ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelStellte die Zerstörung Jerusalems für das antike Judentum eine tiefgreifende Krise dar?
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Markus Sasse
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80 François Vouga Der Veränderungskraft ihrer Gegenwart entspricht der dynamische Charakter ihrer geographischen Präsenz. Von der basileia tōn ouranōn spricht Mt zum ersten Mal, als Johannes der Täufer in der Wüste von Judäa verkündigt, dass sie nahe herbeigekommen ist (3,2). Sie nimmt ihren sichtbaren Anfang mit der Verkündigung Jesu in Galiläa (4,17). Jesus verlässt Nazareth und geht nach Kafarnaum am See, was die Erzählung durch das Erfüllungszitat von Jes 8,23 - 9,1 begründet, so dass er sofort die basileia tōn ouranōn „zum Meer hin, jenseits des Jordans, im Galiläa der Heiden“ predigt. Hier kommen erstmals nichtjüdische Adressaten in den Blick. Damit wird die Richtung einer Bewegung skizziert, die sich als konsequentes Programm erweisen wird. Die basileia tōn ouranōn ist an kein Land und an kein Volk gebunden, aber sie ist auch nicht geschichtslos oder bodenlos. Sie bekommt ihre geistige Heimat dadurch, dass die Worte des Propheten Jesaja ihre Erfüllung in der Verkündigung ihrer Gegenwart finden, und sie bekommt dadurch ihre Universalität, dass sie in ihrer Heimat nicht verwurzelt ist, sondern alle aufnehmen wird, die ihre Einladung und ihren Appell, sich verändern zu lassen, annehmen werden. Der Weg zu dieser Universalisierung kommt ausdrücklich im Kommentar Jesu nach seiner Begegnung mit dem Hauptmann in Kafarnaum zur Sprache (8,10-12): (10) Als Jesus dies (= die Worte des Hauptmanns) hörte, staunte er und sagte zu denen, die ihm folgten: Amen, ich sage euch, bei niemandem fand ich ein solches Vertrauen in Israel! (11) Ich sage euch, dass viele aus Ost und West kommen werden und sich mit Abraham, Isaak und Jakob in der Herrschaft der Himmel zu Tisch setzen. (12) Aber die Söhne der Königsherrschaft werden hinaus in die Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird das Heulen und das Klappern der Zähne sein. Beide Dimensionen, die Beheimatung der Herrschaft der Himmel in der jüdischen Tradition einerseits, und ihre Offenheit für jeden Menschen, der glaubt, andererseits werden im Symbol des gemeinsamen Tisches verbunden. Die Identitätsfiguren der biblischen Geschichte Israels, Abraham, Isaak und Jakob, sitzen schon. Damit entsteht kein Ausschliesslichkeitsanspruch und ebensowenig ein Besitzanspruch. Die Einladung geschieht bedingungslos, und eine angemessene Antwort besteht entsprechend in der existentiellen Haltung des Vertrauens. Mit dem - direkt oder indirekt von Paulus geerbten? - Begriff des Vertrauens zeichnet der mt Jesus die Grenze, die das Zu-Tisch-Sitzen in der Herrschaft der Himmel vom Draußenbleiben oder Hinausgeworfensein trennt. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 81 Hypothese 7: Wenn die Verantwortung, die die Gegenwart der basileia tōn ouranōn als Antwort herausfordert, als die existentielle Haltung des Vertrauens definiert wird, wie es in den Seligpreisungen bereits vorbereitet wird, dann versteht es sich von selbst, dass die drei großen Gleichnisse, die Jesus im Tempel erzählt, nicht den Sinn haben, das synagogale Judentum zu disqualifizieren. Das Gleichnis von den beiden Söhnen (21,28-32) stellt den Hohenpriestern und Pharisäern die Zöllner und Dirnen gegenüber (21,31). Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33-46) konfrontiert sie mit dem „Volk“, das die „Früchte des Reiches“ bringt (21,43), und das Gleichnis von der königlichen Hochzeit (22,1-14) bietet die neuen Gäste von den Straßen auf. Die Grenze, die diese drei Gleichnisse ziehen, verläuft zwischen Vertrauen und Unglauben, zwischen Erwählungsbewusstsein und Gerechtigkeit und zwischen der Transzendenz der Herrschaft der Himmel und der Immanenz der Religion. Hypothese 8: Der ekklēsia-Begriff des Paulus versteht die durch das Kreuzesereignis offenbarte Rechtfertigung durch Vertrauen, das heißt die bedingungslose Anerkennung jedes Menschen als Person unabhängig von