ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
znt2345/znt2345.pdf61
2020
2345
Dronsch Strecker VogelVom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel
61
2020
Manuel Vogel
znt23450089
Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel Betrachtungen zum 4. Esrabuch und eine These zur Herkunft der Gnosis* Manuel Vogel Mit Blick auf die Geschichte des Judentums, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen im Jahr 70 n. Chr. nicht nur weitergegangen ist, sondern reichhaltig Beispiele unverminderter religiöser und kultureller Vitalität bietet, 1 kann man begründet sagen, dass der Untergang Jerusalems jedenfalls insofern keine tiefgreifende Krise darstellte, als eine Reorganisation jüdischen Lebens in den vom Krieg heimgesuchten Regionen Galiläas und Judäas nachweisbar möglich war und auch gelungen ist. Mit Recht warnt aber Markus Sasse in seinem Beitrag vor dem latenten Zynismus, „[a]uf diese Weise vom Ergebnis her zu denken“: „Gab es deshalb keine Krise, weil sie * Dem Andenken an Rolf Rameder (14. 8. 1948 - 24. 12. 2019). 1 Dagegen suggeriert der in früheren Generationen christlicher Judentumsdeutungen übliche Begriff des „Spätjudentums“, dass sich jüdische Lebens- und Glaubensweisen zu frühchristlicher Zeit längst überlebt hatten und ihrer Ablösung durch das erblühende Christentum harrten. Nach W. Bousset / H. Gressmann, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HNT 21), Tübingen 3 1926 etwa war schon in vormakkabäischer Zeit „die Volkskraft Israels schwach und seine Religion im Zustand der Auflösung“. Zwar sei seit der Makkabäerzeit ein „ganz gewaltiger Aufschwung des jüdischen Volkstums“ zu verzeichnen, und „seine Religion trieb einen frischen Zweig“. Doch war dies „nur ein Nachtrieb“ (1) in einem sich mehr und mehr dem Einfluss anderer Religionen öffnenden Spätgebilde. Es musste erst „im Evangelium eine Neubildung erfolgen, ehe aus dem gärenden Chaos wieder die Einheit und die Lebendigkeit echter und wahrer Frömmigkeit entstehen konnte“ (524). Unverkennbar führt hier die Geringschätzung des Jüdischen dem christlichen Gelehrten die Feder. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 45 90 Manuel Vogel am Ende bewältigt wurde? “. Sasse enthält sich dementsprechend jeder eigenen Wertung oder Quantifizierung in der Frage, „wie schlimm“ oder „nicht schlimm“ die Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. für jüdische Menschen in dieser Zeit war. Er beschränkt sich vielmehr darauf, die Faktoren zu rekonstruieren, die im historischen Rückblick für das faktische Fortbestehen jüdischer Lebensweise und Kultur erkennbar sind, und verweist v. a. auf vom Tempel unabhängige jüdische Kulturformen, die sich bereits lange vor der Tempelzerstörung herausgebildet haben. Hierin ist ihm nicht zu widersprechen, und es kann im Folgenden vernünftigerweise auch nicht darum gehen, den historischen Stellenwert der von ihm aus den Quellen erhobenen Faktoren in Zweifel zu ziehen. Wenn aber auch für den historischen Blick gilt, dass man „die im Dunkeln nicht sieht“ 2 , ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten auf mögliche Spuren dessen, was sonst unsichtbar bliebe. Ich verfolge in diesem Beitrag eine solche Spur, die darauf hindeutet, dass mit den Mauern Jerusalems nicht weniger als ein ganzes Weltbild in Trümmer gegangen ist, nicht für alle, aber für einige, von denen wir deshalb kaum mehr etwas vernehmen, weil sie nicht nur der zerstörten Stadt den Rücken gekehrt haben, sondern auch dem Gott dieser Stadt, von dem sie einmal glaubten, er habe eine gute Welt erschaffen, in der es sich leben lässt. Die Römer wurden auf verquere Weise ihre Theologen und deren Katapulte gaben die schlagendsten Argumente. Das Reich des Kaisers sprach dem Reich Gottes Hohn, und dieser Hohn ließ ihr Gotteslob verstummen. Was hier in Rede steht, ist das 4. Esrabuch, eine Apokalypse aus der Zeit nach dem jüdischen Krieg. Entstanden ist sie um 100 n. Chr., 3 d. h. auch eine Generation nach den Ereignissen hat die Zeit augenscheinlich noch nicht alle Wunden geheilt. Die längst erkannte Sonderstellung des 4. Esrabuches besteht nicht nur darin, dass sie den von Ed P. Sanders so genannten „Bundesnomismus“ (covenantal nomism) mit seiner Balance zwischen Gottes Gerechtigkeit und seiner in der Erwählung Israels gegründeten Barmherzigkeit auflöst zugunsten der unzweideutigen Bindung des Heils an die Treue zum Mosegesetz als dessen notwendiger und hinreichender Bedingung. 