eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/46

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
2346 Dronsch Strecker Vogel

Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus

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2020
John M. G. Barclay
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Zum Thema Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus John M.G. Barclay Eines der zentralen theologischen Motive in den Paulusbriefen ist die Gabe - die Gabe Gottes, deren letzter und endgültiger Ausdruck die Gabe (oder Selbsthingabe) Christi ist. Paulus bedient sich einer Vielzahl von Begriffen, um diesen Sacherhalt auszudrücken. Oft spricht er von charis, verwendet aber auch andere Worte aus dem semantischen Feld des Schenkens. „Gnade (charis) sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben hat “ (Gal 1,4); „Denn ihr kennt die Gnade (oder Gunst, charis) unseres Herrn Jesus Christus“ (2Kor 8,9); „Dank sei Gott für seine unaussprechliche Gabe“ (2Kor 9,15); „Gott hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? “ (Röm 8,32). Diese Sprache der Gabe ist in den Paulusbriefen in einer vielfach überlappenden Begrifflichkeit überall vernehmbar (z. B. Gal 2,20-21; 5,4; Röm 4,4,16; 5,15-21; Phil 1,6; Eph 4,7-8; 5,2,25). Es würde in die Irre führen, wenn wir uns einzig auf das Wort charis konzentrierten, das, wie außerdem zu betonen ist, keiner besonderen theologischen Sprache angehört. Vielmehr handelt es sich um ein gebräuchliches griechisches Wort für Geschenk, Gunst oder Dankbarkeit. Es sagt als solches auch noch nicht aus, um welche Art von Geschenk es sich handelt. Für das englische grace war die lateinische Übersetzung von charis mit gratia prägend, und dieser Begriff hat (wie auch das deutsche Gnade) in der christlichen Theologie ein breites Spektrum von Konnotationen gebildet. Aber was bedeutete die Gabe-Terminologie für Paulus? Prof. Dr. John M.G. Barclay, geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 22 John M.G. Barclay Was meinen wir mit „Gnade“? Wenn wir das Wort „Gnade“ hören, assoziieren wir eine „freien Gabe“, aber „frei“ in welchem Sinne? Eine Gabe kann frei von Vorbedingungen sein, ohne Rücksicht auf das Verdienst oder den Wert der Beschenkten, „frei“ also im Sinne von ungeschuldet oder unverdient. Oder (und das ist eben nicht dasselbe) sie wird verstanden als „frei“ von nachträglichen Verpflichtungen, Schulden oder Forderungen, sozusagen „ohne Haken und Ösen“. In dieser Bedeutung entkommt „Gnade“ dem Kreislauf von Gegenseitigkeit und Gegenleistung, der Zirkularität des quid pro quo. Ein solches Verständnis von Gnade könnte dann aber den Aufruf zu Umkehr, Einsatz, Opfer, Dienst und Gehorsam obsolet erscheinen lassen, und man kann mit Recht fragen, ob dies nicht zu dem führen würde, was Bonhoeffer „billige Gnade“ nannte, ein Begriff von Gnade, der sich weigert, moralische Verpflichtungen anzuerkennen. 1 Es scheint angesichts dieser Sachlage am besten, mit dem Anfang anzufangen und dadurch zu einem Verständnis der paulinischen Aussagen zu gelangen, dass wir über den Charakter und die Wirkungsweise einer Gabe nachdenken. 2 Wir können „Gabe“ definieren als die Sphäre freiwilliger, persönlicher Beziehungen, die sich durch wohlwollende Gewährung eines Vorteils oder einer Gunst auszeichnet, sei es ein materieller Nutzen oder ein Dienst. Aber Gaben gibt es in verschiedenen Formen und Weisen des Schenkens. Jede Kultur hat ihre eigenen komplexen, unausgesprochenen Regeln für das Schenken, die sich darauf beziehen, wer wem etwas gibt, wie es gegeben werden soll und was als Gegenleistung erwartet oder sogar verlangt wird oder aber nicht erwartet wird. Tatsächlich ist das Schenken eine Quelle der Faszination für Anthropologen und Historiker, und es ist ein herausragendes Merkmal der meisten religiösen Traditionen, wie sie die Gegenseitigkeit des Schenkens zwischen Menschen und Göttern und die auf menschlicher Ebene zu verteilenden Geschenke strukturieren. 3 Wie auch in den meisten heutigen Kulturen waren in der Welt des Paulus Gaben ein wichtiges Mittel der sozialen Bindung: Sie banden dadurch Menschen aneinander, dass sie Beziehungen der Freundschaft und Verpflichtung stifteten und eine Form der Gegenseitigkeit evozierten, die freiwillig, aber auch für die Fortsetzung der Beziehung notwendig war. Wenn man ein Geschenk erhielt, 1 D. Bonhoeffer, Nachfolge, Gütersloh 1989 (1.-Aufl. 1937). 2 So bin ich auch in meinem Buch Paul and the Gift, Grand Rapids 2015 vorgegangen, auf das ich für eine wesentlich ausführlichere Präsentation und Diskussion des Materials verweise, das ich hier nur summarisch anführe. 3 Das grundlegende Werk, das am Anfang der anthropologischen Erforschung der Gabe steht, ist M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt 1968 (frz. Originalausgabe 1925). Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 23 aber weder Dankbarkeit dafür bekundete noch irgendeine Art von Gegengabe erbrachte, kam eine soziale Bindung nicht zustande bzw. wurde nicht aufrechterhalten und einer Freundschaft drohte das Ende. 4 Geschenke wurden unterschieden von Darlehen (ein Rechtsverhältnis) und vom Markttausch (bei dem der Wert der Transaktion genau berechnet werden kann). Aus bestimmten historischen Gründen sind viele westliche Kulturen außerdem dazu übergegangen, Geschenke von jeder Form des Austauschs zu unterscheiden und damit das Geschenk ohne Gegenleistung zu idealisieren, d. h. das einseitige (bisweilen sogar anonyme) Geschenk, das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Fraglos sind wir der Meinung, dass ein „reines“ Geschenk oder ein „freies“ Geschenk, wenn es seinen Namen denn verdient hat, ohne jeden Hintergedanken und ohne Druck auf den Empfänger, eine Gegenleistung zu erbringen, gegeben werden muss. Wir sind uns zwar bewusst, dass dies normalerweise nicht möglich ist, so wie wir sagen „nichts im Leben ist umsonst“, aber wir sind doch der Meinung, dass es so sein sollte. Aber das ist eine moderne, westliche Annahme, die von der lutherischen Theologie beeinflusst, in der Kantischen Ethik weiter entwickelt und von Jacques Derrida auf maximal zugespitzt wurde. 5 Es gibt jedoch besondere soziale, wirtschaftliche und politische Gründe dafür, dass sich der westliche Begriff der Gabe in dieser Weise entwickelt hat, und wir sollten dieses Verständnis nicht als selbstverständlich oder allgemeingültig ansehen und es vor allem nicht ungeprüft Paulus zuschreiben. Was macht eine vollkommene Gabe aus? Was würde das göttliche Geben wirklich überaus gnädig machen? Die Antwort lautet, dass es mehrere verschiedene Arten gibt, wie das ideale oder vollkommene Geschenk näher beschrieben werden kann. Es gibt verschiedene „Vollkommenheiten“ der Gnade, 4 Die umfangreichste erhaltene philosophische Abhandlung aus der Zeit des Paulus ist Seneca, De beneficiis. 