eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/46

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2020
2346 Dronsch Strecker Vogel

Hilastērion in Röm 3,21–26

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2020
Wolfgang Kraus
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Hilastērion in Röm 3,21-26 Wolfgang Kraus Bei der Interpretation von Röm 3,21-26, insbesondere der Verse 25-26, in denen sich der Begriff hilastērion findet, sind verschiedene Ebenen von Fragen zu unterscheiden. Neben der Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund für hilastērion sind folgende Entscheidungen zu fällen: 1. Welche traditionsgeschichtlichen Vorstellungen sind in V.25b-26a mit paresis, progegonota hamartēmata und anoche angesprochen und wie ist der syntaktische Anschluss mit dia zu verstehen? 2. Wie ist die doppelte, fast gleichlautende Formulierung zu interpretieren, wonach Gott seine Gerechtigkeit dadurch erweist, dass er (V.25a) Jesus zum hilastērion aufstellt bzw. (V.25b-26a) paresis mit vorhergeschehenen Sünden übt / geübt hat? 3. Handelt es sich in V.25f. um eine von Paulus selbst formulierte Aussage oder nimmt er traditionelles Material auf, etwa ein Überlieferungsstück über dessen Umfang und Sitz im Leben zu diskutieren wäre. 4. Wie ist Röm 3,21-26 im Kontext des Römerbriefes und weiterer paulinischer Aussagen zum Tod Jesu zu verorten: welche inhaltlichen Beziehungen bestehen zu Röm 1-3 und zu Röm 5 sowie zu 2Kor 5? In Röm 3,25f. ist nahezu jedes Wort umstritten: Geht es bei proetheto um „öffentlich aufstellen“ oder um „vorherbestimmen“? Worauf ist dia [tēs] pisteōs bezogen: auf hilastērion oder en tō autou haimati? Steht en tō autou haimati metonymisch für den Tod Jesu oder ist ein konkreter Bezug auf Blut bzw. einen Blutritus zu berücksichtigen? Ist endeixis als „Beweis“ oder „Erweis“ zu verstehen? Wird durch dia mit dem Akkusativ ein Grund angegeben oder ein Ziel: „wegen“ oder „um willen“? Bedeutet paresis „Vergebung / Erlass“ oder „Übersehen / Hingehenlassen“? Handelt es sich bei den progegonota Prof. Dr. Wolfgang Kraus, Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg, Göttingen und Erlangen. 1980-1990 Vikar und Pfarrer der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. 1990 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation für das Fach Neues Testament ebenda. 1996-2004 Professor an der Universität Koblenz-Landau, seit 2004 Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Theologiegeschichte des frühen Christentums, Hebräerbrief, Septuaginta, christlichjüdisches Gespräch, Dokumentation zerstörter Synagogen in Europa. Zusammen mit M. Karrer, S. Kreuzer u. a. Leitung des Forschungsprojektes Septuaginta Deutsch: LXX- Übersetzung 2009, Erläuterungen und Kommentare 2011; Sammelbände zur Septuaginta; bis 2020 Herausgeber von Septuagint and Cognate Studies (SBL.SCS). Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 102 Wolfgang Kraus hamartēmata um Sünden vor der Taufe oder umfassender um die vor dem Kommen Christi oder um Sünden der Völker, die nicht durch Israels Kult beseitigt wurden? Ist mit anochē Gottes Langmut und Vergebungsbereitschaft (parallel zu makrothymia) bezeichnet oder Gottes Zurückhaltung, was dann auch einen zeitlichen Faktor beinhalten kann? Worauf bezieht sich pros ten endeixin tēs diakiosynēs en tō nyn kairō: ist damit die Jetztzeit wie in V.21 (nyni de) im Unterschied zu der Zeit, von der Röm 1,18-3,20 sprach, gemeint? Wie ist dikaiosynē theou in V.25 und 26 zu verstehen, als Gottes Eigenschaft oder Ausdruck von Gottes Heilshandeln oder beides? Wie ist eis to einai dikaion kai dikaiounta anzuschließen: geht es um Gottes Gerecht-Sein und Gottes rechtfertigendes Handeln als zwei zu unterscheidende Aspekte (kai wäre dann koordinierend zu verstehen) oder ist das kai epexegetisch zu interpretieren (dann wäre der Sinn „Gott ist gerecht indem er rechtfertigt“)? Alle diese Fragen, die noch dazu miteinander zusammenhängen, sachgemäß behandeln zu wollen erforderte eine Dissertation. 1 Die jüngste mir bekannt gewordene breite Erörterung des Textes stammt von Stephen Hultgren. 2 In dem vorliegenden Beitrag muss eine Beschränkung auf wenige Aspekte erfolgen. 