4 Diese Schrift sticht aus der übrigen Literatur 2 Vgl. B. Brecht, Die Schlußstrophen des Dreigroschenfilms, 1930, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 2, Frankfurt am Main / Zürich 1976, 497: „Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht / und man siehet die im Lichte / die im Dunkeln sieht man nicht“. 3 Die Übersetzung der nachfolgenden Zitate ist entnommen aus: Die Esra-Apokalypse. Übersetzt und eingeleitet von Bonifatia Gesche (Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur), Göttingen 2015 und aus J. Schreiner, Das 4. Buch Esra ( JSHRZ V/ 4), Gütersloh 1981. Ein Kommentar liegt vor von M. E. Stone, Fourth Ezra. A Commentary on the Book of Fourth Ezra (Hermeneia), Minneapolis 1990. 4 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 3 1989, 409-419 meint, dass 4.Esra „differs from other literature we have studied by viewing sin as a virtually inescapable Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel 91 des antiken Judentums (einschließlich der frühchristlichen Quellen) auch und vor allem dadurch heraus, dass sie die von ihr abgelehnte Position zunächst in einer Schärfe zur Geltung bringt, die ihresgleichen sucht: Der Untergang Jerusalems wirft hier Fragen von erheblicher Wucht und Grundsätzlichkeit auf, die auf eine Preisgabe des biblisch-jüdischen Welt-, Gottes- und Menschenbildes überhaupt hinauslaufen. Es ist diese Gegenposition, die uns im Folgenden interessiert, weil sie ahnen lässt, wie nachhaltig die Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. Deutungsmuster erschüttern konnte, die doch eigentlich hinreichend krisenerprobt waren. Zunächst ist aber das 4. Esrabuch zu würdigen als eine der auf uns gekommenen „Apokalypsen in Reaktion auf den Verlust des Tempels“. 5 Dass ein so bepower (…) while still considering it to be transgression of the law which must be punished accordingly“ (418), und richtet gegen diese Schrift den Vorwurf der Werkgerechtigkeit, der s. E. von christlicher Seite ansonsten zu Unrecht gegen das antike Judentum erhoben wird: „[I]n IV Ezra one sees how Judaism works when it actually does become a religion of individual self-righteousness. In IV Ezra, in short, we see an instance in which covenantal nomism has collapsed. All that is left is legalistic perfectionism“. Kritisch hierzu D. A. deSilva, Grace, the Law and Justification in 4 Ezra and the Pauline Letters: A Dialogue, JSNT 37/ 2014, 25-49. 5 Unter diese Rubrik fasst F. Siegert, Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur. Apokrypha, Pseudepigrapha und Fragmente verlorener Autorenwerke, Berlin / Boston 2016, Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Interessenschwerpunkte: 2. Korintherbrief, Reich Gottes im NT, die frühe Jesusbewegung als Variante des antiken Judentums, Religiöser Radikalismus im frühen Christentum. Neueste Publikationen: Die Gegenspieler des Paulus im 2. Korintherbrief und die Frage nach dem Sachgehalt des in 2 Kor ausgetragenen Konflikts, in: Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur, hg. von M. Tilly und U. Mell (WUNT I/ 428), Tübingen 2019, 83-99; Sammelrezension „Antijudaismus im Neuen Testament? “, VuF 65/ 2020, 5-17. Im Druck: Matthew’s post-war mission to Israel: Some observations on a Jewish reading of the First Gospel; Elia, Johannes und Jesus als Gemeinschaft der Verfolgten; Koinōnia pathēmatōn (Phil 3,10). Mutmaßungen zur Anthropologie diakonischen Handelns anhand einiger Paulustexte; Menschensohn und Jonazeichen. Exegetische und theologische Beobachtungen zu Mt 12,28-42 / Lk 11,29-32. 92 Manuel Vogel nannter Zusammenhang besteht, ist selbst schon von Bedeutung, denn mit dem apokalyptischen Rekurs auf das von seinem Ende her angefasste Ganze der Geschichte wird klar, dass die Zerstörung Jerusalems nur auf der höchstmöglichen Deutungsstufe, die die Frage nach dem verborgenen Sinn der Geschichte aufwarf, überhaupt zu bewältigen war. 6 Die im 13. Kapitel des Markusevangeliums verarbeiteten apokalyptischen Stoffe geben hiervon ein anschauliches Beispiel: Die Tempelzerstörung kann nur begriffen werden als Anfang vom Ende, als Initial eines Prozesses, in dessen Verlauf die Menschen einander besinnungslos bekriegen, die Sonne sich verfinstert und die Sterne vom Himmel fallen. Dass das so ist, hängt am kosmologischen Mythologem, der Tempel sei der Nabel der Welt (ist der verletzt, verblutet auch die Welt), an einem inklusiven Begriff von Erwählung (was Israel