ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
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Dronsch Strecker VogelGottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium
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2020
François Vouga
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Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium Gerechtigkeit und Verantwortung als Zeit und Raum des Glücks François Vouga Eine Königsherrschaft - es sein denn, man befände sich in der zwischen Autor und Leser vereinbarten Fantasie eines Märchens oder eines Traumes - definiert sich durch die Zeit, in welcher der König seine Herrschaft angetreten hat und während derer er regiert, regiert hat oder regieren wird. Sie ist ferner definiert durch einen räumlichen Herrschaftsbereich, der seine Identität durch Grenzen erhält, und durch eine politische Ordnung, die die asymmetrische Reziprozität zwischen der Autorität des herrschenden Königs und den Privilegien und Pflichten der Männer, Frauen und Kinder, die in seinem Reich wohnen, regelt. Vom MkEv hat Mt die literarische Idee übernommen, das Programm des Auftretens Jesu in Galiläa als die Verkündigung der nahe gekommenen Königsherrschaft Gottes vorzustellen. 1 Da diese gute Nachricht eines kurz bevorstehenden oder sogar schon Gegenwart gewordenen Herrschaftswechsels einen Imperativ begründet, der kein neues politisches System einführt, sondern zu einer Veränderung des Denkens oder der persönlichen Haltung auffordert, können die Lesenden voraussetzen, dass sowohl im Markusals auch im MtEv der Begriff im übertragenen Sinne, d. h. metaphorisch gemeint ist. Worauf verweist also die matthäische (oder die von Mt neu belebte) Metapher der basileia tou theou und der basileia tōn ouranōn? 1 Das MtEv verwendet ohne deutliche Sinnunterschiede die beiden Begriffe der „Herrschaft der Himmel“ und der „Herrschaft Gottes“. Prof. Dr. François Vouga, geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 74 François Vouga 1. Zeit - Die Gegenwart der Herrschaft der Himmel Die erste Dimension, die die metaphorische Vorstellung der basileia tou theou oder tōn ouranōn definiert, ist die Zeit. Und die Zeit der Herrschaft Gottes scheint im MtEv, wie es bereits im Verständnis des MkEv der Fall ist, 2 die Gegenwart zu sein. 1.1 Das Programm der nah gewordenen Herrschaft der Himmel Auffällig ist zunächst die Parallelität, die Matthäus zwischen dem Programm der Predigt des Täufers und dem des ersten Auftretens Jesu in Kafarnaum am See literarisch konstruiert. Von den drei anderen Evangelien unterscheidet sich das MtEv nämlich dadurch, dass es die ersten Worte der Johannes-Botschaft in der jüdäischen Wüste und diejenigen der Verkündigung Jesu im „Galiläa der Heiden“ (3,15) identisch formuliert: „Kehrt um, denn nahe gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (3,2; 4,17). 3 Die Gegenwart einer neuen Wirklichkeit als das Ereignis, das jetzt eine Veränderung verlangt, wird zweimal im Perfekt verkündigt. Die Formulierung baut eine gewisse paradoxe Spannung auf: Auf der einen Seite stellt die Wahl des Tempus die Präsenz dieser Herrschaft als eine bereits vorhandene Tatsache vor. Auf der anderen Seite setzt die Bewegung des Nahegekommenseins eine noch bestehende Offenheit voraus. Calvin hat dieses Problem dadurch gelöst, dass er kommentierte: Der König holt sein Volk ab, um über es zu regieren. 4 Damit sind die beiden Momente des geschehenen Herrschaftswechsels, der für die Adressaten faktisch eine neue Situation schafft, und der subjektiven Antwort, die dadurch als Möglichkeit entsteht, miteinander verbunden. Mit einer klaren Kohärenz kann Matthäus dann summarisch notieren, dass Jesus das Evangelium der (Gottes-)Herrschaft verkündigt (4,23; 9,35). Da das Evangelium, wenn man die außerchristliche, politische Konnotation des Begriffes mitliest, die öffentliche Verkündigung des Herrschaftsantritts eines neuen Autoritätsinhabers meint, kann man annehmen, dass mit der gegenwärtigen Nähe der basileia tōn ouranōn zunächst von Johannes dem Täufer und dann von Jesus die reale Gegenwart einer befreienden Kraft Gottes verkündigt wird. Entsprechend werden später die zwölf Jünger in der Aussendungsrede beauftragt, dieselbe gute Nachricht kundzutun: „Kehrt um, denn nah gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (10,7; vgl. 24,14). 2 M. Hauser, Die Herrschaft Gottes im Markusevangelium, Frankfurt u. a. 1998. 3 C. Rohmer / F. Vouga, Jean Baptiste aux sources (Essais bibliques 55), Genf 2020, 39-55. 4 J. Calvin, Sur la Concordance ou Harmonie composée de trois évangélistes asçavoir S. Matthieu, S. Marc et S. Luc (Commentaires de Jehan Calvin sur le Nouveau Testament I), Paris 1854, 157. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 75 1.2 Die präsentischen Verheißungen der Seligpreisungen Eine zweite Paradoxie bildet die Zeitstruktur der mt Seligpreisungen. Sie preisen Menschen selig, die durch eine bestimmte existentielle Haltung gekennzeichnet sind: Vertrauen, Barmherzigkeit, aktive Gewaltlosigkeit, Klarheit, Suche nach Frieden, Engagement für Gerechtigkeit, Fähigkeit zu trauern. 