eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/46

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2020
2346 Dronsch Strecker Vogel

Matthias Adrian: Mutuum date nihil desperantes (Lk 6,35). Reziprozität bei Lukas Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019 (NTOA / StUNT 119) 390 S., gebunden, ISBN 978-3-525-57066-1

121
2020
Friederike Oertelt
znt23460131
Buchreport Friederike Oertelt Matthias Adrian Mutuum date nihil desperantes (Lk 6,35). Reziprozität bei Lukas Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019 (NTOA / StUNT 119) 390 S., gebunden, ISBN 978-3-525-57066-1 Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 132 Friederike Oertelt Die 2017 bei Martin Ebner in Bonn fertiggestellte und für den Druck überarbeitete Dissertation widmet sich dem Wohltätigkeitskonzept des lukanischen Doppelwerks im Kontext des zeitgenössischen Diskurses, der von zwei koexistierenden und zugleich miteinander in Konflikt stehenden Austauschprinzipien geprägt ist: der traditionellen Reziprozität und marktwirtschaftlichen Handlungsbeziehungen. Beide Austauschprinzipien werden, so Adrians These, von Lukas in seinen Texten aufgenommen. Anhand der Analyse ausgewählter Texte des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte zeige sich, dass der Verfasser des Doppelwerks eine eigene Haltung einnehme, die sich kritisch mit der zur Zeit der Entstehung des Doppelwerks im Vormarsch befindlichen Marktmentalität auseinandersetzt. Hierbei blendeten die lukanischen Texte - im Unterschied zum zeitgenössischen philosophischen Reziprozitätsdiskurs - die reale Situation marginalisierter Gruppen nicht aus. Sie beurteilten nämlich den Austausch nicht aus der Perspektive der Gebenden, sondern aus der Perspektive der Empfangenden und forderten von den Vermögenden, radikale Konsequenzen zu ziehen. Dies gelte sowohl für innergemeindliche Verteilungskonflikte als auch für den Austausch mit der außergemeindlichen Umwelt. Im ersten Teil des Buches nimmt Adrian anhand der Analyse von Senecas Schrift De Beneficiis eine Bestimmung zeitgenössischer Wohltätigkeitskonzepte vor (Kapitel 2). Der Vergleich mit Ciceros Ausführungen zum Wohltätigkeitsdiskurs in der Schrift De Officiis (Kapitel 3) zeigt die veränderte Einstellung der Elite der Kaiserzeit zur Wohltätigkeit im Vergleich zur Einstellung in der ausgehenden republikanischen Zeit (Kapitel 4-5). Auf dieser Grundlage erfolgt dann im zweiten Teil des Buches die Untersuchung ausgewählter Lukastexte (Kapitel 6-10). Adrian zieht hierbei auch Texte heran, die bisher kaum oder gar nicht im Kontext des Reziprozitätsdiskurses gelesen wurden. Die intensive und kenntnisreiche Auseinandersetzung und der souveräne Umgang mit den zeitgenössischen Quellen zum Wohltätigkeitsdiskurs bildet ein beeindruckendes Fundament und einen Erkenntnisgewinn für die im zweiten Teil folgende Exegese der lukanischen Einzeltexte. Zu Beginn der Arbeit (Kapitel 1) nimmt Adrian eine Bestimmung des Begriffs der Reziprozität vor. Es folgen Anmerkungen zu einem reflektierten Umgang mit soziologischen Theorien auf unterschiedliche historische Zusammenhänge sowie ein kurzer Forschungsüberblick. Adrian greift hierbei die in der Sozialgeschichte von Stegemann/ Stegemann beschriebenen unterschiedlichen Arten der Reziprozität auf. Etwas unklar bleibt allerdings die vom Verfasser nur sehr knapp vorgenommene Abgrenzung von reziproken Austauschbeziehungen und dem Phänomen des Gabentauschs. Es folgt eine kurze Beschreibung der wesentlichen Bereiche für reziproke Beziehungen in der Antike: das Patronat und das Phänomen des Euergetismus. Schon hier sei angemerkt, dass in der anhand Buchreport 133 einer beeindruckenden Anzahl von Quellen vorgenommenen diachronen Analyse der beiden Phänomene eine große Stärke der Arbeit gegenüber bisherigen Arbeiten zur Reziprozität liegt. In Kapitel 4-6 analysiert Adrian den römischen Wohltätigkeitsdiskurs. Er zeigt hierbei, dass sich von Ciceros Schrift De Officiis hin zu Senecas Schrift De Beneficiis Veränderungen im