an Schlimmem widerfährt, ist Alarmzeichen auch für die Völker) und am Schöpfungsglauben (der Untergang des Tempels, der der Verehrung des Schöpfers Himmels und der Erde gewidmet ist, kann auch für die Schöpfung nichts Gutes bedeuten). Auch priesterliches Denken spielt hinein: Der Fortbestand der sich ständig versündigenden Menschheit hängt an der Möglichkeit kultischer Sühne. Das Aussetzen des Opfers kann nur das Einsetzen des Chaos nach sich ziehen. Vorausgesetzt ist hierbei immer ein intakter und von allen Beteiligten anerkannter, vielfältig ausdifferenzierter Zusammenhang von Tun und Ergehen: Die unter der Regie des die Geschichte lenkenden Gottes erlittene Katastrophe von der Hand ungerechter Mächte ist verdiente Strafe für den abermaligen Ungehorsam Israels. 7 Darin liegt freilich zugleich eine doppelte Hoffnung begründet: Mit der erneuten Hinwendung Israels zu Gott wird sein Geschick sich wenden, und die Mächte, die jetzt triumphieren, werden unterliegen: Gott straft uns durch eure Hand, aber freut euch nicht zu früh! Dieser zweite Aspekt markiert den - man kann es ohne jede Verzeichnung so nennen - „anti-imperialen“ und damit politischen Grundzug apokalyptischen Denkens, der auch in die Deutung der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. hineinspielt. 347-389 neben 4.Esra die syrische Baruchapokalypse (syrBar), den Brief Baruchs und das Baruch-Buch der LXX. SyrBar und 4.Esra sind eng verwandt, syrBar wohl später und von 4.Esra literarisch abhängig. In der Forschung werden beide Schriften häufig zusammen behandelt. Zwei neuere Sammelbände hierzu: M. Henze / G. Boccaccini (Hg.), Reconstruction after the Fall ( JSJ.S 164), Leiden/ Boston 2013 und G. Boccaccini / Jason M. Zurawski (Hg.), Interpreting 4 Ezra and 2 Baruch. International Studies (Library of Second Temple Studies 87), London / New York 2014. 6 D. Daschke, City of Ruins. Mourning the Destruction of Jerusalem Through Jewish Apocalypse, Leiden / Boston 2010, bringt die apokalyptische Hermeneutik angesichts der traumatischen Erinnerung des Jahres 70 auf die Formel „Recovering the future by working through the past“ (187). Zu 4.Esra ausführlich 103-139. 7 Hierzu erschöpfend H.-M. Döpp, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten (TANZ 24), Tübingen 1998. Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel 93 In einer der Visionen Esras im zweiten Teil des Buches, der Adler-Vision (4. Esra 11,1-12,35) steht der Adler für die Gewaltherrschaft Roms und der Löwe für den Messias, der der Herrschaft Roms, 8 des vierten und letzten Weltreiches nach Dan 7, ein Ende bereiten wird. Der folgende Passus ist eine Scheltrede des messianischen Löwen wider den römischen Adler (11,40-46): „Du bist der vierte, der gekommen ist, der alle vorangegangen Lebewesen völlig besiegt und die Herrschaft über die Welt mit viel Zittern aufrechterhalten und den Erdkreis mit schlimmster Drangsal; und die Menschen haben den Erdkreis alle Zeiten voll Leid bewohnt. Und du hast die Erde gerichtet, aber nicht in der Wahrheit. Du hast die Sanften gepeinigt, die Ruhigen verletzt; die die Wahrheit sagen, hast du gehasst und die Lügner geliebt, und du hast die Wohnungen derer zerstört, die Frucht brachten, und die Mauern derer niedergerissen, die dir nicht geschadet haben. Und die Schmähung stieg zum Höchsten empor und dein Hochmut zum Starken. Und der Höchste blickte auf seine Zeiten, und siehe, sie sind zu Ende, und sein Zeitalter ist vollendet. Daher wirst du ganz sicher verschwinden, du Adler und deine schrecklichen Schwingen und deine so bösen Flügelchen und deine bösen Köpfe und deine ganz und gar bösartigen Klauen und dein wertloser Leib, damit sich die ganze Erde erquickt und 8 Hierzu W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung in der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse (FRLANT 97), Göttingen 1969, 252: „Obwohl die Versuche, die Einzelzüge der Adlervision 4Esr 11,1-12,35 zeitgeschichtlich zu erklären, zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben, besteht doch generell Übereinstimmung darüber, dass das Gesamtbild das römische Weltreich repräsentieren soll“. Für die Johannesoffenbarung wurden diese spezifisch romkritischen und damit konkret politischen Bezüge bestritten von S. Alkier, Die große Stadt. Warum die Johannesoffenbarung nicht als „Kampfschrift gegen Rom“ erschlossen werden kann, ZNT Heft 42, 21. Jg. 2018, 91-107, ohne gültige Argumente. Stattdessen ruft