1. Hilastērion als Weihegeschenk? Stefan Schreiber hat eine Idee aufgegriffen, die vor ihm schon Adolf Deißmann (er hat sie jedoch später revidiert) und Kenneth Graystone 3 vertreten haben, wonach hilastērion in Röm 3,25 weder vom sühnenden Märtyrertod, noch vom alttestamentlichen Kult, insbesondere der kapporät, her zu verstehen sei, son- 1 S. W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Untersuchungen zum Umfeld der Sühnevorstellung in Röm 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 2 S. Hultgren, Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part I: The Convergence of Temple and Martyrdom Theologies, JThS 70/ 2019, 69-109; ders., Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part II: Atonement in the Old Testament and in Romans 1-5, JThS 70/ 2019, 546-599. Er hat sich umfassend mit der Problematik beschäftigt und dabei auch die Arbeit von D. P. Bailey, Jesus as the Mercy Seat. The Semantics and Theology of Paul’s Use of Hilastērion in Rom 3: 25, Diss. masch. Cambridge 1999 ausgewertet (jetzt zugänglich unter https: / / doi.org/ 10.17863/ CAM.17213). Vgl. zur Sache auch C. Eschner, Gestorben und hingegeben „für“ die Sünder, Bd. I (WMANT 122), Neukirchen-Vluyn 2010, 45-51; J. Frey, Die kultische Deutung des Todes Jesu, in: M. Hüttenhoff / W. Kraus / K. Meyer (Hg.), „… mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu (BThS 38), Göttingen 2018, 97-117, 104-110. 3 A. Deißmann, ILASTERIOS und ILASTERION. Eine lexikalische Studie, ZNW 4/ 1903, 193- 212: 195 f.; K. Graystone, ILASKESTHAI and Related Words, NTS 27/ 1981, 640-654, 653: „votive gift“. Hilastērion in Röm 3,21-26 103 dern, wie im profangriechischen Bereich durchgängig üblich, als „Weihegabe“ oder „versöhnendes Weihegeschenk“. 4 Es gibt Gründe, die mich an dieser Herleitung zweifeln lassen. 5 Fragen wir aber zunächst nach den Gründen, die Stefan Schreiber zu dieser Ansicht führen: 6 1. Der Versuch hilastērion von der kapporät her zu verstehen ist nach Schreiber deswegen schwierig, weil diese Referenz nicht eindeutig sei: In Num 7,89 sei sie kein Sühneort, sondern der Ort, an dem Gott erscheint. In Ez 43 sei ein anderer Ort damit bezeichnet, nämlich die Einfassung des Brandopferaltars. In Am 9,1 sei der Bezug unklar. 2. Mit der Zerstörung des ersten Tempels sei auch die Bundeslade mitsamt ihrer kapporät nicht mehr existent. 3. Jesus als hilastērion sei zugleich der Ort, an den das Blut appliziert werde. 4. Es sei unklar, ob die Anspielung sich auf die kapporät selbst oder die dort stattfindenden Riten 4 S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97/ 2006, 88-110. S. dazu die Kritik von A. Weiß, Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilastērion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105/ 2014, 294-302. S. dazu die Replik von S. Schreiber, Weitergedacht: Das versöhnende Weihegeschenk in Röm 3,25, ZNW 106/ 2015, 201-215. 5 Vgl. dazu auch W. Kraus, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21-26, in: L. Doering / H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-216, 202f. 6 Eine Herleitung vom „sühnenden Tod der Märtyrer“, wie sie etwa in neueren Kommentaren von Klaus Haacker und Eduard Lohse vertreten wird, zieht Schreiber nicht in Erwägung. Zur Problematik dieser Herleitung s. Kraus, Erweis, 203-205. Prof. Dr. Wolfgang Kraus , Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg, Göttingen und Erlangen. 1980-1990 Vikar und Pfarrer der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. 1990 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation für das Fach Neues Testament ebenda. 1996-2004 Professor an der Universität Koblenz-Landau, seit 2004 Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Theologiegeschichte des frühen Christentums, Hebräerbrief, Septuaginta, christlichjüdisches Gespräch, Dokumentation zerstörter Synagogen in Europa. Zusammen mit M. Karrer, S. Kreuzer u. a. Leitung des Forschungsprojektes Septuaginta Deutsch: LXX- Übersetzung 2009, Erläuterungen und Kommentare 2011; Sammelbände zur Septuaginta; bis 2020 Herausgeber von Septuagint and Cognate Studies (SBL.SCS). 104 Wolfgang Kraus beziehe. 5. Die Adressaten des Röm, die weitgehend dem heidenchristlichen Lager zugehörten, könnten die Anspielung nur schwer verstehen und wüssten nichts von den an der kapporät vollzogenen Riten und den damit verbundenen Details. 