eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/45

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
2345 Dronsch Strecker Vogel

Einige Aspekte der theologischen Bedeutung Jerusalems im Neuen Testament

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2020
Wolfgang Stegemann
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102 Wolfgang Kraus hamartēmata um Sünden vor der Taufe oder umfassender um die vor dem Kommen Christi oder um Sünden der Völker, die nicht durch Israels Kult beseitigt wurden? Ist mit anochē Gottes Langmut und Vergebungsbereitschaft (parallel zu makrothymia) bezeichnet oder Gottes Zurückhaltung, was dann auch einen zeitlichen Faktor beinhalten kann? Worauf bezieht sich pros ten endeixin tēs diakiosynēs en tō nyn kairō: ist damit die Jetztzeit wie in V.21 (nyni de) im Unterschied zu der Zeit, von der Röm 1,18-3,20 sprach, gemeint? Wie ist dikaiosynē theou in V.25 und 26 zu verstehen, als Gottes Eigenschaft oder Ausdruck von Gottes Heilshandeln oder beides? Wie ist eis to einai dikaion kai dikaiounta anzuschließen: geht es um Gottes Gerecht-Sein und Gottes rechtfertigendes Handeln als zwei zu unterscheidende Aspekte (kai wäre dann koordinierend zu verstehen) oder ist das kai epexegetisch zu interpretieren (dann wäre der Sinn „Gott ist gerecht indem er rechtfertigt“)? Alle diese Fragen, die noch dazu miteinander zusammenhängen, sachgemäß behandeln zu wollen erforderte eine Dissertation. 1 Die jüngste mir bekannt gewordene breite Erörterung des Textes stammt von Stephen Hultgren. 2 In dem vorliegenden Beitrag muss eine Beschränkung auf wenige Aspekte erfolgen. 1. Hilastērion als Weihegeschenk? Stefan Schreiber hat eine Idee aufgegriffen, die vor ihm schon Adolf Deißmann (er hat sie jedoch später revidiert) und Kenneth Graystone 3 vertreten haben, wonach hilastērion in Röm 3,25 weder vom sühnenden Märtyrertod, noch vom alttestamentlichen Kult, insbesondere der kapporät, her zu verstehen sei, son- 1 S. W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Untersuchungen zum Umfeld der Sühnevorstellung in Röm 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 2 S. Hultgren, Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part I: The Convergence of Temple and Martyrdom Theologies, JThS 70/ 2019, 69-109; ders., Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part II: Atonement in the Old Testament and in Romans 1-5, JThS 70/ 2019, 546-599. Er hat sich umfassend mit der Problematik beschäftigt und dabei auch die Arbeit von D. P. Bailey, Jesus as the Mercy Seat. The Semantics and Theology of Paul’s Use of Hilastērion in Rom 3: 25, Diss. masch. Cambridge 1999 ausgewertet (jetzt zugänglich unter https: / / doi.org/ 10.17863/ CAM.17213). Vgl. zur Sache auch C. Eschner, Gestorben und hingegeben „für“ die Sünder, Bd. I (WMANT 122), Neukirchen-Vluyn 2010, 45-51; J. Frey, Die kultische Deutung des Todes Jesu, in: M. Hüttenhoff / W. Kraus / K. Meyer (Hg.), „… mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu (BThS 38), Göttingen 2018, 97-117, 104-110. 3 A. Deißmann, ILASTERIOS und ILASTERION. Eine lexikalische Studie, ZNW 4/ 1903, 193- 212: 195 f.; K. Graystone, ILASKESTHAI and Related Words, NTS 27/ 1981, 640-654, 653: „votive gift“. Hilastērion in Röm 3,21-26 103 dern, wie im profangriechischen Bereich durchgängig üblich, als „Weihegabe“ oder „versöhnendes Weihegeschenk“. 4 Es gibt Gründe, die mich an dieser Herleitung zweifeln lassen. 5 Fragen wir aber zunächst nach den Gründen, die Stefan Schreiber zu dieser Ansicht führen: 6 1. Der Versuch hilastērion von der kapporät her zu verstehen ist nach Schreiber deswegen schwierig, weil diese Referenz nicht eindeutig sei: In Num 7,89 sei sie kein Sühneort, sondern der Ort, an dem Gott erscheint. In Ez 43 sei ein anderer Ort damit bezeichnet, nämlich die Einfassung des Brandopferaltars. In Am 9,1 sei der Bezug unklar. 2. Mit der Zerstörung des ersten Tempels sei auch die Bundeslade mitsamt ihrer kapporät nicht mehr existent. 3. Jesus als hilastērion sei zugleich der Ort, an den das Blut appliziert werde. 4. Es sei unklar, ob die Anspielung sich auf die kapporät selbst oder die dort stattfindenden Riten 4 S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97/ 2006, 88-110. S. dazu die Kritik von A. Weiß, Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilastērion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105/ 2014, 294-302. S. dazu die Replik von S. Schreiber, Weitergedacht: Das versöhnende Weihegeschenk in Röm 3,25, ZNW 106/ 2015, 201-215. 5 Vgl. dazu auch W. Kraus, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21-26, in: L. Doering / H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-216, 202f. 6 Eine Herleitung vom „sühnenden Tod der Märtyrer“, wie sie etwa in neueren Kommentaren von Klaus Haacker und Eduard Lohse vertreten wird, zieht Schreiber nicht in Erwägung. Zur Problematik dieser Herleitung s. Kraus, Erweis, 203-205. Prof. Dr. Wolfgang Kraus , Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg, Göttingen und Erlangen. 1980-1990 Vikar und Pfarrer der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. 1990 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation für das Fach Neues Testament ebenda. 1996-2004 Professor an der Universität Koblenz-Landau, seit 2004 Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Theologiegeschichte des frühen Christentums, Hebräerbrief, Septuaginta, christlichjüdisches Gespräch, Dokumentation zerstörter Synagogen in Europa. Zusammen mit M. Karrer, S. Kreuzer u. a. Leitung des Forschungsprojektes Septuaginta Deutsch: LXX- Übersetzung 2009, Erläuterungen und Kommentare 2011; Sammelbände zur Septuaginta; bis 2020 Herausgeber von Septuagint and Cognate Studies (SBL.SCS). 104 Wolfgang Kraus beziehe. 5. Die Adressaten des Röm, die weitgehend dem heidenchristlichen Lager zugehörten, könnten die Anspielung nur schwer verstehen und wüssten nichts von den an der kapporät vollzogenen Riten und den damit verbundenen Details. 6. Auch jene, die die Anspielung verstanden hätten würden wohl Probleme damit haben, dass der Jom Kippur am Tempel durch Jesus abgelöst werden solle. Das sei für Paulus als einen im Judentum fest verwurzelten Theologen kaum vorstellbar. 