Alkier unter Berufung auf H. Münkler die in ihrer Legitimationsfunktion allzu durchsichtige Großerzählung auf, wonach Imperien im Interesse ihrer Selbsterhaltung stets an der Schaffung humaner Lebensverhältnisse interessiert seien (94). Die militärischökonomische Gewalt des antiken wie des modernen Imperialismus wird verniedlicht zu etwas, das es auch „in der eigenen Gemeinde, am Arbeitsplatz“ und „zu Hause“ gibt (106). Exegese arrangiert sich hier im Schatten der Bankentürme und thematisiert das konkrete Unrecht immer nur als Beispiel für etwas, das es anderswo auch gibt. Im Ergebnis werden die Täter exkulpiert - Alkier findet in der Apk einen „Universalismus des Heils, in den auch die Römer integriert sind“ (98) - und die ewige Vergleichbarkeit des einen Unrechts mit dem anderen heißt für die Opfer, dass sie sich nicht so anstellen sollen, denn anderswo wird schließlich auch gelitten. Nach K. R. Jones, Jewish Reactions to the Destruction of Jerusalem in A.D. 70. Apocalypses and related Pseudepigrapha ( JSJ.S 151), Leiden / Boston 2011 war der Verfasser von 4. Esra „consumed with the Roman Question“: „It is not an exaggeration to say that this question permeates the apocalypse from the beginnig of the text which finds Ezra lying on his bed agonizing over Roman prosperity all the way through the dialogues with the angel and the visions of the eschaton“ (76). 94 Manuel Vogel befreit wird von deiner Gewalt und auf das Urteil hofft und auf die Barmherzigkeit dessen, der sie gemacht hat.“ Der Trost der Aussicht auf den messianischen Sieg über die Fremdmacht 9 greift in dem Maße, wie er in Bälde eintritt. In 4,26 erfährt Esra auf seine Frage hin, wie Gottes Erbarmen über das geknechtete Gottesvolk greif- und sichtbar werden wird: „Wenn es dich noch gibt, wirst du sehen, und wenn du lebst, wirst du oft staunen, weil die Zeit eilig vorübergeht“. Und: Vom Gesamt der Geschichte ist nur noch ein Tropfen übrig im Vergleich zum Regen und nur noch Rauch, gemessen am Feuer (4,47-50). Allerdings ist dies in der Erzählfiktion des Buches zu „Esra“ im Rückblick auf die Tempelzerstörung durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. gesagt. Wer in der Zeit nach 70 n. Chr. das 4. Esrabuch las, musste sich einen Reim darauf machen, dass unbenommen der „eiligen Zeit“ seither 600 Jahre vergangen waren. 10 Dass noch einmal 600 Jahre oder mehr vergehen könnten und solange alles leidvoll beim Alten bleibt, wird nirgends dementiert. Noch viel grundsätzlichere Fragen wirft aber die Gesamtarchitektur des Buches auf, die hier kurz zu skizzieren ist: 4. Esra, in der Vulgata von den beiden christlichen Esraschriften 5. Esra (Kap. 1-2) und 6. Esra (Kap. 15-16) gerahmt und deshalb von Kap. 3 bis Kap. 14 gezählt, besteht aus sieben Visionen (3,1-5,19 / 5,20-6,34 / 6,35-9,25 / 9,26-10,59 / 10,60-12,49 / 12,50-13,56 / 13,57-14,48), die in zwei Hälften zerfallen, den „Dialogteil“ in Vision 1-3 (so genannt, weil Esra und der Deuteengel hier vorwiegend diskutieren) und den „Visionsteil“ in Vision-5-7 (wo es vorwiegend um den Inhalt visionärer Schau geht). 11 Vision-4, die sog. Zionsvision, bildet das Mittel- und Scharnierstück. 12 Hier vollzieht „Esra“ einen Wechsel seiner Perspektive bzw. seiner Einstellung. Er gibt die Haltung des unnachgiebigen Fragenstellers auf und lässt sich vom Deuteengel in die Geheimisse apokalyptischer Geschichtsschau einführen: „Ich ließ die Gedanken 9 Bemerkenswert ist die Einschätzung von L.L. Grabbe, 4Ezra and 2Baruch in Social and Historical Perspective, in: Henze / Boccaccini, Reconstruction after the Fall, 221-235, 234: „4Ezra and 2Baruch look to be predecessors of the Bar Kokhva revolt. They show a community in the process of moving from eschatological expectations to revolt“. 10 Darauf macht M. Lau, Theologisches Katastrophenmanagement. Antike Deutungs- und Bewältigungsstrategien im Umfeld der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. Ein Vergleich zwischen Flavius Josephus, Bell VI, 4 Esra und der Münzprägung Bar Kochbas, in: SNTU.A 41/ 2016, 41-62 aufmerksam. 11 Eine Feingliederung bietet u. a. T.W. Willett, Eschatology in the Theodices of 2 Baruch and 4 Ezra ( JSP.S 4), Sheffield 1989, 56 f. 12 Hierzu L.T. Stuckenbruck, Ezra’s Vision of the Lady. The Form and Function of a Turning Point, in: Henze / Boccaccini, Reconstruction after the Fall, 137-150. Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel 95 fahren, in denen ich mich aufgehalten hatte“, notiert der Seher (9,39), und: „Da ließ ich die Reden, mit denen ich bisher beschäftigt war“ (10,5). Das heißt: Die Gesprächsfäden des Dialogteils werden einfach liegengelassen. Das ist, schaut man sich diese Dialoge an, auch nicht verwunderlich, denn es findet bis zum Schluss keine Verständigung statt. Unklar ist auch, ob sich von hier aus gleichwohl ein gedanklicher Gesamtzusammenhang beschreiben lässt. Bedenkenswert ist m. E. die Sicht Egon Brandenburgers, dass die eben zitierten Stellen 9,39 und 10,5 eine innere Wandlung Esras signalisieren: Der Seher gibt seine skeptische Haltung auf und macht sich die Position des Engels zu eigen, gegen die er sich zuvor aufgelehnt hat. 13 Worum geht es in der Sache? Es geht um nicht weniger als um den wider den Gott Israels erhobenen Vorwurf, dass der mit dem Menschen mitgeschaffene „böse Trieb“ ein schwerwiegender Geburtsfehler der Schöpfung ist, und dass Gott ungerecht handelt, wenn er die Menschen für ihre Anfälligkeit für das Böse zur Rechenschaft zieht. Im Blick auf die Geschichte Israels spitzt sich dieses Missverhältnis unerträglich zu, denn ausgerechnet Israel wird für seine Übertretungen des Gesetzes besonders hart gestraft. Darüber kann auch der in der Adlervision verheißene Sieg des Messias über Rom nicht hinwegtrösten. Die Feststellung von Ed Sanders ist nicht von der Hand zu weisen, „that the promised ultimate victory of Israel over Rome which is the burden of the eagle vision is simply not responsive to the earlier of sin and damnation“. 14 Schauen wir uns ausgewählte Etappen aus der Diskussion zwischen Esra und dem Engel an: Im Angesicht der Ruinen Jerusalems formuliert Esra eine lange Rede an Gott über den Gang der Schöpfung (3,4-36): Seit der Erschaffung Adams hat die Menschheit immer wieder Gottes Wege verlassen, immer wieder hat Gott Gesetzlosigkeit bestraft, aber auch neue Anläufe unternommen, damit die Geschichte der Menschheit weitergeht. Aber selbst die Erwählung Israels und die Gabe des Gesetzes brachten keine Besserung (3,19-22): 13 E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen. Das literarische und theolog ische Problem des 4. Esrabuches (AThANT 68), Zürich 1981. Brandenburger ist unter dieser Voraussetzung in der Lage, 4. Esra als einheitliches Werk zu interpretieren. Ihm folgen J. Kerner, Die Ethik der Johannesapokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra (BZNW 94), Berlin / New York 1998, 175 f in Formulierung der theologischen „Grundproblematik des 4 Esr“ und in der Sache auch L. DiTomasso, Who is the ,I‘ in 4Ezra? , in: Henze / Boccaccini (Hg.), Reconstruction after the Fall, 119-133. Monographisch hierzu neuerdings auch H. Nayman, Losing the Temple and Recovering the Future. An Analysis of 4 Ezra, Cambridge (Mass.) 2014. Nayman resümiert: „Are Ezra’s questions answered? Most commentators have felt that they are not or that, if they are, then the resolution is psychological rather than intellectual. Yet it seems to me that Ezra’s questions are answered to a greater extent than is often realized.“ 14 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 417. 96 Manuel Vogel „Deine Herrlichkeit durchschritt vier Türen: Feuer, Erdbeben, Sturm und Eis, damit du den Nachkommen Jakobs das Gesetz und dem Volk Israel die Gebote gabst. Das böse Herz hast du ihnen jedoch nicht weggenommen, damit dein Gesetz in ihnen Frucht bringt. Weil er ein böses Herz in sich trug, hat sich der erste Adam verfehlt und ist besiegt worden und ebenso alle, die aus ihm geboren wurden. So wurde die Schwäche dauerhaft, und das Gesetz war im Herzen des Volkes gemeinsam mit der Wurzel der Bosheit; was gut ist, verschwand, das Böse blieb.“ 15 Im Laufe der weiteren Geschichte Israels (Erwählung Davids, Tempelbau) ändert sich hieran nichts. Zugleich muss Esra feststellen, dass Babylon (bzw. Rom) im Wohlstand lebt, während Israel leidet, obwohl doch die Babylonier nicht weniger gesündigt haben als Israel (3,28-36). Den Bescheid des Engels, für sterbliche Menschen seien die Wege des Höchsten nicht erkennbar (4,1-21) kontert Esra mit der Frage, wozu das dem Menschen gegebene Erkenntnisvermögen eigentlich gut sein soll, und dass er ihn, mit Verlaub, auch nicht nach den Geheimnissen des Himmels, sondern nach etwas sehr Irdischem, nämlich dem Geschick Israels und seinen Gründen hierfür gefragt habe (4,22-25). Und wieder antwortet der Engel so weitschweifig wie undurchsichtig. Greifbar ist allenfalls der Hinweis