Wohltätigkeitswesen zeigen lassen, die ihre Ursache in der im Prinzipat veränderten Gesellschaftsstruktur haben. Bei Cicero ist der Gemeinschaftsbezug für Wohltaten essenziell. Ehrenwertes Handeln im Dienst des Staates und der Nutzen für den Einzelnen stehen bei ihm nicht gegeneinander. Dies ändert sich mit dem Prinzipat grundlegend. Durch die veränderte Elitenstruktur, die nun nicht mehr horizontal zwischen den Angehörigen eines Status besteht, sondern vertikal auf den Princeps ausgerichtet ist, würden Wohltaten „von oben nach unten“ verteilt. Diese politisch veränderte Situation führt unter anderem, so Adrian, zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Statusgruppe der Senatoren. Weiter kommt es dazu, dass bisherige Patrone zu Klienten des Princeps werden, der sich als Wohltäter inszeniert. Ihre bisherigen Klienten seien nur noch Zuschauer der Selbstinszenierung der Elite. Als weitere einschneidende Veränderung in der Zeit des Prinzipats nennt Adrian den wirtschaftlichen Aufschwung, der zu einer unkritischeren Bewertung von Gewinn und Profit führte. Dies habe wiederum Folgen für die Austauschmentalität. Denn der marktwirtschaftliche Warenaustausch ist allein auf den Profit ausgelegt und damit auf den individuellen Nutzen des Einzelnen. Auf der Grundlage der gesellschaftlichen Analyse werden von Adrian nun ausgewählte lukanische Texte analysiert. Hierbei stehen mit der Feldrede (Lk 6,20-49), dem Magnifikat und Benedictus, dem Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12) und dem Motiv der engen Tür (Lk 13,22-30; 16,19-31) die Texte des Evangeliums gegenüber denen der Apostelgeschichte (Apg 5,1-12; 24-26) im Zentrum. Das methodische Vorgehen Adrians ist hierbei so angelegt, dass in einem ersten Schritt eine Verortung des Textabschnitts vorgenommen wird und dessen Form, semantisches Inventar und Inhalt bestimmt werden. In einem weiteren Schritt wird anhand der Ergebnisse aus der Textanalyse die Perikope unter Heranziehunng antiker Quellen innerhalb des Reziprozitätsdiskurses verortet und die lukanische Position herausgearbeitet. Aufgrund der beeindruckenden Fülle an antiken Quellen, die Adrian aufbietet, und die den Rahmen einer Rezension sprengen würden, beschränkt sich die folgende Darstellung im Wesentlichen auf die Ergebnisse zur Haltung des Lukas innerhalb des zeitgenössischen Diskurses. Als „Grundprogramm der lukanischen Reziprozität“ werden in Kapitel 6 die beiden Begriffe charis und misthos im Kontext der Feldrede (Lk 6,20-49) identifiziert. Im Kontext der Makarismen und Wehrufe sind zwei Entscheidungen 134 Friederike Oertelt für die von Adrian folgende Deutung im Reziprozitätsdiskurs wesentlich: Zum einen richten sich Makarismen und Wehrufe an die Jüngergruppe. Diese sei der Textstruktur nach aus armen und reichen Jüngern vorzustellen. Zum anderen liest Adrian Lk 6,20-26 auf dem Hintergrund des antiken Festkontextes. Dieser leider nicht näher begründete Festkontext ermöglicht es Adrian, einen Bezug zur Verteilung von Nahrungsmitteln bei öffentlichen Festen herzustellen. Adrian kommt zu dem Ergebnis, dass Lukas mit den Wehrufen die Reichen innerhalb der Gemeinde dazu auffordert, sich der zeitgenössischen, immer stärker marktwirtschaftlich bestimmten Mentalität zu entziehen und auch denen zu geben, von denen keine „profitable“ Gegengabe zu erwarten ist. Im Zentrum von Lk 6,27-38 steht nach Adrian der Lohnbegriff (misthos), welcher im zeitgenössischen Diskurs marktwirtschaftlich zu verorten ist und dort als der persönliche Lohn des Einzelnen verstanden wird. Ihm gegenüber stehe der Begriff der charis, welcher innerhalb des Wohltätigkeitsdiskurses beheimatet ist und auf eine Erhöhung des Ansehens einer Person zielt. Die Passage Lk 6,27-38 sei aufgrund des semantischen Inventars auf dem Hintergrund des antiken Geldverleihsystems zu verstehen. Allerdings formuliere Lukas - im Unterschied zum antiken Diskurs - nicht eine Aufforderung an die Gebenden, Wohltätigkeit zu erweisen. Vielmehr sei insbesondere Lk 6,35 - der Vers, der das Buch überschreibt - als Versicherung zu verstehen, dass im Falle einer Wohltätigkeit nichts verloren gehe. Denn die Gebenden würden nach Lukas als „Lohn“ in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Zudem würden sie mit der Sohnschaft des Höchsten (V.