6. Auch jene, die die Anspielung verstanden hätten würden wohl Probleme damit haben, dass der Jom Kippur am Tempel durch Jesus abgelöst werden solle. Das sei für Paulus als einen im Judentum fest verwurzelten Theologen kaum vorstellbar. 7. Da Paulus auch sonst Motive aus der griechisch-römischen Kultur verwende, frage es sich, warum nicht auch bei hilastērion der Sinn von Weihegeschenk angenommen werden solle. Zu 1. Das hilastērion ist in der LXX nicht nur der Ort, an dem Sühneriten vollzogen werden, es ist auch der Ort der Gottespräsenz. Am hilastērion wird „Sühne“ erwirkt, dort ist Gott präsent. 7 Es geht jedoch stets um einen Ort. Hilastērion ist der Ort, wo hilaskesthai geschieht. 8 Das hilastērion als Ort größter Gottesnähe steht pars pro toto für das Heiligtum als Ort, an dem Gott anwesend ist. Das gilt auch für Ez 43, denn der Brandopferaltar ist im ezechielischen Verfassungsentwurf das Zentrum des Heiligtums. Es gibt dort keine Bundeslade. 9 Dabei will beachtet werden, dass das Verbum (ex)hilaskomai ein breites Spektrum umfasst und die Übersetzung mit „entsühnen“ oder „Sühne wirken“ (englisch: to atone) an manchen Stellen als zu unspezifisch gelten muss: 10 In Gen 32,21 ist Esau direktes Objekt von exhilaskomai: Jakob will mit Geschenken Esau „besänftigen“. Außer in Sach 7,2; 8,22; Mal 1,9 ist Gott in der LXX niemals Objekt von (ex)hilaskomai. An den drei genannten Stellen allerdings soll - wie im Profangriechischen üblich - Gott „besänftigt“ werden. In Lev 16,19-20 LXX ; Num 31,50 LXX ; Dtn 21,8 LXX ; Ez 43,20.22.26; 45,18 LXX sind der Altar oder das Heiligtum direktes Objekt der Sühnehandlung. Hier ist „entsühnen / Sühne wirken“ gleichbedeutend mit „reinigen / weihen“. 11 In Ex 32,12 LXX betet Mose zu Gott: 7 Ich verwende das Wort „Sühne“ in Ermangelung eines besseren Begriffs, wohl wissend, dass es sich um theologische Beschreibungssprache und nicht um einen biblischen Ausdruck handelt. 8 So mit Hultgren, hilastērion II, 564 Fn. 98 unter Hinweis auf 1Chr 28,11, wo bet ha-kapporät griechisch mit ho oikos tou exhilasmou wiedergegeben wird, d. h. als Ort, an dem exhilasmos stattfindet. 9 Am 9,1 LXX ist zu erklären aus einer Verlesung (Buchstabenvertauschung) von kptr zu kprt (vokalisiert: kaporät). Es ist jedoch auch dort ein Teil des Heiligtums. 10 Zur Sache s. Hultgren, hilastērion II, 551-561; C. Eberhart, Beobachtungen zu Opfer, Kult und Sühne in der Septuaginta, in: W. Kraus / M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta - Text, Wirkung, Rezeption (WUNT 325), Tübingen 2014, 297-314; ders., Kult und die Begegnung mit dem einen Gott in der Septuaginta, in: H. Ausloos / B. Lemmelijn (Hg.), Die Theologie der Septuaginta / Theology of the Septuagint (LXX.H 5), Gütersloh 2020, 165-242. 11 S. dazu Eberhart, Beobachtungen, 312 f; ders., Kult, 189 f; anders D. Büchner, Exhilaskesthai: Appeasing God in the Septuagint Pentateuch, JBL 129/ 2010, 237-260; dazu jedoch kritisch: Hultgren, hilastērion II, 556-558. Hilastērion in Röm 3,21-26 105 hileōs genou epi tē kakia tou laou sou (sei gnädig gegenüber dem Frevel deines Volkes). In V.14 erfolgt Gottes Reaktion: kai hilasthē kyrios peri tēs kakias (und der Herr wurde gnädig gegenüber den Freveln). Hier heißt hilaskomai „gnädig werden“. Wenn hilaskomai „gnädig werden“ heißen kann, dass ist das hilastērion der Ort, an dem sich Gnade ereignet: der „Gnadenort“. Das hat auch Philon so verstanden: Das hilastērion ist ein symbolon (…) tēs hileō tou theou dynameōs (ein Symbol der gnädigen Kraft Gottes; Philon, mos. 2,96, fug. 100). 12 Zu 2. Auch in der Zeit, in der der Hebräerbrief geschrieben wurde, gab es keine kapporät im Allerheiligsten mehr. Gleichwohl findet sich durchgängig eine direkte Anspielung auf das irdische Heiligtum. Es handelt sich auch nicht um einen Bezug auf den zweiten bzw. den herodianischen Tempel, sondern auf die Stiftshütte. Der Bezug ist literarischer Natur. Gleiches dürfte für Paulus gelten. Zu 3. Dieser Einwurf wurde schon vielfach entkräftet. Wir haben es mit Metaphern zu tun. Auch im Hebr ist Jesus Hoherpriester und Opfer zugleich (vgl. Hebr 9,11f). Zu 4. Diese Alternative erscheint mir aufgrund der Formulierung in V.25 nicht angemessen zu sein. Jesus wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati: d. h. kraft seines Todes oder durch seinen Tod. Zu 5. Es handelt sich, wie aus Röm 14 f. hervorgeht, bei der römischen Gemeinde nicht allein um ‚Heidenchristen‘. 