5 Vgl. hierzu Paul and the Gift, 54-63 und J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993. Prof. Dr. John M.G. Barclay , geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. 24 John M.G. Barclay verschiedene Dimensionen, in denen man diesen Begriff in seine reinste oder höchste Form bringen kann. Tatsächlich lassen sich mindestens sechs solcher „Vollkommenheiten“ unterscheiden: 1. Überfülle: Geschenke können in ihrer schieren Größe und ihrem Umfang vollkommen sein und alle anderen Geschenke durch die Tiefe und Bandbreite ihrer Großzügigkeit übertreffen. Da Gott der Geber aller Dinge ist und da die Gaben Gottes keinen Beschränkungen unterliegen, ist dies eine verbreitete Auffassung von der göttlichen Weise des Gebens, wenn auch oft im Ausgleich mit der Vorstellung, dass der menschlichen Fähigkeit zum Empfangen Grenzen gesetzt sind. 2. Singularität: Man kann von der Singularität der Gnade sprechen, wo Gottes Großzügigkeit nicht von Gericht oder Zorn beeinträchtigt ist, mithin Gott gegenüber der Welt nichts als großzügig ist. „Reine“ Gnade in diesem Sinne würde bedeuten, „gereinigt von jeder Haltung oder Handlung, die nicht Geschenk oder Gnade ist“. 3. Priorität: Als die besten Geschenke können diejenigen angesehen werden, die vorgängig gegeben werden, also nicht als Antwort auf ein vorheriges Geschenk, sondern als primäre Handlung, die sich allein der Initiative des Gebers verdankt. Da die Vorstellung von Gott als einem sekundären Geber üblicherweise als defizitär erscheint, haben Theologen vielfach betont, dass Gott immer derjenige ist, der zuerst gibt, sei es in der Schöpfung oder in der Erlösung. 4. Inkongruenz: Gemeint ist, dass die Gaben Gottes ohne Rücksicht auf den Wert der Empfänger gegeben werden, anders als bei den meisten menschlichen Gaben. Wir wählen sorgfältig aus, wem wir Geschenke machen, nach bestimmten Kriterien von Wert oder Würdigkeit. Hier liegt der Einwand nahe, dass solche Kriterien auch für das göttliche Geben leitend sein müssen, denn wenn Gott unterschiedslos Guten und Bösen gibt, würde dies die moralische Ordnung des Universums untergraben. Gleichwohl kann man an der Inkongruenz als Merkmal der perfekten göttlichen Gabe ohne Rücksicht auf Wert oder Unwert des Empfangenen festhalten. Dies ist eindeutig keine einfache Angelegenheit und löst zwangsläufig eine theologische Debatte aus. 5. Wirksamkeit: Geschenke, die nichts bewirken und für den Empfangenden ohne Belang sind, sind augenscheinlich anderen Geschenken, die eine positive Veränderung bewirken, unterlegen. Wenn Gott Gaben gibt, kann man erwarten, dass sie wirksam sind, d. h. dass sie die Absichten Gottes, der sie gegeben hat, realisieren. Aber das wirft Fragen der Handlungsmacht auf: Setzt Gott den menschlichen Akteur mittels der Wirksamkeit der Gabe außer Kraft, oder ist es Sache des Empfangenden zu bestimmen, welche Veränderung sie bewirken? Theologen haben diese Frage aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten über die Wirksamkeit der Gnade auf verschiedene Weise beantwortet. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 25 6. Nicht-Zirkularität: In vielen Kulturen ist eine Gabe nur dann gut, wenn sie in einer Weise gegeben wird, die eine Gegengabe hervorruft und so eine gegenseitige Beziehung schafft. Aber man kann genauso gut darauf bestehen, dass das ideale Geschenk ohne solche belastenden Erwartungen gegeben wird, dass es also dann am besten ist, wenn es einseitig und nicht-zirkulär ist. Gewiss kann nicht sinnvoll angenommen werden, dass Gott einer Gegenleistung bedarf, aber das lässt immer noch die Frage offen, ob Gottes Gaben gleichwohl zu einer Antwort einladen oder diese sogar verlangen, oder ob sie bar jeglicher Erwartung einer Gegenleistung gegeben werden. Die Nicht-Zirkularität der Gnade zu konsequent zu denken, hieße darauf zu bestehen, dass Gottes Gaben allen Zyklen von Schenken und Zurückgeben enthoben sind und keinerlei Last oder Schuld auferlegen. Wenn wir die verschiedenen „Vollkommenheiten“ der Gnade je für sich betrachten und konsequent zu Ende denken, stellen wir fest, wie unterschiedlich sie sind. Die Vervollkommnung einer Facette des Schenkens bedeutet nicht die Vervollkommnung einer oder aller anderen. Wir können sie nicht wie eine Paketlösung ansehen. So implizieren beispielsweise Überfülle und Priorität nicht zugleich auch Inkongruenz mit einem etwaigen Wert des Empfangenden. Ebenso geht konsequent gedachte Inkongruenz nicht automatisch auch mit der Nicht-Zirkularität im Sinne des Ausblendens jeglicher Gegenleistung einher. Wenn also von „reiner Gnade“ oder „freier Gnade“ die Rede ist, stellt sich die Frage: in welchem Sinne genau? Selbst der protestantische Slogan sola gratia („allein aus Gnade“) kann auf mehr als eine Weise interpretiert werden. Während wir geneigt sind zu denken, dass es offensichtlich ist, was wir mit „Gnade“ meinen, wird, wenn wir diese möglichen Vollkommenheiten zerlegen und den Unterschied zwischen ihnen erkennen, klar, dass selbst wenn Menschen den gleichen Begriff verwenden, sie damit ziemlich unterschiedliche Dinge meinen können! Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele aus der Theologiegeschichte einschließlich der Geschichte der Paulusinterpretation. Theologen neigten dazu, darauf zu bestehen, dass sie das „richtige“ Verständnis von Gnade haben, und in der Hitze der theologischen Kontroverse können einige dieser Aspekte immer weiter zugspitzt werden. Oft wird eine Facette der Gnade oder ein kleines Cluster idealer Eigenschaften zu einem bestimmenden Merkmal der Gnade, so dass anderen, die den Begriff vielleicht anders verstehen, ein mangelhaftes Verständnis der Gnade vorgeworfen wird. Wenn Gnade das bedeutet, was „wir“ darunter verstehen, dann verstehen andere, die den Begriff anders auffassen, ihn offensichtlich überhaupt nicht! Wir machen uns dies an drei Beispielen klar), bei denen die Auslegung 26 John M.G. Barclay des Paulus im Mittelpunkt der Debatte über die Gnade stand: Markion, Augustin und Luther. Im zweiten Jahrhundert glaubte der radikale Theologe Markion, dass der von Jesus offenbarte und von Paulus gepredigte gnädige Gott mit dem Schöpfergott der jüdischen Schriften (dem Alten Testament) unvereinbar sei. Der Schöpfergott war gerecht, und in Ausübung seiner Gerechtigkeit hat er die Menschen bestraft und ihnen Schaden zugefügt. Aber der Gott, der in Jesus Christus erstmals offenbar wurde, war ganz anders. Er war nicht nur „gut“, sondern „überaus gut“, und diese „originäre und vollkommene Güte“ galt Markion als einzige Weise des göttlichen Wirkens. 