seinen Eigenschaften in Kontinuität mit der Schrift (Gal 3,6-5,1). Ganz ähnlich verbindet die mt Vorstellung der basileia tōn ouranōn die jüdische Heimat einer Theologie des Vertrauens mit ihren eigenen universalistischen Konsequenzen. Es gibt im MtEv genauso wenig wie im paulinischen Denken eine Alternative zwischen einer innerjüdischen judenchristlichen Mission (Mt 10,5) und dem auf die Herrschaft des Gekreuzigten begründeten Universalismus der gegenseitigen Anerkennung (28,18-20), sondern sowohl die paulinische als auch die matthäische Hermeneutik finden in der Schrift, dass beides unzweideutig zusammengehört. In der matthäischen Erzählung mündet die jüdische Tradition in die Verantwortung der Jünger, das Glück der basileia tōn ouranōn mit der ganzen Menschheit zu teilen. Hypothese 9: Diese Bewegung der Öffnung und der universalen Verbreitung der basileia tōn ouranōn, die ihren Herrschaftsbereich von Judäa und Galiläa bis zu allen Nationen der Heiden erweitert, findet ihren programmatischen Ausdruck in der Rolle des Petrus, der die Schlüssel der basileia tōn ouranōn von Jesus erhält (Mt 16,19). Mt hätte sich in seiner literarischen Fiktion auch auf Jakobus statt auf Petrus berufen können. Petrus als Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, vertritt aber nicht nur eine multiethische Kirche gegenüber dem Judenchristentum, sondern er symbolisiert außerdem mit seiner apostolischen Autorität diese Kontinuität von Galiläa in die Universalität der hellenistisch-römischen Jesusbewegung. 10 10 Ein literaturwissenschaftlich und theologisch orientiertes Portrait des mt Petrus bietet C. Rohmer, L’homme de Pierre: la trajectoire immergée de l’apôtre dans l’Évangile de Matthieu, ETR 93/ 2018, 225-244. 82 François Vouga 3. Eintrittsbedingungen - Rechtfertigung und Verantwortung Dass die „Söhne der Königsherrschaft“, wie der Kommentar Jesu zum Vertrauen des Hauptmanns formuliert (8,10-12), weder einen Ausschließlichkeitsnoch einen Besitzanspruch auf die basileia haben, setzt voraus, dass die Eintrittsbedingungen anderen Modalitäten entsprechen als die Eigenschaft, zu einem erwählten Volk oder zur richtigen Religion zu gehören. In den Worten des mt Jesus erscheint nämlich nicht nur Israel als ein corpus mixtum, als eine Mischung von Guten und Bösen und von Gerechten und Ungerechten, sondern auch die Kirche, in welcher sich Söhne der basileia und Söhne des Bösen versammeln. Die Welt, in der der Menschensohn gesät hat, ähnelt einem Acker, in dem sich Weizen und Unkraut untrennbar mischen (13,24-30.36-43), und die basileia tōn ouranōn ist einem Netz vergleichbar, mit dem Fische aller Art gefangen werden (13,47-50). Genauso wie Paulus in seinen Apostelbriefen an die Gemeinden in Rom oder in Korinth (Röm 14,1-23; 1 Kor 3,5-23) befreien die mt Gleichnisse ihre Leser von der Aufgabe, im Netz der basileia tōn ouranōn zwischen den Würdigen und den Anderen zu unterscheiden und übereinander zu richten (Mt 22,1-14). Allerdings stellen sich zwei Fragen, auf die der Mt-Evangelist auch eine Antwort gibt: 1. Wie können die Leser in den befreienden Herrschaftsbereich des himmlischen Vaters hereinkommen? (3.1) Diese Frage stellt sich, weil mit 7,21 gilt: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in die Herrschaft der Himmel hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. 2. Wie können die Leser die Einladung in die befreiende Gegenwart der Herrschaft der Himmel verantwortlich wahrnehmen? (3.2). 3.1 Gerechtigkeit als Herrschaftsbereich der Umsonstheit Die Frage der Eintrittsbedingungen in die basileia tōn ouranōn wird zum ersten Mal in der Einführung in die Antithesen der Bergpredigt thematisiert (5,20-48). Diese erste Formulierung erhält dadurch einen programmatischen Charakter, dass sie die Möglichkeit, in die Herrschaft des Himmels hereinzukommen, mit dem Schlüsselbegriff der Gerechtigkeit 11 verbindet (5,20): Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht mehr übermäßig ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in die Herrschaft der Himmel eintreten. 