eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/45

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2020
2345 Dronsch Strecker Vogel

Stellte die Zerstörung Jerusalems für das antike Judentum eine tiefgreifende Krise dar?

61
2020
Kristina Dronsch
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78 François Vouga Von den Tagen von Johannes dem Täufer an bis heute erfährt die Herrschaft der Himmel Gewalt, und Gewalttätige berauben sie. Wen die mt Redaktion mit den Gewalttätigen im Blick hat, die die basileia tōn ouranōn berauben, bleibt offen. Der mt Jesus führt aber mit führenden Vertretern der Synagoge Auseinandersetzungen, die eine erste annähernde Antwort auf diese Frage erlauben, weil sie sich ausdrücklich auf die basileia in Verbindung mit ihrem Missbrauch bzw. mit Szenarien der Gewalt beziehen. Die Lehre, die er aus seiner allegorischen Fassung des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern (21,33-46) ableitet, kündigt den Hohenpriestern und Pharisäern an, dass ihnen die basileia tou theou weggenommen werden wird, um einem anderen „Volk“ gegeben zu werden, das die Früchte der basileia hervorbringen wird (21,43). Eine der Begründungen dieses Protestes Jesu gegen die Unfruchtbarkeit der synagogalen Autoritäten findet sich entsprechend in der Reihe der sieben Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern (23,13-36). Die erste dieser Invektiven warnt die Adressaten vor deren Heuchelei, womit im MtEv eine objektive Selbsttäuschung und erst als Kollateralschaden ein subjektiver Mitbetrug von Anderen gemeint ist, 8 weil sie selbst in die basileia tōn ouranōn nicht eintreten und diese basileia vor den Menschen zuschließen (23,13). Hypothese 4: Die basileia tōn ouranōn wird bedingungslos als befreiende Gegenwart einer transzendenten Autorität Gottes verstanden, die sich in ihrer therapeutischen Wirkung zeigt und ihre Früchte darin trägt, dass Menschen aus zerstörerischen Herrschaftsbereichen von Mächten erlöst werden, die ihre Identität und ihre Handlungen entfremden und fremdbestimmen. Die Gegenwart der befreienden Autorität dieses transzendenten, ganz anderen Gottes ist insofern unverfügbar und frei, als sie umsonst geschenkt wird und an kein Volk und an keine Person gebunden ist. In seiner Auslegung der Evangelienharmanie erklärt Calvin, dass Mt mit der basileia tōn ouranōn die Erneuerung der Kirche meint, die Gott durch die doppelte Kraft seines Wortes und des heiligen Geistes neu schafft. 9 8 Die Rede von der „Heuchelei“ (23,28) und den „Heuchlern“ (6,2.5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.14.15.23.25.27.29; 24,51) spielt eine wichtige, kritische Rolle in der Auseinandersetzung des mt Jesus mit den pharisäischen Schriftgelehrten. P. Bonnard, L’évangile selon saint Matthieu (CNT I), Neuchâtel 1963 (=Genf 2002), 4, hat deutlich gezeigt, dass die mt „Heuchelei“ keine böse, subjektive Absicht beschreibt, Menschen durch eine Dissoziation dessen, was man sagt, von dem, was man denkt, zu betrügen. Vielmehr geht es um eine objektive Selbsttäuschung. Diese entsteht aus einer Verwechslung der rechtfertigenden Transzendenz Gottes mit der Immanenz des eigenen Glaubens als einer Religion, die Gott, sich selbst und den Nächsten instrumentalisiert. Vgl. F. Vouga, L’hypocrisie selon Matthieu et l’imbécillité de la raison technique selon Calvin, in: M. Boss / R. Picon (Hg.), Penser le Dieu vivant. Mélanges offerts à André Gounelle, Paris 2003, 281-297 und 486. 9 Calvin, Harmonie, 180. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 79 Hypothese 5: In der hermeneutischen Auseinandersetzung, die der mt Jesus mit den pharisäischen Autoritäten führt, ist die basileia tōn ouranōn, verstanden als Gegenwart einer befreienden Autorität der Transzendenz Gottes, Gegenstand eines Konflikts der Interpretationen. Zu den Voraussetzungen der Argumentation gehört, dass die Gottesherrschaft bereits gegeben und präsent war, bevor Johannes der Täufer und Jesus auftraten. Eine wichtige These hierbei lautet, dass sowohl die Unfruchtbarkeit als auch die Selbsttäuschung der pharisäischen Schriftgelehrten, die zur Tötung Jesu als angeblich falschen Propheten führte (23,29-32), auf den Missbrauch des Schlüssels zurückzuführen ist, der die Tür zur befreienden Wirkung der Gottesherrschaft hätte öffnen können. Hypothese 6: Von der gegenwärtigen Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn oder tou theou, die in der Verkündigung Jesu und in seiner therapeutischen Tätigkeit sichtbar wird, ohne exklusiv mit seiner Person verbunden zu sein, unterscheidet Mt als zukünftigen Horizont eine andere basileia. Das Kommen und Auftreten dieser zweiten Königsherrschaft wird für eine zukünftige Zeit, die unbestimmt bleibt, angekündigt oder erwartet. Es ist die basileia des Menschensohnes, in der Jesus auch noch einigen derer, die ihm jetzt zuhören, erscheinen wird (16,28). Es ist die basileia Jesu, in der die Zebedäussöhne nach dem Wunsch ihrer Mutter zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen sollen (20,21), und es ist die basileia seines Vaters, von der Jesus, den Tod vor Augen, sagt, dass er dereinst zusammen mit seinen Jüngern wieder von der Frucht des Weinstocks trinken wird (26,29). Unklar bleibt, ob die Verweise auf das Kommen des Menschensohnes in seiner basileia und der Termin Jesu mit seinen Jüngern in der Königsherrschaft seines Vaters auf die Vervollkommnung der Zeiten (28,20) oder auf die nachösterliche Zeit seiner Herrschaft („jede Autorität wurde mir gegeben im Himmel und auf Erden“, 28,18b) vorausblicken. Eindeutig setzen sie aber Jesu Tod und seine österliche Erscheinung voraus. 2. Raum - Die Universalisierung der Herrschaft Gottes und der Himmel Die mt Vorstellung der transzendenten Gegenwart der basileia tōn ouranōn oder tou theou ist einerseits an keine Person gebunden, auch nicht an die Person, an das Wort oder an die Taten Jesu. Genauso wenig ist sie an Orte gebunden. Sie besetzt auch keinen Raum. Man kann zwar in sie eintreten oder sich selbst daran hindern einzutreten, und es gibt Schlüssel, mit denen Menschen sie verschließen oder öffnen können, aber sie scheint einfach dort zu sein und umsonst gegeben zu werden, wo Männer, Frauen und Kinder sie empfangen.