5 Begründet werden die jeweiligen Seligpreisungen durch adressatenbezogene Kausalsätze, die Aussagen im Futurum beinhalten, allerdings ohne dass eindeutig entschieden werden kann, ob das Futurum zukünftig, etwa als Verweis auf die Vollendung der Zeit verstanden werden soll (Mt 28,20), oder besser und einfacher logisch als unmittelbare Konsequenz der eigenen Lebenshaltung: „Selig die…, weil sie… werden“. Zwei Ausnahmen unterbrechen die Regelmäßigkeit dieser Konstruktion und sprengen die zeitliche Abfolge der Kontinuität oder der zugesprochenen Reziprozität durch eine Begründung im Präsens: Selig die Armen durch (in dem oder für) den Geist, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,3). Selig die wegen Gerechtigkeit Verfolgten, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,10). Die aktuelle Zeit der basileia tōn ouranōn ist die Gegenwart, und die Offenbarung oder die Erinnerung, dass diese basileia tōn ouranōn den Angeredeten hier und jetzt bereits gehört, ist der sachliche Grund für die Seligpreisung der Jünger, der versammelten Zuhörer und der Leser (5,1), die ihr ganzes Vertrauen 5 Unterscheiden möchte ich die Fragestellung der existentiellen Haltung vom Bereich der Ethik. Ethik generiert begründete Empfehlungen für konkretes Handlungen durch Werturteile, die konsensfähige Werte voraussetzen, während Imperative unbegründete Anweisungen und existentielle Haltungen, intime, geistige Einstellungen beschreiben, vgl. R. M. Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt 1983. Prof. Dr. François Vouga , geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. 76 François Vouga auf den Geist ihres himmlischen Vaters 6 und auf seine Gerechtigkeit gesetzt haben. Zugestanden: Die beiden Seligpreisungen erklären weder, warum ihnen die basileia tōn ouranōn gehört, noch, was diese hier und jetzt relevante Verheißung für sie konkret bedeutet. So überraschend wie evident orientieren sie aber die kausale Kontinuität zwischen Ursache und Wirkung um. Die Verheißungen werden nämlich nicht durch die Haltung der Adressaten bedingt, sondern die Präsenz der basileia tōn ouranōn wird umgekehrt als die im Indikativ Präsens gegebene Bedingung dafür genannt, dass Jesus diejenigen, die er als Arme durch, in oder für den Geist und als die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten anspricht, selig preisen kann. Erste Ergebnisse fasse ich in drei Hypothesen samt kurzen Erläuterungen zusammen: Hypothese 1: Der mt Begriff der basileia tōn ouranōn wird argumentativ eingeführt weder als zukünftiges Reich noch als der endzeitliche Horizont einer göttlichen Belohnung oder eines göttlichen Trostes. Die gute Nachricht der bereits gegenwärtigen basileia tōn ouranōn stellt vielmehr das Ereignis der Verkündigung einer aktiven Befreiungsmacht vor, die die Bergpredigt als der Grund, als die Möglichkeit und als die wirksame Kraft einer Veränderung aktualisiert. Hypothese 2: Die Offenbarung der Präsenz der Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn als bedingungslosen Indikativ begründet nicht nur die erste und die achte Seligpreisung (5,2.10), sondern sie prägt auch die pragmatische Struktur der Wirklichkeit, auf welcher die Kontinuität oder die Reziprozität basiert, die die Kausalsätze der anderen Seligpreisungen strukturieren. 7 Die Trauernden, die wegen ihrer Trauer getröstet werden, die Gewaltlosen, die wegen ihrer Gewaltlosigkeit das Land erben werden, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die wegen ihres Hungers und Durstes gesättigt werden, die Barmherzigen, die wegen ihrer Barmherzigkeit selber Barmherzigkeit erlangen werden, die reinen Herzens, die wegen ihrer Herzensreinheit Gott schauen werden, und die Frieden Stiftenden, die wegen ihrer Friedfertigkeit Söhne, Töchter und 6 Die Interpretation und folglich die Übersetzung der mt Fassung der ersten Seligpreisung bleibt wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffes des Geistes und der Multifunktionnalität des Dativs unscharf. Auffällig ist, dass üblicherweise der Geist in Mt 1-4 durchweg im Sinne des heiligen Geistes (1,18.20) und des Geistes Gottes (3,11.16; cf. 4,1) verstanden wird. Der Vorschlag von F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 15 1979, 159, den Dativ als Dativ der Beziehung zu lesen, verschiebt nur das Problem. 7 Die Begrifflichkeit entnehme ich Ch. Perelman / L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique, Brüssel 1958, ebenso die dort getroffene Unterscheidung zwischen der quasi-logischen Struktur von Argumenten, die die Struktur der Wirklichkeit begründen, d. h. eine neue Struktur der Wirklichkeit begründen einerseits, und Argumenten, die auf der (angenommenen) Struktur der Wirklichkeit basieren, andererseits. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 77 Kinder Gottes genannt werden, diese alle können deswegen von Jesus selig gepriesen werden, weil ihnen die befreiende Autorität der basileia tōn ouranōn gehört. Hypothese 3: Die mt Redaktion formuliert die Seligpreisungen in der dritten Person Plural und verleiht ihnen dadurch eine appellative Funktion: Die Lesenden werden mit den Jüngern und Zuhörern Jesu durch die wiederholte Verheißung „Selig diejenigen, die…“ implizit eingeladen, in den Herrschaftsbereich der gegenwärtigen Befreiungsmacht der basileia tōn ouranōn einzutreten. Später werden sie entsprechend auch aufgefordert werden, auf die Vögel des Himmels zu schauen und Schüler der Blumen des Feldes zu werden (6,25-34). Sie werden dabei lernen, die großzügigen, bedingungslosen Gaben der Vorsehung Gottes zu suchen: die Befreiung seiner basileia und die Rechtfertigung seiner Gerechtigkeit (6,33). Und weil ihr himmlischer Vater weiß, wes sie bedürfen, bevor sie ihn darum bitten, werden sie vertrauensvoll um die Aktualisierung seiner basileia beten: Deine Herrschaft komme (6,9). 1.3 Die Frage und ihre Antwort: Wann ist die Herrschaft der Himmel da? Eine ausdrückliche Antwort auf die Frage des Zeitpunktes des von Jesus verkündigten Herrschaftswechsels gibt Mt nicht zufällig als Abschluss eines Streitgesprächs mit den Pharisäern zur Autorität Jesu, mit der die Dämonen austreibt (12,28): Wenn ich mit dem Geist Gottes die Dämonen austreibe, dann hat euch die basileia tou theou überholt. Das Streitgespräch setzt als unumstritten voraus, dass Jesus die Dämonen austreibt. Umstritten ist dagegen, mit der Kraft welcher Autorität er es tut. Zwei Hypothesen werden als Alternative angeboten, auch wenn der Kontext des Evangeliums nahe legt, dass die therapeutische Tätigkeit Jesu durch den Geist Gottes und nicht durch Beelzebul geschieht. Die wesentliche Aussage besteht in der daraus abgeleiteten logischen Verbindung: „Wenn…, dann….“. Die basileia erscheint als eine unverfügbare, transzendente Kraft der Veränderung, die sich aktiv in der Befreiung der Menschen von ihrer Besessenheit offenbart. Sie ist aber nicht an die Person und an die Tätigkeit Jesu gebunden. Die hypothetische Form der interpretativen Erklärung Jesu setzt vielmehr eine Dissoziation voraus. Die Unabhängigkeit der gegenwärtigen Veränderungskraft der Herrschaft der Himmel von der Person und von der Tätigkeit Jesu scheint für die mt Redaktion evident zu sein. Sie nimmt ein traditionelles Logion wieder auf, mit dem sie auf die bereits aktuelle reale Gegenwart der basileia tōn ouranōn vor der Zeit Jesu und auf ihre Leidensgeschichte seit den Tagen des Täufers verweist (11,12): 78 François Vouga Von den Tagen von Johannes dem Täufer an bis heute erfährt die Herrschaft der Himmel Gewalt, und Gewalttätige berauben sie. Wen die mt Redaktion mit den Gewalttätigen im Blick hat, die die basileia tōn ouranōn berauben, bleibt offen. Der mt Jesus führt aber mit führenden Vertretern der Synagoge Auseinandersetzungen, die eine erste annähernde Antwort auf diese Frage erlauben, weil sie sich ausdrücklich auf die basileia in Verbindung mit ihrem Missbrauch bzw. mit Szenarien der Gewalt beziehen. Die Lehre, die er aus seiner allegorischen Fassung des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern (21,33-46) ableitet, kündigt den Hohenpriestern und Pharisäern an, dass ihnen die basileia tou theou weggenommen werden wird, um einem anderen „Volk“ gegeben zu werden, das die Früchte der basileia hervorbringen wird (21,43). Eine der Begründungen dieses Protestes Jesu gegen die Unfruchtbarkeit der synagogalen Autoritäten findet sich entsprechend in der Reihe der sieben Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern (23,13-36). Die erste dieser Invektiven warnt die Adressaten vor deren Heuchelei, womit im MtEv eine objektive Selbsttäuschung und erst als Kollateralschaden ein subjektiver Mitbetrug von Anderen gemeint ist, 8 weil sie selbst in die basileia tōn ouranōn nicht eintreten und diese basileia vor den Menschen zuschließen (23,13). Hypothese 4: Die basileia tōn ouranōn wird bedingungslos als befreiende Gegenwart einer transzendenten Autorität Gottes verstanden, die sich in ihrer therapeutischen Wirkung zeigt und ihre Früchte darin trägt, dass Menschen aus zerstörerischen Herrschaftsbereichen von Mächten erlöst werden, die ihre Identität und ihre Handlungen entfremden und fremdbestimmen. Die Gegenwart der befreienden Autorität dieses transzendenten, ganz anderen Gottes ist insofern unverfügbar und frei, als sie umsonst geschenkt wird und an kein Volk und an keine Person gebunden ist. In seiner Auslegung der Evangelienharmanie erklärt Calvin, dass Mt mit der basileia tōn ouranōn die Erneuerung der Kirche meint, die Gott durch die doppelte Kraft seines Wortes und des heiligen Geistes neu schafft. 9 8 Die Rede von der „Heuchelei“ (23,28) und den „Heuchlern“ (6,2.5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.14.15.23.25.27.29; 24,51) spielt eine wichtige, kritische Rolle in der Auseinandersetzung des mt Jesus mit den pharisäischen Schriftgelehrten. P. Bonnard, L’évangile selon saint Matthieu (CNT I), Neuchâtel 1963 (=Genf 2002), 4, hat deutlich gezeigt, dass die mt „Heuchelei“ keine böse, subjektive Absicht beschreibt, Menschen durch eine Dissoziation dessen, was man sagt, von dem, was man denkt, zu betrügen. Vielmehr geht es um eine objektive Selbsttäuschung. Diese entsteht aus einer Verwechslung der rechtfertigenden Transzendenz Gottes mit der Immanenz des eigenen Glaubens als einer Religion, die Gott, sich selbst und den Nächsten instrumentalisiert. Vgl. F. Vouga, L’hypocrisie selon Matthieu et l’imbécillité de la raison technique selon Calvin, in: M. Boss / R. Picon (Hg.), Penser le Dieu vivant. Mélanges offerts à André Gounelle, Paris 2003, 281-297 und 486. 