auf das eschatologische „Maß“ (4,36 f): Die Geschichte geht, wie unerträglich auch immer, bis das Maß der Gerechten voll ist. Esra möchte das genauer wissen: Wartet Gott, bis möglichst viele Sünder zu Gerechten werden? Ist das Abwarten Gottes bis zur Vollzahl der Gerechten also eine gute Nachricht für die Sünder und ein Appell zur Umkehr? (4,38 f). Der Engel antwortet, dass Esra mit seiner Wissbegierde dem Gang der Geschichte unzulässig vorgreift (4,40-43). In diesem Stil geht es bis zum Ende des Dialogteils weiter, und es erfolgt nicht nur keine Annäherung der Positionen, sondern je bohrender Esra fragt, desto härter fallen die Antworten des Engels (bzw. des Höchsten selbst, wenn er sich ins Gespräch einschaltet) aus. Dass bis zum Ende keine Verständigung erfolgt, zeigt die Äußerung Esras in 7,116: „Dies ist mein erstes und letztes Wort: Es wäre besser gewesen, die Erde hätte Adam nicht hervorgebracht“. Unter den obwaltenden Umständen einer zum Bösen fähigen Menschheit und eines das Böse unnachsichtig ahndenden Gottes muss die Erschaffung des Menschen als schrecklicher Fehler bezeichnet werden. Dass Esra so redet, ist ihm nicht zu verdenken, denn der Engel lässt ihn von Gesprächsgang zu Gesprächs- 15 Reagiert die Stelle auf Jer 31,33, wo das „Gesetz im Herzen“ der Ausweg aus der von Gott selbst eingeräumten Aporie des notorisch übertretenen Sinaibundes ist, ein Ausweg, den Esra aber für nicht gangbar hält (Florian Neitmann, mdl.)? Stone, Fourth Ezra, 73 f hat Jer 31 für die Erklärung der Stelle nicht im Blick. Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel 97 gang ein ums andere Mal auflaufen. Geradezu zynisch ist die Antwort auf Esras Fürbitte (8,26-36), Gott möge nicht auf die Sünden der Sünder, sondern auf die Gerechtigkeit der Gerechten schauen (gemeint ist: er soll sich der Vielen erbarmen um der Gerechtigkeit der Wenigen willen): In der Tat schaue Gott nicht auf die Sünden der Sünder, aber deshalb, weil ihm die dem Untergang geweihten Sünder überhaupt gleichgültig sind (8,38). Erklärtermaßen wird Gott „über die Menge derer, die verloren gehen, nicht betrübt sein“, und auch Esra tue gut daran, die Frage nach dem Geschick der Verlorenen auf sich beruhen zu lassen: „Halte also nicht daran fest, nach der Menge derer zu fragen, die zugrunde gehen“ (8,54) und er soll „nicht länger neugierig sein, wie die Gottlosen gequält werden“ (9,13). Fürbitte „der Fähigen für die Schwachen“ ist Signum einer Welt, deren Herrlichkeit vergeht (7,112). Was zählt, ist die kommende Welt, die „wegen der Wenigen“ geschaffen wurde. Die Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte ist hier das große Aussieben, übrig bleiben die Sieger und Starken, und am Ende des Dialogteils bekräftigt der Engel: „So soll die Menge verschwinden, die ohne Grund geboren wurde“ (9,22). Solch krasses Aussortieren der vielen Schwachen zugunsten der wenigen Starken pflegt unter den Bedingungen der Moderne faschistisch genannt zu werden. Ist der Gott der Bibel also ein Faschist? Hier wird unter Zuhilfenahme eines Anachronismus aus zwei Gründen so scharf formuliert: (1) Was bedeutet es, wenn wir mit Brandenburger sagen, die in der Zionsvision erfolgte Wandlung Esras bestehe darin, dass er auf die Position des Engels eingeschwenkt sei? 16 Muss er sich erst von einem ungnädigen Gott innerlich brechen lassen, bevor ihm doch noch ein irgendwie gnädiger Sinn von Geschichte offenbart werden kann? Oder sind die Notizen in 9,39 und 10,5 so zu verstehen, dass sich Esra nicht nur von seinen Fragen abwendet, sondern mit diesen zugleich auch die Antworten verwirft, die er erhalten hat? 17 Gesagt ist dann nur: Mit diesen Fragen und diesen Antworten kommt man nicht weiter. Ob das Einschwenken des Visionsteils auf das Hoffnungspotential einer politischen Apokalyptik auch so als ein nachvollziehbarer Gedankengang beschrieben werden kann, muss hier offen bleiben. 18 Dafür, dass die Position des Engels nicht 16 Zum hermeneutischen Problem des 4. Esrabuches vgl. auch W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart und Zeuge der Offenbarung. Erwägungen zur Interdependenz von Form und Sache im 4. Buch Esra, in: D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983, 461-493 und ders., Die Ironie der Offenbarung. Exegetische Erwägungen zur Zionvision im 4. Buch Esra, ZAW 95/ 1983, 75-95. 17 In diese Richtung geht die Interpretation von K. M. Hogan, Theologies in Conflict in 4Ezra. Wisdom Debate and Apocalyptic Solution ( JSJ.S 130), Leiden 2008. 