eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/54

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1216
2024
2754 Dronsch Strecker Vogel

Editorial

1216
2024
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Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, einer der unumstrittensten Aspekte über den historischen Jesus ist, dass er als Heiler und Wundertäter erinnert wird. Verweisen die kanonischen Evangelien nicht darauf, dass es ein Kennzeichen des Wirkens Jesu war, alle Krankheiten und Gebrechen zu heilen? Und wird dies nicht auch als Aufgabe und Auftrag seiner Nachfolger verstanden? Unser Blick als Leserinnen und Leser ist sehr von diesen Texten geprägt: Wir nehmen Heilung und Gesundung als das zu erstrebende Ziel wahr, wie es die Wundererzählungen der kanonischen Evangelien nahelegen. Diese Lesart der Erzählungen und auch ihre Rezeptions‐ geschichte bestimmen unsere Wahrnehmung und regulieren unser Denken und unsere eigene Interpretation der Texte. Die diesen Texten unterliegenden soziokulturellen und theologischen Konzepte setzen bestimmte Wertungen und Konnotationen von Behinderung voraus (z. B. körperlicher Defekt, Ausgren‐ zung, negative moralische Implikationen), die im Text nicht explizit diskutiert werden, für das Verständnis der Texte jedoch konstitutiv sind. Der konventionelle historisch-kritische exegetische Zugang, der auf der Basis des antiken Kontextes und des sozialgeschichtlichen Hintergrunds argu‐ mentiert, hinterfragt die Implikationen der Konzepte und Wertungen für die Betroffenen zumeist nicht oder nicht hinreichend. Eine Hermeneutik auf Basis der dis/ ability studies fragt darüber hinaus: Was bedeutet es für Gelähmte, wenn ihr Umfeld ihre Krankheit auf sündiges Verhalten zurückführt? Und was bedeutet dies für die heutigen Leserinnen und Leser, die sich in der Rezeption der Texte den in ihrer jeweiligen Kultur und Gesellschaft gültigen Katego‐ rien ‚behindert‘ und ‚normal‘ zugeordnet sehen? Aufgrund welcher Kriterien, Strukturen, Ideologien oder Diskurse werden diese Kategorien konstruiert und werden Menschen damals und heute der einen oder anderen Kategorie zugerechnet? Die vorliegende Ausgabe der ZNT greift mit dem Thema „Dis/ ability Stu‐ dies“ ein aktuelles Thema der neutestamentlichen Exegese und Hermeneutik auf. In der Rubrik „NT aktuell“ gibt Markus Schiefer Ferrari einen Überblick über Forschungsgeschichte, neuere Forschungstendenzen und bleibende For‐ schungsdesiderate in Hinsicht auf die Einbindung der Dis/ ability Studies in die neutestamentliche Exegese. Im ersten Beitrag „Zum Thema“ hinterfragt Uta Poplutz unseren Blick auf neutestamentliche Heilungserzählungen in Hinsicht auf das Othering von Behinderung, das häufig erst aufgrund sozialgeschichtlicher Vorannahmen in die Texte eingetragen wird. Sie regt einen Perspektivwechsel an, der die durch Krankheit oder Behinderung Beeinträchtigten nicht als ‚stereotype Fremde‘ wahrnimmt, denen die Funktion zukommt, durch die an ihnen demonstrierte Überwindung von Behinderung auf das Anbrechen der Gottesherrschaft hinzu‐ weisen, sondern - im Rückgriff auf den versehrten Leib des Auferstandenen - als prophetische Figuren, die aufzeigen, dass Heil nicht mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen muss. Dierk Starnitzke liest in seinem Beitrag die Paulusbriefe aus Sicht der Dis/ ability Studies und argumentiert von Pau‐ lus’ anthropologischer und hamartologischer Argumentation sowie vom uni‐ versalen Erbarmen Gottes ausgehend für die Verantwortung der Kirche für eine inklusive Gesellschaft. Ausgehend von Ulrich Bach und Nancy Eiesland beleuchtet Christina Dronsch in ihrem Beitrag kritisch die Perspektivität der Wissensorganisation in der neutestamentlichen Wissenschaft, die einer „behin‐ dernden Theologie“ stattgibt. Sie zeigt anhand des mk Jesus eine alternative Verhältnisbestimmung jenseits einer Heilungsökonomie auf, die Jesus als Boten bestimmt und die Verantwortung für den Umgang mit der Botschaft bei den Empfänger: innen verortet. In der Kontroverse nehmen Marie Hecke und Angela Standhartinger die Auslegung und die Auslegungsgeschichte von Joh 9 in den Blick. Marie Hecke fordert eine dis/ ability-sensible und ableismuskritische Hermeneutik und Theologie für den (praktisch-)theologischen Umgang mit neutestamentlichen Heilungserzählungen. Anhand des Konzeptes der „narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder kritisiert sie die pejorative Verwendung der Metapher der Blindheit und ihre Funktionalisierung mit dem Ziel der Erzeugung von Bedeutung. Angela Standhartinger stellt eine dis/ ability-sensible Auslegung von Joh 9 dagegen, die die Blindheit nicht als narrative Prothese wahrnimmt, son‐ dern vielmehr die besondere Seh- und Erkenntnisfähigkeit des ‚Blindgeborenen‘ ins Zentrum rückt. Diese Interpretation nimmt die Metapher der Blindheit als eine zentrale Metapher für die Erkenntnis auf dem Weg des Glaubens und den ‚Blindgeborenen‘ - gegenüber den vermeintlich Sehenden - als den idealen Jünger wahr. In der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“ skizziert Ruben Bühner die hermeneutischen Anliegen einer dis/ ability-sensiblen Hermeneutik in der neu‐ testamentlichen Exegese und diskutiert konzeptionelle Herausforderungen und offene Fragen des Ansatzes. 4 Editorial Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre des vorliegenden Heftes. Susanne Luther Jan Heilmann Michael Sommer Editorial 5