9 Calvin, Harmonie, 180. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 79 Hypothese 5: In der hermeneutischen Auseinandersetzung, die der mt Jesus mit den pharisäischen Autoritäten führt, ist die basileia tōn ouranōn, verstanden als Gegenwart einer befreienden Autorität der Transzendenz Gottes, Gegenstand eines Konflikts der Interpretationen. Zu den Voraussetzungen der Argumentation gehört, dass die Gottesherrschaft bereits gegeben und präsent war, bevor Johannes der Täufer und Jesus auftraten. Eine wichtige These hierbei lautet, dass sowohl die Unfruchtbarkeit als auch die Selbsttäuschung der pharisäischen Schriftgelehrten, die zur Tötung Jesu als angeblich falschen Propheten führte (23,29-32), auf den Missbrauch des Schlüssels zurückzuführen ist, der die Tür zur befreienden Wirkung der Gottesherrschaft hätte öffnen können. Hypothese 6: Von der gegenwärtigen Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn oder tou theou, die in der Verkündigung Jesu und in seiner therapeutischen Tätigkeit sichtbar wird, ohne exklusiv mit seiner Person verbunden zu sein, unterscheidet Mt als zukünftigen Horizont eine andere basileia. Das Kommen und Auftreten dieser zweiten Königsherrschaft wird für eine zukünftige Zeit, die unbestimmt bleibt, angekündigt oder erwartet. Es ist die basileia des Menschensohnes, in der Jesus auch noch einigen derer, die ihm jetzt zuhören, erscheinen wird (16,28). Es ist die basileia Jesu, in der die Zebedäussöhne nach dem Wunsch ihrer Mutter zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen sollen (20,21), und es ist die basileia seines Vaters, von der Jesus, den Tod vor Augen, sagt, dass er dereinst zusammen mit seinen Jüngern wieder von der Frucht des Weinstocks trinken wird (26,29). Unklar bleibt, ob die Verweise auf das Kommen des Menschensohnes in seiner basileia und der Termin Jesu mit seinen Jüngern in der Königsherrschaft seines Vaters auf die Vervollkommnung der Zeiten (28,20) oder auf die nachösterliche Zeit seiner Herrschaft („jede Autorität wurde mir gegeben im Himmel und auf Erden“, 28,18b) vorausblicken. Eindeutig setzen sie aber Jesu Tod und seine österliche Erscheinung voraus. 2. Raum - Die Universalisierung der Herrschaft Gottes und der Himmel Die mt Vorstellung der transzendenten Gegenwart der basileia tōn ouranōn oder tou theou ist einerseits an keine Person gebunden, auch nicht an die Person, an das Wort oder an die Taten Jesu. Genauso wenig ist sie an Orte gebunden. Sie besetzt auch keinen Raum. Man kann zwar in sie eintreten oder sich selbst daran hindern einzutreten, und es gibt Schlüssel, mit denen Menschen sie verschließen oder öffnen können, aber sie scheint einfach dort zu sein und umsonst gegeben zu werden, wo Männer, Frauen und Kinder sie empfangen. 80 François Vouga Der Veränderungskraft ihrer Gegenwart entspricht der dynamische Charakter ihrer geographischen Präsenz. Von der basileia tōn ouranōn spricht Mt zum ersten Mal, als Johannes der Täufer in der Wüste von Judäa verkündigt, dass sie nahe herbeigekommen ist (3,2). Sie nimmt ihren sichtbaren Anfang mit der Verkündigung Jesu in Galiläa (4,17). Jesus verlässt Nazareth und geht nach Kafarnaum am See, was die Erzählung durch das Erfüllungszitat von Jes 8,23 - 9,1 begründet, so dass er sofort die basileia tōn ouranōn „zum Meer hin, jenseits des Jordans, im Galiläa der Heiden“ predigt. Hier kommen erstmals nichtjüdische Adressaten in den Blick. Damit wird die Richtung einer Bewegung skizziert, die sich als konsequentes Programm erweisen wird. Die basileia tōn ouranōn ist an kein Land und an kein Volk gebunden, aber sie ist auch nicht geschichtslos oder bodenlos. Sie bekommt ihre geistige Heimat dadurch, dass die Worte des Propheten Jesaja ihre Erfüllung in der Verkündigung ihrer Gegenwart finden, und sie bekommt dadurch ihre Universalität, dass sie in ihrer Heimat nicht verwurzelt ist, sondern alle aufnehmen wird, die ihre Einladung und ihren Appell, sich verändern zu lassen, annehmen werden. Der Weg zu dieser Universalisierung kommt ausdrücklich im Kommentar Jesu nach seiner Begegnung mit dem Hauptmann in Kafarnaum zur Sprache (8,10-12): (10) Als Jesus dies (= die Worte des Hauptmanns) hörte, staunte er und sagte zu denen, die ihm folgten: Amen, ich sage euch, bei niemandem fand ich ein solches Vertrauen in Israel! (11) Ich sage euch, dass viele aus Ost und West kommen werden und sich mit Abraham, Isaak und Jakob in der Herrschaft der Himmel zu Tisch setzen. (12) Aber die Söhne der Königsherrschaft werden hinaus in die Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird das Heulen und das Klappern der Zähne sein. Beide Dimensionen, die Beheimatung der Herrschaft der Himmel in der jüdischen Tradition einerseits, und ihre Offenheit für jeden Menschen, der glaubt, andererseits werden im Symbol des gemeinsamen Tisches verbunden. Die Identitätsfiguren der biblischen Geschichte Israels, Abraham, Isaak und Jakob, sitzen schon. Damit entsteht kein Ausschliesslichkeitsanspruch und ebensowenig ein Besitzanspruch. Die Einladung geschieht bedingungslos, und eine angemessene Antwort besteht entsprechend in der existentiellen Haltung des Vertrauens. Mit dem - direkt oder indirekt von Paulus geerbten? - Begriff des Vertrauens zeichnet der mt Jesus die Grenze, die das Zu-Tisch-Sitzen in der Herrschaft der Himmel vom Draußenbleiben oder Hinausgeworfensein trennt. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 81 Hypothese 7: Wenn die Verantwortung, die die Gegenwart der basileia tōn ouranōn als Antwort herausfordert, als die existentielle Haltung des Vertrauens definiert wird, wie es in den Seligpreisungen bereits vorbereitet wird, dann versteht es sich von selbst, dass die drei großen Gleichnisse, die Jesus im Tempel erzählt, nicht den Sinn haben, das synagogale Judentum zu disqualifizieren. Das Gleichnis von den beiden Söhnen (21,28-32) stellt den Hohenpriestern und Pharisäern die Zöllner und Dirnen gegenüber (21,31). Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33-46) konfrontiert sie mit dem „Volk“, das die „Früchte des Reiches“ bringt (21,43), und das Gleichnis von der königlichen Hochzeit (22,1-14) bietet die neuen Gäste von den Straßen auf. Die Grenze, die diese drei Gleichnisse ziehen, verläuft zwischen Vertrauen und Unglauben, zwischen Erwählungsbewusstsein und Gerechtigkeit und zwischen der Transzendenz der Herrschaft der Himmel und der Immanenz der Religion. Hypothese 8: Der ekklēsia-Begriff des Paulus versteht die durch das Kreuzesereignis offenbarte Rechtfertigung durch Vertrauen, das heißt die bedingungslose Anerkennung jedes Menschen als Person unabhängig von seinen Eigenschaften in Kontinuität mit der Schrift (Gal 3,6-5,1). Ganz ähnlich verbindet die mt Vorstellung der basileia tōn ouranōn die jüdische Heimat einer Theologie des Vertrauens mit ihren eigenen universalistischen Konsequenzen. Es gibt im MtEv genauso wenig wie im paulinischen Denken eine Alternative zwischen einer innerjüdischen judenchristlichen Mission (Mt 10,5) und dem auf die Herrschaft des Gekreuzigten begründeten Universalismus der gegenseitigen Anerkennung (28,18-20), sondern sowohl die paulinische als auch die matthäische Hermeneutik finden in der Schrift, dass beides unzweideutig zusammengehört. In der matthäischen Erzählung mündet die jüdische Tradition in die Verantwortung der Jünger, das Glück der basileia tōn ouranōn mit der ganzen Menschheit zu teilen. Hypothese 9: Diese Bewegung der Öffnung und der universalen Verbreitung der basileia tōn ouranōn, die ihren Herrschaftsbereich von Judäa und Galiläa bis zu allen Nationen der Heiden erweitert, findet ihren programmatischen Ausdruck in der Rolle des Petrus, der die Schlüssel der basileia tōn ouranōn von Jesus erhält (Mt 16,19). Mt hätte sich in seiner literarischen Fiktion auch auf Jakobus statt auf Petrus berufen können. Petrus als Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, vertritt aber nicht nur eine multiethische Kirche gegenüber dem Judenchristentum, sondern er symbolisiert außerdem mit seiner apostolischen Autorität diese Kontinuität von Galiläa in die Universalität der hellenistisch-römischen Jesusbewegung. 10 10 Ein literaturwissenschaftlich und theologisch orientiertes Portrait des mt Petrus bietet C. Rohmer, L’homme de Pierre: la trajectoire immergée de l’apôtre dans l’Évangile de Matthieu, ETR 93/ 2018, 225-244. 82 François Vouga 3. Eintrittsbedingungen - Rechtfertigung und Verantwortung Dass die „Söhne der Königsherrschaft“, wie der Kommentar Jesu zum Vertrauen des Hauptmanns formuliert (8,10-12), weder einen Ausschließlichkeitsnoch einen Besitzanspruch auf die basileia haben, setzt voraus, dass die Eintrittsbedingungen anderen Modalitäten entsprechen als die Eigenschaft, zu einem erwählten Volk oder zur richtigen Religion zu gehören. In den Worten des mt Jesus erscheint nämlich nicht nur Israel als ein corpus mixtum, als eine Mischung von Guten und Bösen und von Gerechten und Ungerechten, sondern auch die Kirche, in welcher sich Söhne der basileia und Söhne des Bösen versammeln. Die Welt, in der der Menschensohn gesät hat, ähnelt einem Acker, in dem sich Weizen und Unkraut untrennbar mischen (13,24-30.36-43), und die basileia tōn ouranōn ist einem Netz vergleichbar, mit dem Fische aller Art gefangen werden (13,47-50). Genauso wie Paulus in seinen Apostelbriefen an die Gemeinden in Rom oder in Korinth (Röm 14,1-23; 1 Kor 3,5-23) befreien die mt Gleichnisse ihre Leser von der Aufgabe, im Netz der basileia tōn ouranōn zwischen den Würdigen und den Anderen zu unterscheiden und übereinander zu richten (Mt 22,1-14). Allerdings stellen sich zwei Fragen, auf die der Mt-Evangelist auch eine Antwort gibt: 1. Wie können die Leser in den befreienden Herrschaftsbereich des himmlischen Vaters hereinkommen? (3.1) Diese Frage stellt sich, weil mit 7,21 gilt: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in die Herrschaft der Himmel hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. 2. Wie können die Leser die Einladung in die befreiende Gegenwart der Herrschaft der Himmel verantwortlich wahrnehmen? (3.2). 