11 Der Begriff der Gerechtigkeit kommt in Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32 vor. Zur Interpretation vgl. M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001, 61-63. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 83 Die Eintrittsbedingung der Zuhörer und Leser der Bergpredigt in die Herrschaft der Himmel definiert der mt Jesus durch eine „größere Übermäßigkeit“ ihrer Gerechtigkeit verglichen mit derjenigen der Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Formulierung der „größeren Übermäßigkeit der Gerechtigkeit“ kombiniert ein Oxymoron mit einer doppelten Paradoxie. „Mehr“ setzt die quantitative Vergleichbarkeit voraus, die durch die Vorstellung der Übermäßigeit jedoch ausgeschlossen wird, und die Verbindung der Gerechtigkeit mit der Übermäßigkeit baut einen Selbstwiderspruch auf, der nur durch eine paradoxe Neudefinition der Gerechtigkeit aufgelöst werden kann. Der Sinn kann folglich nur sein: Die Schriftgelehrten und Pharisäer vertreten eine Vorstellung der Gerechtigkeit, die sie hindert, in die basileia tōn ouranōn einzutreten, und die sie zugunsten einer anderen Vorstellung der Gerechtigkeit, die sich an keinem Maßstab messen lässt, aufbrechen müssen, wenn sie eintreten wollen. Hat der Redaktor des MtEv die großen Paulusbriefe gelesen und ihren Begriff der Gerechtigkeit verstanden und übernommen? Eine gedankliche Kontinuität lässt sich weder beweisen noch ausschließen. Die schöne Parabel vom Winzer, der Arbeiter für seinen Weinberg anstellt, gestaltet der mt Jesus zu einem Gleichnis der basileia tōn ouranōn um (20,1-15), das durch die Paradoxien der Erzählung die Gerechtigkeit der Güte Gottes als kreative Logik der Umsonstheit (oder der freien Gnade) 12 definiert. Der gerechte Lohn (20,4), den der Hausherr verspricht und jedem Arbeiter gibt, entspricht der bedingungslosen Berufung jedes einzelnen Menschen und symbolisiert eine universale Anerkennung jedes Einzelnen als Person. 13 Die der Gnade des Herren entsprechende Verantwortung besteht in der Bereitschaft, vom System des Tauschs, das die Arbeiter der ersten Stunde vertreten, in den Geist der Gabe zu wechseln, der von einer umsonst gegebenen Rechtfertigung im Vertrauen lebt. Der Gnadencharakter der matthäischen Gerechtigkeit findet sich wieder in der Warnung vor ihrer Verkehrung in die Heuchelei (6,1-18). Ethisch betrachtet 12 Klaus Winterhoff, der meinen Text gelesen hat, schlägt vor, Umsonstheit durch den klassischen theologischen Begriff der freien Gnade (Karl Barth) zu ersetzen. Martin Stiewe und ich hatten den Begriff der Umsonstheit gebildet, weil uns ein deutschsprachiges Äquivalent für das französische gratuité fehlte. Entscheidend war für uns, mit einem von „umsonst“ abgeleiteten Substantiv arbeiten zu können, das den Gegensatz zwischen dem System des Tausches und dem des Geistes der Gabe (französisch: esprit du don) verdeutlichen konnte. Zur kritischen Auseinandersetzung mit M. Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, Paris 1925 vgl. J. T. Godbout und A. Caillé, L’Esprit du don, Paris / Montréal 1992; M. Hénaff, Le prix de la vérité. Le don, l’argent, la philosophie, La couleur des idées, Paris 2002. 13 C. Rohmer, La pratique de la justice dans l’Évangile de Matthieu: pour une reprise des débats, ETR 94/ 2019, 581-596: Mt entfaltet narrativ und im Paradigma der Berufung (Mt 20,1-15) das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes, die die Paulusbriefe als Interpretation des Ereignisses der Kreuzesoffenbarung darstellen. 84 François Vouga unterscheiden sich die Heuchler von den Gerechten nicht: Sie geben Almosen, beten und fasten. Die Trennungslinie läuft auf der Ebene der geistigen, existentiellen Haltung. Die Jünger Jesu vertrauen auf eine freie Reziprozität mit ihrem himmlischen Vater, der ins Verborgene sieht, während die Heuchler ihre Gerechtigkeit auf die Menschen hin ausrichten und ihren Lohn entsprechend nur von ihnen und rein immanent erhalten. Kann man so erklären, dass Johannes der Täufer auf dem Weg der Gerechtigkeit kam, aber die Hohenpriester und Pharisäer nicht mit Vertrauen antworteten und es später auch nicht bereuten, während die Zöllner und die Prostituierten glaubten (21,32)? Hypothese 10: Als verantwortliche Antwort auf die gute Nachricht von der nah gewordenen Gegenwart der Befreiungskraft der Herrschaft der Himmel und als Eintrittsbedingung in seinen Herrschaftsbereich lädt der Redaktor des MtEv seine Leser zu einer Gerechtigkeit ein, die er im Laufe der narrativen Fiktion seines Evangeliums als das Vertrauen in die rechtfertigende Umsonstheit des himmlischen Vaters definiert. 