7. Da Paulus auch sonst Motive aus der griechisch-römischen Kultur verwende, frage es sich, warum nicht auch bei hilastērion der Sinn von Weihegeschenk angenommen werden solle. Zu 1. Das hilastērion ist in der LXX nicht nur der Ort, an dem Sühneriten vollzogen werden, es ist auch der Ort der Gottespräsenz. Am hilastērion wird „Sühne“ erwirkt, dort ist Gott präsent. 7 Es geht jedoch stets um einen Ort. Hilastērion ist der Ort, wo hilaskesthai geschieht. 8 Das hilastērion als Ort größter Gottesnähe steht pars pro toto für das Heiligtum als Ort, an dem Gott anwesend ist. Das gilt auch für Ez 43, denn der Brandopferaltar ist im ezechielischen Verfassungsentwurf das Zentrum des Heiligtums. Es gibt dort keine Bundeslade. 9 Dabei will beachtet werden, dass das Verbum (ex)hilaskomai ein breites Spektrum umfasst und die Übersetzung mit „entsühnen“ oder „Sühne wirken“ (englisch: to atone) an manchen Stellen als zu unspezifisch gelten muss: 10 In Gen 32,21 ist Esau direktes Objekt von exhilaskomai: Jakob will mit Geschenken Esau „besänftigen“. Außer in Sach 7,2; 8,22; Mal 1,9 ist Gott in der LXX niemals Objekt von (ex)hilaskomai. An den drei genannten Stellen allerdings soll - wie im Profangriechischen üblich - Gott „besänftigt“ werden. In Lev 16,19-20 LXX ; Num 31,50 LXX ; Dtn 21,8 LXX ; Ez 43,20.22.26; 45,18 LXX sind der Altar oder das Heiligtum direktes Objekt der Sühnehandlung. Hier ist „entsühnen / Sühne wirken“ gleichbedeutend mit „reinigen / weihen“. 11 In Ex 32,12 LXX betet Mose zu Gott: 7 Ich verwende das Wort „Sühne“ in Ermangelung eines besseren Begriffs, wohl wissend, dass es sich um theologische Beschreibungssprache und nicht um einen biblischen Ausdruck handelt. 8 So mit Hultgren, hilastērion II, 564 Fn. 98 unter Hinweis auf 1Chr 28,11, wo bet ha-kapporät griechisch mit ho oikos tou exhilasmou wiedergegeben wird, d. h. als Ort, an dem exhilasmos stattfindet. 9 Am 9,1 LXX ist zu erklären aus einer Verlesung (Buchstabenvertauschung) von kptr zu kprt (vokalisiert: kaporät). Es ist jedoch auch dort ein Teil des Heiligtums. 10 Zur Sache s. Hultgren, hilastērion II, 551-561; C. Eberhart, Beobachtungen zu Opfer, Kult und Sühne in der Septuaginta, in: W. Kraus / M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta - Text, Wirkung, Rezeption (WUNT 325), Tübingen 2014, 297-314; ders., Kult und die Begegnung mit dem einen Gott in der Septuaginta, in: H. Ausloos / B. Lemmelijn (Hg.), Die Theologie der Septuaginta / Theology of the Septuagint (LXX.H 5), Gütersloh 2020, 165-242. 11 S. dazu Eberhart, Beobachtungen, 312 f; ders., Kult, 189 f; anders D. Büchner, Exhilaskesthai: Appeasing God in the Septuagint Pentateuch, JBL 129/ 2010, 237-260; dazu jedoch kritisch: Hultgren, hilastērion II, 556-558. Hilastērion in Röm 3,21-26 105 hileōs genou epi tē kakia tou laou sou (sei gnädig gegenüber dem Frevel deines Volkes). In V.14 erfolgt Gottes Reaktion: kai hilasthē kyrios peri tēs kakias (und der Herr wurde gnädig gegenüber den Freveln). Hier heißt hilaskomai „gnädig werden“. Wenn hilaskomai „gnädig werden“ heißen kann, dass ist das hilastērion der Ort, an dem sich Gnade ereignet: der „Gnadenort“. Das hat auch Philon so verstanden: Das hilastērion ist ein symbolon (…) tēs hileō tou theou dynameōs (ein Symbol der gnädigen Kraft Gottes; Philon, mos. 2,96, fug. 100). 12 Zu 2. Auch in der Zeit, in der der Hebräerbrief geschrieben wurde, gab es keine kapporät im Allerheiligsten mehr. Gleichwohl findet sich durchgängig eine direkte Anspielung auf das irdische Heiligtum. Es handelt sich auch nicht um einen Bezug auf den zweiten bzw. den herodianischen Tempel, sondern auf die Stiftshütte. Der Bezug ist literarischer Natur. Gleiches dürfte für Paulus gelten. Zu 3. Dieser Einwurf wurde schon vielfach entkräftet. Wir haben es mit Metaphern zu tun. Auch im Hebr ist Jesus Hoherpriester und Opfer zugleich (vgl. Hebr 9,11f). Zu 4. Diese Alternative erscheint mir aufgrund der Formulierung in V.25 nicht angemessen zu sein. Jesus wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati: d. h. kraft seines Todes oder durch seinen Tod. Zu 5. Es handelt sich, wie aus Röm 14 f. hervorgeht, bei der römischen Gemeinde nicht allein um ‚Heidenchristen‘. 13 Gleichwohl: Auch der an eine überwiegend völker-christliche Gemeinde in Korinth gerichtete 1Clem verwendet alttestamentliches Material unter der Voraussetzung, dass seine Adressaten dies verstehen. Und falls der Hebr an Völkerchristen gerichtet wäre (was die Mehrzahl der deutschen Ausleger annimmt - m. E. jedoch zu Unrecht), müsste man das auch hier sagen. Wir müssen davon ausgehen, dass grundlegende biblische Kenntnisse bei allen Jesusgläubigen anzutreffen sind. 14 Zu 6. Kritik am Tempelkult findet sich auch im AT und im antiken Judentum. Dass dieser wirklich Sündenvergebung bringt, wird von den Qumranern bestritten. Wenn es stimmt, dass die „Hellenisten“ um Stefanus kultkritisch eingestellt waren (s. Apg 6), gilt das auch für eine Gruppe in der frühen Christenheit. Dass es frühchristliche Kultkritik gab, geht auch aus anderen Stellen im NT hervor, sie kann sich wohl auf Jesus selbst berufen (vgl. die verschiedenen Formen des Tempelwortes). 15 Dass die Position des Paulus bezüglich der Tora für bestimmte Juden ein Problem darstellt, ist eindeutig. Ganz gleich, wie man Röm 10,4 ver- 12 S. dazu Hultgren, hilastērion II, 565 Fn. 103. 13 Ich benutze den Begriff nur ungern. Besser ist: Gläubige aus den Völkern. 14 Vgl. Frey, Deutung, 106. 15 Vgl. zu diesen Fragen W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, 44-55. 106 Wolfgang Kraus steht: es handelt sich um eine Relativierung. Gesetz und Propheten bezeugen nach Röm 3,21 die Gerechtigkeit Gottes, die in Christus erschienen ist - jenseits von der Tora. Auch wenn Paulus seine Position zur Tora in Gal 3 im Röm korrigiert hat, und auch wenn er in Röm 9-11 an der bleibenden Erwählung Israels im Unterschied etwa zu Gal 4,21-31 festhält, bleibt er dabei, dass die endzeitliche Rettung über Jesus erfolgt. 