6 Was Jesus lehrte und was Paulus verkündete, war, dass dieser wohlwollende, barmherzige und großzügige Gott aus dem Verborgenen hervorgetreten war, um die Menschheit zu retten und ihr zu sagen, dass sie nicht mit Furcht, sondern mit Liebe antworten sollte. In die Begriffe unserer sechsteiligen Taxonomie gefasst schärfte Markion die Singularität der Gnade in einer Weise, die in der Antike leicht verständlich und höchst attraktiv war und die keineswegs nur auf Markion beschränkt war, denn es gab auch anderswo im frühen Christentum Tendenzen, in dieser Zuspitzung von Gnade zu denken und zu reden. Andere ebenso sorgfältige Paulusinterpreten der frühen Kirche vertraten eine andere Auffassung, aber das liegt nicht daran, dass sie die paulinische Theologie der Gnade außer Acht gelassen hätten. Sie haben sie nur anders pointiert. Augustinus (354-430) ist ein Beispiel für eine Paulusinterpretation mit einer auf ganz andere Weise konsequenten und im Laufe heftiger theologischer Kontroversen immer mehr zugespitzten Gnadentheologie. 7 Für Augustinus konfrontierte die paulinische Rede von der Gnade die Menschen mit dem machtvollen, souveränen Handeln Gottes, und es ging dabei vor allem um die Bekämpfung des sündhaften Stolzes, sich selbst ein Verdienst zuzuschreiben. Für Augustin lag der Akzent der paulinischen Gnadentheologie auf der Inkongruenz. Gott rechtfertigt nicht die Rechtschaffenen, sondern die Gottlosen (Röm 4,5). Er reflektierte aber auch die Wirksamkeit der Gnade, die so weit ging, dass sogar unsere Antwort auf Gottes Gnade nicht wirklich „von uns abhängt“. Tatsächlich kam Augustin zu der Überzeugung, dass Gottes Gnade unserer Antwort vorausgeht, nicht nur zeitlich (als wir noch Sünder waren), sondern auch logisch (sofern sie nämlich unsere Antwort herbeiführt). Als Augustin tiefer in 6 Tertullian behandelt die Lehre Markions in seiner Schrift Adversus Macionem; vgl. hier 1,23,3. Das Werk ist zugänglich in V. Lukas, Adversus Marcionem / Gegen Markion, Lateinisch-Deutsch (FC 63), 4 Bde., Darmstadt 2015ff. 7 Vgl. C. Harrison, Rethinking Augustine’s Early Theology: An Argument for Continuity, Oxford 2006; J. Patout Burns, The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace, Paris 1980. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 27 die menschliche Psyche und die Beweggründe des Willens eindrang (v. a. in seinen Confessiones), kam er zu der Überzeugung, dass sogar unser Wille, uns an Gott zu erfreuen, von der Gnade Gottes „berührt“, „inspiriert“ oder „bewegt“ werden muss, ganz so, wie er es in der lateinischen Fassung von Phil 2,13 fand: Deus est enim qui operatur in vobis et velle et perficere pro bona voluntate, „Gott ist es nämlich, der in euch bewirkt das Wollen und das Wirken für einen guten Willen“. Diesen Aspekt radikalisierte er im Verlauf der Kontroversen mit seinen Gegnern, insbesondere mit Pelagius. 8 Für Pelagius ist Gottes Gnade immer vorrangig und überreich: Gott hat uns bereits die Fähigkeit gegeben, Gutes zu tun, und hat uns gnädig offenbart, wie wir es tun können, nicht zuletzt am Beispiel Christi. Aber die Entscheidung das Gute zu tun und die Handlung selbst liegen bei uns, sonst können wir die Menschen nicht für ihre Tugend loben oder sie für ihr Laster verantwortlich machen. Pelagius deckte eine potenzielle Schwäche in der Theologie Augustins auf, wenn das Wirken der Gnade den menschlichen Willen auf bloße Zustimmung reduziert. Aber Augustin spürte in Pelagius eine subtile Form der Selbstbeweihräucherung und ein unzureichendes Verständnis der Wirksamkeit der Gnade. Der menschliche Wille, so argumentierte Augustin, ist verwundet und braucht weit mehr als Unterweisung und Hilfe: Er muss geheilt, befreit und gekräftigt werden. Je mehr Augustin die Wirksamkeit und Priorität der Gnade betonte, desto mehr ließ er sich dazu verleiten, die (unerklärliche) Vorherbestimmung der Glaubenden zu bekräftigen, und zwar unter Berufung auf einige faszinierende Paulustexte, z. B. Röm 8,28-29 und Eph 1,4. Wenn die Gnade Gottes im menschlichen Willen wirksam ist, wie könnte sich dann ein wahrhaft Glaubender von Gott abwenden? Müssen wir gegen diese Möglichkeit nicht „die Bewahrung der Heiligen“ ins Feld führen? Noch umstrittener ist die Frage, ob Christus nur für die Auserwählten und nicht etwa für alle gestorben ist, wenn Gott bereits diejenigen ausgewählt hat, die glauben werden, und keine von Gottes Absichten fruchtlos ist. Jahrhunderte später belebte Johannes Calvin (1509-1564) viele Argumente Augustins wieder, so dass das in der beschriebenen Weise zugespitzte augustinische Gnadenverständnis zu einem Markenzeichen der reformierten Tradition geworden ist. Aber es gibt, wie wir gesehen haben, noch ganz andere Möglichkeiten eines konsequenten Gnadenbegriffs. Diejenigen, die anderer Meinung sind, leugnen oder verharmlosen die Gnade nicht unbedingt. Möglicherweise fokussieren sie einfach andere Aspekte dessen, was wir als Merkmale von Gnade/ Gabe herausgearbeitet haben. 8 Zur Paulusinterpretation des Pelagius vgl. Th. de Bruyn, Pelagius’ Commentary on St. Paul’s Epistle to the Romans, Oxford 1993. Augustins Gegenargumente finden wir in seinem Traktat Über Natur und Gnade und Von der Gnade Christi. Zur Kontroverse mit Pelagius vgl. P. Brown, Augustine of Hippo, New York 1967), 340-375. 28 John M.G. Barclay Martin Luther (1483-1546) ließ sich in mancher Hinsicht von Augustin inspirieren. Dabei machte er einen Bogen um die Prädestinationslehre, reagierte aber stark auf die Sprache des „Verdienstes“ in der mittelalterlichen Theologie. Werke als eine für die Erlösung notwendige Ergänzung des Glaubens zu betrachten, würde für Luther bedeuten, Gottes Werk in Christus als unvollständig zu behandeln - ein Akt des Misstrauens und der Höhepunkt der Gottlosigkeit! 9 Gnade ist für Luther keine Substanz oder Eigenschaft, die „in die Seele gegossen“ wird, sondern eine auf Wohlwollen gegründete Beziehung - Gottes freie Entscheidung, Glaubende in Christus anzunehmen. Für Luther war es wesentlich, die Inkongruenz der Gnade zu betonen, das regelrechte Missverhältnis zwischen der Gabe Gottes und dem Wert des Glaubenden, und er bestand darauf, dass dies das Glaubensleben dauerhaft bestimmt. Glaube (d. h. Vertrauen) in Christus bedeutet, dass die Glaubenden nicht von ihrer eigenen Gerechtigkeit leben, sondern von der Gerechtigkeit Christi, einer „fremden“ Gerechtigkeit, die sie niemals wirklich ihre eigene nennen können. Der wichtige Punkt ist, dass die Glaubenden in sich selbst zutiefst fehlerhaft bleiben: Im Innersten ihrer Seelen lauern Rebellion und Widerstand gegen Gott. Aber Gott schaut auf die Glaubenden, als ob sie an Christus „kleben“ (und er an ihnen), und in Christus sieht er nur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Güte. Es bleibt also während des gesamten Lebens der Glaubenden bei dieser Inkongruenz der Gnade, wofür die Luther den Ausdruck simul iustus et peccator („gerechtfertigt und Sünder zugleich“) geprägt hat. 10 Luther stellte die Vorstellung von guten Werken als einer verdienstvollen Antwort auf Gottes Gnade zutiefst infrage. Wenn die Gnade Gottes sozusagen „gratis“ gegeben wird, dann nicht in Erwartung einer Gegengabe, sondern allein um unseretwillen. Gottes selbstlose Liebe ist nicht auf Gegenseitigkeit ausgerichtet. Luther radikalisierte also die Inkongruenz der Gnade und verband dies mit einem starken Akzent der Nicht-Zirkularität: Die Gnade Gottes fordert oder bedingt keine Gegengabe. Es ist diese eindrucksvolle Kombination von Eigenschaften, die hinter der berühmten und für das spätere protestantische Denken prägenden Formel „aus Gnade allein“ steht. Aber wie dieser Überblick gezeigt hat, ist dies nicht die einzige Art und Weise, wie man über Gnade denken kann, und diese verschiedenen Denkmuster beeinflussen die Diskussion der Paulusforschung bis heute. Zwar hat die „neue Perspektive auf Paulus“ mit vielen Grundannahmen der protestantischen Tradition 9 Zu den wichtigsten Lutherschriften hierzu zählen Von der Freiheit eines Christenmenschen und der Sermon über die zweifache Gerechtigkeit. 