- 35e-f) eine größere charis wiederbekommen als sie geben konnten. Für die Reziprozitätsbezüge der beiden Lobpreisungen Marias und Zachariasʼ ist nach Adrian neben dem semantischen Inventar die Form des Hymnos bzw. Enkomions von Bedeutung, da ein Enkomion oder Hymnos auf die Sicherstellung der charis des angesprochenen Gegenübers ausgerichtet ist. Somit ist es auf ein Austauschverhältnis zwischen dem Enkomiasten und dem Besungenen ausgelegt. Die sozialgeschichtliche Verortung des Magnifikat zeigt sich nach Adrian in Lk 1,53: Die Wohltaten an den Hungernden könnten auf dem Hintergrund der Nahrungsmittelverteilungen in Rom und auch in kleinasiatischen Städten verstanden werden. Insbesondere in den kleinasiatischen Städten, in denen die Nahrungsmittelverteilungen mit privaten Aufwendungen der Amtsinhaber verbunden waren, sank jedoch die Bereitschaft, ein Amt zu übernehmen. Daher wurden den Stiftern als Anreiz Ehrentitel angeboten. Hierzu zählt auch der im Magnifikat auf Gott bezogene Titel des sōtēr. Gott rücke daher in beiden Hymnen in die Rolle der städtischen Amtsinhaber, die bei der Versorgung der Bedürftigen versagt haben. Ähnlich wie schon Lk 6,20-49 durchbreche das Magnifikat daher zeitgenössische Reziprozitätsvorstellungen, indem hier diejenigen Buchreport 135 versorgt werden, die kaum in der Lage sind, ein zyklisch ablaufendes Reziprozitätsverhältnis einzugehen. Handelt es sich im Magnifikat um städtische Eliten, denen Versagen vorgeworfen wird, so thematisiere der Lobgesang des Zacharias die Erwartung eines Retters, der als Gegennarrativ der Eliten installiert wird und Frieden und Gerechtigkeit bringen wird. Im Zentrum der Auslegungen zum Gleichnis des reichen Kornbauern stehen Überlegungen zum Umgang mit den agatha im zeitgenössischen Kontext des Doppelwerks. Diese agatha, so arbeitet Adrian anhand der Quellen heraus, bezeichneten Güter, die anteilig an die Gemeinschaft abzuführen waren. Die Einstellung des Kornbauern bei Lukas, der seine agatha nicht der Gemeinschaft zukommen lasse, sondern Profit machen möchte, spiegle den bereits in Kapitel 4 und 5 von Adrian besprochenen Mentalitätswandel in der Zeit des Prinzipats wider und werde von Lukas durch die Gottesrede (Lk 12,20) klar verurteilt. Die lukanische Alternative zwischen Euergetismus und Marktwirtschaft findet sich nach Adrian im Anschluss an das Gleichnis in Lk 12,33. Hier werden die Vermögenden nicht nur zum Verkauf des Besitzes aufgefordert, sondern zudem zum Almosengeben aufgerufen. Insbesondere letzteres unterlaufe sowohl ein marktwirtschaftliches als auch das reziprokale Denken, da die Almosengabe nicht auf eine persönliche gegenseitige Verpflichtung aus sei. Ebenso wie in Lk 6 richte sich Lukas in Lk 12 an die Vermögenden unter den Christusgläubigen. Die beiden Perikopen Lk 13,22-30 und Lk 16,19-31, in denen die Tür und das Haus zentrale Motive sind, versteht Adrian auf dem Hintergrund der etablierten Rituale der Morgenaufwartung (salutatio) und des abendlichen Essens und Trinkens (cena). Auch hier positioniere sich Lukas innerhalb eines innergemeindlichen Konflikts, der sich zwischen wandernden Missionaren und christusgläubigen Hauseignern ereigne. Die vorgenommene genaue architektonische Bestimmung des Haustyps scheint allerdings weniger für die Deutung der beiden Perikopen ausschlaggebend, als für die abschließende geographisch angedachte Verortung des lukanischen Doppelwerks in Rom von Bedeutung, die hier etwas überraschend als Ergebnis formuliert wird. In der lukanischen Darstellung können unter denjenigen, die vor der Tür stehen, die wandernden Missionare verstanden werden. An ihnen sollen die Hausbesitzenden vor Ort nicht-reziprokale Gastfreundschaft üben. Das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann untermauert diese Aufforderung