16 Zu 7. Es ist mit der Aufnahme von Motiven aus dem griechisch-römischen Bereich bei Paulus nicht so einfach: Außer der Allerweltsweisheit in 1Kor 15,33 - ganz gleich, ob man den Ausspruch Menander oder Euripides zuschreibt - gibt es in seinen Briefen kein einziges Zitat aus griechisch-römischer Literatur. Die im Hellenismus verbreitete Vorstellung von Paideia findet sich auch in jüdischer Literatur: Prov, Sir. Das Loskauf-Motiv lässt sich auch aus dem AT herleiten. Somit sind die Gründe, die Stefan Schreiber dazu geführt haben, hilastērion nicht aus dem Umfeld des alttestamentlichen Kultus abzuleiten, m. E. nicht durchschlagend. Daneben gibt es nun aber auch erhebliche Probleme mit der Anwendung des Weihegeschenk-Motivs auf den Tod Jesu: 1. Warum verwendet Paulus für eine so spezifische, von Schreiber selbst als „Ungeheuerlichkeit, nahezu Blasphemie“ 17 bezeichnete Aussage den seltenen Ausdruck hilastērion und nicht die sehr viel geläufigeren Begriffe wie anathema, charisterion, eucharisterion oder dōron? Diese Frage wird von Schreiber in seinem Beitrag von 2006 selbst gestellt und mit dem Hinweis auf hilaskomai (Med.) beantwortet: Das Verb „bedeutet ‚die Gottheit für sich wieder geneigt machen‘; das Suffix -tērion bezeichnet den Ort des Geschehens (BDR § 109,10) - etymologisch ist das hilastērion also ein ‚Geneigtmach-Ort‘.“ 18 Es stellt sich die Frage, ob die Leser des Röm dies nachvollziehen konnten. 2. Im jüdischen Bereich lautet das Stichwort für Weihegabe nicht hilastērion, sondern anathema oder dōron, 19 außer vielleicht in JosAnt16,182. Doch diese Stelle ist kein wirklich eindeutiger Beleg für Weihegeschenk. Wenn man 16 Vgl. dazu W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 2 2004, 295-333.359-361. Wie diese Sicht des Paulus in der heutigen Theologie zum Tragen kommen kann, ist mit einer ganz anderen Frage verbunden, nämlich der nach der Grenze der paulinischen Aussagen in Röm 9-11 und 15. S. hierzu W. Kraus, Die Bedeutung von Röm 9-11 im christlich-jüdischen Dialog, in: F. Wilk / R. Wagner (Hg.), Between Gospel and Election. Explorations in the Interpretation of Romans 9-11 (WUNT 257), Tübingen 2010, 205-223. 17 Schreiber, Weihegeschenk, 106. 18 Schreiber, Weihegeschenk, 107. 19 2Makk 2,13 anathema; Jdt 16,19 anathema; Josephus ant. 14,34-36 dōron; 18,18f. anathema; Lk 21,5 anathema. Die bei Schreiber genannten Stellen 1Chr 28,12 und slHen 45,2 sind m. E. nicht einschlägig. Hilastērion in Röm 3,21-26 107 hilastērion dort nicht adjektivisch, sondern substantivisch liest, wäre es durchaus möglich zu übersetzen: „[Herodes] ließ ein hilastērion errichten als Denkmal aus leuchtendem Marmor“, womit er einem römischen Publikum das Verhalten des Herodes erklärt. Hilastērion lässt sich hier auch als „Sühnemal“ verstehen und muss nicht mit „Weihegeschenk“ wiedergegeben werden. Die eindeutigen Belege für hilastērion als Weihegeschenk stammen alle aus dem nicht-jüdischen Bereich. 3. Wenn man hilastērion auch in Ex 25,16 LXX subjektivisch versteht, dann geht es bei hilastērion epithema um einen „Sühneort als Deckplatte“ und nicht um eine „sühnende Deckplatte“. 20 Damit würden im jüdischen Bereich die Belege mit adjektivischem Gebrauch auf 4Makk 17,22 schrumpfen. 21 Das bedeutet, dass alle (! ) anderen substantivischen Belege aus dem jüdischen Bereich entweder die kapporät oder einen anderen Ort im Blick haben, der mit kultischen Vollzügen in Beziehung steht. Dies gilt auch für den einzigen weiteren neutestamentlichen Beleg: Hebr 9,5. 4. Adressat eines Weihegeschenkes ist immer die Gottheit. Wenn Paulus in Röm 3 diesen Bezug umkehren wollte und in paradoxer Weise die Menschen als Empfänger eines „versöhnenden Weihegeschenkes“ adressieren wollte, würde man dann nicht erwarten, dass er dies deutlicher formuliert? So wie die Lage jetzt ist, wird man sagen müssen: Der Bezug auf das hilastērion als ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen ist nicht hinreichend eindeutig. 22 Für das Verständnis des hilastērion in der Rede des Dion Chrysostomos (or. 11.121) hat Schreiber in seinem Beitrag von 2015 ausgeführt: „Durch die Gabe des kostbaren Weihegeschenks wird die geforderte Gerechtigkeit erfüllt: Zum Ausdruck kommen das Eingeständnis der eigenen Niederlage, eine bußfertige Gesinnung und der Versöhnungswille der Griechen.“ 23 Wie sollen die Adressaten des Röm solches auf Gott und die Menschen anwenden? 5. Aus Röm 9 geht hervor, dass Paulus die Praxis von Weihegeschenken zur Abwendung von Gotteszorn kennt. In 9,3 spricht er davon, dass er sich selbst - wenn das denn möglich wäre - als „Weihegeschenk“ anstelle seiner „Stammverwandten“, die Jesus als Christus ablehnen, hingeben würde: als anathema. 24 20 So richtig Hultgren, hilastērion II, 563-565, gegen Kraus, Heiligtumsweihe, 22.40.151. 21 Die Ausgabe von Alfred Rahlfs bietet eine LA, die im Wesentlichen durch den Sinaiticus bezeugt wird (sie wurde in der Revision von R. Hanhart beibehalten). Die „eindeutig besser bezeugte Lesart“ (H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch [JSHRZ III/ 6], 753 A.22a) ist jedoch die adjektivische. Die substantivische wird neben dem Sinaiticus nur durch die Minuskeln 62 und 577 und durch Menologienhandschriften bezeugt. 22 So auch Hultgren, hilastērion II, 572. 23 Schreiber, Weihegeschenk, 209. 24 Zur Auslegung dieser Stelle s. M. Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 286-290. 108 Wolfgang Kraus Kann man damit rechnen, dass Paulus, der in Röm 9,3 mit anathema eindeutig auf ein Weihegeschenk Bezug nimmt, in Röm 3 mit hilastērion einen nicht eindeutigen Bezug auf Christus als (paradoxes) Weihegeschenk Gottes an die Menschen formuliert? 6. Bei keinem der Belege für Weihegeschenk spielt Blut bzw. Lebenshingabe irgendeine Rolle. 7. Bei den Ausführungen von Stefan Schreiber findet sich eine Unklarheit, worin denn eigentlich das hilastērion bestehen soll: ist es Jesus oder ist es Jesu Tod? 25 Es geht in Röm 3 nicht um die metaphorische Anwendung von hilastērion auf die Bedeutung des Todes Jesu. Jesus selbst wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati (in seinem Blut / kraft seines Todes), d. h. aufgrund seiner Lebenshingabe. 2. Röm 3,25-26 im Kontext Es gibt weitere Gründe, warum ein Bezug von hilastērion auf ein Weihegeschenk fragwürdig erscheint. Diese ergeben sich dann, wenn man den Text in die verschiedenen Kontexte stellt. 