10 Vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie - Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2 2004. Zu Luthers Paulusverständnis vgl. neuerdings S. Chester, Reading Paul with the Reformers: Reconciling Old and New Perspectives, Grand Rapids 2017. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 29 gebrochen, dies aber in der Annahme, dass „Gnade“ ein relativ einfaches Konzept sei. In Anknüpfung an die Arbeiten von E.P. Sanders betrachtete man nun zwar das Judentum des Zweiten Tempels als eine „Religion der Gnade“, aber es wurde selten hinterfragt, was mit diesem Begriff gemeint war. 11 Bei genauerem Hinsehen können wir feststellen, dass es unter den jüdischen Zeitgenossen des Paulus eine Vielfalt von Ansichten darüber gab, wie die Gnade oder Barmherzigkeit Gottes zu verstehen sei, und dass es hierzu keine einheitliche Perspektive gab. Einige waren der Ansicht, dass Gottes Gaben gerade dadurch gut sind, dass sie ausnahmslos denen gegeben werden, die ihrer würdig sind; andere meinten, dass Gottes Gaben ohne Rücksicht auf die Würdigkeit der Empfangenden gegeben werden. 12 Wir können sagen, dass von Gnade im Judentum des Zweiten Tempels überall die Rede war, aber nicht überall in gleicher Weise. Sobald wir uns klarmachen, dass dieses Konzept viele Facetten hat und in ganz unterschiedliche Richtungen konsequent zu Ende gedacht werden kann, stellt sich die Frage erneut und erst recht: Wie verstand Paulus die Gabe bzw. Gnade Gottes? Paulus und die Gabe Gottes in Christus Die Sprache von Gabe und Gnade findet sich überall in den Paulusbriefen, konzentriert jedoch in den Briefen an die Galater und an die Römer, so dass wir unseren Schwerpunkt auf diese beiden Briefe legen. Galaterbrief Der Brief des Paulus an die Galater ist besonders geeignet sich klarzumachen, wie Paulus die Gabe Gottes in Christus verstanden hat und wie sie seine Theologie und Praxis geprägt hat. Hier sieht er „die Wahrheit der frohen Botschaft“ auf dem Spiel stehen (Gal 2,5,14), und er fasst diese Wahrheit prägnant in den Ausdruck „die Gnade Gottes“ (2,21; vgl. 5,4). Die gegenteilige Meinung (das „andere Evangelium“), mit der Paulus in Galatien konfrontiert war, bekräftigte wie er, dass Gott seine Verheißungen an Abraham im Segen aller Nationen erfüllte. Zwischen Paulus und seinen Gegnern war also nicht strittig, ob es eine Heidenmission geben sollte, sondern die Bedingungen, unter denen sie stattzufinden hat. Die Gegner waren der Auffassung, dass Nichtjuden, die an Christus glaubten, „judaisieren“ sollten (2,14), womit gemeint war, dass sie die Sitten und Ge- 11 Vgl. S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul: The ,Lutheran‘ Paul and his Critics, Grand Rapids 2004. 12 Ausführlich hierzu Barclay, Paul and the Gift, Teil 2. 30 John M.G. Barclay bräuche des jüdischen Volkes übernehmen. Wenn sie Kinder Abrahams waren, warum sollten sie dann nicht in Form der männlichen Beschneidung das Zeichen des abrahamitischen Bundes annehmen? Wenn sie mit dem Geist gesegnet waren, warum sollte der Geist sie nicht zur Einhaltung des Gesetzes führen, das durch Mose dem Volk Gottes gegeben worden war? In seiner kategorischen Antwort auf diese Frage lässt sich Paulus auf keinerlei rechtsgelehrte Diskussion ein: Wer die Beschneidung und damit das ganze Gesetz übernimmt, ist aus der Gnade gefallen (5,4); wer vom Geist geführt wird, ist nicht unter dem Gesetz (5,18). Warum ist das so? Welche Logik steht hinter dieser scharfen Antithese? Die beste Antwort liegt in der Art und Weise, wie das Christusereignis von Paulus als eine inkongruente und unbedingte Gabe interpretiert wird. 13 Die gute Nachricht verkündigt Christus, der „sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat“ (1,4), „den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (2,20). Das „andere Evangelium“ anzunehmen, hieße, die Gnade Gottes zurückzuweisen (2,21), sich von Christus loszulösen und aus der Gnade zu fallen (5,4). Die sich auf die Predigt des Paulus hin bekehrt haben, wurden „in Gnade“ berufen (1,6), wie auch Paulus selbst in seiner Berufung vor seiner Geburt (1,15-16). In der Tat gibt uns Paulus’ Nacherzählung seiner Lebensgeschichte einen Eindruck von den radikalen Auswirkungen dieser Gnade. In Gal 1,13-17 spricht er seinen „Fortschritt“ im Kampf für die Bewahrung jüdischer Lebensweise an, sein treues Festhalten an den Traditionen seiner Vorfahren und seinen außergewöhnlichen Eifer, einschließlich der Verfolgung der Gemeinde Gottes (vgl. Phil 3,4-6). Trotz all dieses positiven „symbolischen Kapitals“ innerhalb der Traditionen des Judentums wurde er nicht wegen dieses Wertes auserwählt und berufen, denn das geschah, wie er sagt, vor seiner Geburt. Auch dem zum Trotz, was er jetzt als seinen schrecklichen Fehler erkennt, nämlich die „Gemeinde Gottes“ zu verfolgen, war er nicht außerhalb der Reichweite der Gnade Gottes. Wie auch immer man es betrachtet, mit Blick auf seinen Wert oder Unwert, es gab nichts in seinem Leben, das ihn zu einem geeigneten Empfänger der Gnade Gottes machte. Dieselbe beunruhigende Wahrheit gilt auch für die Nichtjuden, die sich auf seine Predigt hin bekehrt haben. Trotz ihrer „minderwertigen“ Ethnizität, ihrer sündigen Herkunft (2,15) und ihrer götzendienerischen Unkenntnis Gottes (4,8-9) waren auch sie „in Gnade berufen“ (1,6), vor und ohne Beschneidung, vor der Annahme jüdischer Praktiken („Werke des Gesetzes“). Die Gnade, die die Nichtjuden durch Christus erreicht hatte und in der Gabe und Kraft des Geistes erfahren wurde (3,1-5), wurde ohne Rücksicht auf irgendwelche früheren Wertkriterien gegeben. In Christus gibt es weder Juden noch 13 Für eine eingehende Analyse des Galaterbriefes vgl. Paul and the Gift, 331-446. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 31 Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Männer noch Frauen (3,28). Diese früheren Identitäts- und Statusmerkmale werden nicht ausgelöscht, aber sie sind nicht mehr das, was zählt, was Wert verleiht: „In Christus zählt weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit, sondern der Glaube, der durch Liebe wirkt“ (5,6). Was die Wirklichkeit neu geordnet und alle Wertesysteme neu kalibriert hat, ist ein Ereignis, das Christus-Ereignis, das als inkongruentes Geschenk gegeben und empfangen wird. Es „gehört“ niemandem und geht daher an alle, Nichtjuden wie Juden. Es steht nicht im Einklang mit menschlichen Normen (1,11) und untergräbt daher vorgängige Wertkriterien. Als Ergebnis dieser Gnade gibt es sowohl eine „gute Nachricht [an die Adresse] der Unbeschnittenheit“ als auch eine „gute Nachricht [an die Adresse] der Beschneidung“ (2,8-10), weil sowohl das Kennzeichen der jüdischen Besonderheit (Beschneidung) als auch ein Symbol des griechischen Stolzes (der „unverstümmelte“ männliche Körper) durch die einzig und letztgültig wertvolle Gabe Christi relativiert werden. Wenn dagegen Petrus von nichtjüdischen Glaubenden verlangt, in Übereinstimmung mit den jüdischen Speisevorschriften zu leben, unterwirft er diese Gabe den Kriterien einer bestimmten Identität („zwingt sie zum Judentum“, 2,14) und bindet so die bedingungslose Gabe an eine Bedingung. Das hieße, sich von der „Wahrheit der guten Nachricht“ (2,14) zu entfernen, die mit der Verkündigung der inkongruenten Gabe Gottes in Christus steht und fällt (2,21). Paulus’ Erörterung der „Rechtfertigung durch den Glauben, nicht durch Werke des Gesetzes“ folgt im Gedankengang des Galaterbriefes auf den Bericht über den Streit in Antiochien (2,11-14) und baut darauf auf (2,15-21). Petrus und Paulus sind sich (trotz des „heuchlerischen“ Verhaltens von Petrus in Antiochien) darin einig, dass Gott diejenigen rechtfertigt (d. h. als „im Recht“ betrachtet), die auf Christus vertrauen (Obwohl dies in der Paulusforschung umstritten ist, nehme ich an, dass die Kurzformel pistis Christou „Vertrauen in Christus“ bedeutet 14 ). Dieses Vertrauen ist nicht ablösbar von einer Bankrotterklärung, die sich zwingend aus der Anerkennung dessen ergibt, dass das einzig und zugleich suffizient Wertvolle der Tod und die Auferstehung Christi sind, womit der Glaubende neu konstituiert und neu geschaffen wird (2,19-20; 6,15). Diese Gabe wird nicht durch vorgängige Kriterien des Wertes wie etwa ethnische, soziale oder moralische Kriterien bedingt; sie beginnt sozusagen de novo (als „neue Schöpfung“, 6,15). Diese radikale Perspektive erstreckt sich sogar auf das Gesetz. Jüdische Praktiken (die „Werke des Gesetzes“) sind keineswegs falsch oder fehlgeleitet, aber sie sind nicht das Kriterium des Wertes in der Chris- 14 Zur alternativen Übersetzung „Treue Christi“ vgl. R. Hays, The Faith of Jesus Christ: The Narrative Substructure of Galatians 3: 1 - 4: 11 Grand Rapids 2 2002. Für die gegenwärtige Diskussion vgl. T. Morgan, Roman Faith and Christian Faith: Pistis and Fides in the Early Roman Empire and Early Churches, Oxford 2015. 32 John M.G. Barclay tus-Ökonomie. Eine Person wird nicht aus diesem Grund als „im Recht“ vor Gott angesehen, und in diesem Sinne ist Paulus als repräsentativer jüdischer Glaubender „dem Gesetz gestorben“ (2,19): Es ist nicht mehr dasjenige, das ihm seinen Wert verleiht, und nicht mehr das ultimative Kriterium von Recht und Unrecht (vgl. Phil 3,2-11). Unter bestimmten Umständen mag die Einhaltung des Gesetzes die bevorzugte Praxis sein, unter anderen Umständen jedoch nicht (vgl. 1Kor 9,19-23), weil das einzige und letztgültige Kriterium des Guten darin besteht, in und für Christus zu leben (Gal 2,19-20). Durch diesen „Kanon“ (6,15) sind alle üblichen Kriterien in Frage gestellt worden („die Welt ist mir gekreuzigt worden und ich der Welt“, 6,14). 15 Die inkongruente Gabe entspricht der Gestalt des Todes und der Auferstehung Christi (2,20f). Die Inkongruenz unterläuft die vertrauten Kriterien der Übereinstimmung zwischen der Wohltat Gottes und dem Wert des Empfängers, aber aus der Gabe und dem Leben Christi erwächst ein neues Leben. Diese Diskrepanz erklärt, warum Paulus die Strukturen des Heils im Galaterbrief in solch erstaunliche Gedanken kleidet: Was in Christus geschieht, ist die Geburt des Unmöglichen (wie Isaak aus der Unfruchtbarkeit Sara, 4,21-31), die Ankunft des wunderwirkenden Geistes (3,2-5), die Bildung einer neuen Ordnung (Geist, nicht Fleisch) und das Entstehen einer neuen Gemeinschaft, die eine neue Richtung einschlägt (5,25). Tatsächlich ist die Bildung neuer Gemeinschaften grundlegend für das Evangelium. Da die Glaubenden ohne Rücksicht auf ihren sozialen oder ethnischen Wert erwählt sind, schaffen sie neue Arten von Gemeinschaften, die ethnische Grenzen überschreiten und deren Unterschiede relativieren. Inmitten einer Gesellschaft, die durch einen intensiven Wettbewerb um Ehre gekennzeichnet ist, gibt es einen neuen Geist der gegenseitigen Unterstützung: „einander die Lasten tragen“ (6,2) und sogar „sich einander aus Liebe versklaven“ (5,13). Dieser neue antikompetitive Geist (5,26-6,1) gründet darin, dass der Wert eines jeden Menschen von Gott gegeben ist und durch menschlichen Vergleich und Wettbewerb weder konstituiert noch aufrechterhalten wird. Auf diese Weise schafft die Gnade Gottes ein neues Gemeinschaftsethos des unermüdlichen gegenseitigen Wohltuns (6,6-10), das grundsätzlich sogar über den Wirkungskreis der „Genossen des Glaubens“ (6,10) hinausreicht. Es ist dieses gemeinschaftliche Handeln aufgrund einer neuen Weise der Wertzurechnung, das die Inkongruenz der Gabe in einer neuen Praxis anschaulich macht. 15 Zur apokalyptischen Dimension der paulinischen Theologie vgl. J.L. Martyn, Galatians: A New Translation with Introduction and Commentary (Anchor Bible 33A), New York 1997. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 33 Römerbrief Im Römerbrief entfaltet Paulus die weltweite Bedeutung seiner „guten Nachricht“ dadurch, dass er seine theologischen Grundannahmen darlegt, aufgrund derer er die römische Gemeinde als „Apostel der Heiden“ besuchen wird (Röm 1,1-7; 15,14-33). Die Sprache der Gabe mischt sich hier mit der Sprache der Barmherzigkeit (besonders in Röm 9-11), und beide beschreiben Gottes unverdientes Wohltun, das er den Ungeeigneten und Unwürdigen zuteilwerden lässt. Wie wir sehen werden, wird hier erneut die Inkongruenz der Gabe hervorgehoben, zusammen mit ihrer Überfülle (5,12-21). Das bedeutet jedoch nicht, dass Paulus auch die Singularität der Gnade in gleicher Weise konsequent zuspitzt: Zum Verdruss mancher Ausleger spricht Paulus nämlich weiterhin vom Zorn und vom Gericht Gottes als Folie für Gottes Barmherzigkeit (2,1-11; 9,14-23). In 6,1f nimmt Paulus die Frage der Lesenden vorweg, ob die Gnade dem Sünder die Freiheit lässt, weiter zu sündigen. Verwirrend war außerdem, dass Paulus neben der Gnade vom Gericht nach den Werken spricht (2,1-11; vgl. 14,11- 12). Tatsächlich stellt er die Glaubenden als von der Sünde befreit dar, nur um „unter der Gnade“ zu sein (Röm 6,14-15), ja, als „Sklaven“ der Gerechtigkeit (6,12-23). Ist die Gnade Gottes also „frei“ oder nicht? Das Problem stellt sich nur für diejenigen, die die Inkongruenz der Gnade so verstehen, dass sie auch ihre Nicht-Zirkularität impliziert. Aber wie wir gesehen haben, implizieren diese