noch einmal, indem in Form der Schilderung eines eschatologischen Gastmahls prophetische Autoritäten aufgerufen werden. Den Abschluss der Arbeit bieten zwei im Vergleich zu den vorherigen Kapiteln verhältnismäßig kurze Analysen zu Texten aus der Apostelgeschichte. Die Erzählung von Hananias und Saphira (Apg 5,1-12) wird von Adrian auf dem Hintergrund der zur Zeit der Entstehung des lukanischen Doppelwerks nach- 136 Friederike Oertelt lassenden Bereitschaft der Eliten, sich am „Spiel des Euergetismus“ weiter zu beteiligen, verstanden: Durch die Abgabe eines Teils ihres Vermögens an die Christusgruppe wollen die beiden zwar Anerkennung für Wohltaten erlangen, zugleich aber auch ihr übriges Vermögen unsichtbar machen, um es zur eigenen Verfügung zu haben. Diese auf dem Hintergrund des antiken Euergetismus plausible Deutung wird durch Überlegungen, die Adrian zur Rolle der jungen Männer (Apg 5,6.10) anstellt, etwas gestört. Bei diesen handelt es sich nach Adrian um junge Männer, die in den poleis für eine ehrenhafte Bestattung zuständig gewesen seien. Hananias und Saphira wurden somit trotz ihres Verstoßes euergetische Ehren zuteil. Eine Erklärung, was Lukas mit dieser Irritation in der Erzählung erzielen will, bietet Adrian leider nicht. Mit der Verschleppung des Prozesses des Paulus wird am Schluss der Arbeit der Blick noch einmal auf die zu Beginn der Arbeit beobachteten politischen Veränderungen der Elitenstruktur im Prinzipat gelenkt. Auch hier kann Adrian zeigen, dass das im Reziprozitätsdiskurs bedeutende Wort charis als Leitwort von Lukas bewusst in der Darstellung des Prozesses verwendet wird. Paulus selbst sei derjenige, der als Verhandlungsgegenstand den unterschiedlichen Beteiligten dazu dient, Gefälligkeiten (charis) gegenüber anderen zu erweisen, um die eigene Position zu verbessern. Paulus als Opfer des Prozesses sei hingegen nicht in der Lage, Gefälligkeiten zu erweisen, um seine Situation zu verbessern. Er poche daher auf Recht und Gerechtigkeit. Der Prozess des Paulus in lukanischer Darstellung zeigt nach Adrian damit, wie problematisch es für diejenigen, die nicht in etablierte Reziprozitätsnetzwerke eingebunden sind, sein konnte, sich im Falle einer Anklage Recht zu schaffen. Mit seinem Buch zur Reziprozität bei Lukas gelingt es Adrian, die bisher in der sozialgeschichtlichen Exegese verwendete Theorie wesentlich differenzierter und historisch äußerst reflektiert zu vertiefen. Die Stärke des Buches liegt in der sorgfältigen und breiten Analyse der Quellen des antiken Reziprozitätsdiskurses. Die genaue Textanalyse der lukanischen Texte zeigt gerade nicht nur das Eingebundensein der lukanischen Texte in den Reziprozitätsdiskurs, sondern ermöglicht auch eine schlüssige und pointierte Bewertung der lukanischen Position innerhalb der beiden konkurrierenden Modelle von traditioneller Reziprozität und markwirtschaftlichem Handeln. Trotzder über weite Strecken sehr überzeugenden Untersuchung sind dennoch einige Entscheidungen Adrians anzufragen. So scheint Adrian selbstverständlich von einer Lesendenschaft des lukanischen Doppelwerks bzw. von einer Sozialstruktur der lukanischen Gemeinde auszugehen, in der sich Vermögende und Arme im Konflikt befinden. Die die Arbeit durchziehende klare Gegenüberstellung von äußerst Bedürftigen und den Vermögenden der „lukanischen Gemeinde“ wirkt im Gegenüber zur sonst sehr differenzierten Analyse Buchreport 137 der römischen Gesellschaft zudem eher holzschnittartig und bezieht die neuere Diskussion über die soziale Zusammensetzung frühchristlicher Gemeinden letztlich nicht ein. Gänzlich vernachlässigt wird sowohl im Hinblick auf die Eliten als auch auf die Armen die Genderfrage. Dies verwundert in einer Arbeit, die sich unter anderem ausführlich mit dem Magnifikat auseinandersetzt. Diese Anfragen schmälern jedoch nicht die Leistung Adrians, der mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Reziprozitätsdiskurs leistet, der in Zukunft sicher auch über das lukanische Doppelwerk hinaus Anwendung finden wird.