num 6,24-26) sind der Forschung aufgefallen; hier wie dort ist ein Bundesverhältnis angesprochen. 56 Dabei wird mit „Gerechten und Erwählten“ das wahre Israel, der gerechte Rest angesprochen. 57 Dem wird die Zerstörung der Sünder im Gericht entgegengesetzt (1,9). Dieser Kontrast wird im Urteil in Kap. 5 fortgesetzt: Für die in zweiter Person angesprochenen Verurteilten wird „kein Erbarmen (ἔλεος; äth. šāhl) oder Frieden“ sein (5,5), während den Erwähl- 53 Einen Überblick und Einleitungsfragen zu den Teilen von 1. Henoch bietet J. J. Collins, The Apocalyptic Imagination: An Introduction to Jewish Apocalyptic Literature, 3.-Aufl., Grand Rapids, MI 2016, 53-89.220-239. 54 Es ist unklar, ob 1 Hen 1-5 eine Form des Buches mit oder ohne 1 Hen 6-11 eingeleitet haben; vgl. G. W. E. Nickelsburg, 1 Enoch 1: A Commentary on the Book of 1 Enoch, Chapters 1-36; 81-108 (Hermeneia), Minneapolis, MN 2001, 132. 55 Im Griech. ist „und Friede“ als Dittographie zu streichen. 56 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 147; L. Hartman, Asking for a Meaning: A Study of 1 Enoch 1-5 (CB.NT 12), Lund 1979, 5.32-38.44-48.132-136. 57 Vgl. Nickelsburg, ebd. 52 Lutz Doering ten (so nach einer Konjektur von Nickelsburg) 58 „Loslösung von Sünden und alles Erbarmen (πᾶν ἔλεος), Friede und Milde“ gewährt werden wird (5,6). 59 Zu Beginn des zweiten Hauptteils des Wächterbuchs (1 Hen 12-19) wird Henoch durch einen (so aram.) oder mehrere Engel damit beauftragt, den gefallenen Wächterengeln Verderben anzusagen (1 Hen 12,3-6). Unter anderem soll Henoch ihnen den Untergang ihrer Söhne, der Giganten, verkünden, den sie mit ansehen müssen; in diesem Zusammenhang heißt es, dass sie - doch wohl die Wächter 60 - „Erbarmen (εἰς ἔλεον; äth. meḥrat) und Frieden nicht haben werden“ (12,6). Schließlich findet sich im Kontext des dritten Hauptteils, der Reise Henochs nach Osten (1 Hen 20-36), eine crux interpretum: Nachdem Henoch der Ort des Gerichts gezeigt worden ist, an dem die Frevler zum Gericht versammelt werden in der Gegenwart der Gerechten (1 Hen 27,1-3a), sagt ihm der ihn begleitende Engel, dass hier die „Gottlosen“ (ἀσεβεῖς) den Herrn preisen werden (1 Hen 27,3b); „in den Tagen ihres Gerichts werden sie ihn preisen in/ mit Erbarmen (ἐν ἐλέει), wie er ihnen zugemessen hat“ (12,4). Statt „Gottlose“ lesen die äthiopischen Handschriften maḥāryān „die Barmherzigen“. Nicht ausgeschlossen wäre, dass Letzteres ein ursprüngliches *εὐσεβεῖς wiedergibt; 61 dann würde sich die Aussage an 1 Hen 27,3a anschließen und sich auf die Frommen beziehen, die Gott im Gericht in dem ihnen zugemessenen Erbarmen stehend preisen würden. Alternativ könnte man - die Lesung ἀσεβεῖς vorausgesetzt - daran denken, dass die Frevler (wie in 1 Hen 63,1.5f.) Gott im Gericht nach dem ihnen - unterschiedlich wenig, so möchte man interpretieren - zugemessenen Erbarmen preisen. 62 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Wächterbuch Erbarmen bzw. Gnade den Erwählten und Gerechten zukommt und den Frevlern vorenthalten wird. Der Maßstab der Gerechtigkeit ist freilich nicht ganz klar, insofern das Wächterbuch nur wenige Anspielungen auf die Tora bietet. Es ist aber recht wahrscheinlich, dass mit der Theophanie am Sinai zum Gericht (1 Hen 1,3f.) auch auf die am Sinai gegebene Tora als Norm angespielt wird, so dass die nach 58 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 159. Die Akhmim-Hs. liest αμαρτοι. 