eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/53

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2024
2753 Dronsch Strecker Vogel

Alexander Goldmann: Über die Textgeschichte des Römerbriefs. Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Tübingen: Narr Francke Attempto, 2020 (Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter 63) 251 S. ISBN 978-3-7720-8709-7

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2024
Markus Vinzent
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Buchreport Markus Vinzent Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs. Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Tübingen: Narr Francke Attempto, 2020 (Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter-63) 251-S. ISBN 978-3-7720-8709-7 Wen die vorliegende Arbeit überzeugt, liest den Römerbrief, wie wir ihn im Neuen Testament finden, nicht mehr nur unter einer neuen Perspektive, sondern begreift ihn als das Produkt einer durchgehenden kanonischen Redaktion, die diesen Brief überdies erheblich aufgebläht hat. Erstaunlich zunächst für das wissenschaftliche Erstlingswerk einer leicht überarbeiteten Dissertationsschrift ist, dass ihr Vf. mit einer, wie zu sehen sein wird, wohl untersetzten und gut begründeten, jedoch grundstürzenden These aufwartet. Allerdings erklären sich Mut und Scharfsinn schnell, wenn man liest, dass die Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie der Universität Dresden unter dem Doktorvater Matthias Klinghardt und innerhalb dieses bereits weitere Arbeiten stimulierenden Umfelds abgefasst wurde. Sie ist in der Reihe TANZ veröffentlicht, in der auch des Doktorvaters Studien, insbesondere dessen Rekonstruktion des „Ersten Evangeliums“, erschienen sind, und sie setzt dessen Forschungsrichtung konsequent fort: Der Römerbrief, wie er in Markions Sammlung vorhanden war und wie er von den verschiedenen frü‐ heren Forschern zu rekonstruieren versucht wurde (Adolph Hilgenfeld, dessen Namen man im Literaturverzeichnis vermisst; Theodor Zahn, dessen Edition man ebenfalls im Literaturverzeichnis vergeblich sucht; Adolf von Harnack; Ulrich Schmid; Jason BeDuhn) stellt die älteste, uns erreichbare Fassung des Römerbriefes dar, die auf Paulus zurückzuführen ist. In dieser Fassung fehlen u. a. vor allem die Kapitel 4, weithin 9-11 und gänzlich 15 und 16. Diese lassen sich „plausibler als redaktionelle Erweiterungen denn als Streichungen“ verstehen-(223). Nun schlägt die Studie nicht den Weg der literarischen Vergleiche zwischen beiden Fassungen des Römerbriefes ein, sondern, wie der Titel richtig ausführt, untersucht der Vf. „die Textgeschichte“ und den „paratextuellen Befund“. Mit diesem Ansatz befindet sich die Studie auf der Höhe der zeitgenössischen methodologischen Forschung, wie sie etwa besonders durch den von Martin Wallraff (damals München) eingeworbenen ERC Advanced Grant „Paratexts of the Bible“ vorangebracht wurde. Welch überaus wertvollen Beobachtungen aus diesem Ansatz gewonnen werden können, manifestiert sich in der hier zu besprechenden Arbeit. Die ersten Paratexte, die in der Arbeit untersucht werden, sind zwei altlatei‐ nische Kapitelverzeichnisse, die Capitula Amiatina (49-56) und die Capitula Regalia (56-61). Diese Kapitelverzeichnisse, die „in den lateinischen Kodizes des Corpus Paulinum meist zwischen den Prologen und dem tatsächlichen Brief‐ text“ stehen, dienen dazu, „eine schnelle Orientierung über den gesamten Text zu ermöglichen, gleichsam eine Gliederung bzw. eine Art Inhaltsverzeichnis zu liefern“ (49). Der Name des ersten Verzeichnisses leitet sich von der ältesten, in der neutestamentlichen Wissenschaft gut bekannten Handschrift her, in der es enthalten ist, dem Codex Amiatinus (um 700, Northumbrien, heute Bibliotheca Laurenziana, Florenz). Das zweite findet sich im Codex Regalis (vor 1066; British Library), welches „bisher weitgehend ignoriert wurde“ (56). Die in diesen Handschriften enthaltenen Kapitellisten „werden allerdings als wesent‐ lich älter eingeschätzt“, und zwar deshalb, weil sie im Text öfter, wie schon 128 Markus Vinzent Lightfoot und Riggenbach erkannt hatten, altlateinische Lesarten besitzen, die den Zeugen d und g und D*, F und G nahestehen (51). Die Untersuchung zu den Capitula Amiatina führt zum Schluss, dass der bezeugte „Textzustand … eine hohe prägenealogische Kohärenz zum von Marcion verwendeten Römerbrief “ aufweist (56). Außerdem ergibt die Untersuchung der Capitula Regalia, dass beide Verzeichnisse in einem „Verwandtschaftsverhältnis“ stehen (61) und dass beide später, die Amiatina mehr als die Regalia, sekundär bearbeitet wurden (70). Gleichwohl lässt sich beobachten, dass in den Amiatina zwischen Röm 3,28 und 5,2 eine Lücke zu existieren scheint, also wohl „das gesamte Abrahamska‐ pitel“ fehlt-(101), ein Befund, der von den Regalia bestätigt wird-(102-105). Anders verhält es sich mit den Kapiteln 9-11, die nach den vorgeführten Zeugen für den Römerbrief in Markions Sammlung weithin gefehlt haben (115- 130). Der Vf. plausibilisiert jedoch, dass es sich bei den Sektionsangaben in den Kapitellisten um „nachträgliche Ergänzungen“ handelt-(141-145). Was die Kapitel 15-16 des Römerbriefes betrifft, bieten die Amiatina wieder ein direktes Zeugnis für die Abwesenheit von diesen (150-153), während die Regalia auch die Kapitel 15-16 bieten, wenn sie auch auf die Doxologie vor diesen Kapiteln verweisen. Auch hier nimmt der Vf. aufgrund dieses Befundes berechtigterweise eine sekundäre Überarbeitung der Kapitelliste an, was mit dem Hinweis auf die Stellung der Doxologie einleuchtet. Um den Befund zu festigen, rekurriert der-Vf. auf den altlateinischen Prolog zum Römerbrief (ob man diese Prologe, wie der Vf. für nichtmarkionitisch hält, oder mit Scherbenske und dem Rez. sie eher in die Nähe Markions setzt, hat keinen Einfluss auf die Argumentation), der in den verschiedenen Handschriften als Abfassungsort für den Römerbrief die Varianten „Athen“ und „Korinth“ kennt (157 f.). Den Rez. hat die Argumentation des Vf.s gegenüber seiner eigenen früheren Meinung überzeugt, wonach nicht Korinth, was sich aus Röm 16,1f. nahelegt, sondern „Athen“ die ursprüngliche Lesart im Prolog darstellt, deren Voraussetzung das Fehlen der Kapitel -15-16 darstellt-(158). In einem abschließenden Abschnitt werden die Fragen behandelt, ob der kurze Römerbrief das Resultat von Markions oder einer katholisierenden Re‐ daktion darstellt, eines mechanischen Ausfalls, oder die „älteste erreichbare Textform“ bietet-(160-174). In einem weiteren Abschnitt zum Schluss des Römerbriefs wird gezeigt, dass die Hinzufügung dieser beiden Kapitel 15-16, insbesondere der langen Liste von Eigennahmen, „zum Zwecke der Authentizitätsfiktion“ erfolgte und den Brief sowohl mit dem Hebräerbrief wie mit der Apostelgeschichte „verknüpft“ (221). Eine der vielen wichtigen Einsichten dieser Arbeit wird im Ausblick formu‐ liert: „Der vorkanonische Paulus ist also nicht der Paulus des Neuen Testa‐ Buchreport 129 ments“ (226). Zwar ist Vorsicht gegenüber dem Text angebracht, weil auch der kurze Römerbrief „nicht