2.1. Röm 3,25-26 im Kontext des Römerbriefes Zum Verständnis von Röm 3,21-26 im Kontext des Röm muss berücksichtigt werden, was Paulus in Röm 1,18-3,20 verhandelt hat: Alle haben gesündigt, es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen. Das Gesetz zeigt die Sünde auf, kann sie aber nicht beseitigen. Die Menschen, Juden und Nichtjuden, häufen Sünde auf Sünde und sind damit dem endzeitlichen Gericht verfallen. Ist das nicht 25 Eine ähnliche Unklarheit findet sich auch in den Ausführungen von M. Wolter, Der Brief an die Römer. Teilbd. 1: Röm 1-8 (EKK VI/ 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 243: der „Inhalt dieses Glaubens [besteht] darin (…), dass Gott Jesu Tod zu einem hilastērion erklärt hat, dass die Sünden der Glaubenden kompensiert“ (243, vgl. 255 -259). An anderer Stelle schreibt Wolter: „Die Näherbestimmung von hilastērion durch en tō autou haimati legt es vielmehr nahe, dass Paulus hier in der Tat auf den großen Blutritus am Versöhnungstag anspielt, der in Lev 16,15.17 beschrieben wird. Um dieser Anspielung willen nennt er Jesu Tod darum wohl auch in metonymischer Weise haima.“ Ist Jesu Tod hilastērion oder haima? Das hilastērion kompensiert nach atl. Vorstellung keine Sünden, es ist der Ort, an dem Sühne stattfindet. Und die Rede von einer „Funktionsmetapher“ löst das Problem nicht. Wenn auf den Blutritus an der kapporät angespielt wird, dann stellt sich die Frage, was durch diesen Blutritus erfolgt: es handelt sich nach Lev 16 um Reinigung / Weihe / Konsekration. S. dazu C. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament (WUNT 306), Tübingen 2013, 82-86, 166. Dann aber sind wir mitten in der Fragestellung, ob - und wenn ja, wie - auf den größeren Kontext des Jom ha-Kippurim Bezug genommen wird. Hilastērion in Röm 3,21-26 109 die Situation, die Röm 3,25c-26a beschreibt? 26 Was es gegeben hat, war ein „Hingehenlassen“ der Sünden. Vergebung war jedoch nicht erfolgt, die gibt es durch Christus. 27 Gott hat bisher anoche geübt: Zurückhaltung. Dass mit der Erwähnung der anoche Gottes eine Epoche gemeint ist, geht nicht allein aus dem Sprachgebrauch von anoche hervor, sondern auch aus dem Einsatz in V.21 mit nyni de und aus en tō nyn kairō in V.26. Paulus stellt zwei Epochen einander gegenüber: die der anoche und die der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit. 28 Nach Röm 5,8-10 werden die Menschen durch Christi Tod mit Gott versöhnt. Dies wird in V.8 damit begründet, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (so auch schon 5,6). Dieses Sterben hyper hēmōn führt zu unserer Rechtfertigung (V.9). Gerecht wurden wir en tō autou haimati, und zwar nyn (V.9). Diese Formulierung nimmt zweifellos die Aussage aus Röm 3,25f. auf. Die Versöhnung mit Gott ist somit ein Geschehen, das durch Jesu Tod für die Sünder ermöglicht wurde. Das ist eine völlig andere Begründung als jene, dass durch ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen diesen Gottes Liebe und Versöhnungsbereitschaft mitgeteilt werden soll. Nach Röm 5,9-10 hat uns der Tod Jesu dem Zorn Gottes entrissen und uns gerecht gemacht. Die Versöhnung, die dadurch zustande kam, ist nicht Ergebnis eines Weihegeschenkes, sondern des mit-Christus-Sterbens. Das ist die gleiche Argumentation wie in 2Kor 5,14. Dazu kommen wir jetzt. 2.2. Röm 3,25-26 im Kontext paulinischer Theologie (2Kor 5,14-21) Nach 2Kor 5,19-21 hat Gott die Welt mit sich versöhnt, indem er die Sünden nicht zurechnete und den sündlosen Jesus zur „Sünde“ (hier wohl metonymisch für Sünder) gemacht hat, wohingegen die Sünder „Gerechtigkeit Gottes“ (hier metonymisch für Gerechte vor Gott) wurden. Nun lässt Gott durch Versöhnungsgesandte bitten: lasst euch versöhnen. Die Verteilung der Handlung ist so, dass Paulus die Versöhnung verkündigt (samt seinen Mitstreitern). Christus ist für die Sünden gestorben und wir mit ihm, so dass es jetzt eine „neue Kreatur“ gibt (2Kor 5,14-17). Nicht durch ein Versöhnungsgeschenk, sondern durch Jesu 26 S. zum Verhältnis von Röm 3,21-26 zu Röm 1-3 auch Hultgren, hilastērion II, 575-577. 27 Ob es sich hierbei um eine Sachparallele zu Aussagen in Hebr 7,1-10,18 über die Vorläufigkeit des atl. Kultes handelt, kann man überlegen. C. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews (WUNT 235), Tübingen 2009, 132-156, hat versucht, zu erweisen, dass der Hebr als Leseanweisung insbes. für den Röm zu verstehen ist (153). Dies wurde positiv aufgenommen bei Eberhart, Kultmetaphorik, 166 Anm. 53. Ich bleibe skeptisch. 28 So auch Hultgren, hilastērion II, 583 f. Zu anechō, anechomai, anoche s. jetzt den betreffenden Artikel von W. Kraus / C. Lustig / C. Buffa in: E. Bons / J. Joosten (Hg.), Historical an Theological Lexicon of the Septuagint I, Tübingen 2020, 534-544. 110 Wolfgang Kraus Tod, in welchem wir „mitgestorben“ sind (V.14), erfolgte Vergebung. Dies ist es, was die Versöhnungsgesandten zu verkündigen haben. Setzt man Röm 3,21-26 in Beziehung zu Röm 1-3, Röm 5 und 2Kor 5, dann wird es unwahrscheinlich, dass Paulus in 3,25 auf die Vorstellung eines Weihegeschenkes Bezug nimmt. 2.3. Röm 3,25-26 und die Möglichkeit der Aufnahme geprägter Formulierung Stefan Schreiber geht davon aus, dass Paulus den Abschnitt Röm 3,21-26 eigenständig formuliert hat. Die Aufnahme geprägter Überlieferung lehnt er ab. 29 Indizienbeweise zu führen ist in der Tat - auch vor Gericht - schwierig. Allerdings kann eine Häufung von Indizien die Frage aufkommen lassen, ob Paulus hier wirklich eigenständig formuliert: Neben den sprachlichen Eigenheiten in V.25f. (der Einsatz mit dem Reflexivpronomen geschieht analog zu anderen Stellen im NT, an denen geprägtes Gut aufgenommen wird [Phil 2,6; 1Tim 3,16], dia [tēs] pisteōs erweckt den Eindruck eines Einschubes, die Doppelung eis endeixin tēs dikaiosynēs und pros tēn endeixin ist merkwürdig) lassen sich in diesem Text gehäuft Begriffe finden, die für Paulus ungewöhnlich sind: hilastērion (hap.leg. bei Paulus), progegonota hamartēmata (hap.leg. bei Paulus), paresis (hap.leg. bei Paulus), anoche (sonst nur noch Röm 2,4 bei Paulus), haima (außer in Röm 5,9, einer Stelle, die sich auf 3,25 zurückbezieht sonst nur noch im Abendmahlszusammenhang bei Paulus). Nun sind solche Indizien kein Beweis. 