59 Der Text ist hier nur auf Griechisch belegt. - Wahrscheinlich ist die Zusage von χάρις „Gnade“ an die Erwählten nach 1 Hen 5,7 (griech., dupliziert in 5,8a) eine Verwechslung mit χάρα „Freude“; Letzteres wird entsprechend von der äthiopischen Version bezeugt. 60 Das vorangehende Subjekt sind die Wächter, so dass αὐτοῖς doch wohl auf diese zu beziehen ist. Anders offenbar Nickelsburg, 1 Enoch 1, 236: „Here it is not a question of the giants not being forgiven for their deeds, but of their not being shown mercy in the face of their doom.“ 61 Vgl. M.-T. Wacker, Weltordnung und Gericht. Studien zu 1 Henoch 22 (FzB 44), Würzburg 1982, 239 f. Anm. x. 62 Das Äthiopische hätte dann, ausgehend von „Erbarmen“ in V. 4, die Lesung „die Barmherzigen“ in V. 3 angepasst. - Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 319. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 53 1 Hen 5,4 übertretenen „Gebote“ mindestens auch Tora-Gebote sind. Zugleich scheint das Wächterbuch ein breiteres Gesetzesverständnis zu haben, das vor allem auf die kosmische Ordnung rekurriert (1 Hen 2,1-5,3), die eben unter anderem von den gefallenen Wächterengeln korrumpiert wurde (wodurch das Böse durch übermenschliche Kräfte in die Welt gekommen ist und nicht aus menschlichem Tun heraus entsteht). 63 Betont wird im Wächterbuch aber nicht die Priorität oder Inkongruenz von Erbarmen bzw. Gnade Gottes. Die gefallenen Wächter und ihre Nachkommen, die Giganten, dürfen auf keine Gnade hoffen, die ihnen etwa im Gericht helfen würde. Durch das Ende der Schlechtigkeit werden die Gerechten entkommen und in Segen leben (so 1 Hen 10,16-11,2). In zwei Textzusammenhängen ist Gnade oder Erbarmen in der Epistel Henochs (2. oder 1. Jh. v. Chr.) erwähnt. Gemäß der Einleitung der Epistel (1 Hen 92,2-5) wird „der Gerechte“ vom Schlaf erwachen und „auf Wegen der Gerechtigkeit“ wandeln; dabei wird „sein ganzer Weg und seine Reise in Frömmigkeit und ewiger Gnade/ Barmherzigkeit (äth. šāhl)“ sein (1 Hen 92,3). „Der Gerechte“ ist hier wohl kollektiv oder pars pro toto gemeint; da es um einen Wandel geht, dürfte sich das Aufwachen nicht auf die Auferstehung, sondern auf eine Hinwendung zur rechten Gottesverehrung beziehen. 64 Im nächsten Vers ist jedoch von Gottes Barmherzigkeit die Rede: „Er (sc. Gott) wird dem Gerechten gnädig/ barmherzig sein (√šāhla) und ihm ewige Wahrheit (ret‘) 65 geben“. Hier ist also deutlich eine Kongruenz zwischen dem Gerechten und seinem gnädigen/ barmherzigen Wandel einerseits und Gottes ihm entgegengebrachter Gnade/ Barmherzigkeit andererseits erkennbar. Hingegen richtet sich 1 Hen 94,10 innerhalb einer Weherede an die Reichen und Gewalttätigen: „Der euch geschaffen hat, wird euch umstoßen, und mit eurem Fall wird es kein Erbarmen (äth. meḥrat) geben.“ Der Epistel Henochs zufolge (1 Hen 98,4) ist der Mensch selbst für den Abfall vom Gesetz verantwortlich: „So wurde die Gesetzlosigkeit (ἀνομία) nicht auf die Erde geschickt, sondern die Menschen erschufen sie selbst, und die sie 63 Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die Einhaltung natürlicher Ordnungen in der Tora etwa im Verbot von kila’im (Lev 19,19; Dtn 22,9) oder sexueller Beziehungen in bestimmten Verwandtschaftsgraden (Lev 18.20) gesichert werden soll. 64 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 432f. 65 Vermutlich gibt dieses Wort aram. אטשוק wieder, das entweder „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“ bedeuten kann.