mit dem Autograph“ gleichzusetzen ist, doch mache die kurze Textgestalt zumindest deutlich, „welche Elemente der ‚paulinischen Theologie‘ sicher nicht auf Paulus zurückgehen“. Diese ältere Form des Pau‐ lusbriefes kommt „weitgehend ohne Rekurs auf die jüdischen Verheißungen aus…, ohne Abraham und ohne alttestamentliche Schriftbeweise“ (226), allesamt Merkmale, die die Tradition und die moderne Forschung (trotz aller Skepsis von Judith Lieu hält aber auch sie an diesen Aspekten fest) seit Tertullian als typische Merkmale von Markions Theologie gelten. Wenn aus der Präsenz des kurzen Römerbriefes in den Paratexten darauf geschlossen wird, „Marcions eigenen Beitrag bei der Herstellung ‚seiner‘ Texte für deutlich geringer einzuschätzen“ als dies etwa noch Harnack tat, steht dieses Urteil allerdings in gewisser Spannung zu dem gerade skizzierten Profil des älteren Paulusbriefes und basiert auf der Sicht eines bereits zu Lebzeiten häretisierten Markion, die für das zweite Jahrhundert anachronistisch ist. Es sei nur daran erinnert, dass Markion selbst noch Jahre nach seinem Tod hoch angesehen war - im dritten Jahrhundert nennt Origenes ihn „doctissimus“ und Stephanus von Rom schreibt an Cyprian von Karthago, seine Gemeinde sei noch in Sakramentsgemeinschaft mit der markionitischen Gemeinde - und wenn Tertullian erstmals von einem wiederholten Ausschluss von Valentinus und Markion zu wissen meint, ordnet er diesen dem römischen Bischof Eleutherius zu, also der Zeit des Irenäus von Lyon, zu der Markion bereits etwa zwei Jahrzehnte verstorben war. Dass man durch den kürzeren, älteren Paulusbrief nicht nur gewohnte, mit Paulus als dessen zentrale Theologumena assoziierte Auffassungen „verliert“, sondern für das Verständnis des Neuen Testaments als Sammlung erhebliche Einsichten gewinnt, wird in dieser Arbeit zwar nur angedeutet, lässt sich aber leicht bei einer vergleichenden Lektüre beider Fassungen des Römerbriefes oder auch in der vom Rez. kürzlich publizierten vergleichenden Konkordanz zum äl‐ teren neutestamentlichen (präkanonischen) und der größeren später kanonisch gewordenen Sammlung aus der Zeit des Irenäus nachvollziehen. Denn aus dem Vergleich der im kürzeren Paulusbrief fehlenden Passagen mit solchen Schriften, die erst später der größeren Sammlung hinzugekommen sind (Hebr, 2Tim, Apg, 1Petr usw.) ergeben sich so viele Übereinstimmungen, dass man hieraus „Teile eines redaktionellen Konzepts“ der größeren Sammlung gewinnen kann. Der Vf. führt demnach auf die Spur der „kanonischen Redaktion“, die von David Trobisch und Matthias Klinghardt vorgeschlagen, deren Nachweis im Detail jedoch bislang ausstand (David Trobisch hat hierzu gerade eine neue 130 Markus Vinzent Monographie vorgelegt: „On the Origin of Christian Scripture. The Evolution of the New Testament Canon in the Second Century“, 2023). Wie der Ausblick dieser Arbeit zeigt, ist diese Qualifikationsarbeit erheblich mehr als das, was diese Beschreibung üblicherweise angibt, sie liefert der neutestamentlichen Paulusforschung wie auch der Forschung zur Entwicklung des neutestamentlichen Kanons und zu Markion mehr als „neue Perspektiven“ und eröffnet der Kritik der Texte über die Paratexte ein den Texten externes, sie beleuchtendes Forschungsfeld, in welchem grundlegend neue Einsichten gewonnen werden können, die über textinterne Beobachtungen hinausführen. Für die künftige Beschäftigung mit dem Römerbrief und der Kanonwerdung des Neuen Testaments wird die vorliegende Monographie eine Pflichtlektüre sein. Buchreport 131