13 Gleichwohl: Auch der an eine überwiegend völker-christliche Gemeinde in Korinth gerichtete 1Clem verwendet alttestamentliches Material unter der Voraussetzung, dass seine Adressaten dies verstehen. Und falls der Hebr an Völkerchristen gerichtet wäre (was die Mehrzahl der deutschen Ausleger annimmt - m. E. jedoch zu Unrecht), müsste man das auch hier sagen. Wir müssen davon ausgehen, dass grundlegende biblische Kenntnisse bei allen Jesusgläubigen anzutreffen sind. 14 Zu 6. Kritik am Tempelkult findet sich auch im AT und im antiken Judentum. Dass dieser wirklich Sündenvergebung bringt, wird von den Qumranern bestritten. Wenn es stimmt, dass die „Hellenisten“ um Stefanus kultkritisch eingestellt waren (s. Apg 6), gilt das auch für eine Gruppe in der frühen Christenheit. Dass es frühchristliche Kultkritik gab, geht auch aus anderen Stellen im NT hervor, sie kann sich wohl auf Jesus selbst berufen (vgl. die verschiedenen Formen des Tempelwortes). 15 Dass die Position des Paulus bezüglich der Tora für bestimmte Juden ein Problem darstellt, ist eindeutig. Ganz gleich, wie man Röm 10,4 ver- 12 S. dazu Hultgren, hilastērion II, 565 Fn. 103. 13 Ich benutze den Begriff nur ungern. Besser ist: Gläubige aus den Völkern. 14 Vgl. Frey, Deutung, 106. 15 Vgl. zu diesen Fragen W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, 44-55. 106 Wolfgang Kraus steht: es handelt sich um eine Relativierung. Gesetz und Propheten bezeugen nach Röm 3,21 die Gerechtigkeit Gottes, die in Christus erschienen ist - jenseits von der Tora. Auch wenn Paulus seine Position zur Tora in Gal 3 im Röm korrigiert hat, und auch wenn er in Röm 9-11 an der bleibenden Erwählung Israels im Unterschied etwa zu Gal 4,21-31 festhält, bleibt er dabei, dass die endzeitliche Rettung über Jesus erfolgt. 16 Zu 7. Es ist mit der Aufnahme von Motiven aus dem griechisch-römischen Bereich bei Paulus nicht so einfach: Außer der Allerweltsweisheit in 1Kor 15,33 - ganz gleich, ob man den Ausspruch Menander oder Euripides zuschreibt - gibt es in seinen Briefen kein einziges Zitat aus griechisch-römischer Literatur. Die im Hellenismus verbreitete Vorstellung von Paideia findet sich auch in jüdischer Literatur: Prov, Sir. Das Loskauf-Motiv lässt sich auch aus dem AT herleiten. Somit sind die Gründe, die Stefan Schreiber dazu geführt haben, hilastērion nicht aus dem Umfeld des alttestamentlichen Kultus abzuleiten, m. E. nicht durchschlagend. Daneben gibt es nun aber auch erhebliche Probleme mit der Anwendung des Weihegeschenk-Motivs auf den Tod Jesu: 1. Warum verwendet Paulus für eine so spezifische, von Schreiber selbst als „Ungeheuerlichkeit, nahezu Blasphemie“ 17 bezeichnete Aussage den seltenen Ausdruck hilastērion und nicht die sehr viel geläufigeren Begriffe wie anathema, charisterion, eucharisterion oder dōron? Diese Frage wird von Schreiber in seinem Beitrag von 2006 selbst gestellt und mit dem Hinweis auf hilaskomai (Med.) beantwortet: Das Verb „bedeutet ‚die Gottheit für sich wieder geneigt machen‘; das Suffix -tērion bezeichnet den Ort des Geschehens (BDR § 109,10) - etymologisch ist das hilastērion also ein ‚Geneigtmach-Ort‘.“ 18 Es stellt sich die Frage, ob die Leser des Röm dies nachvollziehen konnten. 2. Im jüdischen Bereich lautet das Stichwort für Weihegabe nicht hilastērion, sondern anathema oder dōron, 19 außer vielleicht in JosAnt16,182. Doch diese Stelle ist kein wirklich eindeutiger Beleg für Weihegeschenk. Wenn man 16 Vgl. dazu W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 2 2004, 295-333.359-361. Wie diese Sicht des Paulus in der heutigen Theologie zum Tragen kommen kann, ist mit einer ganz anderen Frage verbunden, nämlich der nach der Grenze der paulinischen Aussagen in Röm 9-11 und 15. S. hierzu W. Kraus, Die Bedeutung von Röm 9-11 im christlich-jüdischen Dialog, in: F. Wilk / R. Wagner (Hg.), Between Gospel and Election. Explorations in the Interpretation of Romans 9-11 (WUNT 257), Tübingen 2010, 205-223. 