14 Hypothese 11: Die Definition der Eintrittsbedingungen in die Herrschaft der Himmel zu Beginn der Antithesen der Bergpredigt (5,20) findet ihre sachliche Entsprechung in der abschließenden Zusammenfassung (5,48): Ihr werdet vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Da die Vollkommenheit des himmlischen Vaters in der sechsten Antithese paradox dadurch beschrieben wurde, dass er seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und auf Gerechte und Ungerechte regnen lässt, versteht der Leser, dass die Vollkommenheit als bedingungslose Anerkennung der Personen unabhängig von ihren Eigenschaften (in der matthäischer Sprache: als Freundes- und als Feindesliebe, 5,43-47) und folglich als Ende der Vollkommenheitsideale verstanden werden soll. Die Redestücke, die das matthäische Kirchenverständnis entfalten (16,13- 20,34), nehmen die Frage der Eintrittsbedingung in die basileia tōn ouranōn unter zwei verschiedenen Perspektiven wieder auf. Zwei komplementäre Szenen ergänzen sich gegenseitig. (a) Die Metapher der Kinder lädt positiv ein, die Bedingungslosigkeit der freien Gnade wahrzunehmen, und sie verdeutlicht den Vertrauenscharakter einer verantwortlichen Antwort (19,14): 15 14 Die matthäische Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei kann als anthropologisch-theologisches Äquivalent der in Röm 4,2 formulierten Unterscheidung gelesen werden: Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt wurde, hat er Ruhm - aber nicht vor Gott. 15 Kinder sind in den Gesellschaften der hellenistischen Antike dadurch gekennzeichnet, dass sie keine religiöse Leistungen erbringen können, so A. Lindemann, Die Kinder und Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 85 Jesus sagte: Lasst die Kinder und hindert sie nicht, zu mir kommen, denn solchen gehört die Herrschaft Gottes. (b) Negativ warnt der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern, der auf die Szene mit dem reichen Jüngling folgt, vor der Illusion, sich selbst immanent retten zu wollen und den Eingang in den transzendenten Herrschaftsbereich der befreienden Umsonstheit der Gnade Gottes mit dem verzweifelten und unglücklichen Versuch, Sinn und Sicherheit der Existenz zu kaufen, vereinbaren zu können (19,23-26): (23) Jesus sagte seinen Jüngern: Amen, ich sage euch dass ein Reicher in die Herrschaft der Himmel schwer eintreten wird. (24) Wiederum sage ich euch, einfacher ist es, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr eintritt als ein Reicher in die Herrschaft Gottes. (25) Gehört habend waren die Jünger sehr bestürzt, sagend: Wer kann dann gerettet werden? (26) Sie angeblickt habend sagte ihnen Jesus: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott ist alles möglich. Hypothese 12: Das symmetrische, gegensätzliche Paar der Einladung mit der positiven Symbolik der Kinder (19,14) einerseits und der Warnung mit der negativen Symbolik der Reichen (19,23-26) andererseits wiederholt mit zwei anthropologischen Variationen die beiden Aspekte der paradoxen, theologischen Definition der Gerechtigkeit als programmatische Formulierung der Eintrittsbedingung in die Herrschaft der Himmel (5,20). die Gottesherrschaft. Markus 10,13-16 und die Stellung der Kinder in der späthellenistischen Gesellschaft und im Urchristentum“, WuD NF 17/ 1983, 77-104, wiederveröffentlicht in: ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte (WUNT 241), Tübingen 2009, 109-134. 