beiden Facetten der Gnade einander nicht notwendigerweise. Paulus erläutert auf unterschiedliche Weise die Inkongruenz der Gnade, die nicht durch den Wert ihrer Empfänger nicht ist und der menschliche Sündhaftigkeit und Gottesfeindlichkeit keine Grenzen setzen. Aber der Zweck dieser Gnade besteht darin, die Empfangenden zu erneuern, sie zu verwandeln in dem Maße, wie sie aus dem Auferstehungsleben Christi neues Leben schöpfen, eine Wirklichkeit, die sie nicht besitzen, an der sie aber teilhaben. Durch diese Gabe, die immer unverdient ist, werden sie zu einer Heiligkeit geformt, die dem Willen und Charakter Gottes entspricht. So ist die inkongruente Gabe dazu bestimmt, ein kongruentes Ergebnis zu schaffen. Die Inkongruenz der Gabe Christi ist eines der Hauptthemen des Römerbriefes. Alle haben gesündigt, sind aber gerechtfertigt „als Gabe, durch seine [Gottes] Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus“ (3,23f). Diese Rechtfertigung wird wie diejenige Abrahams nicht durch das Zuerkennen einer Belohnung an den Berechtigten oder Würdigen realisiert, sondern durch eine inkongruente Gabe in Ermangelung von Werken, durch die Vergebung der Sünden (4,1-8). Da diese Gabe an die Gottlosen (4,5) ohne Wertkriterien vonstattengeht, schließt sie unbeschnittene Nichtjuden auf derselben Grundlage ein wie beschnittene Juden, 34 John M.G. Barclay sofern sie nämlich auf den Gott vertrauen, der inkongruent „die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ruft, dass es sei“ (4,17). Diese „Gnade, in der wir stehen“ (5,2) ist das Ergebnis des Todes Christi, der die unverdiente Liebe Gottes zum Ausdruck brachte, indem er für die Gottlosen, Schwachen und Feinde starb (5,6-10). Auf diese Weise und durch diese Gabe hat die Anwachsen der Sünden der Menschen nicht zu einer Verschärfung des Gerichts geführt, sondern zu dem mächtigen Gegenimpuls der Gnade, die nicht Tod, sondern Gerechtigkeit und Leben zeitigt (5,12-21). Diese Dynamik ist es, die auch der Struktur von Römer 9-11 zugrunde liegt. 16 Dort zeigt sich, dass die ganze biblische Geschichte Israels von der inkongruenten Barmherzigkeit Gottes geprägt ist. Israel ist von Anfang an durch die erwählte Gnade Gottes konstituiert worden und hatte und hat in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allein entlang dieses roten Fadens Bestand. Israel wird nicht allein durch Geburt konstituiert, sondern durch Verheißung (9,6-9), nicht durch moralische Errungenschaften, sondern durch Erwählung oder Berufung (9,10-13), nicht durch menschlichen Willen oder menschliche Anstrengung, sondern durch die Barmherzigkeit Gottes (9,14-18). Aus Gottes Sicht ist das Wesen Israels damit definiert, dass er erklärt, dass „ich mich erbarmen werde, wessen ich mich erbarme“ (9,15, zitiert Ex 33,19). Damit nimmt Gott Israels Zukunft Israel aus den Händen und nimmt sie in seine eigene. Wie der Fortgang von Römer 9 andeutet, kann die Wirkweise dieser Barmherzigkeit einschränkend oder überraschend expansiv sein, aber die Tatsache, dass Israel überhaupt weiter existiert hat, ist der Barmherzigkeit Gottes zu verdanken, die nicht den Bedingungen des Verdienstes unterworfen ist. In Kapitel 10 wird das Christusereignis als letzter Ausdruck der Gerechtigkeit und des Reichtums Gottes reflektiert und zum verstörenden „Ungehorsam“ Israel, mit dem Paulus gegenwärtig konfrontiert ist, in Beziehung gesetzt. Aber es deutet sich bereits an, dass Gottes Barmherzigkeit nicht durch diesen Ungehorsam begrenzt oder bedingt ist, und in Kapitel 11 kommt zur Geltung, dass Gottes Barmherzigkeit gegenüber den Ungehorsamen beim erneuten Einpfropfen der natürlichen Olivenzweige ebenso wirksam sein wird wie beim Veredeln von Zweigen aus einem wilden Ölbaum (gemeint sind die nichtjüdischen Glaubenden). Die „Wurzel des Reichtums“, von der beide getragen werden und in die sie eingepfropft werden (11,17-24), ist nicht das Volk Israel als solches oder gar die Patriarchen, sondern die anfänglich verheißene und von Anfang an wirksame Barmherzigkeit, die sich nun endgültig im Messias zeigt. So hat Gott alle dem Ungehorsam ausge- 16 Vgl. Paul and the Gift, 520-561. Die Interpretation dieser Kapitel ist in der Forschung umstritten. Eine ähnliche Sicht wie die hier vorgetragene vertritt J. A. Linebaugh, Not the End: The History and Hope of the Unfailing Word of God in Romans 9-11, in: T. Still (Hg.), God and Israel: Providence and Purpose in Romans 9-11, Waco 2017, 141-163. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 35 liefert, damit er sich aller erbarme (11,32), und das schließt „ganz Israel“ (11,26) ein, das sein Dasein von Anfang an Gottes Barmherzigkeit verdankte. Aber die Gnade gegenüber den Ungehorsamen lässt ihre Empfänger nicht unverändert. Wie Paulus in Röm 6,1-11 klarstellt, eignet der Gnade Gottes in Christus dadurch eine verwandelnde Kraft, dass sie die Glaubenden in der Taufe mit dem Tod und der Auferstehung Christi verbindet. Fortan leben sie „in der Neuheit des Lebens“ (6,4) und schöpfen aus dem Auferstehungsleben Christi, das ihre Existenzweise neu gestaltet. In diesem Sinne sind sie „unter der Gnade“ (6,14), denn die Gabe bindet sie an den Geber und richtet ihre Lebensgemeinschaft neu aus, von der Sünde zur Gerechtigkeit (6,12-23). 17 Wahrscheinlich spielt Paulus bereits in 2,12-19 auf dieses neue Leben und seine innere Verwandlung durch den Geist an, wenn er auf die Grundlage der guten Werke zu sprechen kommt, die die Glaubenden am Tag des Gerichts zeigen werden. 18 Und zweifellos ist es dasjenige, was sich in der neuen, geistgewirkten Denkweise zeigt, in den neuen Neigungen, Gefühlen und Motivationen, die ihre Neuorientierung in Christus erkennen lassen (8,1-11). 19 Paulus ist sich sehr wohl des Paradoxons bewusst, dass dieses neue Leben in sterblichen und zum Sterben bestimmten Körpern vorhanden ist (6,12-14; 8,11-12), aber er zählt darauf, dass diese neue Treue zu Christus sich auf der Ebene des moralischen Handelns konkret physisch auswirkt. In der Tat ist der gemeinschaftliche Ausdruck dieser Gabe von entscheidender Bedeutung (Römer 12-15), denn in der Art und Weise, wie sie Gemeinschaft bildet und erhält, machen die Glaubenden den Charakter der Gabe anschaulich. Es ist kein Zufall, dass Paulus die Praxis des gemeinschaftlichen Mahles am ausführlichsten diskutiert. In Antiochien (Gal 2,11-14) wie auch in Korinth (1Kor 11,17-34) wird deutlich, dass gemeinsame Mahlzeiten als „verdichtete Symbole“ der Gnade eine Gemeinschaft bilden, aber auch zerstören können. Stellenweise betont Paulus stark die individuelle Perspektive: Jeder Glaubende hat eine Verantwortung und ein Charisma innerhalb des Leibes (12,3-8), und jeder ist Christus hinsichtlich der Praxis seines oder ihres Glaubens Rechenschaft schuldig (14,12.22). Aber diese Verantwortung gegenüber Christus findet ihren Ausdruck und ihren Zweck in der Gemeinschaft, in der jeder und 17 Vgl. E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1965, 181-94. 