3.1 Gerechtigkeit als Herrschaftsbereich der Umsonstheit Die Frage der Eintrittsbedingungen in die basileia tōn ouranōn wird zum ersten Mal in der Einführung in die Antithesen der Bergpredigt thematisiert (5,20-48). Diese erste Formulierung erhält dadurch einen programmatischen Charakter, dass sie die Möglichkeit, in die Herrschaft des Himmels hereinzukommen, mit dem Schlüsselbegriff der Gerechtigkeit 11 verbindet (5,20): Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht mehr übermäßig ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in die Herrschaft der Himmel eintreten. 11 Der Begriff der Gerechtigkeit kommt in Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32 vor. Zur Interpretation vgl. M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001, 61-63. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 83 Die Eintrittsbedingung der Zuhörer und Leser der Bergpredigt in die Herrschaft der Himmel definiert der mt Jesus durch eine „größere Übermäßigkeit“ ihrer Gerechtigkeit verglichen mit derjenigen der Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Formulierung der „größeren Übermäßigkeit der Gerechtigkeit“ kombiniert ein Oxymoron mit einer doppelten Paradoxie. „Mehr“ setzt die quantitative Vergleichbarkeit voraus, die durch die Vorstellung der Übermäßigeit jedoch ausgeschlossen wird, und die Verbindung der Gerechtigkeit mit der Übermäßigkeit baut einen Selbstwiderspruch auf, der nur durch eine paradoxe Neudefinition der Gerechtigkeit aufgelöst werden kann. Der Sinn kann folglich nur sein: Die Schriftgelehrten und Pharisäer vertreten eine Vorstellung der Gerechtigkeit, die sie hindert, in die basileia tōn ouranōn einzutreten, und die sie zugunsten einer anderen Vorstellung der Gerechtigkeit, die sich an keinem Maßstab messen lässt, aufbrechen müssen, wenn sie eintreten wollen. Hat der Redaktor des MtEv die großen Paulusbriefe gelesen und ihren Begriff der Gerechtigkeit verstanden und übernommen? Eine gedankliche Kontinuität lässt sich weder beweisen noch ausschließen. Die schöne Parabel vom Winzer, der Arbeiter für seinen Weinberg anstellt, gestaltet der mt Jesus zu einem Gleichnis der basileia tōn ouranōn um (20,1-15), das durch die Paradoxien der Erzählung die Gerechtigkeit der Güte Gottes als kreative Logik der Umsonstheit (oder der freien Gnade) 12 definiert. Der gerechte Lohn (20,4), den der Hausherr verspricht und jedem Arbeiter gibt, entspricht der bedingungslosen Berufung jedes einzelnen Menschen und symbolisiert eine universale Anerkennung jedes Einzelnen als Person. 13 Die der Gnade des Herren entsprechende Verantwortung besteht in der Bereitschaft, vom System des Tauschs, das die Arbeiter der ersten Stunde vertreten, in den Geist der Gabe zu wechseln, der von einer umsonst gegebenen Rechtfertigung im Vertrauen lebt. Der Gnadencharakter der matthäischen Gerechtigkeit findet sich wieder in der Warnung vor ihrer Verkehrung in die Heuchelei (6,1-18). Ethisch betrachtet 12 Klaus Winterhoff, der meinen Text gelesen hat, schlägt vor, Umsonstheit durch den klassischen theologischen Begriff der freien Gnade (Karl Barth) zu ersetzen. Martin Stiewe und ich hatten den Begriff der Umsonstheit gebildet, weil uns ein deutschsprachiges Äquivalent für das französische gratuité fehlte. Entscheidend war für uns, mit einem von „umsonst“ abgeleiteten Substantiv arbeiten zu können, das den Gegensatz zwischen dem System des Tausches und dem des Geistes der Gabe (französisch: esprit du don) verdeutlichen konnte. Zur kritischen Auseinandersetzung mit M. Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, Paris 1925 vgl. J. T. Godbout und A. Caillé, L’Esprit du don, Paris / Montréal 1992; M. Hénaff, Le prix de la vérité. Le don, l’argent, la philosophie, La couleur des idées, Paris 2002. 13 C. Rohmer, La pratique de la justice dans l’Évangile de Matthieu: pour une reprise des débats, ETR 94/ 2019, 581-596: Mt entfaltet narrativ und im Paradigma der Berufung (Mt 20,1-15) das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes, die die Paulusbriefe als Interpretation des Ereignisses der Kreuzesoffenbarung darstellen. 84 François Vouga unterscheiden sich die Heuchler von den Gerechten nicht: Sie geben Almosen, beten und fasten. Die Trennungslinie läuft auf der Ebene der geistigen, existentiellen Haltung. Die Jünger Jesu vertrauen auf eine freie Reziprozität mit ihrem himmlischen Vater, der ins Verborgene sieht, während die Heuchler ihre Gerechtigkeit auf die Menschen hin ausrichten und ihren Lohn entsprechend nur von ihnen und rein immanent erhalten. Kann man so erklären, dass Johannes der Täufer auf dem Weg der Gerechtigkeit kam, aber die Hohenpriester und Pharisäer nicht mit Vertrauen antworteten und es später auch nicht bereuten, während die Zöllner und die Prostituierten glaubten (21,32)? Hypothese 10: Als verantwortliche Antwort auf die gute Nachricht von der nah gewordenen Gegenwart der Befreiungskraft der Herrschaft der Himmel und als Eintrittsbedingung in seinen Herrschaftsbereich lädt der Redaktor des MtEv seine Leser zu einer Gerechtigkeit ein, die er im Laufe der narrativen Fiktion seines Evangeliums als das Vertrauen in die rechtfertigende Umsonstheit des himmlischen Vaters definiert. 