17 Schreiber, Weihegeschenk, 106. 18 Schreiber, Weihegeschenk, 107. 19 2Makk 2,13 anathema; Jdt 16,19 anathema; Josephus ant. 14,34-36 dōron; 18,18f. anathema; Lk 21,5 anathema. Die bei Schreiber genannten Stellen 1Chr 28,12 und slHen 45,2 sind m. E. nicht einschlägig. Hilastērion in Röm 3,21-26 107 hilastērion dort nicht adjektivisch, sondern substantivisch liest, wäre es durchaus möglich zu übersetzen: „[Herodes] ließ ein hilastērion errichten als Denkmal aus leuchtendem Marmor“, womit er einem römischen Publikum das Verhalten des Herodes erklärt. Hilastērion lässt sich hier auch als „Sühnemal“ verstehen und muss nicht mit „Weihegeschenk“ wiedergegeben werden. Die eindeutigen Belege für hilastērion als Weihegeschenk stammen alle aus dem nicht-jüdischen Bereich. 3. Wenn man hilastērion auch in Ex 25,16 LXX subjektivisch versteht, dann geht es bei hilastērion epithema um einen „Sühneort als Deckplatte“ und nicht um eine „sühnende Deckplatte“. 20 Damit würden im jüdischen Bereich die Belege mit adjektivischem Gebrauch auf 4Makk 17,22 schrumpfen. 21 Das bedeutet, dass alle (! ) anderen substantivischen Belege aus dem jüdischen Bereich entweder die kapporät oder einen anderen Ort im Blick haben, der mit kultischen Vollzügen in Beziehung steht. Dies gilt auch für den einzigen weiteren neutestamentlichen Beleg: Hebr 9,5. 4. Adressat eines Weihegeschenkes ist immer die Gottheit. Wenn Paulus in Röm 3 diesen Bezug umkehren wollte und in paradoxer Weise die Menschen als Empfänger eines „versöhnenden Weihegeschenkes“ adressieren wollte, würde man dann nicht erwarten, dass er dies deutlicher formuliert? So wie die Lage jetzt ist, wird man sagen müssen: Der Bezug auf das hilastērion als ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen ist nicht hinreichend eindeutig. 22 Für das Verständnis des hilastērion in der Rede des Dion Chrysostomos (or. 11.121) hat Schreiber in seinem Beitrag von 2015 ausgeführt: „Durch die Gabe des kostbaren Weihegeschenks wird die geforderte Gerechtigkeit erfüllt: Zum Ausdruck kommen das Eingeständnis der eigenen Niederlage, eine bußfertige Gesinnung und der Versöhnungswille der Griechen.“ 23 Wie sollen die Adressaten des Röm solches auf Gott und die Menschen anwenden? 5. Aus Röm 9 geht hervor, dass Paulus die Praxis von Weihegeschenken zur Abwendung von Gotteszorn kennt. In 9,3 spricht er davon, dass er sich selbst - wenn das denn möglich wäre - als „Weihegeschenk“ anstelle seiner „Stammverwandten“, die Jesus als Christus ablehnen, hingeben würde: als anathema. 24 20 So richtig Hultgren, hilastērion II, 563-565, gegen Kraus, Heiligtumsweihe, 22.40.151. 21 Die Ausgabe von Alfred Rahlfs bietet eine LA, die im Wesentlichen durch den Sinaiticus bezeugt wird (sie wurde in der Revision von R. Hanhart beibehalten). Die „eindeutig besser bezeugte Lesart“ (H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch [JSHRZ III/ 6], 753 A.22a) ist jedoch die adjektivische. Die substantivische wird neben dem Sinaiticus nur durch die Minuskeln 62 und 577 und durch Menologienhandschriften bezeugt. 22 So auch Hultgren, hilastērion II, 572. 23 Schreiber, Weihegeschenk, 209. 24 Zur Auslegung dieser Stelle s. M. Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 286-290. 108 Wolfgang Kraus Kann man damit rechnen, dass Paulus, der in Röm 9,3 mit anathema eindeutig auf ein Weihegeschenk Bezug nimmt, in Röm 3 mit hilastērion einen nicht eindeutigen Bezug auf Christus als (paradoxes) Weihegeschenk Gottes an die Menschen formuliert? 6. Bei keinem der Belege für Weihegeschenk spielt Blut bzw. Lebenshingabe irgendeine Rolle. 7. Bei den Ausführungen von Stefan Schreiber findet sich eine Unklarheit, worin denn eigentlich das hilastērion bestehen soll: ist es Jesus oder ist es Jesu Tod? 25 Es geht in Röm 3 nicht um die metaphorische Anwendung von hilastērion auf die Bedeutung des Todes Jesu. Jesus selbst wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati (in seinem Blut / kraft seines Todes), d. h. aufgrund seiner Lebenshingabe. 2. Röm 3,25-26 im Kontext Es gibt weitere Gründe, warum ein Bezug von hilastērion auf ein Weihegeschenk fragwürdig erscheint. Diese ergeben sich dann, wenn man den Text in die verschiedenen Kontexte stellt. 