18 Zu diesem Verständnis von Röm 2 als Referenz auf die innerliche Gesetzesbeachtung nichtjüdischer und jüdischer Glaubender vgl. auch N.T. Wright, The Law in Romans 2, in: Ders., Pauline Perspectives: Essays on Paul 1978-2013, London 2013, 134-51. 19 Diese „Denkweise“ (phronēma) ist Pierre Bourdieus Begriff des Habitus nicht unähnlich, der ein körperbezogenes System von Dispositionen und Werten bezeichnet, die die moralische Praxis codieren; vgl. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übersetzt von C. Pialoux und B. Schwibs, Frankfurt 1976. 36 John M.G. Barclay jede für das eigene Wachstum und „Erbautwerden“ von den anderen abhängig ist (14,19). In dem Maße, wie die Glaubenden eine Gemeinschaft bilden von Juden mit Nichtjuden (15,7-13), von sozial Hochgestellten mit sozial Bedeutungslosen (12,16), von „Starken“ mit „Schwachen“ (14,1-15,7), erkennen sie im Vollzug ihrer Glaubenspraxis den Wert der anderen an, die von Christus selbst willkommen geheißen sind (15,7). Die Gabe Gottes in Christus ist mithin einerseits völlig inkongruent im Blick auf Wert und Würdigkeit ihrer Empfänger, zugleich aber auch stark verpflichtend. Sie ist unbedingt (in Hinsicht auf den Wert), aber nicht bedingungslos (im Blick auf die erwartete Antwort). Alles in diesem neuen Leben, sein Handeln und seine Verpflichtung, verweist auf die Christusgabe als seine Quelle. Daher besteht die Verpflichtung für die Glaubenden nicht darin, der Gnade in noch höherem Maße teilhaftig zu werden oder gar das Heil zu „erlangen“. Es gibt ein einziges Charisma des ewigen Lebens (6,23), das vom Christus-Ereignis bis in die Ewigkeit reicht (8,39), nicht eine Reihe von Gnadenzuteilungen, die auf dem Wege zunehmender Heiligung zu gewinnen wären. Paulus glaubt gewiss, dass die moralische Inkongruenz am Anfang einer gläubigen Existenz im Laufe der Zeit abnehmen wird, da die Glaubenden zur Heiligkeit hingezogen werden (6,19). Wenn sie vor den Richterstuhl Gottes kommen, um Rechenschaft über ihr Tun abzulegen (14,10-12), erwartet er, dass sie ein Leben im Licht und nicht in der Finsternis vorweisen werden (13,12; vgl. 2,6-16). Dies verringert jedoch nicht die wesentliche Inkongruenz der Gnade, da sich das Leben, das diese Heiligkeit zeitigt, dem Auferstehungsleben Christi verdankt (5,10). Der „Glaubensgehorsam“ (1,5) ist nicht dazu angetan, irgendeine zusätzliche Gabe zu erwerben, sondern ist integraler Bestandteil der Gabe selbst, der die nunmehr von ihr begabten Akteure als von der Sünde befreite Sklaven der Gerechtigkeit in leiblicher Praxis Ausdruck verleihen. Ohne diesen Gehorsam ist die Gnade wirkungslos und unerfüllt. Gnade und Handlungsmacht Wie wir gesehen haben, betont Paulus sowohl die Verwandlung der Glaubenden als auch die Tatsache, dass ihr neues Leben von einem Leben abgeleitet und abhängig ist, das nicht ihr eigenes, sondern von Gott gegebenes Leben ist. Dementsprechend akzentuiert er sowohl das Wirken der Glaubenden als Akteure mit einem Willen, einer Orientierung an und einer Verantwortung vor Gott, wie auch das tiefe Wirken des Geistes, der die Quelle und der Beweggrund ihres Handelns ist. „Wenn wir nach dem Geist leben (d. h. wenn der Geist die Quelle unseres neuen Lebens ist), dann lasst uns auch nach dem Geist wandeln (d. h. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 37 lasst uns jetzt durch die Kraft des Geistes handeln und uns verhalten“ (Gal 5,25). „Ich kann alle Dinge durch den tun, der mich stark macht“ (Phil 4,13). „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und seine Gnade mir gegenüber ist nicht vergeblich gewesen“ (Phil 4,13). „Im Gegenteil, ich habe härter gearbeitet als alle anderen - obwohl nicht ich es war, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist“ (1. Kor 15,9-10). Aus solchen Aussagen geht klar hervor, dass Glaubende nicht passiv sind: Sie sind keine Marionetten an einer Schnur, sie lehnen sich nicht zurück und überlassen das Handeln Gott. Im Gegenteil, sie sind aktive, denkende, bereitwillige Akteure, die alle Kräfte menschlichen Entscheidungs- und Handlungsvermögens aufbieten, mit der Folge, dass ihr ganzes Selbst auf die Absichten und den Willen Gottes ausgerichtet ist (Röm 12,1-2). Aber es ist auch klar, dass sie nicht einfach aus ihren eigenen Ressourcen und Fähigkeiten leben, durch eine Form der Selbstdisziplin, die das neue, tugendhafte Handeln aus sich selbst heraussetzt. Wie können wir dieses Phänomen einer göttlichen und zugleich menschlichen Handlungsmacht erklären? Wenn es angemessen ist, hier von der „Wirksamkeit“ der Gnade sprechen dürfen, wie ist diese dann genauer zu beschreiben? 20 Einige Aussagen des Paulus könnten im Sinne einer „Synergie“ zwischen Gott und Mensch als zwei nebeneinander wirkenden Akteuren zu denken sein, etwa wenn Paulus von „der Gnade Gottes“ spricht, „die mit mir ist“ (1Kor 15,10; vgl. 1Kor 3,9). Bei dieser Lesart kann man an den Willen des Glaubenden denken, der von der Macht der Sünde befreit wurde, um ein sich selbst regulierender, frei entscheidender Akteur zu sein, der die Freiheit genießt, mit Gott zusammenzuarbeiten. Aber andere Aussagen legen eine andere Lesart nahe - dass, wenn Glaubende „vom Geist geleitet werden“ (Gal 5,18), nicht sie es sind, die handeln, sondern der Geist, der durch sie handelt: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19); „meine [Gottes] Gnade genügt dir, denn meine Kraft ist in der Schwachheit vollkommen geworden“ (2Kor 12,9). Man könnte dies als eine Art „Monergismus“ verstehen, bei dem Gott (oder der Geist) der einzige Akteur ist und der Glaubende lediglich das Medium, durch das Gottes seine Handlungsmacht in die Tat umsetzt. Tatsächlich verwenden beide Lesarten ein Modell des Handelns, bei dem göttlicher und menschlicher Akteur prinzipiell trennbar sind und in eine wesentlich konkurrierende Beziehung gesetzt werden. Je stärker der eine in der Position des Wirkenden gesehen wird, desto weniger kann diese Position dem anderen zugeschrieben werden. Selbst wenn das Resultat dieses Wirkens ununterscheid- 20 Vgl. J. M. G. Barclay / S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and his Cultural Environment, London 2006. 38 John M.G. Barclay bar eine einzige Wirkung ist, ist sie doch der Konvergenz zweier unabhängiger Organe zuzuschreiben, wobei das beteiligte menschliche Organ allein für seinen eigenen Anteil an der Handlung verantwortlich ist. Da sie umgekehrt proportional arbeiten, muss die menschliche Handlungsweise umso belangloser sein, je größeres Gewicht der Macht Gottes nach Stärke und Umfang zugemessen wird. Wenn also in einem monergistischen Schema die göttliche Aktivität vollständig wirksam ist, muss sie innerhalb dieses Schemas auch die einzige wirkende Handlungsmacht sein. Bei beiden Interpretationen ist Gott also ein Akteur auf derselben Ebene und in derselben Kausalmatrix wie der menschliche Akteur. Selbst dort, wo Gott als Urheber der Kausalkette angesehen wird, wirkt die Gnade als Kraft oder Wirkungsmacht in derselben Weise, wie ein menschlicher Akteur wirkt. Aber wenn Gott Gott ist und die Gnade göttlich, dann gilt unser besonderes Augenmerk der Beziehung zwischen Gott und den Realitäten, die Gott nicht nur beeinflusst, sondern erschafft. 