30 Wenn sie allerdings in dieser Häufung auftreten und sich eine theologische Vorstellung damit verbindet, die ungewöhnlich ist, sollte man die Möglichkeit der Aufnahme von Überlieferung nicht rundweg ablehnen. 31 Michael Wolter stellt fest, dass die Versuche, in Röm 3,25f. ein Traditionsstück nachzuweisen, „schon im Ansatz“ zum Scheitern verurteilt sind, weil sie nur nach paulinischen Ergänzungen fragen und nicht in Betracht ziehen, dass Paulus die ihm vorliegende Tradition 29 Schreiber, Weihegeschenk, 90f. 30 Wolter, Röm I, 243, lehnt mit Blick auf Röm 1,20, wo sich auch gehäuft Hapaxlegomena finden, die Beweiskraft von Indizien ab. Der Vergleich mit Röm 1,20 ist deshalb nicht überzeugend, weil es sich dort um ein Thema handelt, das bei Paulus sonst nicht prominent erscheint. In Röm 3,25f. geht es hingegen um den Tod Jesu, ein Thema, das für Paulus zentral ist. Die progegonota hamartēmata sind eine einzigartige Vorstellung bei Paulus. Vor allem sie sollen durch den Tod Jesu beseitigt sein? Wie passt das mit anderen Aussagen zum Effekt des Todes Jesu zusammen? 31 Wolter, Röm I, 78, lehnt auch für Röm 1,3-4 eine genaue Bestimmung der aufgenommenen Überlieferung ab, spricht aber dennoch von „Tradition“ bzw. „traditioneller Formulierung“ die Paulus aufgenommen habe. Dass in Röm 1,4 die Einsetzung in die Sohnschaft Jesu mit dessen Auferstehung verbunden wird, wohingegen Paulus an anderen Stellen von der Präexistenz des Sohnes ausgeht, wird nicht diskutiert. Hilastērion in Röm 3,21-26 111 auch gekürzt haben könnte. 32 Hierbei handelt es sich m. E. um ein Scheinargument. Denn was versucht wird, herauszufinden, sind ja jene Elemente, die Paulus möglicherweise übernommen hat und ob diese einen kohärenten Zusammenhang bilden. Dass ein identifiziertes Überlieferungsstück in einen Rahmen gehört, der viel umfangreicher gewesen sein kann (muss), ist implizite Voraussetzung. 33 Die Frage stellt sich, ob es grundsätzlich denkbar ist, dass Paulus geprägte Überlieferung übernimmt und diese weiterführend interpretiert - so wie heutige Redner Elemente aus Liedern oder Bekenntnissen aufnehmen oder auf sie anspielen, die den Adressaten bekannt sind. Michael Wolter räumt ein, dass hapax legomena ein Indiz dafür sein können, dass Paulus „auf sprachlich vorgeprägte und bereits in Gebrauch befindliche Ausdrücke und Bezeichnungen zurückgreift.“ 34 Wenn diese allerdings wie in Röm 3,25f. so massiert auftreten und sich ein sinnvoller Zusammenhang ergibt, könnte es sich auch um ein Zitat handeln. Dann wäre über den syntaktischen Anschluss des dia mit Akkusativ und über die Bedeutung von progegonota hamartēmata, paresis und anoche unter dieser Prämisse neu nachzudenken. 2.4. Röm 3,25f. und der Jom ha-Kippurim Wenn hilastērion im Kontext der Handlungen am Jom ha-Kippurim verstanden werden muss, gibt es dann weitere Aspekte dieses Geschehens, auf die Bezug genommen wird oder geht es lediglich um die kapporät? Stephen Hultgren hat in seinem Beitrag zum Thema auf Strukturanalogien hingewiesen, die zwischen den Aussagen des Paulus in Röm 3,25f. und dem Verständnis des Jom ha-Kippurim in der rabbinischen Literatur zu finden sind. 35 Dabei geht es darum, dass die im Laufe eines Jahres begangenen Sünden der Menschen das Heiligtum verunreinigen. Sie werden jedoch nicht durch Opfer gesühnt, sondern bleiben „in der Schwebe“, bis sie dann am Jom ha-Kippurim bei der Heiligtumsreinigung (Lev 16,16-20) beseitigt werden. Eine Beziehung zwischen der Zeit vor dem Jom ha-Kippurim und der Zeit vor dem Gericht ist nicht erst rabbinisch, sondern aufgrund von Jub 5,17ff. auch für die frühjüdische Zeit belegt. Sollte diese Analogie zutreffen, dann wäre mit der Zeit göttlicher Zurückhaltung vielleicht doch die 32 Wolter, Röm I, 245. 33 E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 2003, 133 geht davon aus, dass eine Aussage vorangegangen sein muss, „an die der Relativsatz dann angehängt werden konnte, etwa: Gelobt sei Jesus Christus o.ä.“. 34 Wolter, Röm I, 245. 35 Hultgren, hilastērion II, 589; vgl. auch E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühntod Jesu Christi (FRLANT 64), Göttingen 2 1963, 25 ff., 35-37. 112 Wolfgang Kraus Zeit vor dem Kommen Jesu gemeint, in der es keine Vergebung, sondern nur das Hingehenlassen von Sünden gegeben hat. 3. Ausblick Nico Fryer hat in seinem Aufsatz von 1987 eine düstere Prognose gegeben: “It is scarcely possible that a consensus of opinion will be reached before the end of time on the question as to how the word hilastērion is to be translated in Rom. 3: 25. The variety of linguistic possibilities, the theological questions involved, the conflicting dogmatic presuppositions of researchers, all play a role in the debate surrounding our understanding of the term.” 36 Und Dieter Zeller, der sich seit seiner Lizentiatenarbeit 1967 immer wieder mit Röm 3 beschäftigte, hat im Jahr 2006 etwas resignierend formuliert: „Das alte Gemäuer Röm 3,24-26 (…) erwies sich als Baustelle, auf dem die Exegeten weiter ihre Konstruktionen errichten. Welche am ehesten dem Plan des Paulus entspricht, muss offen bleiben.“ 37 Ich bin ebenfalls nicht der Überzeugung, dass es in absehbarer Zeit zu einem Konsens kommen wird. Aber ich bin der Überzeugung, dass nur durch ausdauernde exegetische Arbeit, die keine Denkverbote aufrichtet und die sich mit absoluten Formulierungen wie ‚vollkommen abwegig‘ u. ä. zurückhält, ein Fortschritt erzielt werden kann. Stefan Schreiber hat mit seinem Versuch, hilastērion vom hellenistischen „Weihegeschenk“ her zu verstehen, einen Interpretationsversuch vorgelegt, den ich exegetisch für nicht überzeugend ansehe, der jedoch in seiner theologischen Zuspitzung richtig ist: Gott hat den Menschen „in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zugewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet (…). Im Sterben Jesu eröffnet er den Menschen, die seine Zuwendung im Vertrauen annehmen, Versöhnung, abstrakt: eine unzerstörbare und heilvolle Beziehung zu sich.“ 38 Von einer Interpretation von hilastērion als Weihegeschenk käme ich nicht zu dieser Aussage, aber im Gesamtduktus paulinischer Theologie ist sie völlig adäquat. 