18 Im Anschluss an M. E. Stone, A Reconsideration of Apocalyptic Visions, HTR 96/ 2003, 167-180, der religiöse Erfahrung als eigene Wissensform geltend macht, die die Ebene der rationalen Theodizee des Dialogteils überholt, führt R. Griggs, Apocalyptic Experien- 98 Manuel Vogel unbesehen auch für den Visionsteil als uneingeschränkt gültig vorausgesetzt werden kann, gibt es nur wenige und schwache Hinweise, aber immerhin das: In 8,46 sagt Gott zu Esra: „Dir fehlt (…) viel daran, dass du meine Schöpfung mehr lieben kannst als ich“. Soll das heißen, dass von der Liebe Esras, die ihn zum Fürbitter für die Sünder werden lässt, auf eine viel größere Liebe Gottes geschlossen werden darf? Ist die ganze zur Schau gestellte Strenge Gottes in Wahrheit verletzte Liebe? Und: In 10,39 ist es ein Ausweis der „Rechtschaffenheit“ Esras, dass er „um Israel getrauert und um Zion geklagt“ hat. 19 Im Dialogteil war es noch Zeitverschwence in the Theodicy of 4 Ezra, in: L.T. Stuckenbruck / C. Keith (Hg.), Evil in Second Temple Judaism and Early Christianity (WUNT II/ 417), Tübingen 2016, 282-298 aus, dass die visionäre Erfahrung des Dialogteils gleichwohl nicht irrational sei, sondern eine durch Offenbarung ermöglichte „alternate rationality“ konstituiere: „Although the experience Ezra has of God’s way transcendents his cognitive capacity, it is not irrational because it is reveiled“ (298). Grundlegend ist der Erfahrungsbegriff bei D. R. Seal, Prayer as Divine Experience in 4 Ezra and John’s Apocalypse. Emotions, Empathy and Engagement with God, Lanham 2017. 19 K. Schmid, Die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels als Heilsparadox. Zur Zusammenführung von Geschichtstheologie und Anthropologie im Vierten Esrabuch, in: J. Hahn (Hg.), Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen - Wahrnehmung - Bewältigung (WUNT I/ 147), Tübingen 2002, 183-206 knüpft hieran eine bemerkenswerte Deutung: Indem Esra „aus ganzen Herzen“ trauert (10,50: ex toto corde), sein Herz mithin ganz von Trauer erfüllt ist und damit keinen Platz mehr für Böses hat, ist die Trauer um Zion der Weg zur Überwindung des „bösen Herzens“. Theologisch heißt das, dass „die katastrophale Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. vom Verfasser des Vierten Esrabuches als - zugespitzt gesagt - soteriologische Letztmaßnahme Gottes interpretiert worden ist, damit Israel dem von Esra als Sündenverhängnis eingestuften Problem des ,bösen Herzens‘ wehren kann: ,Trauern’ und ,Mitleiden‘ mit Zion allein können das menschliche Herz aus seiner Sündenverstrickung lösen und führen so zur Gerechtigkeit vor Gott und damit zur Rettung im Gericht“ (193). Die grenzenlose Trauer wird hier anthropologisch zur Katharsis, und weil die Trauer nur dann maximale Wirksamkeit hat, wenn sie grenzenlos ist, muss es die Katastrophe auch sein. Wenn man das auf das Motto „lieber traurig als böse“ zuspitzt, klingt es zynisch, der Gedanke hat aber ein Wahrheitsmoment; vgl. etwa die kathartische Wirkung des Leidens in 1Petr 4,1. Entfernt gehört hierher auch die sokratische Einsicht, wonach es kein Drittes gibt zwischen Unrecht Tun und Unrecht Leiden, man mithin hypothetisch nur zwischen diesen beiden die Wahl hat. Auch hier geraten nämlich das Tun Bösen einerseits und das Erleiden des Bösen andererseits in einen direkten, ausschließenden Gegensatz. Die daseinsorientierende Qualität von Trauer klingt an in André Hellers „Leon Wolke“: nur hab‘ ich einen anderen Maßstab / vor dem wirkt fast alles klein / wirklich groß ist nur die Trauer / und das viele Kinderschrei’n. Verwandt ist auch eine Äußerung J.-P. Sartres über seinen existenzialistischen Roman Der Ekel: „Selbst wenn ich zu jener Zeit mir gegenüber aufrichtiger gewesen wäre, Der Ekel hätte ich dennoch geschrieben. Mir fehlte der Sinn für die Realität. Seither habe ich mich verändert. Ich habe allmählich gelernt, das Reale zu sehen. Ich habe Kinder verhungern sehen. Gegenüber einem sterbenden Kind hat Der Ekel kein Gewicht“ (Zitiert aus: A. Vom Lärm der Waffen und dem stillen Abschied vom Gott der Bibel 99 dung. Schließlich: In der bereits zitierten messianischen Scheltrede wider das römische Imperium ist es „die ganze Erde“, die „befreit wird von deiner Gewalt und auf das Urteil hofft und auf die Barmherzigkeit dessen, der sie gemacht hat“ (11,46). Gericht und Erbarmen scheiden hier nicht mehr nach Kriterien der Toratreue zwischen Sündern