21 Eine dem Stoizismus nahestehende Lösung wäre eine Art Verwandtschaft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, so dass das menschliche Wirken nicht mit dem göttlichen Wirken konkurriert, sondern ein Teil oder „Fragment“ des Göttlichen ist. Nach diesem Modell wäre die menschliche Freiheit nicht Freiheit losgelöst von Gott, sondern etwas, das gerade in Übereinstimmung mit Gott ausgeübt wird. Dies beließe jedoch Gott und Mensch auf derselben Stufe des Seins, wobei Gottes Handlungsmacht zwar in Kraft oder Reichweite überlegen wäre, aber von selber Art. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das göttliche Wirken als „nicht-kontrastive Transzendenz“ (Tanner) aufzufassen. Hier schließt das göttliche Wirken das menschliche Wirken keineswegs prinzipiell aus. Es schränkt die menschliche Freiheit nicht ein oder mindert sie, sondern ist genau das, was sie begründet und ermöglicht. Die beiden Wirkungsweisen stehen also in direktem und nicht in entgegengesetztem Verhältnis zueinander: Je weiter das Handeln des menschlichen Akteurs Raum greift, desto mehr (nicht desto weniger) kann der Gnade zugeschrieben werden. Die göttliche Transzendenz impliziert jedoch, dass die beiden Organe nicht identisch oder als Teil eines Ganzen miteinander verbunden sind. Gott unterscheidet sich radikal vom menschlichen Wirken und ist kein Akteur innerhalb derselben Seinsordnung oder desselben Kausalzusammenhangs. Daher ist menschliche Handlungsmacht weder eine leere Hülle für göttliche Macht noch eine unabhängige Kraft, die an der Seite Gottes wirkt, sondern in Gottes Handlungsmacht begründet und durch sie konstituiert, zugleich aber von Gott unterschieden. 21 Hilfreich hierzu K. Tanner, God and Creation in Christian Theology: Tyranny or Empowerment? , Oxford 1988. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 39 Anstelle von „Synergismus“ oder „Monergismus“ kann dieses Modell „Energismus“ genannt werden, in Anlehnung an die Aussage des Paulus in Phil 2,12f: „Bemüht euch um euer eigenes Heil, denn Gott ist in euch am Werk (ho energōn en hymin), sowohl zum Wollen als auch zum Vollbringen zu seinem Wohlgefallen“. Paulus hält hier die Philipper zum Handeln an und schreibt ihnen die volle Verantwortung für dieses Handeln zu, aber er spricht auch vom Werk Gottes, das nicht unabhängig von ihrem eigenen ist, sondern in gewisser Weise die Quelle ihres Handelns, ja sogar ihres Wollens, das dem Handeln vorausgeht. Göttliche und menschliche Handlungsmacht werden nicht einfach nebeneinander gestellt, als ob sie je für sich zu einer gemeinsamen Anstrengung beitragen würden. Aber sie werden in eine logische Beziehung zueinander gebracht: Der menschliche Imperativ (die Mahnung zum „Werk“) beruht auf einem göttlichen Indikativ („Gott ist am Werk“), die beiden sind durch eine logische Konjunktion („für“) miteinander verbunden. Die Glaubenden partizipieren hier an einer Macht, die anders ist als sie selbst und die über sie hinausreicht, die aber ihr Handeln nicht ersetzt, sondern es mobilisiert und ermöglicht. Wenn wir hier von „Wirksamkeit“ sprechen dürfen, so ist die Gnade Gottes nicht nur eine Inspiration oder ein Beispiel, aber sie ist auch kein Ersatz für das Handeln und Wirken des Glaubenden: Sie ist vielmehr die Macht, innerhalb derer der Glaubende vollumfänglich sein verantwortliches Tun realisiert. Paulus versteht den Glaubenden so, dass er durch die Gnade verwandelt und umstrukturiert, ja zu einer „neuen Schöpfung“ wird (2Kor 5,17; Gal 6,15). Man kann hier davon sprechen, dass das Selbst des Glaubenden neu zentriert wird, umgestaltet durch eine neue Beziehung und das daraus resultierende neue Selbstverständnis, so dass Verstand, Wille, Körper und Emotionen neu ausgerichtet und der Wille zu kraftvollen Taten der Liebe angeregt wird. Hier gibt es keine Passivität, sondern eine „Kreuzigung“ des Fleisches mit seinen Leidenschaften und Begierden (Gal 5,24) und ein unermüdliches „Säen“ auf den Geist (Gal 6,8-9). Alle menschlichen Kräfte des Wollens, Begehrens, Denkens und Handelns werden hier mobilisiert, durch Gnade nicht unterdrückt, sondern aktiviert und angeregt. Aber - und das ist für Paulus von entscheidender Bedeutung - die Kraft, durch die diese Aktivität erzeugt wird, ist nicht ihre eigene, sie ist nicht eine Eigenschaft, die sie als Akteure charakterisiert, und sie ist auch nicht Teil ihrer kreatürlichen Ausstattung. Das neue Leben, das sie leben, ist geliehen, stammt von außerhalb ihrer selbst. Es ist in ihnen aktiv, jedoch unabänderlich nicht als ihr Besitz. Der Geist Christi wohnt in ihnen (Röm 8,11), aber er wird ihnen nie assimiliert; er ist nie „ihr eigen“ in demselben Sinne, wie er der Geist Christi ist. So wird das ganze christliche Leben in Abhängigkeit von der Gnade gelebt: Die Glaubenden werden neu zentriert, aber das Zentrum ihrer Existenz liegt nicht in ihnen, sondern 40 John M.G. Barclay außerhalb von ihnen. Diese Gabe bleibt immer inkongruent, immer außerhalb ihrer selbst, während sie gleichzeitig von ihr leben und in ihr handeln. In diesem Sinne ist die Gnade die Quelle ihrer eigenen Handlungsmacht, und die Glaubenden sind wie ein ungeborenes Kind, das im Mutterleib lebendig ist, aber auf das Leben angewiesen ist, das es von seiner Mutter erhält. 22 So verstanden ist die Struktur der Gnade in der Theologie des Paulus so markant wie konsistent: Sie ist die Gabe Gottes, endgültig erfüllt und verwirklicht in Christus, nicht eingeschränkt durch ein Kalkül von Wert oder Eignung, sondern eine unbedingte, inkongruent Gabe, die die Sünder rechtfertigt, den Toten Leben gibt und „das, was nicht existiert, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17). Diese Gnade ist keine „Sache“, sondern eine Beziehung, die Gegenwart und Kraft Gottes in Christus, durch die der Glaubende neu geschaffen, neu ausgerichtet und zu Gehorsam, Dienst und Liebe befähigt wird. Weil sie eine Gabe der Teilhabe an Christus ist, wirkt sie im Glaubenden, ist aber nicht eigentlich ihr Besitz, und so ist sie inkongruent nicht nur zu Beginn der neuen Existenz in Christus, sie bleibt es auch das ganze Leben hindurch. Die Glaubenden, selbst und als solche ganz ungenügend, leben vom Leben in Christus und zeigen so am vollkommensten, wie die Menschen von Anbeginn gedacht waren, nämlich dankbare und tätige Empfänger einer Gnade zu sein, die ihre eigenen Fähigkeiten übersteigt und sie zu einer Bestimmung hinführt, die weit über ihren geschöpflichen Status hinausgeht. 22 Vgl. K. Tanner, Christ the Key, Cambridge 2010, sowie die Darstellung der Ethik Karl Barths bei J. Webster, Barth’s Ethics of Reconciliation, Cambridge 1995.