36 N. S. L. Fryer, The Meaning and Translation of Hilastērion in Romans 3: 25, EQ 59/ 1987, 99-116, 111. 37 D. Zeller, Gottes Gerechtigkeit und die Sühne im Blut Christi. Neuerlicher Versuch zu Röm 3,24-26, in: J. Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 57-69, 69. 38 Schreiber, hilastērion, in diesem Heft. Hermeneutik und Vermittlung „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? Grundlinien einer Theologie der Gabe mit einem Blick auf Lk-14,12-14 Veronika Hoffmann 1. Einleitung 1 Es gibt keine „Theologie der Gabe“ im Neuen Testament. Jedenfalls „gibt“ es sie nicht in dem Sinn, dass man sie einfach aus einer Zusammenschau neutestamentlicher Texte herausdestillieren könnte. Und noch grundsätzlicher gibt es weder „die“ Theologie der Gabe noch überhaupt „die“ Gabe. Es gibt vielmehr eine große Pluralität an verschiedenen theoretischen Zugängen, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil widersprechen, 2 und es gibt eine noch größere Pluralität an Phänomenen des Gebens, die sich nicht auf eine einzige, „eigent- 1 Die folgenden Überlegungen greifen auf frühere Veröffentlichungen von mir zurück, insbesondere: V. Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung - Opfer - Eucharistie - Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg 2013; dies., Christus - die Gabe. Zugänge zur Eucharistie, Freiburg 2016. 2 Vgl. zu einer Übersicht über zumindest einige wichtige Zugänge z. B. Hoffmann, Skizzen, Teil 1; zur Thematik insgesamt dies. / U. Link-Wieczorek / C. Mandry (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg 2016; A. Grund (Hg.), Opfer, Geschenke, Almosen. Die Gabe in Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2015; M. Ebner / I. Fischer / J. Frey, Geben und Nehmen ( JBTh 27), Neukirchen-Vluyn 2012. Prof. Dr. Veronika Hoffmann, Jahrgang 1974, studierte katholische Theologie in Frankfurt/ M. (St. Georgen) und Innsbruck und wurde nach ihrer Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Mainz 2006 in Münster promoviert. 2007-2013 war sie Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, wo sie sich 2012 mit einer Arbeit zur Theologie der Gabe habilitierte. Nach einem Heisenbergstipendium 2013 war sie 2013-2018 Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Dogmatik an der Universität Fribourg (CH). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte betreffen den religiösen Zweifel und die Frage nach dem Zusammenhang von Wirklichkeitsverständnis und Gotteskonzept. - Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 114 Veronika Hoffmann liche Gabe“ zurückführen lassen: Eine Spende für ein Katastrophengebiet, ein Weihnachtsgeschenk, ein Verlobungsring oder eine Flasche Wein zum Dank für einen freiwilligen Einsatz funktionieren nicht nach derselben Logik. Dass es eine solche Fülle verschiedener Phänomene gibt, zeigt zugleich die Bedeutung der Gabe: Geben und Empfangen in all seinen Abwandlungen (bis hin zum Bestechen) stellen grundlegende Elemente unseres Zusammenlebens auf familiärer, freundschaftlicher und gemeinschaftlicher Ebene dar. Entsprechendes lässt sich auch für die Bibel sagen, sowohl was die Pluralität der Phänomene als auch was die Bedeutung des Gebens angeht: Man vergleiche nur die Opfergaben, die beispielsweise das Buch Levitikus behandelt, Jakobs Versöhnungsgabe an Laban in Gen 33 und die Gaben des Geistes bei Paulus in 1Kor 2. Dass eine reine Untersuchung des Auftretens von Gabe-Begrifflichkeit zu keiner „Gabe-Theologie“ führen würde, heißt also durchaus nicht, dass die Bibel nicht in theologisch gehaltvoller Weise von der Gabe spräche. Die folgende kleine Skizze einer Theologie der Gabe arbeitet deshalb, von Phänomenen des Gebens ausgehend, zunächst systematisch und systematisierend. Die gewonnene Perspektive wird dann in einem zweiten Schritt an einen konkreten biblischen Text angelegt. Die Leitfrage lautet dabei, inwiefern sich die Rede von Geben und Empfangen als ein Modell eignet, um damit das Verhältnis von Gott und Mensch zu beschreiben. Wegen der genannten Pluralität bietet wohl kein Zugang zur Gabe alle relevanten Perspektiven. Ich werde im Folgenden aus dem interdisziplinären Diskurs über die Gabe einen Ansatz herausgreifen, der mir für die Beantwortung der Leitfrage besonders geeignet erscheint (2.). Ich komme dann auf die systematisch-theologische Fragestellung zurück (3.), um schließlich Lk 14,12-14 gabetheologisch zu lesen (4.). 2. Was ist eine Gabe? Fragen wir also zunächst: Was ist eine Gabe? Oder, im Sinn der behaupteten Pluralität von Phänomenen: Welche Gestalten kann eine Gabe haben? Aus der Fülle der möglichen Aspekte seien vier Fragen herausgegriffen, die helfen, dem jeweiligen Charakter der Gabe auf die Spur zu kommen: „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 115 2.1 Gestalten des Gebens 1. Gibt nur einer oder geben beide? Ist die Gabe also einseitig oder gegenseitig? 2. Wenn beide geben: Geht der Empfänger mit dem Empfang der Gabe eine Verpflichtung ein, seinerseits zu geben? 3 3. Müssen gegenseitige Gaben gleichwertig sein? 4. Geht es wesentlich um die Gabe als Ding oder geht es um die Beziehung, die mit ihr ausgedrückt werden soll? Beobachtet man mit Hilfe dieser Fragen einige typische Gestalten des Gebens, so zeigt sich: Bei einer Katastrophenhilfe wird die Gabe in aller Regel einseitig sein. Man erwartet nicht, dass ein Erdbebenopfer eine Dankeskarte schreibt. Und es geht um materielle Hilfe, nicht um die Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Der Empfänger mag sich auch freuen, dass es jemanden gibt, der in seiner Not an ihn gedacht hat. Aber vorrangig braucht er Essen oder ein Dach über dem Kopf oder medizinische Versorgung. Wer ihm das gibt und warum, ist zweitrangig. Geschenke zu Weihnachten können einseitig sein, v. a. an Kinder, sind aber doch häufig gegenseitig. Dass es eine gewisse „Pflicht zur Gegen-Gabe“ geben kann, wissen alle Kinder, die sich nach Weihnachten mit Dankesbriefen an wohlmeinende Tanten quälen. Hingegen bedeutet Gegenseitigkeit nicht unbe- 3 Das ist die zentrale Frage, die Marcel Mauss in seinem Klassiker „Die Gabe“ stellt und von der quasi die gesamte Gabeforschung des 20. Jh. ihren Ausgang genommen hat. Vgl. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2 1994; M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009. Prof. Dr. Veronika Hoffmann , Jahrgang 1974, studierte katholische Theologie in Frankfurt/ M. (St. Georgen) und Innsbruck und wurde nach ihrer Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Mainz 2006 in Münster promoviert. 2007-2013 war sie Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, wo sie sich 2012 mit einer Arbeit zur Theologie der Gabe habilitierte. Nach einem Heisenbergstipendium 2013 war sie 2013-2018 Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Dogmatik an der Universität Fribourg (CH). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte betreffen den religiösen Zweifel und die Frage nach dem Zusammenhang von Wirklichkeitsverständnis und Gotteskonzept. - 116 Veronika Hoffmann dingt auch Äquivalenz: Wenn die Eltern der Tochter ein Fahrrad schenken und sie den Eltern ein Bild malt, dann ist der ökonomische Unterschied zwischen den Gaben erheblich, aber das stört das Gelingen eines solchen Gabentausches nicht im Mindesten. Die Skala der Bedeutungen der Beziehungsgeste einerseits, der gegebenen Sache andererseits kann ausgesprochen variabel sein: Auch ein Kinderbild, das von wenig künstlerischer Begabung spricht, wird vermutlich aufgehängt, weil es nicht um künstlerische Qualität geht, sondern um die ausgedrückte Zuneigung. Das Kind seinerseits könnte das Fahrrad sowohl als einen Ausdruck der elterlichen Liebe als auch - vielleicht zunächst sogar vorrangig - als einen in sich erstrebenswerten Gegenstand betrachten. In der Regel sollen Gaben „passend“ sein: passend zum Empfänger, passend zum Anlass, passend zur Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Ist das nicht der Fall, kann eine Gabe misslingen: Eine Volksmusik-CD für die beste Freundin, die bekanntermaßen eingeschworene Klassik-Hörerin ist, dürfte die Empfängerin als Gedankenlosigkeit empfinden. Spitzenunterwäsche als Weihnachtsgeschenk für eine Mitarbeiterin im Unternehmen könnte zu noch erheblicheren Folgeproblemen führen. Auch hier liegen aber nicht immer eindeutige Fälle vor, sondern der Kontext spielt eine erhebliche Rolle, wie ein weiteres Beispiel zeigen kann: Ein Kollege und ich hatten zufällig in derselben Stadt, aber vor je verschiedenem Publikum einen Vortrag zu halten. Wir nutzten die Gelegenheit, uns anschließend zum Abendessen zu verabreden. Dabei stellte sich heraus, dass ich zum Dank für meinen Vortrag eine Flasche Wein, er eine Schachtel Schokolade geschenkt bekommen hatte. Ich trinke jedoch kaum Alkohol und er mochte die Schokolade nicht besonders. Also haben wir kurzerhand getauscht - und jeder war zufrieden. Waren hier die ursprünglichen Gaben „misslungen“, unpassend, weil sie an den jeweiligen Vorlieben des bzw. der Beschenkten vorbeigingen? Ich zumindest habe das nicht so empfunden. Wohl: Hätte mir ein langjähriger Freund eine Flasche Wein geschenkt, wäre ich vermutlich leicht verletzt gewesen. Er müsste ja wissen, dass er mir damit keine Freude bereitet. Der Organisator des Vortrags hingegen, der mich persönlich gar nicht kannte, hatte keine Chance, das zu wissen. Die Flasche Wein als übliches Zeichen des Dankes in einem solchen Kontext hat deshalb trotzdem „funktioniert“. Klare Fälle gegenseitigen Gebens, die sowohl von einer sozialen Verpflichtung als auch von Äquivalenz geprägt sind, lassen sich beispielsweise bei wechselseitigen Einladungen unter Nachbarn finden. Hier lauten die sozialen Spielregeln häufig: Wenn man eingeladen wurde, ist die Gegeneinladung obligatorisch. Und „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 117 das Gastgeschenk des einen sollte in etwa dem Gastgeschenk des anderen entsprechen. Dieses letzte Beispiel zeigt zugleich, dass es sich bei einer Gabe nicht immer um ein Objekt handeln muss, das den Besitzer wechselt. Auch Einladungen sind Gaben. Oder wir halten eine lobende Rede, um unsere Anerkennung auszudrücken. Und sofern es sich um eine materielle Gabe handelt, wird das Geben nicht selten von bestimmten Riten begleitet, die den Gegenstand als Gabe markieren: Er ist beispielsweise in Geschenkpapier eingepackt und wird mit entsprechenden Gesten überreicht. 2.2 Die „Gabe der Anerkennung“ Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren und zeigen: Die Gabe ist ein vielschichtiges und vielfältiges Ding. Welche Gestalt von Gabe nimmt man nun sinnvollerweise zum Ausgangspunkt, wenn man von Geben und Empfangen zwischen Gott und Mensch sprechen will? Meines Erachtens lohnt es sich, diese Gabe deutlich von einer Hilfeleistung oder einem Almosen abzugrenzen und die Aspekte der Anerkennung und der Beziehung in den Vordergrund zu rücken. In Anlehnung an Marcel Hénaff und Paul Ricœur verstehe ich Geben und Empfangen im Weiteren deshalb als eine symbolische Praxis gegenseitiger Anerkennung und Zuwendung, als Gesten, mit denen Beziehungen aufgenommen, dargestellt und vertieft werden sollen. 4 Dann ist das Entscheidende nicht, dass ein Ding seinen Besitzer wechselt. Im Zentrum steht vielmehr das Verhältnis der Beteiligten zueinander. Die materiellen Gaben ebenso wie Gesten und Worte stellen die symbolischen Mittel dar, mit denen diese Anerkennung ausgedrückt wird. Indem ich etwas gebe, das mir gehört, gebe ich im doppelten Wortsinn etwas ‚von mir‘, ich gebe symbolisch einen Teil meiner selbst: „Es handelt sich nicht darum, jemandem etwas zu geben, sondern darum, sich selbst jemandem zu geben vermittels von etwas.“ 5 4 Vgl. Hénaff, Preis; ders., Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken (Sozialphilosophische Studien 8), Bielefeld 2014; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006, 274-326; ders., Phénoménologie de la reconnaissance - Phänomenologie der Anerkennung, in: S. Orth / P. Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg / München 2004, 138-159. 