und Gerechten, sondern nach verübter und erlittener Gewalt zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. (2) Wohin kommt man, wenn man den Weg über die Zionsvision hin zum Visionsteil nicht mitgeht, sondern das Gespräch vorher abbricht, weil man die unnachgiebig gnadenlose Position des Engels nicht mehr zu ertragen gewillt ist? Die Antwort lautet: Man bricht überhaupt mit dem Gott der Bibel und landet religionsgeschichtlich gesehen bei der Gnosis bzw. bei einem ausgeprägt negativen Weltverhältnis, das üblicherweise und sachlich zu Recht als „gnostisch“ bezeichnet wird. Damit eröffnet sich freilich ein gänzlich anderes Forschungsfeld, das hier kaum auch nur gestreift werden kann. Schon eine präzise Inhalts- und Umfangsbestimmung des Gnosisbegriffs wirft erhebliche Probleme auf, bis dahin, dass man denselben wegen seiner mannigfachen Unschärfen überhaupt aufgeben will. Für unsere Zwecke soll ein Hinweis auf das von Christoph Markschies vorgeschlagene typologische Modell genügen. 20 Dass man sachgemäß von einer gnostischen Weltablehnung reden kann, lässt sich quellensprachlich unterlegen: Porphyrius, Schüler und Biograph des neuplatonischen Philosophen Plotin (ca. 205-270), der in der Biographie seines Lehrers dessen Schriften auflistet, nennt für Plotins Schrift Πρός τοὺς γνωτικούς, „Gegen die Gnostiker“ (Über Plotins Leben 5,27) als Titelvariante: Πρός τοὺς κακὸν τὸν δημιουργὸν τοῦ κόσμου καὶ τὸν κόσμον κακὸν εἶναι λέγοντες, „Gegen die, die sagen, der Demiurg des Kosmos sei schlecht und schlecht sei der Kosmos“ (24,56 f). 21 Dass der „Demiurg“ (hier: „Baumeister“, auch abschätzig „Handwerker“) seine Sache schlecht gemacht habe, darf, wenn nicht als bündige Zusammenfassung, so doch als logischer Fluchtpunkt der Position Esras gelten, die durch die diskursiv unbefriedigenden Antworten des Engels sukzessiv an Überzeugungskraft Cohen-Solal, Sartre. 1905-1980, Hamburg 1988, 668). Die Nähe zu 4.Esra ist dadurch gegeben, dass das Mitleiden mit dem verhungernden Kind den existenzialistischen Protest gegen die conditio humana obsolet werden lässt. Das Mitleiden bricht den Protest, ohne ihn philosophisch zu widerlegen. Im Blick auf die Abfolge von Skeptizismus und politischer Apokalyptik in 4.Esra ist es schließlich eines Hinweises wert, dass der frühe Sartre Existenzialist war, der späte hingegen Sozialist. 20 C. Markschies, Die Gnosis (C.H. Beck Wissen), München 2 2006, 25 f. 21 Griech. Text nach: Porphyrios, Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften. Text, Übersetzung, Anmerkungen (Plotins Schriften, Bd. V c ), Hamburg 1958, eigene Übersetzung. 100 Manuel Vogel gewinnt, bis hin zum „ersten und letzten Wort“ Esras in 7,116 und dem unversöhnlichen Resümee des Engels in 9,22 (s. o.). 22 Kurt Rudolph hat den Ursprung der Gnosis bei „Randerscheinungen des Judentums“ 23 vermutet und ist hierbei bis auf die skeptische Weisheit zurückgegangen. In der Tat ist der Nihilismus von Koh 1,1 „Wie ist alles so nichtig! “ vom Zutrauen zum Schöpfer einer guten Welt bereits weit entfernt. Wir stoßen hier auf eine „Weltfremdheit (…), die (…) auch das Gerechtsein und die theologische Bemühung in ihren Strudel zieht“. 24 Die Katastrophe des Jahres 70 hätte dann solche Tendenzen noch verstärkt und weitere Kreise dem Pessimismus der skeptischen Weisheit, die der Gnosis den Boden bereitete, in die Arme getrieben. War der Untergang Jerusalems eine tiefgreifende Krise? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Im Blick auf den Visionsteil des 4. Esrabuches hat sich gezeigt: Der römische Sieg hat die apokalyptische Unduldsamkeit mit den Verhältnissen auch dreißig Jahre nach der Tempelzerstörung noch keineswegs erstickt. Ganz anders lautet dagegen die Antwort des Dialogteils, die im vorliegenden Beitrag vorrangig zur Geltung zu bringen war: Die in Esra 3,1-9,25 entfaltete Position Esras artikuliert und dokumentiert einen Totalverlust gläubigen Weltvertrauens im Anblick der Katastrophe. 22 Überlegungen zur Gnosis-Affinität der Position Esras im Dialogteil sind spärlich. Eine Nähe von 4. Esra zu gnostischen Soteriologien sieht P. de Villiers, Understanding the way of God. Form, Function and Message of the Historical Review in 4 Ezra 3: 4-27, SBL Seminar papers 117/ 1981, 357-378. 23 K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, Kairos 9/ 1967, 105-122, hier zitiert aus: ders., Gnosis und Gnostizismus (WDF 262), Darmstadt 1975, 768-797, hier 790-797. 24 Ebd., 793.