86 François Vouga 3.2 Die paradoxen Hierarchien der Verantwortung als Ende der Größenideale Logisch korrekt würde man denken, dass notwendigerweise der Gedanke der Umsonstheit und die Definition der evangelischen Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale (5,48) mit jeder hierarchischen Vorstellung unvereinbar ist. Die in 5,19 aufgeworfene Frage nach der „Größe“ in der basileia tōn ouranōn dürfte dann eigentlich gar nicht gestellt werden, und die Frage der Jünger, wer der größte in der Herrschaft der Himmel sei (18,1), schiene sicher fehl am Platz, wenn nicht Jesus in der Bergpredigt zuvor eine erste Antwort gegeben hätte (5,17-19): (17) Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. (18) Denn wahrlich, ich sage euch: - Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein Jota und nicht ein Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (19) Wer also ein einziges dieser kleinsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Kleinste heißen in der Herrschaft der Himmel. Wer aber sie tun und lehren wird, der wird groß heißen in der Herrschaft der Himmel. Die einleitende Beseitigung des möglichen Missverständnisses nimmt die Erfüllungszitate des Anfangs des Evangeliums (1,22-23; 2,15.17-18.23; 4,14-16, vgl. 2,5-6; 3,3; 4,4.6.10) hermeneutisch wieder auf. Die Herrschaft der Himmel ist nicht ohne Heimat, und Jesus ersetzt das Gesetz und die Propheten, das heißt das Wort Gottes, das im Kanon der Schriften Israel steht, nicht, sondern gibt ihnen ihren Sinn und ihre wahre Bedeutung, indem er sie nach der Intention des Autors auslegen wird. Daraus folgt für die matthäische Schriftauslegung, dass (13,52) jeder Schriftgelehrte 16 , der zum Jünger durch und für die Herrschaft der Himmel gemacht wurde, einem Hausherr vergleichbar ist, der aus seinem Schatz Neues und Altes holt. 16 Als christliche Ämter kennt Matthäus Propheten, Weise und Schriftgelehrte (23,34). Vorausgesetzt ist, dass die Schriftgelehrten dadurch qualifiziert werden, dass sie als pharisäische oder christliche Exegeten (13,52; 23,34) arbeiten. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 87 Fundiert ist dieser hermeneutische Grundsatz in der betont an den Anfang der Antithesen gestellten und christologisch begründeten Gewissheit, dass eher die ganze Schöpfung vergeht, als dass das Wort Gottes, wie es in der durch die Autorität der Christusauslegung erfüllten Schrift enthalten ist, seine Festigkeit verlieren würde (5,18). 17 Daraus folgt für die matthäische Ekklesiologie, dass die Herrschaft der Himmel Lehrende braucht, Propheten, Weise und Schriftgelehrte, die das Gesetz als Ausdruck des Willens Gottes treu und vollständig auslegen und predigen werden. 18 Der deutliche Akzent der beiden symmetrischen, kasuistischen Sätze auf die Lehrtätigkeit fällt auf: Als der Kleinste wird derjenige bezeichnet werden - immerhin in der Herrschaft der Himmel -, der auch nur ein kleinstes Gebot auflöst und die Menschen so lehrt. Groß (nicht der Grösste! ) wird dagegen genannt werden, wer es tut und lehrt. Verwiesen wird auf eine Verantwortung der christlichen Lehrer nicht nur in den Gemeinden, sondern vor der ganzen Menschheit (5,19). Der Sinn des matthäischen Bestehens auf der Beachtung und der Vermittlung der kleinsten Gebote (5,19) erschließt sich durch die direkt anschließende Begründung („denn“, 5,20). Diese Begründung unterscheidet die „mehr übermässige“, ganz andere Gerechtigkeit, vom mt Jesus als Erfüllung der Schrift angekündigt (5,17) und in den sechs Antithesen (5,21-48) paradigmatisch vorgestellt, von der immanenten Gerechtigkeit der pharisäischen Schriftgelehrten, die er als Heuchelei kennzeichnen wird. Hypothese 13: Die Größe in der Herrschaft der Himmel entsteht nicht aus einer genauen und vollständigen Beachtung des Buchstabens der einzelnen Vorschriften des Gesetzes, als ob die Auflösung oder die Beachtung der kleinsten Gebote quantitativ gedacht wäre. Gemeint ist vielmehr ein qualitativer Systemwechsel weg von einer Logik des Tauschs, der sich - wie die Verwechselung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei zeigt - immanent verrechnen lässt, hin zum Geist der Gabe als Herrschaftsbereich der Umsonstheit. Hypothese 14: Der Lehrdialog zwischen Jesus und den Jüngern über die Frage, wer der Größere in der basileia tōn ouranōn sei, bringt als notwendige Ergänzung eine paradoxe Neudefinition von Größe (18,1-4): 17 Calvin, Harmonie, 157. 