eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Editorial

121
2023
Michael Sommer
Jan Heilmann
Susanne Luther
znt26520003
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, wer denkt beim Genuss eines dicken Stückes Schokolade oder einer duftend heißen Tasse Kaffee an eine Geschichte einer systematischen Ausbeutung und Unterdrückung? Ohne dass es uns im Einzelnen bewusst ist, ohne dass wir stetig darüber nachdenken, gründet der Wohlstand der westlichen Welt in der Kolonialisierung von Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Viele unserer individuellen Privilegien resultieren aus der gewaltsamen Eroberung, Besetzung und hegemonialer Ausbreitung. Die Folgen für die kolonialisierten Gebiete waren nicht nur verheerend, sondern sind bis zum heutigen Tag spürbar. Die europäischen Kolonialmächte etablierten in den eroberten Gebieten nicht nur koloniale Verwaltungsstrukturen, sondern kontrollierten die kolonialisierte Bevölkerung, indem sie kulturelle Wertesysteme der westlichen Welt, ihre Spra‐ chen und natürlich auch ihre Religion, in den Kolonien einführten und zur neuen Norm des sozialen und wirtschaftlichen Miteinanders erklärten. Westliches Denken wurde somit zu einem Machtinstrumentarium der Legitimation hege‐ monialer Dominanz. Einheimische Lebensweisen durchliefen dadurch einen Prozess der kulturellen Ab- und Entwertung, der nicht zuletzt die Ausbeutung kolonialer Ressourcen rechtfertigte. Dieses System der Ausbeutung führte nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung Europas, sondern ebenso zu einem Überlegenheitsdenken der westlichen Kultur, welches bis zum heutigen Tag in den Strukturen der westlichen Welt, selbst in den Kategorien der Wissen‐ schaft, noch spürbar ist. Im gleichen Atemzug hinterließen die Kolonialmächte, nachdem die Kolonien ihre Unabhängigkeit wiedererlangten, bei ihrem Rückzug Spuren der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwüstung, von denen sich die Ökonomien vieler der besetzten Gebiete bis zum heutigen Tag nicht erholt haben. Die Postcolonial Studies erforschen diese vielschichtigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen zwischen Kolonialherren und Kolonien, um sie kritisch aufzuarbeiten. Dieses Forschungsfeld analysiert kritisch den Einfluss der Kolonialisierung auf bestehende Wissenssysteme und betrachtet, ob Strukturen von Macht, die zur Kolonialisierung konstruiert und angewandt wurden, auch heute noch fortbestehen. Es widmet sich den kulturellen Imperialismen und Synkretismen, die während der Kolonialisierung entstanden sind, und verfolgt nicht zuletzt das übergeordnete Ziel, kulturelle Vorurteile und westliches Überlegenheitsdenken aufzuarbeiten. Natürlich stehen auch die Bibelwissenschaften vor der großen Aufgabe, ihre eigene Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Die Kolonialisierung wurde nicht nur durch eine imperialistische Christianisierung der unterdrückten Gebiete begleitet und unterstützt, die einheimische Religionen und Weltanschauungen verdrängte und abwertete. Vielmehr ist das westliche Überlegenheitsdenken in der gegenwärtigen Forschung immer noch spürbar. Leseweisen der Bibel, die nicht zu den westlichen Traditionen des Christentums gehören, hatten über viele Jahre weder in Forschung noch Lehre, geschweige denn in der theologischen Praxis einen Stellenwert. Dies soll und muss sich ändern! Und dieser Band möchte als ein Anfang begriffen werden. Werner Kahl führt Sie, liebe Leserinnen und Leser, in die Geschichte der postkolonialen Bibelwissenschaften ein, die im deutschsprachigen Raum (leider) noch in den Kinderschuhen steckt. Abraham Boateng betrachtet im ersten inhaltlichen Beitrag des Bandes westafrikanische Bibelübersetzungen und -her‐ meneutiken und thematisiert gleichzeitig die Auswirkungen der Kolonialisie‐ rung auf die afrikanischen Bibelwissenschaften. Paula Kautzmann widmet sich der Auslegung des Jakobusbriefs durch die Theologin der Befreiung Elsa Tamez (Mexiko/ Costa Rica), wobei diese Perspektive auf die Bibel als ein Lernort begriffen werden soll, und Michael Sommer reflektiert in seinem Beitrag kritisch, wie eurozentristisch moderne Modelle des frühen Christentums sind. Die Kontroverse dieses Bandes stellt sich der Frage nach den Chancen der Postcolonial Studies für die gegenwärtige Exegese. Stefan Alkier und Roland Deines erzielen dabei allerdings kein entgegengesetztes Ergebnis, sondern sehen aus kontroversen Blickwinkeln die Notwendigkeit postkolonialer For‐ schungsansätze. Judith König widmet sich in der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung einer missbrauchssensiblen Exegese und arbeitet die Notwendig‐ keit postkolonialer Bibellektüre nach dem Missbrauchsskandal heraus. Im Buchreport dieser Aufgabe steht Moritz Gräpers The Bible and Apartheid zur Debatte. Dieses Werk zeigt mit einem Blick auf die Geschichte Südafrikas, wie leicht die Bibel zu einem Werkzeug der Unterdrückung umgeformt werden kann. Mit der Besprechung dieses Buches endet der vorliegende Band jedoch nicht. Vielmehr versteht er sich als eine Ausgabe mit einem offenen Ende, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, zum Nachdenken anregen und zur Überwindung kolonialgeprägter Stereotypen anregen möchte! Michael Sommer Jan Heilmann Susanne Luther 4