14 Hypothese 11: Die Definition der Eintrittsbedingungen in die Herrschaft der Himmel zu Beginn der Antithesen der Bergpredigt (5,20) findet ihre sachliche Entsprechung in der abschließenden Zusammenfassung (5,48): Ihr werdet vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Da die Vollkommenheit des himmlischen Vaters in der sechsten Antithese paradox dadurch beschrieben wurde, dass er seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und auf Gerechte und Ungerechte regnen lässt, versteht der Leser, dass die Vollkommenheit als bedingungslose Anerkennung der Personen unabhängig von ihren Eigenschaften (in der matthäischer Sprache: als Freundes- und als Feindesliebe, 5,43-47) und folglich als Ende der Vollkommenheitsideale verstanden werden soll. Die Redestücke, die das matthäische Kirchenverständnis entfalten (16,13- 20,34), nehmen die Frage der Eintrittsbedingung in die basileia tōn ouranōn unter zwei verschiedenen Perspektiven wieder auf. Zwei komplementäre Szenen ergänzen sich gegenseitig. (a) Die Metapher der Kinder lädt positiv ein, die Bedingungslosigkeit der freien Gnade wahrzunehmen, und sie verdeutlicht den Vertrauenscharakter einer verantwortlichen Antwort (19,14): 15 14 Die matthäische Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei kann als anthropologisch-theologisches Äquivalent der in Röm 4,2 formulierten Unterscheidung gelesen werden: Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt wurde, hat er Ruhm - aber nicht vor Gott. 15 Kinder sind in den Gesellschaften der hellenistischen Antike dadurch gekennzeichnet, dass sie keine religiöse Leistungen erbringen können, so A. Lindemann, Die Kinder und Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 85 Jesus sagte: Lasst die Kinder und hindert sie nicht, zu mir kommen, denn solchen gehört die Herrschaft Gottes. (b) Negativ warnt der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern, der auf die Szene mit dem reichen Jüngling folgt, vor der Illusion, sich selbst immanent retten zu wollen und den Eingang in den transzendenten Herrschaftsbereich der befreienden Umsonstheit der Gnade Gottes mit dem verzweifelten und unglücklichen Versuch, Sinn und Sicherheit der Existenz zu kaufen, vereinbaren zu können (19,23-26): (23) Jesus sagte seinen Jüngern: Amen, ich sage euch dass ein Reicher in die Herrschaft der Himmel schwer eintreten wird. (24) Wiederum sage ich euch, einfacher ist es, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr eintritt als ein Reicher in die Herrschaft Gottes. (25) Gehört habend waren die Jünger sehr bestürzt, sagend: Wer kann dann gerettet werden? (26) Sie angeblickt habend sagte ihnen Jesus: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott ist alles möglich. Hypothese 12: Das symmetrische, gegensätzliche Paar der Einladung mit der positiven Symbolik der Kinder (19,14) einerseits und der Warnung mit der negativen Symbolik der Reichen (19,23-26) andererseits wiederholt mit zwei anthropologischen Variationen die beiden Aspekte der paradoxen, theologischen Definition der Gerechtigkeit als programmatische Formulierung der Eintrittsbedingung in die Herrschaft der Himmel (5,20). die Gottesherrschaft. Markus 10,13-16 und die Stellung der Kinder in der späthellenistischen Gesellschaft und im Urchristentum“, WuD NF 17/ 1983, 77-104, wiederveröffentlicht in: ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte (WUNT 241), Tübingen 2009, 109-134. 86 François Vouga 3.2 Die paradoxen Hierarchien der Verantwortung als Ende der Größenideale Logisch korrekt würde man denken, dass notwendigerweise der Gedanke der Umsonstheit und die Definition der evangelischen Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale (5,48) mit jeder hierarchischen Vorstellung unvereinbar ist. Die in 5,19 aufgeworfene Frage nach der „Größe“ in der basileia tōn ouranōn dürfte dann eigentlich gar nicht gestellt werden, und die Frage der Jünger, wer der größte in der Herrschaft der Himmel sei (18,1), schiene sicher fehl am Platz, wenn nicht Jesus in der Bergpredigt zuvor eine erste Antwort gegeben hätte (5,17-19): (17) Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. (18) Denn wahrlich, ich sage euch: - Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein Jota und nicht ein Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (19) Wer also ein einziges dieser kleinsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Kleinste heißen in der Herrschaft der Himmel. Wer aber sie tun und lehren wird, der wird groß heißen in der Herrschaft der Himmel. Die einleitende Beseitigung des möglichen Missverständnisses nimmt die Erfüllungszitate des Anfangs des Evangeliums (1,22-23; 2,15.17-18.23; 4,14-16, vgl. 2,5-6; 3,3; 4,4.6.10) hermeneutisch wieder auf. Die Herrschaft der Himmel ist nicht ohne Heimat, und Jesus ersetzt das Gesetz und die Propheten, das heißt das Wort Gottes, das im Kanon der Schriften Israel steht, nicht, sondern gibt ihnen ihren Sinn und ihre wahre Bedeutung, indem er sie nach der Intention des Autors auslegen wird. Daraus folgt für die matthäische Schriftauslegung, dass (13,52) jeder Schriftgelehrte 16 , der zum Jünger durch und für die Herrschaft der Himmel gemacht wurde, einem Hausherr vergleichbar ist, der aus seinem Schatz Neues und Altes holt. 16 Als christliche Ämter kennt Matthäus Propheten, Weise und Schriftgelehrte (23,34). Vorausgesetzt ist, dass die Schriftgelehrten dadurch qualifiziert werden, dass sie als pharisäische oder christliche Exegeten (13,52; 23,34) arbeiten. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 87 Fundiert ist dieser hermeneutische Grundsatz in der betont an den Anfang der Antithesen gestellten und christologisch begründeten Gewissheit, dass eher die ganze Schöpfung vergeht, als dass das Wort Gottes, wie es in der durch die Autorität der Christusauslegung erfüllten Schrift enthalten ist, seine Festigkeit verlieren würde (5,18). 17 Daraus folgt für die matthäische Ekklesiologie, dass die Herrschaft der Himmel Lehrende braucht, Propheten, Weise und Schriftgelehrte, die das Gesetz als Ausdruck des Willens Gottes treu und vollständig auslegen und predigen werden. 18 Der deutliche Akzent der beiden symmetrischen, kasuistischen Sätze auf die Lehrtätigkeit fällt auf: Als der Kleinste wird derjenige bezeichnet werden - immerhin in der Herrschaft der Himmel -, der auch nur ein kleinstes Gebot auflöst und die Menschen so lehrt. Groß (nicht der Grösste! ) wird dagegen genannt werden, wer es tut und lehrt. Verwiesen wird auf eine Verantwortung der christlichen Lehrer nicht nur in den Gemeinden, sondern vor der ganzen Menschheit (5,19). Der Sinn des matthäischen Bestehens auf der Beachtung und der Vermittlung der kleinsten Gebote (5,19) erschließt sich durch die direkt anschließende Begründung („denn“, 5,20). Diese Begründung unterscheidet die „mehr übermässige“, ganz andere Gerechtigkeit, vom mt Jesus als Erfüllung der Schrift angekündigt (5,17) und in den sechs Antithesen (5,21-48) paradigmatisch vorgestellt, von der immanenten Gerechtigkeit der pharisäischen Schriftgelehrten, die er als Heuchelei kennzeichnen wird. Hypothese 13: Die Größe in der Herrschaft der Himmel entsteht nicht aus einer genauen und vollständigen Beachtung des Buchstabens der einzelnen Vorschriften des Gesetzes, als ob die Auflösung oder die Beachtung der kleinsten Gebote quantitativ gedacht wäre. Gemeint ist vielmehr ein qualitativer Systemwechsel weg von einer Logik des Tauschs, der sich - wie die Verwechselung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei zeigt - immanent verrechnen lässt, hin zum Geist der Gabe als Herrschaftsbereich der Umsonstheit. Hypothese 14: Der Lehrdialog zwischen Jesus und den Jüngern über die Frage, wer der Größere in der basileia tōn ouranōn sei, bringt als notwendige Ergänzung eine paradoxe Neudefinition von Größe (18,1-4): 17 Calvin, Harmonie, 157. 18 „La raison de ceste manière de parler est, pource que Dieu en renouvelant le monde par la main de son Fils a parfaitement ordonné l’estat de son Royaume. Ainsi doncques, Christ dit que quand son Eglise sera renouvelée, il n’y faudra recevoir pour Docteurs, sinon ceux qui seront fidèles expositeurs de la Loy, et mettront peine de maintenir icelle en tout et pour tout“, so Calvin, Harmonie, 157. 88 François Vouga (1) In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus, sagend: Wer ist denn der Größere in der Herrschaft der Himmel? (2) Und, ein Kind herbeigerufen habend, Stellte er es in ihre Mitte (3) und sagte: Amen ich sage euch, Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr in die Herrschaft der Himmel nicht eintreten. (4) Also: Wer sich erniedrigt wie dieses Kind, ist der Größere in der Herrschaft der Himmel. Positiv und mit Radikalität verhindert die direkte Antwort jede denkbare Wiedereinführung von Hierarchien in den Herrschaftsbereich der Himmel. Diese Antwort besteht darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die symbolische Realpräsenz des Kindes lenkt. Damit verhindert sie auch die Rückkehr von der geschenkten Freiheit des Geistes der Gabe in die immanente Logik des Tausches und die unglückliche Verwandlung der Gerechtigkeit in Heuchelei. Schlussthese: Das Glück der Gerechtigkeit und der Verantwortung des Vertrauens als Herrschaftsbereich der Himmel und als Wahrheit der Existenz Die beiden Gleichnisse vom Schatz im Acker (13,44) und von der Perle (13,45- 46) lassen keinen Zweifel: Das Ziel des MtEv besteht im Glück und in der Freude der Menschen. Die gute Nachricht der nah gewordenen basileia tōn ouranōn, die Johannes der Täufer in der judäischen Wüste verkündigt (3,2) und die Jesus universalisiert (4,17), führt literarisch und innerhalb der jüdischen Auslegungstraditionen die doppelte Frage nach der Wahrheit Gottes und der Wahrheit der menschlichen Existenz wieder ein. In narrativer Form entfaltet die mt Erzählung eine Antwort, die die Gegenwart der Herrschaft Gottes mit dem bereits in den Paulusbriefen durchdachten Begriff der Gerechtigkeit als adäquates Verhältnis zu Gott 19 - als Gabe - und mit der Einladung zum Vertrauen in den himmlischen Vater - als verantwortliche Antwort - interpretiert. Und der Evangelist bekennt (11,11): Kein Größerer als Johannes der Täufer ist unter von Frauen Geborenen aufgetreten. Aber der Kleinere in der basileia tōn ouranōn ist größer als er. 19 F. C. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, 1864, 132-135.