18 „La raison de ceste manière de parler est, pource que Dieu en renouvelant le monde par la main de son Fils a parfaitement ordonné l’estat de son Royaume. Ainsi doncques, Christ dit que quand son Eglise sera renouvelée, il n’y faudra recevoir pour Docteurs, sinon ceux qui seront fidèles expositeurs de la Loy, et mettront peine de maintenir icelle en tout et pour tout“, so Calvin, Harmonie, 157. 88 François Vouga (1) In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus, sagend: Wer ist denn der Größere in der Herrschaft der Himmel? (2) Und, ein Kind herbeigerufen habend, Stellte er es in ihre Mitte (3) und sagte: Amen ich sage euch, Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr in die Herrschaft der Himmel nicht eintreten. (4) Also: Wer sich erniedrigt wie dieses Kind, ist der Größere in der Herrschaft der Himmel. Positiv und mit Radikalität verhindert die direkte Antwort jede denkbare Wiedereinführung von Hierarchien in den Herrschaftsbereich der Himmel. Diese Antwort besteht darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die symbolische Realpräsenz des Kindes lenkt. Damit verhindert sie auch die Rückkehr von der geschenkten Freiheit des Geistes der Gabe in die immanente Logik des Tausches und die unglückliche Verwandlung der Gerechtigkeit in Heuchelei. Schlussthese: Das Glück der Gerechtigkeit und der Verantwortung des Vertrauens als Herrschaftsbereich der Himmel und als Wahrheit der Existenz Die beiden Gleichnisse vom Schatz im Acker (13,44) und von der Perle (13,45- 46) lassen keinen Zweifel: Das Ziel des MtEv besteht im Glück und in der Freude der Menschen. Die gute Nachricht der nah gewordenen basileia tōn ouranōn, die Johannes der Täufer in der judäischen Wüste verkündigt (3,2) und die Jesus universalisiert (4,17), führt literarisch und innerhalb der jüdischen Auslegungstraditionen die doppelte Frage nach der Wahrheit Gottes und der Wahrheit der menschlichen Existenz wieder ein. In narrativer Form entfaltet die mt Erzählung eine Antwort, die die Gegenwart der Herrschaft Gottes mit dem bereits in den Paulusbriefen durchdachten Begriff der Gerechtigkeit als adäquates Verhältnis zu Gott 19 - als Gabe - und mit der Einladung zum Vertrauen in den himmlischen Vater - als verantwortliche Antwort - interpretiert. Und der Evangelist bekennt (11,11): Kein Größerer als Johannes der Täufer ist unter von Frauen Geborenen aufgetreten. Aber der Kleinere in der basileia tōn ouranōn ist größer als er. 19 F. C. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, 1864, 132-135. Kontroverse Ist hilastērion in Röm 3,25 eine Versöhnungsgabe? Einleitung in die Kontroverse Christian Strecker Die Heilsbedeutung des Todes Jesu ist seit geraumer Zeit Gegenstand komplexer theologischer und exegetischer Debatten. Mit Nachdruck sprachen sich in jüngerer Zeit Theologen und Theologinnen für einen „Abschied vom Opfertod Jesu“ aus. Die klassische Deutung des Todes Jesus sei, so die Argumentation, eine unzeitgemäße Auslegung der soteriologischen Relevanz des Todes Jesu, die dem modernen Menschen nicht mehr zugemutet werden könne. Auf evangelischer Seite machte sich Klaus-Peter Jörns für diese Position stark, auf katholischer Seite war es Manfred Limbek. Neben Zustimmung stießen beide Theologen auch auf Kritik. Die Rede vom Opfertod Jesu gehöre, so wurde eingewendet, zum unaufkündbaren Kernbestand des christlichen Glaubens. Und weiter: Das moderne Empfinden könne nicht zum Kriterium für die Deutung unbequemer Aussagen der christlichen Botschaft erhoben werden. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass frühe Christen das kultische Opferritual am Versöhnungstag als Deutungskategorie heranzogen, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erfassen. So interpretiert der Hebräerbrief den Tod Jesu in typologischer Manier unmissverständlich als hohepriesterliches Selbstopfer. Aber welches Gewicht kommt dieser Deutung im Rahmen des ntl. Gesamtzeugnisses zu? Ist es angemessen, das sühnende Opfer als den einen zentralen Deutungshorizont zu bestimmen, Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46