2.1. Röm 3,25-26 im Kontext des Römerbriefes Zum Verständnis von Röm 3,21-26 im Kontext des Röm muss berücksichtigt werden, was Paulus in Röm 1,18-3,20 verhandelt hat: Alle haben gesündigt, es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen. Das Gesetz zeigt die Sünde auf, kann sie aber nicht beseitigen. Die Menschen, Juden und Nichtjuden, häufen Sünde auf Sünde und sind damit dem endzeitlichen Gericht verfallen. Ist das nicht 25 Eine ähnliche Unklarheit findet sich auch in den Ausführungen von M. Wolter, Der Brief an die Römer. Teilbd. 1: Röm 1-8 (EKK VI/ 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 243: der „Inhalt dieses Glaubens [besteht] darin (…), dass Gott Jesu Tod zu einem hilastērion erklärt hat, dass die Sünden der Glaubenden kompensiert“ (243, vgl. 255 -259). An anderer Stelle schreibt Wolter: „Die Näherbestimmung von hilastērion durch en tō autou haimati legt es vielmehr nahe, dass Paulus hier in der Tat auf den großen Blutritus am Versöhnungstag anspielt, der in Lev 16,15.17 beschrieben wird. Um dieser Anspielung willen nennt er Jesu Tod darum wohl auch in metonymischer Weise haima.“ Ist Jesu Tod hilastērion oder haima? Das hilastērion kompensiert nach atl. Vorstellung keine Sünden, es ist der Ort, an dem Sühne stattfindet. Und die Rede von einer „Funktionsmetapher“ löst das Problem nicht. Wenn auf den Blutritus an der kapporät angespielt wird, dann stellt sich die Frage, was durch diesen Blutritus erfolgt: es handelt sich nach Lev 16 um Reinigung / Weihe / Konsekration. S. dazu C. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament (WUNT 306), Tübingen 2013, 82-86, 166. Dann aber sind wir mitten in der Fragestellung, ob - und wenn ja, wie - auf den größeren Kontext des Jom ha-Kippurim Bezug genommen wird. Hilastērion in Röm 3,21-26 109 die Situation, die Röm 3,25c-26a beschreibt? 26 Was es gegeben hat, war ein „Hingehenlassen“ der Sünden. Vergebung war jedoch nicht erfolgt, die gibt es durch Christus. 27 Gott hat bisher anoche geübt: Zurückhaltung. Dass mit der Erwähnung der anoche Gottes eine Epoche gemeint ist, geht nicht allein aus dem Sprachgebrauch von anoche hervor, sondern auch aus dem Einsatz in V.21 mit nyni de und aus en tō nyn kairō in V.26. Paulus stellt zwei Epochen einander gegenüber: die der anoche und die der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit. 28 Nach Röm 5,8-10 werden die Menschen durch Christi Tod mit Gott versöhnt. Dies wird in V.8 damit begründet, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (so auch schon 5,6). Dieses Sterben hyper hēmōn führt zu unserer Rechtfertigung (V.9). Gerecht wurden wir en tō autou haimati, und zwar nyn (V.9). Diese Formulierung nimmt zweifellos die Aussage aus Röm 3,25f. auf. Die Versöhnung mit Gott ist somit ein Geschehen, das durch Jesu Tod für die Sünder ermöglicht wurde. Das ist eine völlig andere Begründung als jene, dass durch ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen diesen Gottes Liebe und Versöhnungsbereitschaft mitgeteilt werden soll. Nach Röm 5,9-10 hat uns der Tod Jesu dem Zorn Gottes entrissen und uns gerecht gemacht. Die Versöhnung, die dadurch zustande kam, ist nicht Ergebnis eines Weihegeschenkes, sondern des mit-Christus-Sterbens. Das ist die gleiche Argumentation wie in 2Kor 5,14. Dazu kommen wir jetzt. 2.2. Röm 3,25-26 im Kontext paulinischer Theologie (2Kor 5,14-21) Nach 2Kor 5,19-21 hat Gott die Welt mit sich versöhnt, indem er die Sünden nicht zurechnete und den sündlosen Jesus zur „Sünde“ (hier wohl metonymisch für Sünder) gemacht hat, wohingegen die Sünder „Gerechtigkeit Gottes“ (hier metonymisch für Gerechte vor Gott) wurden. Nun lässt Gott durch Versöhnungsgesandte bitten: lasst euch versöhnen. Die Verteilung der Handlung ist so, dass Paulus die Versöhnung verkündigt (samt seinen Mitstreitern). Christus ist für die Sünden gestorben und wir mit ihm, so dass es jetzt eine „neue Kreatur“ gibt (2Kor 5,14-17). Nicht durch ein Versöhnungsgeschenk, sondern durch Jesu 26 S. zum Verhältnis von Röm 3,21-26 zu Röm 1-3 auch Hultgren, hilastērion II, 575-577. 27 Ob es sich hierbei um eine Sachparallele zu Aussagen in Hebr 7,1-10,18 über die Vorläufigkeit des atl. Kultes handelt, kann man überlegen. C. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews (WUNT 235), Tübingen 2009, 132-156, hat versucht, zu erweisen, dass der Hebr als Leseanweisung insbes. für den Röm zu verstehen ist (153). Dies wurde positiv aufgenommen bei Eberhart, Kultmetaphorik, 166 Anm. 53. Ich bleibe skeptisch. 28 So auch Hultgren, hilastērion II, 583 f. Zu anechō, anechomai, anoche s. jetzt den betreffenden Artikel von W. Kraus / C. Lustig / C. Buffa in: E. Bons / J. Joosten (Hg.), Historical an Theological Lexicon of the Septuagint I, Tübingen 2020, 534-544. 110 Wolfgang Kraus Tod, in welchem wir „mitgestorben“ sind (V.14), erfolgte Vergebung. Dies ist es, was die Versöhnungsgesandten zu verkündigen haben. Setzt man Röm 3,21-26 in Beziehung zu Röm 1-3, Röm 5 und 2Kor 5, dann wird es unwahrscheinlich, dass Paulus in 3,25 auf die Vorstellung eines Weihegeschenkes Bezug nimmt. 2.3. Röm 3,25-26 und die Möglichkeit der Aufnahme geprägter Formulierung Stefan Schreiber geht davon aus, dass Paulus den Abschnitt Röm 3,21-26 eigenständig formuliert hat. Die Aufnahme geprägter Überlieferung lehnt er ab. 29 Indizienbeweise zu führen ist in der Tat - auch vor Gericht - schwierig. Allerdings kann eine Häufung von Indizien die Frage aufkommen lassen, ob Paulus hier wirklich eigenständig formuliert: Neben den sprachlichen Eigenheiten in V.25f. (der Einsatz mit dem Reflexivpronomen geschieht analog zu anderen Stellen im NT, an denen geprägtes Gut aufgenommen wird [Phil 2,6; 1Tim 3,16], dia [tēs] pisteōs erweckt den Eindruck eines Einschubes, die Doppelung eis endeixin tēs dikaiosynēs und pros tēn endeixin ist merkwürdig) lassen sich in diesem Text gehäuft Begriffe finden, die für Paulus ungewöhnlich sind: hilastērion (hap.leg. bei Paulus), progegonota hamartēmata (hap.leg. bei Paulus), paresis (hap.leg. bei Paulus), anoche (sonst nur noch Röm 2,4 bei Paulus), haima (außer in Röm 5,9, einer Stelle, die sich auf 3,25 zurückbezieht sonst nur noch im Abendmahlszusammenhang bei Paulus). Nun sind solche Indizien kein Beweis. 30 Wenn sie allerdings in dieser Häufung auftreten und sich eine theologische Vorstellung damit verbindet, die ungewöhnlich ist, sollte man die Möglichkeit der Aufnahme von Überlieferung nicht rundweg ablehnen. 31 Michael Wolter stellt fest, dass die Versuche, in Röm 3,25f. ein Traditionsstück nachzuweisen, „schon im Ansatz“ zum Scheitern verurteilt sind, weil sie nur nach paulinischen Ergänzungen fragen und nicht in Betracht ziehen, dass Paulus die ihm vorliegende Tradition 29 Schreiber, Weihegeschenk, 90f. 30 Wolter, Röm I, 243, lehnt mit Blick auf Röm 1,20, wo sich auch gehäuft Hapaxlegomena finden, die Beweiskraft von Indizien ab. Der Vergleich mit Röm 1,20 ist deshalb nicht überzeugend, weil es sich dort um ein Thema handelt, das bei Paulus sonst nicht prominent erscheint. In Röm 3,25f. geht es hingegen um den Tod Jesu, ein Thema, das für Paulus zentral ist. Die progegonota hamartēmata sind eine einzigartige Vorstellung bei Paulus. Vor allem sie sollen durch den Tod Jesu beseitigt sein? Wie passt das mit anderen Aussagen zum Effekt des Todes Jesu zusammen? 31 Wolter, Röm I, 78, lehnt auch für Röm 1,3-4 eine genaue Bestimmung der aufgenommenen Überlieferung ab, spricht aber dennoch von „Tradition“ bzw. „traditioneller Formulierung“ die Paulus aufgenommen habe. Dass in Röm 1,4 die Einsetzung in die Sohnschaft Jesu mit dessen Auferstehung verbunden wird, wohingegen Paulus an anderen Stellen von der Präexistenz des Sohnes ausgeht, wird nicht diskutiert. Hilastērion in Röm 3,21-26 111 auch gekürzt haben könnte. 32 Hierbei handelt es sich m. E. um ein Scheinargument. Denn was versucht wird, herauszufinden, sind ja jene Elemente, die Paulus möglicherweise übernommen hat und ob diese einen kohärenten Zusammenhang bilden. Dass ein identifiziertes Überlieferungsstück in einen Rahmen gehört, der viel umfangreicher gewesen sein kann (muss), ist implizite Voraussetzung. 33 Die Frage stellt sich, ob es grundsätzlich denkbar ist, dass Paulus geprägte Überlieferung übernimmt und diese weiterführend interpretiert - so wie heutige Redner Elemente aus Liedern oder Bekenntnissen aufnehmen oder auf sie anspielen, die den Adressaten bekannt sind. Michael Wolter räumt ein, dass hapax legomena ein Indiz dafür sein können, dass Paulus „auf sprachlich vorgeprägte und bereits in Gebrauch befindliche Ausdrücke und Bezeichnungen zurückgreift.