5 M. Hénaff, De la philosophie à l’anthropologie. Comment interpréter le don? Entretien avec Marcel Hénaff (Esprit 282/ 2002), 135-158, hier 143. Hervorhebung im Original. Man kann das auch daran sehen, dass die gegebene Sache häufig nichts im unmittelbaren Sinn Praktisches oder Lebensnotwendiges ist, wie die Geldspende an die Erdbebenopfer, sondern etwas, das Luxus oder Überfülle markiert, seien es Blumen, Pralinen, Schmuck, die Einladung zu einem festlichen Essen oder sonst etwas, das sich der Empfänger nicht von sich aus „leisten“ würde, auch wenn er finanziell dazu durchaus in der Lage wäre. 118 Veronika Hoffmann Wenn es aber bei dieser Form der Gabe wesentlich um Beziehung geht, dann bedeutet das auch, dass im Unterschied zu einer Spende eine solche Gabe nicht einseitig bleiben kann, sondern gerade auf Gegenseitigkeit zielt. Die ideale Gabe ist hier keine, bei der der Geber auf jede Erwartung einer Gegengabe verzichtete. Vielmehr muss sie gerade als gescheitert gelten, wenn sie keine Antwort hervorruft. Denn eine ausbleibende Antwort heißt, dass der Empfänger die Gabe abgelehnt, die Anerkennungsgeste zurückgewiesen, die Beziehung verweigert hat. Gibt es also eine „Verpflichtung zur Rückgabe“ gemäß der zweiten oben gestellten Frage? Ja und nein. Es herrscht ein spezifisches Verhältnis von Freiheit und Verpflichtung, das Hénaff mit der Metapher des Spiels verdeutlicht. Es gibt einerseits gesellschaftliche „Spielregeln“ der Gabe, die das Risiko begrenzen sollen, das der Geber eingeht, wenn er dem anderen Anerkennung und Gemeinschaft anbietet. Innerhalb dieser Spielregeln kann man erwarten, dass der andere einen nicht bloßstellt, sondern zumindest „die Fassade wahrt“. Man grüßt höflich - selbst wenn man einander nicht leiden kann. Man spricht auf eine Einladung hin eine Gegeneinladung aus - auch wenn man nicht viel Lust darauf hat. Aber diese „Spielregeln“ sind andererseits mit Spielräumen der Freiheit verbunden, nicht zuletzt mit der Möglichkeit, die Spielregeln zu brechen und das Spiel zu verweigern. Ich kann meine Nachbarn ignorieren und demonstrativ in die Luft schauen, wenn mir ein Kollege auf dem Flur entgegenkommt. Das heißt, die Antwort auf eine Gabe „besteht nicht so sehr darin, die Gabe zu erwidern, als vielmehr seinerseits zu geben; nicht darin, zurückzuerstatten, sondern seinerseits die Initiative des Gebens zu ergreifen“ 6 . Die erste Gabe fordert den Empfänger gewissermaßen heraus, sich zu positionieren. Das unterscheidet diese Gestalt der Gabe markant sowohl von caritativen Praktiken als auch von ökonomischen Tauschverhältnissen: Die einen bleiben einseitig, bei den anderen ist ein symmetrischer, gleichwertiger Austausch essenziell. Die Metapher des Spiels deckt noch ein weiteres Charakteristikum der Gabe auf. Auch wenn zumeist vereinfachend von „einer“ Gabe die Rede ist, bestehen solche sozialen Praktiken doch in aller Regel nicht aus einem einzelnen Vorgang des Gebens und der antwortenden Gegen-Gabe, wie wenn ich einen Kauf bezahle, um dann den Laden zu verlassen und keinen weiteren Gedanken an den Verkäufer mehr zu verschwenden. Denn die Partner eines Gabegeschehens werden nicht „quitt“ wie nach einem Kauf (sondern im besten Fall sind nachher beide dankbar). Vielmehr zieht eine Gabe, wenn es gut geht, die nächste nach sich, geht das Spiel immer weiter: Die Beziehung will gepflegt werden. (Und 6 Hénaff, Preis, 215. Hervorhebung im Original. Übersetzung modifiziert. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 119 wenn man in einem Geschäft zum Kauf ein Geschenk obendrauf bekommt, dann hat das nicht selten einen ähnlichen Zweck, nämlich „Kundenbindung“.) Man kann die Charakteristik einer solchen „Gabe der Anerkennung“ also von drei möglichen Missverständnissen abgrenzen: 1. Missverstanden ist diese Gabe, wenn man meinte, beim Geben gehe es wesentlich um das Ding, das gegeben wird. Noch einmal sei betont: Solche Gaben gibt es durchaus. Wie wir gesehen haben, fallen insbesondere Spenden in der Regel in diese Kategorie. Und die konkreten Praktiken des Gebens und Empfangens sind nicht selten „Mischformen“, auch das wurde bereits deutlich. Aber die Grundunterscheidung bleibt wichtig: Wenn es um Anerkennung und Beziehung geht, dann ist das, was gegeben wird, wesentlich Symbol; es steht für den Geber, seine Zuwendung zum Empfänger, die bestehende oder gewünschte Beziehung zwischen den beiden. 2. Ungeeignet ist für diesen Kontext ebenso ein Verständnis der Gabe, demzufolge sie idealerweise einseitig sei. Eine solche „reine Gabe“ wird vielfach propagiert: Wer beim Geben auf eine Gegengabe hoffe, der sei schon nicht mehr ganz altruistisch nur am anderen interessiert, sondern wolle auch etwas für sich bekommen. Die Gabe sei damit schon zum Tausch „ökonomisiert“ (mindestens der Absicht des Gebers nach). Auch das gibt es, aber wieder scheint es mir zu einfach, hier alle Gaben über denselben theoretischen Leisten zu scheren. Wenn die Gabe Anerkennung ausdrücken und Gemeinschaft pflegen soll, kann, was auf den ersten Blick so ideal aussieht, sogar problematisch werden. Was für eine Gestalt von Beziehung wäre das letztlich, wenn der andere mir immerzu großzügig und uneigennützig gibt und seinerseits nichts von mir erwartet? In einer persönlichen, freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Beziehung kann eine solche „Nicht-Erwartung“ unpassend sein. Wollen wir da nicht gerade, dass der andere sich etwas von uns wünscht, vor allem: dass er sich eine Beziehung wünscht, die gegenseitig ist und sich auch entsprechend ausdrückt? Will ich eine „reine Liebe“, bei der der andere von jedem Bedürfnis seinerseits absieht, oder will ich nicht auch, dass er sich freut, mich zu sehen, dass er mit mir zusammen sein möchte, dass er mich begehrt? Wieder ist es mir wichtig zu betonen, dass es hier verschiedene Fälle geben kann. Aber m. E. kommen Verhältnisse der Gemeinschaft und der Anerkennung auf Dauer nicht ohne die eine oder andere Gestalt von Gegenseitigkeit aus. Diese Gestalten können dabei sehr verschieden sein, wie wir bereits beim Kind gesehen haben, das ein Fahrrad geschenkt bekommt und ein Bild malt. 3. Das führt uns zum letzten Missverständnis: der Gleichsetzung von Gegenseitigkeit mit Symmetrie. Oft wird das ineinandergeschoben, als ob gegenseitiges Geben immer hieße, dass die Gaben auch äquivalent sein müssten - und dann sei man eben in gefährlicher Nähe zu einem quasi ökonomischen Tausch.