“ 34 Wenn diese allerdings wie in Röm 3,25f. so massiert auftreten und sich ein sinnvoller Zusammenhang ergibt, könnte es sich auch um ein Zitat handeln. Dann wäre über den syntaktischen Anschluss des dia mit Akkusativ und über die Bedeutung von progegonota hamartēmata, paresis und anoche unter dieser Prämisse neu nachzudenken. 2.4. Röm 3,25f. und der Jom ha-Kippurim Wenn hilastērion im Kontext der Handlungen am Jom ha-Kippurim verstanden werden muss, gibt es dann weitere Aspekte dieses Geschehens, auf die Bezug genommen wird oder geht es lediglich um die kapporät? Stephen Hultgren hat in seinem Beitrag zum Thema auf Strukturanalogien hingewiesen, die zwischen den Aussagen des Paulus in Röm 3,25f. und dem Verständnis des Jom ha-Kippurim in der rabbinischen Literatur zu finden sind. 35 Dabei geht es darum, dass die im Laufe eines Jahres begangenen Sünden der Menschen das Heiligtum verunreinigen. Sie werden jedoch nicht durch Opfer gesühnt, sondern bleiben „in der Schwebe“, bis sie dann am Jom ha-Kippurim bei der Heiligtumsreinigung (Lev 16,16-20) beseitigt werden. Eine Beziehung zwischen der Zeit vor dem Jom ha-Kippurim und der Zeit vor dem Gericht ist nicht erst rabbinisch, sondern aufgrund von Jub 5,17ff. auch für die frühjüdische Zeit belegt. Sollte diese Analogie zutreffen, dann wäre mit der Zeit göttlicher Zurückhaltung vielleicht doch die 32 Wolter, Röm I, 245. 33 E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 2003, 133 geht davon aus, dass eine Aussage vorangegangen sein muss, „an die der Relativsatz dann angehängt werden konnte, etwa: Gelobt sei Jesus Christus o.ä.“. 34 Wolter, Röm I, 245. 35 Hultgren, hilastērion II, 589; vgl. auch E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühntod Jesu Christi (FRLANT 64), Göttingen 2 1963, 25 ff., 35-37. 112 Wolfgang Kraus Zeit vor dem Kommen Jesu gemeint, in der es keine Vergebung, sondern nur das Hingehenlassen von Sünden gegeben hat. 3. Ausblick Nico Fryer hat in seinem Aufsatz von 1987 eine düstere Prognose gegeben: “It is scarcely possible that a consensus of opinion will be reached before the end of time on the question as to how the word hilastērion is to be translated in Rom. 3: 25. The variety of linguistic possibilities, the theological questions involved, the conflicting dogmatic presuppositions of researchers, all play a role in the debate surrounding our understanding of the term.” 36 Und Dieter Zeller, der sich seit seiner Lizentiatenarbeit 1967 immer wieder mit Röm 3 beschäftigte, hat im Jahr 2006 etwas resignierend formuliert: „Das alte Gemäuer Röm 3,24-26 (…) erwies sich als Baustelle, auf dem die Exegeten weiter ihre Konstruktionen errichten. Welche am ehesten dem Plan des Paulus entspricht, muss offen bleiben.“ 37 Ich bin ebenfalls nicht der Überzeugung, dass es in absehbarer Zeit zu einem Konsens kommen wird. Aber ich bin der Überzeugung, dass nur durch ausdauernde exegetische Arbeit, die keine Denkverbote aufrichtet und die sich mit absoluten Formulierungen wie ‚vollkommen abwegig‘ u. ä. zurückhält, ein Fortschritt erzielt werden kann. Stefan Schreiber hat mit seinem Versuch, hilastērion vom hellenistischen „Weihegeschenk“ her zu verstehen, einen Interpretationsversuch vorgelegt, den ich exegetisch für nicht überzeugend ansehe, der jedoch in seiner theologischen Zuspitzung richtig ist: Gott hat den Menschen „in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zugewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet (…). Im Sterben Jesu eröffnet er den Menschen, die seine Zuwendung im Vertrauen annehmen, Versöhnung, abstrakt: eine unzerstörbare und heilvolle Beziehung zu sich.“ 38 Von einer Interpretation von hilastērion als Weihegeschenk käme ich nicht zu dieser Aussage, aber im Gesamtduktus paulinischer Theologie ist sie völlig adäquat. 36 N. S. L. Fryer, The Meaning and Translation of Hilastērion in Romans 3: 25, EQ 59/ 1987, 99-116, 111. 37 D. Zeller, Gottes Gerechtigkeit und die Sühne im Blut Christi. Neuerlicher Versuch zu Röm 3,24-26, in: J. Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 57-69, 69. 38 Schreiber, hilastērion, in diesem Heft.